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Full text of "Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft"

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ZEITSCHRIFT  FÜR  ÄSTHETIK 


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ALLGEMEINE  KUNSTWISSENSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


MAX  DESSOIR 


VIERZEHNTER  BAND 


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STUTTGART 

VERLAG  VON   FERDINAND   ENKE 

1920 


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NOV  A  ^  1959 


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Druck  der  Union  Deutsche  Verlagsgesellschjift  in  Stuttgart. 


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Inhaltsverzeichnis  des  XIV.  Bandes. 

Abhandlungen. 

*•  Seite 

I.  Emil  Utitz,  Oeor(j;  Simmei  und  die  Philosophie  der  Kunst     .    .  1—41 

II.  Carl  Enders,  Die  Deutung  des  Homuni<ulus  in  Goethes  Faust  42—68 

^'lll.  Heinrich  Merk,  Wilhelm  von  Scholz  als  Theoretiker  des  Dramas  6Q— 89 

IV.  Theodor  A.  Meyer,  Erkenntnis  und  Poesie 113—129 

V.  Hans  Joachim  Moser,  Zur   Methodik  der   musikalischen  Oe- 

schichtschreibung 130—145 

AVI.  Robert  Klein,   Heinrich  Theodor  Rötschers  Theorie  der  Schau- 
spielkunst     :  146—170 

VII.  Betty  M.  Heimann,  Das  ästhetische  Naturerlebnis 225—238 

VIII.  Otto  Loewi,   Über  Wertung  und  Wirkung  von  Werken  der  bil- 
denden Kunst 239—252 

IX.  V.  Curt   Habicht,     Über    Malerbildhauer    und    Bildhauermaler. 

Kriterien  zur  Bestimmung  von  Werken  aus  einer  Hand     .    .    .  253—266 

X.  Josef  O.  Daninger,  Über  den  Tonschatten 267—274 

XI.  Erwin  Panofsky,  Der  Begriff  des  Kunstwollens 321—339 

XII.  Karl  Vietor,  Der  Bau  der  Gedichte  Hölderlins 340—355- 

XIII.  Friedrich  Sieburg,  Die  Grade  der  lyrischen  Formung    .    .    .  356—396 

Bemerkungen. 

^  Georg  Marzynski,  Die  impressionistische  Methode 90—94 

August  Schmarsow,  Rhythmus  in  menschlichen  Raumgebilden     .     .  171  —  187 

"Gerhart  Roden  wa  Idt,  Methodologisches 187—193 

Erich  Major,  Das  Ästhetische  und  die  Kunst 275—279 

Carl  Enders,  Fichte  und  die  Lehre  von  der  »romantischen  Ironie«  279 — 284 

Leo  Adler,  Regelmäßigkeit  und  Gesetzmäßigkeit  in  der  Architektur  284—288 

X  Friedrich  Kreis,  Die  Begrenzung  von  Epos  und  Drama  in  der  Theorie 

Otto  Ludwigs 288-296 

Walter  Thomä,  Über  den  Maßstab  in  der  bildenden  Kunst  .    .    .    .  397—404 

Mela  Escherich,  Das  sichtbare  Unsichtbare 405—408 

Besprechungen. 

Broecker,  M.  v.,   Kunstgeschichte  im  Grundriß.    Bespr.  von  Elisabeth 

von  Orth 299-300 

Bühler,  Charlotte,  Das  Märchen  und  die  Phantasie  des  Kindes.   Bespr. 

von  Alfred  Baeumler 310—312 

Cohn-Wiener,  Ernst,  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Stile  in   der 

bildenden  Kunst.    Bespr.  von  Elisabeth  von  Orth 307—310 


IV  INHALTSVERZEICHNIS  DES  XIV.  BANDES. 

Seite 
Deutsche  Bühne,  Jahrbuch  der  Frankfurter  Städtischen  Bühnen.    Bespr. 

von  Max  Dessoir 317 — 320 

Dvorak,  Max,   Idealismus  und  Naturalismus  in  der  gotischen  Skulptur 

und  Malerei.     Bespr.  von  Erich  Everth 409—425 

Oundolf,  Friedrich,  Goethe.     Bespr.  von  Hugo  Bieber 1Q4— 208 

Hamann,  Richard,  Ästhetik.    Bespr.  von  Max  Dessoir 297 

Hoff  ding,   Harald,   Humor   als   Lebensgefühl  (Der   große   Humor). 

Bespr.  von  Christoph  Schwantke 95—96 

Katann,  Oskar,  Ästhetisch-Literarische  Arbeiten.    Bespr.  von  Alfred 

Baeumler 297—299 

Münsterberg,  Hugo,  Orundzüge  der  Psychologie.     Bespr.  von  Max 

Dessoir 95 

Nelson,   Leonhard,  Vorlesungen   über   die    Grundlagen   der   Ethik. 

Bespr.  von  Christoph  Schwantke 96—99 

Spengler,   Oswald,   Der  Untergang   des   Abendlandes.     Bespr.  von 

Christoph  Schwantke 316—317 

Steinberg,  S.  D.,  Ferdinand  Hodler,  ein  Platoniker  der  Kunst.    Bespr. 

von  Erich  Everth 302-307 

Waetzoldt,  Wilhelm,  Deutsche  Malerei  seit  1870.    Bespr.  von  Oskar 

Wulff 425-432 

Walzel,   Oskar,   Wechselseitige   Erhellung   der  Künste.     Bespr.  von 

Alfred  Baeumler 300-302 

Widmer,  Dr.  Johannes,  Von  Hodlers  letztem  Lebensjahr.    Bespr.  von 

Erich  Everth 302-307 

With,  Karl,  Buddhistische  Plastik  in  Japan.    Bespr.  von  Hermann  Smidt  312—316 

Wundt,  Wilhelm,  Völkerpsychologie.     Bespr.  von  Emil  Utitz    .     .     .  208—211 

Schriftenverzeichnis  für  1918. 

Erste  Hälfte 100-109 

Zweite  Hälfte 212-224 

Vorlesungen  an  Universitäten  deutscher  Sprache. 
Winter-Halbjahr  1918-19 110-112 

Berichtigung  zur  Arbeit  Daninger. 

S.  272,  Zeile  3  hat  die  Numerierung  1.  zu  entfallen;  S.  272,  Zeile  9  von  unten: 
Streichbässen  statt  Streichbläsern ;  S.  274,  Anmerkung :  das  Wort  „eckige"  ist  zu  streichen. 


I. 
Georg  Simmel  und  die  Philosophie  der  Kunst. 

Von 
Emil  Utitz. 

Der  Herausgeber  dieser  Zeitschrift  hat  an  mich  die  ehrende  Auf- 
forderung gerichtet,  in  Form  eines  Nachrufes  Georg  Simmeis  Kunst- 
philosophie zu  würdigen.  Ich  habe  Georg  Simmel  nicht  gekannt,  ja 
ich  habe  ihn  niemals  sprechen  gehört.  Sachlich  stehe  ich  seinem  Werl« 
in  vieler  Hinsicht  fern.  Wenn  ich  mich  trotzdem  entschloß,  der  Ein- 
ladung des  Herausgebers  Folge  zu  leisten,  so  überwand  der  Gedanke 
alle  Hemmungen,  daß  es  vielleicht  angebracht  ist,  nach  den  vielen  Auf- 
sätzen, die  beredt  die  Persönlichkeit  des  Dahingeschiedenen  gefeiert 
haben,  auch  einmal  ganz  nüchtern  zu  schildern,  welches  Erbe  Simmel 
unserer  Wissenschaft  hinterlassen  hat. 

Es  gibt  zwei  Arten  segensreicher  Erbschaften.  Die  erste  läßt  sich 
leicht  ausdrücken  und  berechnen  durch  greifbare  Werte:  Geld,  Grund- 
stücke, Häuser  usw.  Die  zweite  ist  nicht  so  einfach  faßbar:  sie  besteht 
z.  B.  in  einer  sorgfältigen  Erziehung,  vortrefflichen  Ratschlägen,  in  dem 
Vorbild  eines  makellosen  Lebens.  Vom  Erben  hängt  es  nun  ab,  ob 
und  wie  er  diese  Schätze  ausnützt:  den  Vorzug  der  Erziehung,  die 
Weisheit  des  Rates,  die  Richtlinien  aus  jenem  Dasein. 

Durchmustert  man  das  Erbe  Simmeis  für  die  Kunstphilosophie, 
so  ist  es  vorwiegend  eines  der  zweiten  Art:  weniger  festes  Ergebnis, 
geprägte  Münze,  als:  Aufgabe,  Problem,  Weckruf  und  Ziel  Weisung. 
Wir  wollen  darum  auch  damit  beginnen.  Obgleich  wir  mit  dem  unserer 
Wissenschaft  zugefallenen  Erbe  uns  möglichst  zu  bescheiden  streben, 
werden  wir  doch  hier  und  da  auf  die  Gesamtleistung  Simmeis  wenig- 
stens hinblicken  müssen.  Denn  er  war  ein  Feind  jeder  atomisierenden 
Zerstückelung;  mit  einer  geradezu  religiösen  Verehrung  kündete  er 
immer  und  immer  wieder  das  Wunder  der  Einheit  alles  Lebens,  die 
Einheit  der  Persönlichkeit.  Alles,  was  er  schuf,  mag  es  im  einzelnen 
noch  so  hart  einander  widerstreiten,  wurzelt  in  der  dunklen  Tiefe  eines 
einzigartigen  und  einheitlichen  Wesens.  Alle  seine  Schriften  sind 
lediglich  die  schöpferische  Entfaltung  dieses  Seins,  Pulsschläge  seiner 
Lebensbewegtheit.    Man  darf  wohl  sagen:  Simmel  hat  uns  die  Philo- 

Z«jtschr.  f.  Äsllietik  ti.  al!_'.  Kiinsfwi«cn5clmft     XIV.  I 


EMIL  UTITZ. 


Sophie  in  seinem  Werke  »vorgelebt«.  Der  funktionelle  Charakter  der 
Philosophie,  den  er  vertrat,  in  ihm  wurde  er  Tat  und  Wirklichkeit. 
Und  das  ist  das  Hinreißende,  Aufrührende  und  vielleicht  auch  Gefähr- 
liche seiner  Bücher  und  Aufsätze:  sie  offenbaren  weniger  Philosophie 
im  Sinne  eines  systematisch  geordneten,  ineinander  verzahnten  Begriffs- 
systems, als  Philosophieren  in  der  Form  eines  ruhelosen  Werdens  und 
Garens,  das  eines  Denkens  sich  bedient,  reich  befruchtet  von  der 
ganzen  Weite  eines  Menschen,  der  erschauernd  nimmer  müde  mit  allen 
Dingen  dieser  Welt  ringt,  mit  ihren  geringfügigsten  und  größten. 

Sein  letztes  Buch  trägt  den  Titel  »Lebensanschauung«.  In  diesem 
Wort  sind  die  beiden  Grundtatsachen  vermählt,  die  Simmel  stets  an- 
betete: das  »Schauen*  und  das  »Leben«.  Gewiß  galt  seine  Leiden- 
schaft dem  Denken;  nicht  so  sehr  der  fertigen  Erkenntnis,  sondern 
dem  Denken  als  Prozeß,  in  dem  sich  ihm  das  Schauen  kristallisierte, 
ihm  bewußt  ward,  und  durch  das  er  lebte.  Indem  sein  Leben  Denken 
war,  alles  Leben  in  dieses  Denken  einströmte,  um  in  ihm  Form  und 
Gestalt,  Wort  und  Bild  zu  werden,  behielt  dieses  Denken  auch  noch 
auf  den  eisigsten,  höchsten  Gipfeln  der  Abstraktion  Glanz  und  Wärme, 
jenen  Hintergrund  unausschöpfbarer,  ewig  rätselvoller  Irrationalität,  die 
als  stolzeste  und  zugleich  verhängnisvollste  Gabe  allem  Lebendigen 
eignet.  Indem  aber  sein  Denken  immer  vom  Leben  umschlungen, 
durchglüht,  aufgepeitscht  oder  gezügelt  erscheint,  wird  es  nicht  reines 
Erkennen:  es  bleibt  Bekenntnis,  Dokument  einer  bestimmten  Persön- 
lichkeit. Das  wissenschaftliche  Ergebnis  und  überhaupt  die  Wissen- 
schaft sind  dabei  —  man  verzeihe  mir  dieses  harte  Wort  —  etwas 
letzthin  Zufälliges,  gar  nicht  in  erster  Linie  Angestrebtes  und  Gewolltes. 
Ob  der  Gegenstand  Kant  oder  Rembrandt  heißt,  er  ist  nur  ein  Sprung- 
brett, von  dem  aus  Simmel  aufschnellt,  um  sich  auszuleben  in  der  Form 
seiner  Geistigkeif.  In  ihrem  Auswirken  wird  allgemein  Gültiges  ge- 
funden und  auch  bewiesen,  aber  nur,  weil  es  gerade  in  der  Richtung 
dieser  Bewegtheit  liegt.  Man  denkt  dabei  an  Goethe,  dem  Simmel 
eines  seiner  vorzüglichsten  Werke  gewidmet  hat.  Aber  es  ist  nicht 
der  Goethe,  von  dem  Simmel  so  ergreifend  sagt:  die  Art,  > wie  Goethe 
seinem  eigenen  Leben  im  Alter  gegenüberstand,  ist  die  großartigste 
Objektivierung  des  Subjekts  .  . .,  von  der  wir  wissen.  Denn  nicht  nur 
die  Vergangenheit,  die  er  als  abgeschlossen  ansehen  konnte,  war  ihm 
ein  reines  Bild  geworden.  Sondern  der  eben  erlebte  Tag  war  ein 
solches,  ja,  der  Moment  des  Erlebens  selbst  war  ihm  ein  objektives 
Geschehen,  nicht  nur  im  Sinne  der  gleichzeitigen  Selbstbeobachtung, 
der  Spaltung  des  Bewußtseins,  die  sicher  oft  gar  nicht  bestand,  wenig- 
stens nicht  mehr  als  bei  vielen  anderen  Menschen  auch ;  vielmehr,  der 
innere  Ton  des  Erlebens,  die  Art,  wie  es  subjektiv  unmittelbar  vorging. 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  3 

hatte  den  Charakter  der  Objektivität.  Nicht  nur  einzelne  Lebensinhalte 
waren  ihm  objektiv  geworden,  sondern  sozusagen  der  LebensprozeB 
selbst  —  er  bedurfte  für  diese  Objektivität  nicht  mehr  der  Form  des 
Gegenüber«.  So  geht  durch  das  Goethesche  Leben  von  sehr  früh 
an  ein  Zug  von  Resignation,  »dem  er  oft  Ausdruck  und  Nachdruck 
gibt.  Der  Sinn  aber  dieses  Verzichtens  in  dem  allgemeinsten,  sein 
Leben  durchziehenden  Sinne  scheint  mir  kein  anderer  zu  sein,  als  datt 
ihm  nur  auf  diesem  Wege  jene  Objektivierung  seines  Subjekts  gelang. 
Er  mußte  sich  dauernd  überwinden,  damit  die  Intensität,  die  unmittel- 
bare, selig-unselige  Strömung  seines  Lebens  gegenständlich  werden 
konnte«.  Nein,  jene  Objektivation  war  Simmel  nicht  verliehen.  Ich 
spreche  dies  nicht  als  Tadel  aus,  sondern  lediglich  zur  Charakteristik. 
Das  Skizzenhafte,  Fragmentarische,  Unabgeschlossene,  die  ewige 
Melodie,  die  nur  unterbrochen  werden  kann,  ohne  aber  von  sich  aus 
den  klärenden,  harmonischen  Ausklang  zu  gewinnen,  sie  wurzeln  in 
jener  Eigentümlichkeit  Simmeis.  Und  darum  ist  er  kein  Piaton  oder 
Aristoteles,  sondern  ein  Sokrates,  der  aus  bedrängter  Unruhe  des 
Herzens  immer  wieder  fragt,  der  nichts  zu  wissen  behauptet  und  doch 
an  allem  rüttelt,  der  mit  dem  Bildhauer  Kleiton  über  Kunst  streitet  und 
mit  jedem  anderen  gerade  über  das  Problem,  das  zunächst  ins  Auge 
fällt,  der  aber  nicht  geistig  verfließt  in  die  verstrickende  Vielheit  der 
Fragen,  sondern  durch  sie  die  Einheit  seiner  Persönlichkeit  immer  reiner 
gestaltet.  Denn  hier  ist  Philosophieren  Lebenshaltung  und  Lebensform 
Tiefste  Wesenssaiten  Simmeis  erklingen,  wenn  er  diese  Art  des 
Philosophierens  versucht  zu  umschreiben,  zu  rechtfertigen  und  zu  ver- 
teidigen. Denn  hier  kämpft  er  für  das  Eigenrecht  seiner  Persönlich- 
keit. Nach  ihm  soll  die  Philosophie  nicht  die  Objektivität  der  Dinge 
nachzeichnen,  »das  tun  die  ,Wissenschaften'  im  engeren  Sinne,  sondern 
die  Typen  der  menschlichen  Geistigkeit,  wie  sie  sich  je  an  einer  be- 
stimmten Auffassung  der  Dinge  offenbaren.  Nicht  die  —  irgendwie 
verstandene  —  Übereinstimmung  mit  einem  ,Gegenstand'  steht  für 
ihre  Behauptungen  in  Frage,  sondern  daß  diese  den  adäquaten  Aus- 
druck für  das  Sein  des  Philosophen  selbst,  für  den  in  ihm  lebenden 
Menschheitstypus  darstellten  —  sei  es,  daß  dieser  eine  bestimmte  Kate- 
gorie von  Individuen  umschriebe,  sei  es,  daß  er  ein,  in  irgendeinem 
Maße  in  jedem  Individuum  vorhandenes  Element  bildete«.  »Platos 
Ideenlehre,  Pantheismus  der  Stoiker  und  Spinozas,  Fichtes  weltschöpfe- 
risches Ich,  Schellings  Lehre  von  der  Identität  von  Natur  und  Geist, 
Schopenhauers  Willensmetaphysik,  —  alles  dieses  ist  oft  und  bündig 
,widerlegt';  allein  der  jeweilige  menschliche  Typus,  der  in  diesen 
Irrtümern'  seine  Reaktion  auf  das  Dasein  niedergelegt  hat,  hat  alle 
Widerlegungen    überlebt    und  jenen    Lehren   eine  in   seinem    eigenen 


EMIL  UTITZ. 


Maße  unsterbliche  Bedeutung  verliehen  —  die  ihr  Kriterium  als  Wahr- 
heit jedenfalls  nicht  von  dem  Punkte  her  gewinnt,  auf  den  die  sach- 
liche Bedeutung  zugeht,  sondern  von  dem,  aus  dem  sie  herauskommt«. 
Und  in  der  nachgelassenen  Schrift  über  »Lebensanschauung«  heißt  es: 
»Welcher  Leitbegriff . . .  jeweils  dem  einzelnen  Denker  seine  Welt  als 
solche  schafft,  hängt  ersichtlich  von  einem  charakterologischen  Typus 
ab,  von  dem  Weltverhältnis  seines  Seins,  das  das  Weltverhältnis  seines 
Denkens  begründet.« 

Besonders  deutlich  spricht  sich  Simmel  aus  in  der  Einleitung  zu 
dem  —  unter  dem  Namen  >PhiIosophische  Kultur«  erschienenen  —  Bande: 
»Soll  der  philosophische  Prozeß  wirklich  von  der  universellen  Breite 
des  Daseins  ausgehen,  so  scheint  er . . .  in  unpräjudiziert  vielen  Rich- 
tungen laufen  zu  müssen.  Manche  Erscheinungen,  manche  Stimmungen, 
manche  Verknüpfungen  des  Denkens  weisen  die  philosophische  Re- 
flexion in  eine  Direktive,  die,  bis  ins  Absolute  verfolgt,  ein  Pantheis- 
mus wäre,  manche  umgekehrt  in  die  Richtung  des  Individualismus; 
manchmal  scheint  diese  Reflexion  in  einem  idealistischen,  manchmal 
in  einem  realistischen,  hier  in  einem  rationalen,  dort  in  einem  volunta- 
ristischen  Definitivum  enden  zu  müssen.  Es  besteht  also  ersichtlich 
eine  innerlichste  Beziehung  zwischen  der  ganzen  Fülle  des  gegebenen 
Daseins,  das  der  philosophischen  Tiefenschicht  zugeführt  zu  werden 
verlangt,  und  der  ganzen  Fülle  möglicher  metaphysischer  Absolutheiten. 
Das  flexible  Gelenk  zwischen  beiden,  die  mögliche  Verbindung,  um 
von  jedem  Punkte  des  einen  zu  jedem  des  anderen  zu  gelangen,  schafft 
jene,  auf  keine  Absolutheit  festgelegte  Bewegtheit  des  Geistes,  die  in 
sich  selbst  metaphysisch  ist.«  Simmel  fühlt  sich  gedrängt,  seinen  Stand- 
punkt gegen  den  naheliegenden  Einwand  zu  verteidigen,  es  handle  sich 
hierbei  um  Eklektizismus  und  Kompromißweisheit.  »Beide  sind  nicht 
weniger  an  den  festgewordenen  Resultaten  des  Denkens  verankert,  als 
irgendeine  einseitige  exklusive  Philosophie;  nur  daß  sie  die  gleiche 
Form  statt  durch  einen  prinzipiellen  Gedanken,  durch  ein  Mosaik  von 
Stücken  solcher  ausfüllen,  oder  deren  Gegensätze  graduell  bis  zur  Ver- 
träglichkeit herabsetzen.  Hier  aber  handelt  es  sich  um  die  ganz  prin- 
zipielle Wendung  von  der  Metaphysik  als  Dogma  sozusagen  zu  der 
Metaphysik  als  Leben  oder  als  Funktion,  nicht  um  die  Art  des  Inhalts 
der  Philosophie,  sondern  um  die  Art  ihrer  Form,  nicht  um  die  Ver- 
schiedenheiten zwischen  den  Dogmen,  sondern  um  die  Einheit  der 
Denkbewegung . . .«  Allerdings  muß  Simmel  eingestehen,  daß  von  den 
genialen  Schöpfern  innerhalb  der  Geschichte  der  Philosophie  kein 
einziger  diese  Akzentverlegung  von  dem  terminus  ad  quem  der  philo- 
sophischen Bestrebung  auf  ihren  terminus  a  quo  zugeben  würde.  Er 
sucht    diesen  Sachverhalt  dahin  zu  deuten,    daß  die  überaus  starke 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST. 


geistige  Individualität  jener  Persönlichkeiten  sich  nur  in  ein  dem  Inhalt 
nach  völlig  und  einseitig  bestimmtes  Weltbild  projizieren  könne,  und 
daß  der  Radikalismus  der  formalen  philosophischen  Lebensaltitüde  mit 
diesem  Inhalt  unlösbar  und  intolerant  in  eins  verschmelze.  Wahrhaft 
befriedigend  ist  diese  Lösung  gewiß  nicht;  denn  eines  verkennt  Simmel 
ganz  sicher:  den  nach  dem  Unbedingten  ringenden  Wahrheitseifer  jener 
Großen,  der  nur  vor  Notwendigkeiten  und  Unmöglichkeiten  halt  macht. 
Wenn  er  hierfür  eine  echte  philosophische  Kultur  verlangt,  die  sich 
nicht  auf  das  Bekenntnis  zu  einzelnen  Theorien  stützt,  sondern  in  einem 
durchgehenden  geistigen  Verhalten  zu  allem  Dasein  besteht,  in  einer 
intellektuellen  Bewegtheit  auf  die  Schicht  hin,  in  der  alle  überhaupt 
möglichen  Linien  der  Philosophie  laufen,  so  ist  dies  letzthin  eine  Ver- 
schiebung des  Problems  und  eine  Art  »Ersatz«.  Das  durchgehende 
geistige  Verhallen  zu  allem  Dasein  haben  alle  führenden  Philosophen 
besessen,  nur  eben  unter  der  einen  Kategorie  objektiver  Erkenntnis. 
Der  ungenügende  Stand  der  Wissenschaft,  die  subjektiven  Einflüsse 
der  Individualität  erscheinen  ihnen  als  verfälschende  Fehlerquellen, 
deren  sie  sich  freilich  nicht  immer  bewußt  waren.  Ob  jene  Ver- 
breiterung der  philosophischen  Einsicht  auf  Kosten  der  geschlossenen 
Einheit  des  systematischen  Kernes  nicht  zu  teuer  bezahlt  wird,  ist  eine 
andere  Frage.  Sie  ähnelt  gefährlich  jener  neuen  Stufe  der  Kunstbildung, 
die  alle  Stile  als  durchaus  notwendig  erkennt  und  darum  die  Sicherheit 
des  eigenen  Kunstverhaltens  einbüßt,  ja  das  tiefste  Schaffen  lähmt. 
Psychologisches  und  Philosophisches  schillern  durcheinander  in  den 
Leitlinien  Simmeis:  einerseits  hanJelt  es  sich  doch  um  den  seelischen 
Orundtypus,  dem  die  einzelnen  philosophischen  Gedankenwelten  ent- 
stammen, also  um  eine  Art  differentiell  psychologischer  Erklärung.  Mit 
der  Aufweisung  dieser  Notwendigkeit  ist  aber  gar  nichts  entschieden 
über  die  sachliche  Richtigkeit  der  betreffenden  inhaltlichen  Ergebnisse 
die  ja  einer  ganz  anderen  Schicht  angehören.  Und  da  scheint  nun 
Simmel  zu  glauben,  daß  nicht  das  einzelne  philosophische  System, 
sondern  alle  zusammen  erst  der  »Wahrheit«  —  ich  gebrauche  hier 
diesen  ungenauen  Ausdruck,  um  mir  längere  Darlegungen  zu  er- 
sparen —  sich  nähern.  Das  ist  aber  etwas  völlig  anderes  als  jene 
Verankerung  in  der  bestimmt  charakterisierten  Geistigkeit  der  einzelnen 
philosophischen  Vertreter.  Ebenso  wie  wir  unterscheiden  müssen  das 
Philosophieren  als  psychologischen  Prozeß  von  der  Philosophie  als 
geregelter  Ordnung  der  Begriffe.  Das  Ausleben  einer  Persönlichkeit 
im  Philosophieren  mag  für  diese  ein  Entfalten  ihrer  letzten  geistigen 
Fähigkeiten  bedeuten,  ja  einen  Ausdruck  ihres  gesamten  Daseins,  aber 
das  hat  mit  dem  Ertrag  des  Philosophierens  nichts  zu  schaffen.  So 
scharf  Simmel  den  funktionalen  Charakter  der  Philosophie  betont,  so 


EMIL  UTITZ. 


scharf  ist  er  häufig  in  der  Polemiic.  Von  seinen  Voraussetzungen 
aus  l<önnte  er  aber  doch  nur  um  sein  eigenes  Lebensrecht  kämpfen, 
um  die  Eigengesetzlichl<eit  seines  Wesens,  und  nicht  mit  logischen 
Mitteln  und  mit  Formen  des  Beweises. 

Nur  anmerkungsweise  wollte  ich  auf  diese  Zwiespältigkeiten  hin- 
weisen, die  unaufgelösten  Akkorden  gleichen.  Da  ich  aber  mit  einem 
reinen  Klange  diese  einleitende  Betrachtung  schließen  möchte,  gebe 
ich  einen  der  eindrucksvollsten  Vergleiche  Simmeis  hier  wieder.  Wenn 
ich  so  häufig  —  und  vielleicht  weit  über  das  gewohnte  Maß  hinaus  — 
Simmel  selbst  sprechen  lasse,  geschieht  es  aus  Furcht,  durch  Um- 
gießung in  andere  Worte  den  Sinn  seiner  Darlegungen  umzudeuten, 
und  aus  dem  Bestreben,  dem  Leser  den  eigentümlichen  Reiz  Simmel- 
scher  Schreibweise  gerade  in  diesem  Nachruf  besonders  deutlich  vor- 
zuführen: »In  einer  Fabel  sagt  ein  Bauer  im  Sterben  seinen  Kindern, 
in  seinem  Acker  läge  ein  Schatz  vergraben.  Sie  graben  daraufhin  den 
Acker  überall  ganz  tief  auf  und  um,  ohne  den  Schatz  zu  finden.  Im 
nächsten  Jahre  aber  trägt  das  so  bearbeitete  Land  dreifache  Frucht. 
Dies  symbolisiert  die  hier  gewonnene  Linie  der  Metaphysik.  Den 
Schatz  werden  wir  nicht  finden,  aber  die  Welt,  die  wir  nach  ihm 
durchgraben  haben,  wird  dem  Geist  dreifache  Frucht  bringen  —  selbst 
wenn  es  sich  in  Wirklichkeit  etwa  überhaupt  nicht  um  den  Schatz  ge- 
handelt hätte,  sondern  darum,  daß  dieses  Graben  die  Notwendigkeit 
und  innere  Bestimmtheit  unseres  Geistes  ist.« 


Darum  konnte  auch  Simmel  ohne  akademische  Verengung  schlecht- 
hin über  alles  philosophieren,  weil  eben  auf  dem  Philosophieren  der 
Nachdruck  lag.  Die  Maler  des  Impressionismus  malten  auch  alles; 
da  es  ihnen  weniger  auf  dieses  »Alles«  ankam,  als  auf  das  »Wie«  des 
Malens,  in  dem  nicht  nur  ihr  technisches  Können  beschlossen  war, 
sondern  ihre  gesamte  Lebens-  und  Weltstellung.  So  philosophierte 
Simmel  über  die  Persönlichkeit  Gottes  und  über  die  Mode,  über  eine 
japanische  Vase  und  über  das  Geld,  über  Geschichte  und  Zukunft, 
über  Ruinen  und  Alpen,  über  Michelangelo  und  Goethe.  Diese  In- 
halte —  und  unzählige  andere  —  traten  erregend  in  sein  Leben  ein 
und  wurden  von  diesem  in  den  Strom  des  Denkens  hineingerissen. 
Oft  umgebogen  und  verzerrt,  erfuhren  sie  doch  auch  häufig  eine  wunder- 
same Erleuchtung  und  Durchleuchtung,  und  fast  immer  eine  Vertiefung. 
Stets  fand  Simmel  den  Weg  von  einem  zum  anderen,  nichts  blieb  in 
einsamer,  abgesplitterter  Vereinzelung,  alles  ward  verwoben  in  die  große 
Einheit  seines  Lebens  und  seiner  Welt. 

Simmel  liebte  den  Ausdruck:  »letzte  Entscheidung«.    Oft  und  oft 


I 


GEORG  SIMMKL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  ^ 

kehrt  diese  Formel  wieder,  auch  in  seinem  letzten  Werke  klingt  sie 
hin  und  wieder  an.  Ihre  Bedeutung  wird  am  deutlichsten  im  Vorwort 
zum  Rembrandtbuch.  Wenn  man  so  pedantisch  sein  darf,  hier  von 
einer  Methode  zu  sprechen,  offenbart  sich  ihre  Art  unter  dieser 
Spiegelung.  Simmel  gehl  davon  aus,  daß  man  die  fertige  Kunst- 
erscheinung unter  vielerlei  formale  und  inhaltliche  Gesichtspunkte 
stellen  könne  und  sie  damit  in  lauter  einzelne  Eindrucksfaktoren  zer- 
lege. »Allein  sie  ist  aus  deren  Zusammensetzung  so  wenig  herstellbar 
und  deshalb  so  wenig  daraus  verständlich,  wie  ein  Körper  als  lebendiger 
aus  den  zerschnittenen  Gliedern  auf  dem  Seziertisch.  Das  ästhetische 
Nebeneinander  ist  ihr  so  wenig  äquivalent  wie  das  historische  Neben- 
einander, denn  entscheidend  für  sie  ist  etwas  ganz  anderes:  die 
schöpferische  Einheit.«  »Ebensowenig  ist  der  Eindruck  des  Kunst- 
werks gleich  den  summierten  Eindrücken  all  der  Seiten  und  Qualitäten 
seiner,  die  die  sondernde  Ästhetik  hervorhebt.  Vielmehr,  auch  hier  ist 
das  Entscheidende  etwas  ganz  Einheitliches,  das  sich  aus  oder  über 
jenen  Einzeleindrücken  erhebt;  und  alle  psychologische  Analyse... 
läßt  die  schlechthin  zentrale,  seelische  Wirkung  draußen,  die  das  künst- 
lerische Erlebnis  als  solches  ausmacht.  Dieses  Erlebnis  geht  nun 
freilich,  wie  ich  glaube,  in  die  Formen  wissenschaftlichen  Erkennens 
überhaupt  nicht  ein.  Das  unmittelbare  Gefühltwerden  ist  die  einzige 
Art,  auf  die  es  da  ist,  und  in  ihr  müssen  wir  es  sozusagen  unange- 
rührt stehen  lassen.«  So  setzt  die  philosophische  Betrachtung  das 
Ganze  des  Kunstwerks,  als  Dasein  und  Erlebnis,  voraus  und  sucht 
dieses  nun  »in  die  ganze  Weite  der  seelischen  Bewegtheit,  in  die  Höhe 
der  Begrifflichkeit,  in  die  Tiefe  der  weltgeschichtlichen  Gegensätze  ein- 
zustellen«:. »Jenes  primäre  Erlebnis  des  Kunstwerks,  von  dem  dessen 
philosophische  Weiterführungen  genährt  werden,  ist  nicht  mit  objektiver 
Eindeutigkeit  festzulegen :  es  bleibt,  soviel  Theoretisches  auch  von  ihm 
ausgehen  mag,  in  der  Form  der  Tatsache,  und  ist  der  Theorie  unzu- 
gängig  —  zwar  nicht  von  zufälliger  Willkür  erfüllt,  aber  von  einer 
immerhin  individuellen  Gerichtetheit,  die  die  philosophischen  Linien 
von  ihm  aus  in  mannigfaltigster  Richtung  verlaufen  läßt.  Von  jeder 
Gruppe  solcher  Linien  kann  man  beanspruchen,  daß  sie  zu  letzten 
Entscheidungen  führe,  aber  keine  darf  beanspruchen,  zu  den  letzten 
zu  führen.«  »Was  mir  von  je  als  eine  wesentlichste  Aufgabe  der 
Philosophie  erschien:  von  dem  unmittelbar  Einzelnen,  dem  einfach  Ge- 
gebenen das  Senkblei  in  die  Schicht  der  letzten  geistigen  Bedeutsam- 
keiten zu  schicken  —  das  soll  nun  an  der  Erscheinung  Rembrandts 
versucht  werden.«  »Dies  einfach  Tatsächliche  ist  hier  jenes  Erlebnis 
des  Kunstwerks,  das  ich  als  ein  unauflösbar  Primäres  hinnehmen  will. 
Daß  die  daran  angesetzten  philosophischen  Richtlinien  sich  durchaus 


8  EMIL  UTITZ. 


in  einem  äußersten  Punkte  zu  schneiden,  sich  also  in  ein  philosophisches 
System  einzuordnen  hätten,  ist  ein  monistisches  Vorurteil,  das  dem  — 
viel  mehr  funktioneilen  als  substanziellen  —  Wesen  der  Philosophie 
widerspricht.«  Das  der  Theorie  unzugängliche,  wirklichkeitsgesätligte 
Erlebnis  in  seiner  Einheit  und  Unberührtheit  ist  demnach  Grundlage 
und  auslösender  Reiz;  aber  die  durch  dieses  persönliche  Erlebnis  er- 
regte Bewußtseinsbewegtheit  schwingt  und  zittert  nach  auf  dem  ganzen 
Wege  —  eben  der  Philosophie  nach  Simmel  —  bis  zu  jenen  letzten 
Entscheidungen,  die  das  Einzelne  verknüpfen  mit  den  großen  Zu- 
sammenhängen, die  alles  Seiende  verflechten.  Jedes  Erlebnis  kann  für 
Simmel  so  Quellpunkt  langer  Reihenbildungen  werden,  ja  manchmal 
hat  man  sogar  die  Empfindung,  daß  Simmel  —  auch  darin  den  Meistern 
des  Impressionismus  ähnlich  —  geflissentlich  gleichsam  die  Aschen- 
brödel unter  den  Erlebnissen  bevorzugt,  um  gerade  an  ihnen,  sei  es 
seine  virtuose  Kunst  des  Philosophierens  zu  offenbaren  —  was  mir 
weniger  sympathisch  ist  —  oder  sei  es  zu  zeigen,  wie  selbst  von 
jenen  Pfade  in  die  letzten  Tiefen  leiten.  Diese  Tiefen  münden  aber 
nicht  in  einen  Punkt;  sie  sind  lediglich  höchst  mögliche  begriffliche 
Erfassungen  der  »Welt«,  oder  die  uns  zugänglichen  »Welten«.  Nur 
so  glaubte  er  eine  Abschattung  der  ganzen  Fülle  und  Breite  des 
Lebens  zu  gewinnen  und  seiner  weitesten  Überhöhungen;  jedes  System 
mußte  ihm  als  Verengung  erscheinen,  als  Ungerechtigkeit  gegenüljer 
allem,  was  in  den  Spannweiten  des  Systems  nicht  zur  Eigengeltung 
kam,  ja  als  eine  Beraubung  an  Eilanden  des  Geistes,  die  außerhalb 
der  Grenzen  jener  Reiche  lagen.  Diese  Sehnsucht  nach  dem  Grenzen- 
losen und  die  Gefahr,  im  Gestaltlosen  zu  verfließen,  teilt  Simmel  mit 
der  Mystik.  Es  ist  eine  der  sonderbarsten  Tafsachen  —  und  schon 
Spinoza  ist  ein  großes  Beispiel  —  wie  in  der  Mystik  bisweilen  schärfstes 
Denken  und  eine  Bewegung  über  alles  Denken  hinaus  sich  vermählen, 
und  wie  bestimmte  Erlebnisse  gleich  hallenden  Grundakkorden  immer 
und  immer  wieder  durchklingen  bis  in  die  zartesten  Verästelungen  be- 
grifflicher Analyse,  so  rein  logisch  auch  diese  erscheinen  mögen.  Dieser 
subtile  Psychologismus  ist  wissenschaftlich  durch  seine  Verdecktheit 
und  Verhülltheit  manchmal  eine  besonders  peinliche  und  schwer  zu 
verstopfende  Fehlerquelle,  aber  geistesgeschichtlich  betrachtet:  ebenso 
manchmal  eine  schöpferische  Kraft  ersten  Ranges. 

Jene  Verwurzelung  Simmeis  im  Leben  ist  auch  der  Grund,  daß 
er  allem  Lebendigen  fast  fieberhaft  sich  zuneigt,  wie  aus  einer  geheimen 
Angst  heraus,  irgendein  Erlebnis  nicht  erschauernd  durchkosten  und 
durchdenken  zu  dürfen.  Und  dieser  Zug  bedingt  das,  was  wir  als 
seine  »Modernität«  bezeichnen  können,  das  im  betonten  Sinne  Zeitge- 
nössische in  seinem  Wesen.    Er  horcht  eben  in  die  Zeit  und  den  Tag 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  9 

hinein,  belauscht  sie,  um  ihnen  Form  abzugewinnen,  oder  um  ihnen 
die  Form  seiner  Oeistigkeit  aufzuprägen.  Als  er  nach  der  Gewohn- 
heit vieler  Professoren  Kriegsvorträge  hielt  —  gesammelt  in  -Der  Krieg 
und  die  geistigen  Entscheidungen«  —  da  stachelte  ihn  gewiß  nicht 
das  Bedürfnis,  auf  Massen  aufklärerisch  zu  wirken,  oder  gleich  einem 
neuen  Fichte  mahnend  ans  Volk  sich  zu  wenden,  sondern  der  rein 
innere  Kampf  mit  ungeheueren  Tafsächlichkeiten  und  das  würgende, 
ihn  fast  erstickende  Gefühl  der  Verpflichtung,  sie  durch  Denken  zu 
bezwingen,  im  Denken  ihnen  ihren  letzten  Sinngehalt  zu  entreißen. 
Denn  sonst  drohte  der  Ansturm  jener  Erlebnisse  ihn  zu  vernichten. 
Aber  gerade  weil  er  sich  so  häufig  Tatsächlichkeiten  zuwandte,  die 
noch  ganz  in  der  Glühhitze  ihrer  Bewegtheit  und  Erregung  befangen 
waren,  drang  er  bisweilen  —  schauend,  sichtend  und  erkennend  — 
gleichsam  nicht  bis  zu  ihnen  durch,  sondern  fasste  nur  die  oberfläch- 
licheren Außenseiten,  die  ihnen  geistige  Mode  aufgedrückt  hatte.  So 
wie  Worte  oft  Tatsachen  verdunkeln,  ja  sich  an  ihre  Stelle  schieben, 
so  deckt  manchmal  die  glatt  kleidsame  Form  der  Mode  Strömungen, 
die  tief  unter  jener  fließen  und  rauschen,  und  deren  schaumgekrönte 
Sichtbarkeit  sie  lediglich  ist.  Wenn  dann  Simmel  noch  so  scharfsinnig 
und  kühn  in  immer  höheren  Übersteigerungen  die  ursprünglichen  Ge- 
gebenheiten fortentwickelt,  es  sind  in  diesen  Fällen  doch  in  sich  frag- 
liche und  wackelnde  »Gegebenheiten«,  in  den  Kriegsvorträgen  tritt 
dies  deutlich,  sogar  sehr  deutlich  hervor;  aber  wir  spüren  diesen  Zug, 
wenn  Simmel  —  um  Beispiele  aus  der  Kunstphilosophie  zu  bringen  — 
nordisch-germanische  und  gräko-romanische  Kunst  scheidet,  allzu  be- 
fangen in  den  Etiketten,  die  gerade  geläufig  sind,  oder  wenn  er  in  starke 
Abhängigkeit  vom  jüngsten  Expressionismus  sich  begibt.  Gewiß  hat 
eben  dieser  —  an  Hermann  Bahrs  Art  und  Weise  erinnernde  —  Zug 
ganz  besonders  Simmeis  Popularität  und  Berühmtheit  gesteigert,  wie 
ja  oft  die  Ursache  zum  weittragenden  Erfolge  bei  großen  Männern  an 
ihre  äußerlichsten  Vorzüge  anknüpft. 

Aber  neben  dieser,  immerhin  etwas  fatalen  Seite  der  Modernität 
treffen  wir  andere,  bedeutungsvollere:  So  scheint  es  schon  einer  tieferen 
Schicht  anzugehören,  wenn  Simmeis  Denken  durchtränkt  ist  von  allem 
Geistigen  der  Gegenwart:  von  Nietzsche  und  Bergson,  vom  Neu- 
kantianismus, und  von  der  Phänomenologie,  von  Konrad  Fiedler  und 
Alois  Riegl.  Gewiß  lassen  sich  diese  und  viele  andere  »Einflüsse« 
feststellen ;  bald  liegen  sie  offenkundig  da,  bald  schillern  sie  in  ver- 
schiedenen Variationen  durch,  aber  stets  sind  sie  bei  Simmel  so  weit 
verarbeitet,  daß  sie  sein  Eigengut  geworden  sind,  und  er  hat  sie  nur 
insoweit  angenommen,  als  sie  in  Tönung  und  Färbung  seines  Wesens 
einbezogen   werden  konnten.    Sie  sind  keine  Fremdkörper  geblieben. 


10  EMIL  UTITZ. 


geschweige  denn  Aufputz  oder  Arabeske.  Damit  hängt  es  auch  zu- 
sammen, daß  Simmel  nicht  gern  zitiert,  keine  Literatur  anführt,  und, 
auch  wo  er  polemisiert,  nur  ganz  selten  bestimmte  Namen  nennt. 
Wissenschaftlich  bedeutet  dieses  Vorgehen  gewiß  keinen  Vorteil;  aber 
Simmel  konnte  nicht  anders,  ohne  seine  Eigenart  zu  verleugnen.  Die 
.\nschauungen  und  Ansichten  anderer  sind  eben  sein6  eigenen  Probleme 
geworden,  Möglichkeiten  bestimmter  Sachverhalte.  Indem  er  eine  Frage 
hin-  und  herwirft,  um  sie  von  allen  Seiten  zu  bespiegeln,  tauchen  jene 
Motive  auf,  aber  als  Teilbestandteile  seiner  eigenen,  ewigen  Melodie, 
und  nur  mit  diesem  Stellenwert.  Ist  er  näher  interessiert,  tiefer  er 
schlittert,  wie  etwa  von  der  Gedankenwelt  eines  Kant,  der  Persönlich- 
keit eines  Goethe  oder  der  Kunst  eines  Rembrandt,  dann  ringt  er  mit 
diesen  Erlebnissen,  aber  sie  selbst  sind  schon  etwas  anderes  als  Kant, 
Goethe  oder  Rembrandt  nach  ihrem  streng  objektiven  Sein.  Aber  gerade 
darum  glücken  ihm  auch  bisweilen  Einsichten,  die  an  Entschleierung 
tiefster  Ichqualitäten  weit  das  in  den  Schatten  werfen,  was  nüchterne 
Unpersönlichkeit  zu  erarbeiten  vermag.  Die  fast  überreiche  Instru- 
mentation Simmelscher  Schreibweise  beruht  gewiß  mit  darauf,  daß  alle 
jene  Einflüsse  mitklingen,  aber  nicht  vereinzelt,  sondern  eingeschmolzen 
in  die  Einheit  seines  Lebens  und  Denkens.  Er  hat  sich  durch  sie 
entfaltet,  und  sie  haben  ihn  bereichert;  sie  sind  aber  keine  »Vermögen« 
in  ihm,  sondern  sie  sind  zu  seinen  eigenen  Kräften  geworden.  Von 
Assimilation  darf  man  daher  nicht  sprechen,  weil  da  immer  noch  eine 
Zweiheit  verbleibt,  wenn  auch  eine  innige  und  naheverbundene,  sondern 
von  einer  vollen  Einbürgerung.  Hier  stoßen  wir  auf  einen  Zug,  der 
von  fern  an  Goethe  gemahnt,  den  ehrfürchtig  bewunderten  Meister 
Simmeis.  Und  gerade  dieser  Zug  sichert  dem  Simmelschen  Schaffen 
den  bezwingenden  Eindruck  des  edel  Kultivierten. 

In  eine  noch  tiefere  Schicht  läßt  uns  aber  jene  »Modernität« 
blicken:  nämlich  in  die,  aus  der  heraus  Simmel  als  erster  Probleme 
der  Zeit  ergriffen  hat.  Er  ist  Pragmatist  lange  vor  dem  Pragmatismus 
gewesen.  Er  ist  einer  der  Begründer  der  gegenwärtigen  Soziologie 
und  Geschichtsphilosophie.  Er  bietet  in  seinem  Goethebuch  das  erste 
Beispiel,  eine  einzigartige  Persönlichkeit  aus  dem  Wesenskern  ihres 
Seins  her  zu  verstehen,  aus  der  Eigengesetzlichkeit  ihres  Charakters. 
Die  Beispiele  ließen  sich  leicht  häufen.  Es  ist  —  nur  um  noch  ein 
einziges  zu  nennen  —  oft  erstaunlich,  wie  Simmel  von  ganz  anderen 
Seiten  her  Fragen  der  neuesten  differentiellen  Psychologie  aufwirft, 
auch  hier  ganz  dem  Zuge  der  Zeit  folgend,  oder  sie  verstehend  ihr 
voraneilend.  Indem  er  eben  völlig  die  Gegenwart  durcherlebt,  erfährt 
er  auch  immer  wieder,  was  sie  will.  In  wenigen  kreiste  ihr  geistiges 
Wollen   so  stark,  so  brausend,  wie  in  ihm.    Und  das  fühlte  dunkel- 


GEÜKG  SIMMEL  UND  DIE  l'HILOSÜPHIE  DER  KUNST.  l\ 

ahnend  die  Jugend  und  jubelte  ihm  zu.  Sie  grüßte  in  ihm  sich  selbst; 
in  vielem  war  er  ihr  Bestätigung  eigenen  Strebens,  Rechtfertigung 
eigenen  Wünschens,  Legitimation  eigener  Tat. 

Nach  zwei  Richtungen  hin  unterschied  sich  Simmel  allerdings 
deutlich  von  der  heutigen  Jugend.  Sie  verlangt  nach  dem  Absoluten 
und  Endgültigen.  Er  war  Skeptiker.  So  tief  er  nach  letzten  Ent- 
scheidungen bohrt,  die  »letzte  Entscheidung«  zu  finden,  lehnt  er  ab. 
Metaphysik;  dies  dunkle,  weite  Land  ist  seine  geistige  Heimat,  die  er 
als  ewiger  Wanderer  durchzieht  in  immer  neuem,  gläubigen  Staunen. 
Aber  das  »Unbedingte«  sucht  er  nicht,  das  Wandern  ist  seine  Be- 
stimmtheit. Wer  stets  wandert,  tut  dies  auch  bisweilen  nur  um  des 
Wanderns  willen.  Und  hier  verknüpft  sich  mit  jener  Skepsis  —  die 
ich  durchaus  ehre  und  weit  jeder  glatt  voreiligen  und  vorwitzigen 
Lösung  vorziehe  —  ein  Zug  des  »l'art  pour  VarU.  In  der  Kunst  läßt 
Simmel  diesen  Grundsatz  nicht  gelten,  aber  sein  Denken  nähert  sich 
manchmal  in  schwächeren  Stunden  dieser  Form.  Das  Artistische,  die 
Brillanz  des  großen  Könners  ist  ihm  nicht  durchaus  fremd.  Keiner, 
der  ein  Instrument  meistert,  verzichtet  darauf,  gelegentlich  mit  ihm  und 
auf  ihm  bloß  zu  spielen.  Denn  auch  dieses  Spiel  ist  probende  Kraft, 
schwingender  Rhythmus  des  Lebens.  Es  ist  also  kein  einseitiger  Lob- 
spruch zugunsten  der  Jugend,  wenn  sie  nach  diesen  Tendenzen  hin  völlig 
von  Simmel  abrückt.  Nur  wahre  Genialität  kann  ihn  da  überwinden;  und 
auch  sie  nicht  völlig.  Denn  was  Simmel  von  Goethe  sagt,  gilt  all- 
gemein von  allem  Schöpfertum  aus  lebendigen  Tiefen  eigenen  Seins:  >  Ge- 
rade was  Goethes  Werk  so  unvergeßlich  macht:  daß  es  in  jedem 
Augenblick  der  unmittelbare  Pulsschlag  seines  Lebens  ist,  macht  es 
in  vielen  dieser  Augenblicke  schwächer,  als  das  Werk  des  sekundären 
Künstlers,  das  von  einer  dem  Leben  bereits  gegenüberstehenden  Norm 
reguliert  ist.  Damit  liegt  aber  auch  hier  eine  objektive  Bedeutung  vor, 
die  diese  Äußerungen  jenseits  der  bloßen  Tatsache  ihres  momentanen 
seelischen  Erzeugtwerdens  besitzen:  innerhalb  des  Daseins  Goethes, 
innerhalb  der  Ordnung,  die  von  der  Kategorie  Goethe  objektiv  normiert 
wird,  sind  sie  genau  so  an  ihrer  Stelle  und  genau  so  legitimiert,  wie 
Tasso  und  die  Wahlverwandtschaften  in  den  Ordnungen,  die  unter 
den  objektiven  Kategorien  der  Ästhetik  stehen.« 


Ein  allseitig  ausgebautes  System  der  Kunstphilosophie  wird  dem-i 
nach  niemand  von  Georg  Simmel  erwarten  dürfen;  sondern  die  ein- 
zelnen Fragen  steigen  in  bunter  Folge  aus  dem  erlebenden  Erstaunen 
hervor  und  tauchen  immer  wieder  auf,  wenn  die  Lebenswelle  von 
neuem   an   ihre  Ufer   brandet,   einmal   stärker   und   das  andere  Mal 


12  EMIL  UTITZ. 


schwächer.  Daher  ist  die  sachliche  Behandlung  der  Fragen  auch  an 
keine  strenge  wissenschaftliche  Form  gebunden,  und  die  einzelne  Frage 
wird  stets  nur  soweit  untersucht,  als  der  augenblickliche  Zweck  er- 
heischt, als  der  Stellenwert  es  gerade  erfordert.  Darum  schrieb  auch 
Simmel  nicht  eigentlich  ästhetische,  psychologische  oder  metaphysische 
Werke,  sondern  bloß  der  Ausgangspunkt  ist  festgelegt  als  ästhetischer, 
psychologischer  usw.  Dann  läßt  Simmel  sich  von  seinem  Denken 
treiben,  gibt  sich  ihm  vertrauensvoll  hin;  und  Psychologie  steigt  zur 
Metaphysik  auf;  und  eine  ästhetische  Auseinandersetzung  landet  beim 
kategorischen  Imperativ.  Auch  dies  ist  wissenschaftlich  ein  Nachteil 
und  oft  sehr  unbequem  für  den  Leser,  der  gern  erfahren  würde,  was 
eigentlich  Simmel  zu  einer  Frage  zu  sagen  hatte.  Er  muß  mühsam 
suchen  und  zusammentragen,  und  an  Stellen  —  wo  er  es  nie  ver- 
mutete —  quilh  ihm  plötzlich  die  Antwort  entgegen.  Und  doch  herrscht 
kein  Chaos  bei  Simmel,  im  Gegenteil:  wir  erleben  zwingend  die  Not- 
wendigkeit, mit  der  er  von  Frage  zu  Frage  schreitet,  bald  länger  ver- 
weilend und  tiefer  sich  eingrabend,  bald  hastend  bis  zu  einem  fast 
den  Atem  beraubenden  Tempo.  Es  ist  eben  der  heiße  Pulsschlag  des 
Denkens,  den  wir  hier  nacherleben.  Wir  sind  in  der  Werkstatt  des 
Philosophierens,  Zeugen  dessen,  wie  eine  geistige  Bewegtheit  Probleme 
gebiert,  verfolgt,  spaltet,  wegwirft,  um  wieder  nach  ihnen  zu  greifen  usw. 
Ein  Drama  des  Geistes  offenbart  sich  uns.  Das  ist  aber  etwas  ganz 
anderes  als  reine  Wissenschaft,  von  der  Husserl  seine  einfache,  völlig 
klare,  aufgelöste  Ordnung«  verlangt.  Echte  Wissenschaft  kennt  — 
seiner  Anschauung  zufolge  —  »soweit  ihre  wirkliche  Lehre  reicht, 
keinen  Tiefsinn.  Jedes  Stück  fertiger  Wissenschaft  ist  ein  Ganzes  von 
den  Denkschritten,  deren  jeder  unmittelbar  einsichtig,  also  gar  nicht  tief- 
sinnig ist.  Tiefsinn  ist  Sache  der  Weisheit,  begriffliche  Deutlichkeit 
und  Klarheit  Sache  der  strengen  Theorie«. 

Die  Simmelsche  Ordnung  gleicht  dem  Zusammenhang  in  der 
Sammlung  eines  echten  Kunstfreundes.  Er  hat  immer  nur  das  ge- 
kauft, was  ihn  erregte,  was  ihm  Erlebnis  ward,  ohne  daran  zu  denken, 
geschichtliche  Entwicklungszüge  durch  die  Aufeinanderfolge  der  Werke 
zu  verdeutlichen,  Schulgemeinschaften  hervorzuheben  usw.  Und  doch 
herrscht  eine  bezwingende  Einheit  in  der  Sammlung:  weil  alle  ihre 
Stücke  erwählt  sind  aus  einer  einzigen  Stellungnahme  zur  Kunst  heraus, 
aus  einer  einzigen  Lebens-  und  Weltanschauung.  Weil  dies  der  Fall 
ist,  treten  die  Werke  —  wenn  auch  noch  so  verschieden  in  ihrem 
Stil  —  in  inneren  Zusammenhang  und  verlieren  ihre  Vereinzelung. 

Wie  nun  Simmel  Kunstphilosophie  betreibt,  möchte  ich  an  zwei 
kleinen  —  und  darum  leicht  übersichtlichen  —  Beispielen  illustrieren; 
nämlich  an  der   sehr  bezeichnenden  Abhandlung  »Der  Henkel«,  und 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  13 

an  einem  Aufsatz  über  das  Porträt,  der  wenige  Tage  nacli  Simmeis 
Tode  in  der  Neuen  Deutschen  Rundschau  erschien  und  in  gedrängter 
Form  eine  ganze  Reihe  für  Simmel  charai<teristischer  Anschauungen 
vorträgt : 

Der  Henkel  ist  das  Glied,  an  dem  die  Vase  ergriffen,  gehoben, 
gekippt  wird;  mit  ihm  ragt  sie  anschaulich  »in  die  Weit  der  Wirklich- 
keit; d.  h.  der  Beziehungen  zu  allem  Außerhalb  hinein,  die  für  das 
Kunstwerk  als  solches  nicht  existieren«.  »Diese  Henkel,  die  die  Vase 
dem  Dasein  jenseits  der  Kunst  verknüpfen,  sind  zugleich  in  die  Kunst- 
form einbezogen,  sie  müssen,  ganz  gleichgültig  gegen  ihren  praktischen 
Zwecksinn,  rein  als  Gestaltung  und  dadurch,  daß  sie  mit  dem  Vasen- 
körper  eine  ästhetische  Anschauung  bilden,  gerechtfertigt  sein.  Durch 
diese  zweifache  Bedeutung  und  ihr  charakteristisch  deutliches  Hervor- 
treten wird  der  Henkel  zu  einem  der  nachdenklichsten,  ästhetischen 
Probleme.«  Die  Formulierung  dieses  Problems  wirkt  gewiß  über- 
raschend, aber  es  ist  doch  seinem  Wesen  nach  nichts  anderes  als  die 
so  viel  erörterte  Frage  von  »Schönheit  und  Zweckmäßigkeit«.  Sehr 
bezeichnend  für  Simmel  ist  es,  daß  er  jene  recht  weit  gediehenen 
Diskussionen  einfach  beiseite  schiebt,  nicht  einmal  erwähnt,  sondern 
von  einem  einzelnen  Erlebnis  ausgeht.  Dadurch  empfängt  das  Problem 
einen  pikanten  Reiz,  aber  es  wird  auch  einseitig.  Man  sieht  es  allzu- 
sehr unter  der  Perspektive  dieses  einen  Beispiels,  und  nur  der  genaue 
Kenner  hat  alle  die  Möglichkeiten  vor  Augen,  welche  Architektur, 
Denkmalkunst,  sozialer  Roman,  religiöse  Malerei  aufgeben.  Gewiß 
vermag  die  Beweisführung  am  Einzelfall  des  Henkels  so  geführt  zu 
werden,  daß  sie  allgemein  gültig  und  schlechthin  entscheidend  wird, 
aber  das  Problem  wächst  dann  aus  einer  sehr  schmalen  Grundlage 
auf,  und  seine  Linien  zeichnen  sich  nur  recht  dünn  ab.  Jedenfalls  soll 
nun  —  um  Simmeis  Ausführungen  fortzusetzen  —  der  Henkel  seine 
praktische  Funktion  nicht  nur  tatsächlich  üben  können,  »sondern  er 
muß  dies  auch  durch  seine  Erscheinung  eindringlich  machen«.  »Es 
handelt  sich  gerade  darum,  daß  die  Nützlichkeit  und  die  Schönheit 
als  zwei  einander  fremde  Forderungen  an  den  Henkel  herantreten  — 
jene  von  der  Welt,  diese  von  dem  Formganzen  der  Vase  her  — ,  und 
daß  nun  gleichsam  eine  Schönheit  höherer  Ordnung  beide  übergreift 
und  ihren  Dualismus  in  letzter  Instanz  als  eine  nicht  weiter  beschreib- 
liche  Einheit  offenbart.  Durch  die  Spannweite  seiner  beiden  Zuge- 
hörigkeiten wird  der  Henkel  zu  einem  höchst  bezeichnenden  Hinweis 
auf  diese  . . .  höhere  Schönheit,  für  die  alle  Schönheit  im  engeren  Sinne 
nur  ein  Element  ist;  diese  wird  von  jener  sozusagen  überästhetischen 
Schönheit  mit  den  gesamten  Forderungen  von  Idee  und  Leben  zu  der 
synthetischen    Form    zusammengefaßt,    die    eben    diese   engere   oder 


14  EMIL  UTITZ. 


speziellere,  bisher  aber  fast  ausschließlich  analysierte  Schönheit  an  den 
unmittelbareren  Elementen  des  Daseins  vollzieht.  Diese  Schönheit 
oberster  Instanz  ist  wohl  das  Entscheidende  für  alle  wirklich  großen 
Kunstwerke,  und  ihre  Anerkennung  scheidet  uns  am  weitesten  von 
allem  Ästhetentum.«  Man  merkt  wohl  deutlich,  wie  Simmel  die  Probleme 
zerfließen,  indem  er  sie  übersteigert.  Zuerst  ein  nachdenkliches  Er- 
lebnis; dann  blitzt  die  Frage  von  »Schönheit  und  Zweckmäßigkeit« 
auf;  es  ist  aber  nur  ein  kurzer  Übergang  —  das  Motiv  klingt  an  — 
und  bald  taucht  nichts  Geringeres  auf  als  das  große  Grundproblem 
von  »Form  und  Inhah«  und  ihre  Vermählung,  Durchdringung  in  der 
Kunst,  und  zum  Schluß  ertönt  sogar  der  gewaltige  Akkord,  um  dessen 
Auflösung  sich  die  ganze  allgemeine  Kunstwissenschaft  müht,  ja  zu 
dessen  Zweck  sie  geschaffen  wurde.  Und  all  dies:  gelegentlich  der 
Betrachtung  eines  Henkels!  Ein  wunderbares  Beispiel,  wie  man  einer 
Frage  nachjagen  kann,  wie  man  sie  in  immer  tiefere  Schichten  hinein 
verfolgt;  aber  wirklich  befriedigt  werden  die  so  aufgedeckten  Probleme 
nicht.  Was  heißt  hier  überhaupt  »schön«  oder  »ästhetisch«,  »Form« 
oder  »Kunst«?  Man  ahnt  es,  fühlt  es,  begreift  es  halb  und  ungefähr, 
und  man  versteht,  was  Simmel  meint,  weil  man  den  Zug  seines  Denkens 
miterlebt.  Jetzt  müßte  jedoch  die  systematische,  kritische  Untersuchung 
eingreifen,  nachdem  die  Probleme  in  so  spannender  Anschaulichkeit 
aufgerollt  sind. 

Es  folgt  aber  ein  zweiter  Ausblick,  der  uns  die  Weite  der  sym- 
bolischen Beziehungen  zeigen  soll,  »die  sich  gerade  an  ihrer  Geltung 
auch  für  das  an  und  für  sich  Unbedeutende  offenbart.  Denn  es  handelt 
sich  um  nichts  Geringeres,  als  um  die  große,  menschliche  und  ideale 
Synthese  und  Antithese:  daß  ein  Wesen  ganz  und  gar  der  Einheit 
eines  umfassenden  Gebietes  angehört  und  zugleich  von  einer  ganz 
anderen  Ordnung  der  Dinge  beansprucht  wird,  indem  diese  letztere 
ihm  eine  Zweckmäßigkeit  auferlegt,  von  der  seine  Form  bestimmt  wird, 
ohne  daß  diese  Form  darum  weniger  jenem  ersten  Zusammenhange  — 
als  ob  der  zweite  gar  nicht  bestünde  —  eingeordnet  bleibt«.  »Wie  der 
Henkel  über  seine  Bereitheit  zu  der  praktischen  Aufgabe  nicht  die 
Formeinheit  der  Vase  durchbrechen  darf,  so  fordert  die  Lebenskunst 
vom  Individuum,  seine  Rolle  in  der  organischen  Geschlossenheit  des 
einen  Kreises  zu  bewahren,  indem  es  zugleich  den  Zwecken  jener 
weiteren  Einheit  dienstbar  wird  und  durch  solche  Dienstbarkeit  den 
engeren  Kreis  in  den  umgebenden  einordnen  hilft.«  Und  >das  ist  ein 
Wunderbarstes  in  der  Weltauffassung,  Weltgestaltung  im  Menschen, 
daß  ein  Element  die  Selbstgenügsamkeit  eines  organischen  Zusammen- 
hanges mitlebt,  als  ginge  es  ganz  in  ihm  auf,  und  zugleich  die  Brücke 
sein  kann,   über  die  ein  ganz  anderes  Leben  in  jenes  erste  einfließt, 


ÜEORG  SIMMKL  UND  IHK  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  15 


die  Handhabe,  an  der  die  Ganzheit  des  einen  die  Ganzheit  des  anderen 
erfaßt,  ohne  daß  darum  eine  von  ihnen  zerrissen  wird.  Und  diese 
Kategorie  findet  in  dem  Henkel  der  Vase  vielleicht  ihr  äußerlichstes 
aber  eben  deshalb  ihre  Spannweite  am  meisten  offenbarendes  Symbol«  • 
So  ist  also  auch  in  schnellem  Fluge  der  Weg  von  dem  Problem  der 
allgemeinen  Kunstwissenschaft  bis  in  die  Metaphysik  durchmessen. 
Man  bewundert  diese  kräftige  philosophische  Bewegtheit,  die  wahr- 
lich im  Geringsten  das  Höchste  erschaut,  wie  der  Gläubige  im  schlichten 
Grashalme  das  ewige  Rätselwerk  göttlicher  Schöpfung.  Aber  ein  wenig 
von  der  Haltung  dieses  »Gläubigen«  bleibt  bei  Simmel.  Gewiß  ist 
mit  diesen  Anmerkungen  eine  Frage  nicht  für  ihn  »erledigt«;  eine  Er- 
ledigung kennt  er  doch  überhaupt  nicht.  In  immer  neuen  Zusammen- 
hängen dringt  er  in  die  Tiefenschicht  der  Grundfragen  vor,  aber  es 
sind  eben  Zusammenhänge  des  Vordringens,  nicht  jene  kritische  Ord- 
nung, in  der  die  Fragen  allein  ihre  Heimat  haben.  Ein  sehr  scharfer 
Kritiker  hat  darum  Simmel  vorgeworfen,  er  unterbreite  seine  Studien 
dem  Publikum;  das  ist  ausgezeichnet  gesagt:  aber  dieses  Studieren  ist 
für  Simmel  Philosophie  in  ihrem  funktionellen  Charakter;  jede  andere 
lehnt  er  ab.  Er  glaubt  nicht  an  das  Ausmalen  und  Beenden;  die 
Komposition  ist  Erzeugnis  seiner  Geistigkeit,  nicht  objektive  Ver- 
knüpfung der  Sachverhalte.  All  das  sei  nur  zur  Charakteristik  gesagt, 
nicht  um  überhebend  Lob  und  Tadel  zu  verteilen.  Man  muß  aber 
auch  erkennen,  was  Simmel  nicht  bot,  nicht  bieten  konnte  und  durfte, 
um  einzusehen,  was  er  war.  Am  Ende  einer  Betrachtung  über  Ruinen 
sagt  Simmel:  »Die  Gleichung  zwischen  Natur  und  Geist,  die  das  Bau- 
werk darstellte,  verschiebt  sich  zugunsten  der  Natur.  Diese  Ver- 
schiebung schlägt  in  eine  kosmische  Tragik  aus,  die  für  unser  Empfinden 
jede  Ruine  in  den  Schatten  der  Wehmut  rückt;  denn  jetzt  erscheint 
der  Verfall  als  die  Rache  der  Natur  für  die  Vergewaltigung,  die  der 
Geist  ihr  durch  die  Formung  nach  seinem  Bild  angetan  hat.«  Diese 
kosmische  Tragik  ist  auch  letzthin  die  Tragik  Simmeis. 

Wir  nahmen  uns  vor,  als  zweites  Beispiel  Simmelschen  Kunst- 
philosophierens seine  Abhandlung  über  das  Problem  des  Porträts  durch- 
zusprechen: das  angeblich  Sichtbare  ist  ein  buntes  Gemenge  des  wirk- 
lich Gesehenen  mit  Ergänzungen  äußerer  und  innerer  Art,  mit  Ge- 
fühlsreaktionen Schätzungen,  Verknüpf theiten  mit  Bewegungen  und 
Umgebungen;  dazu  kommt  der  Wechsel  in  Standpunkt  und  Anteil- 
nahme des  Beobachters,  kommen  die  praktischen  Interessen,  die  sich 
zwischen  Mensch  und  Mensch  schlingen;  --  kurz,  der  Mensch  ist 
dem  Menschen  ein  fluktuierender  Komplex  von  Eindrücken  aller  Sinne 
und  seelischen  Assoziationen,  von  Sympathien  und  Antipathien,  von 
Urteilen  und  Vorurteilen,   Erinnerungen  und  Hoffnungen.    Alles  dies 


16  EMIL  UTITZ. 


tritt  uns  mit  der  körperlichen  Erscheinung  des  Menschen  gegenüber, 
und  aus  diesem  Knäuel  das  herauszulösen,  was  wir  wirklich  »sehen«, 
das  rein  sinnlich  Optische  daran,  jenseits  aller  Deutungen  und  Hinzu- 
fügungen, uns  zu  besonderem  Bewußtsein  zu  bringen,  haben  wir  in 
der  Regel  weder  Interesse  noch  Möglichkeit.  Andererseits  sehen  wir 
auch  zu  wenig,  wir  bemerken  unzähliges  Sichtbare  nicht,  weil  unsere 
Aufmerksamkeit  sich  nicht  darauf  richtet,  weil  kein  praktischer  Wert 
sich  daran  knüpft.  Was  wir  populärerweise  das  Bild  des  Menschen 
nennen  und  auch  eigentlich  zu  sehen  glauben,  ist  sehr  viel  mehr  und 
sehr  viel  weniger  als  seine  wirkliche  Sichtbarkeit«.  Dieses  wirklich 
Sichtbare  am  Menschen  herauszustellen,  ist  das  erste  Amt  des  Porträts. 
»Das  Auge  des  Malers  hebt  aus  dem  unabsehlich  vielgliedrigen  und 
zugleich  fragmentarischen  Geflecht,  das  uns  für  die  Praxis  des  Tages 
den  bestimmten  Menschen  bedeutet,  das  rein  optische  Sinnenbild 
heraus.  Es  vollzieht  die  Abstraktion  des  rein  Anschaulichen  aus  der 
verworrenen  Wirklichkeit  des  Menschen.« 

Wie  vermag  aber  die  Malerei  das  Seelische  zu  gestalten,  wenn 
ihre  eigene  Aufgabe  lediglich  in  der  Beschränkung  auf  das  rein  Optische 
besteht?  Simmel  erklärt,  daß  Körper  und  Seele  nicht  zwei  »Teile«  des 
Menschen  sind,  die  ihn  erst  zusammensetzen,  und  von  denen  der  eine 
unmittelbar  sinnlich  gegeben  ist,  der  andere  erst  erschlossen  werden 
muß.  Vielmehr  der  Mensch  ist  eine  lebendige  Einheit,  die  erst  durch 
eine  nachträgliche  Abstraktion  in  jenes  beides  zertrennt  wird,  und  als 
diese  Einheit  nehmen  wir  ihn  auch  wahr.  >.Nicht  das  Auge  in  seiner 
anatomischen  Einzelbedeutung  als  ein  isoliertes  Instrument,  sondern 
unser  einheitliches  Sein,  der  ganze  Mensch,  wird  des  anderen  ganzen 
Menschen  gewahr,  und  die  einzelnen  Sinne  sind  nur  die  Kanäle,  durch 
die  die  Oesamtwahrnehmungskraft  unseres  Wesens  fließt.  Wie  der 
Wahrnehmende  selbst  eine  Totalexistenz  ist,  die  in  jeder  ihrer  be- 
sonderen Funktionen  doch  ganz  lebt,  so  ist  für  ihn  auch  der  Wahr- 
genommene von  vornherein  der  beseelte  Leib  als  eine  Einheit,  die 
nicht  erst  durch  eine  nachträgliche  komplizierte  Synthese  zustande 
kommt.«  Das  Seelische,  die  Beseeltheit  ist  nun  Einheitsprinzip  des 
Bildes;  denn  die  Seele  »ist  das  zusammenhaltende,  ordnende  Gesetz 
der  Züge,  die  allein  die  malerische  Realität  sind,  wie  das  Naturgesetz 
weder  die  Sache  selbst  ist,  noch  irgendwo  außerhalb  der  Sache  ist, 
sondern  die  Ordnung  und  die  verständliche  Einheit  und  das  gegen- 
seitige Verhältnis  der  Sachen  ausmacht«.  Es  muß  aber  absolut  daran 
festgehalten  werden,  daß  dem  Maler  in  erster  und  letzter  Linie  nur 
Farbflecken  zur  Verfügung  stehen,  daß  sein  Endzweck  lediglich  die 
künstlerisch  vollkommene  Gestaltung  der  optischen  Erscheinung,  der 
Oberfläche  des  Menschen  sein  kann.    Diese  sinkt  unmöglich  zu  einem 


3 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  I7 

bloBen  Mittel  herab,  um  zu  etwas  zu  gelangen,  was  nicht  sichtbar  ist 
»Malerei  ist  nicht  Psychologie,  und  wenn  ihr  Zweck  wäre,  uns  die 
Seele  eines  Menschen  zu  offenbaren,  so  wäre  das  Porträt  eines  Menschen 
ersichtlich  gänzlich  überflüssig,  falls  uns  seine  Seele  etwa  durch  andere 
Mittel,  durch  unmittelbare  Beobachtung,  durch  Zeugnisse  und  Bekennt- 
nisse bekannt  würde.«  Nur  das,  aber  auch  alles  das,  was  jenseits  der 
künstlerischen  Vollendung  der  Erscheinung,  rein  als  geformter  und 
farbiger  Erscheinung,  steht,  kann  als  Mittel  für  eben  diese  Vollendung 
gelten,  in  unserem  Falle  also  die  Beseeltheit  als  Prinzip  der  Einheit, 
Zusammengefaßtheit  und  Gesetzlichkeit. 

Eine  zweite,  oder  die  zweite  Einheitsbindung  ist  die  ornamentale: 
»Die  Geschichte  des  Menschenbildnisses  zeigt,  daß  die  Erscheinung 
um  so  strenger  stilisiert,  um  so  formalsymmetrischer,  bis  zum  Geometri- 
schen hin,  um  so  mehr  im  ornamentalen  Sinne  ausgeglichen  und  ge- 
schlossen ist,  je  weniger  der  Ausdruck  der  Seele  gesucht  wird  oder 
gelingt.«  Nebenbei  bemerkt,  scheint  es  doch  auffällig,  daß  Simmel  sich 
hier  dem  populären  Sprachgebrauch  anpaßt  und  von  einem  Streben 
nach  seelischem  Ausdruck  redet;  folgerichtig  könnte  er  bloß  von  einem 
Streben  handeln,  das  die  reine  Sichtbarkeit  durch  Beseeltheit  zu  ver- 
einheitlichen trachtet.  Er  findet,  daß  in  einem  großen  Teil  der  primi- 
tiven wie  der  hieratisch  ägyptischen  Kunst  die  Erscheinung  in  eine 
Form  eingestellt  wird,  die  an  und  für  sich,  auch  jenseits  der  mensch- 
lichen Gestalt,  einen  in  sich  geschlossenen  Sinn  hat  und  dadurch  die 
Einheit  des  in  sie  Hineingestalleten  von  vornherein  anschaulich  garan- 
tiert: den  Kreis,  das  Dreieck  oder  Viereck,  die  genaue  Symmetrie  der 
Hälften  um  die  Mittelachse  herum.  Die  Einheit  kommt  hier  nicht  aus 
dem  Gegenstand  selbst,  wächst  nicht  organisch  in  und  aus  ihm,  sondern 
es  besteht  ein  für  sich  allein  schon  sinnvolles,  rationales  Schema,  in 
das  die  Erscheinung  eingestellt  wird  und  das  ihr  seine  eigene  Ein- 
heitlichkeit mitteilt.  »In  der  klassischen  Kunst  der  Griechen  und  der 
Renaissance  ist  diese  Gestaltungsart  noch  keineswegs  ganz  ver- 
schwunden, sie  ist  nur  sehr  viel  biegsamer,  lebendiger,  komplizierter 
geworden  und  zum  großen  Teil  schon  durch  die  andere  Form  oder 
Kraft  der  Einheit  ersetzt:  durch  den  Ausdruck  der  Beseeltheit.«  Man 
kann  genau  verfolgen,  daß  das  eine  Prinzip  gerade  in  dem  Maße  domi- 
niert, in  dem  das  andere  zurücktritt.  Zu  vollkommener  Herrschaft  aber 
kommt  die  Seelenhaftigkeit  als  zusammenhaltende  Funktion  der  Er- 
scheinung erst  bei  Rembrandt.  »Soweit  es  noch  an  der  Seele  als  allein 
zusammenhaltender  Kraft  fehlt,  soweit  noch  ein  geometrisierendes  Schema 
sie  vertritt,  müssen  die  Elemente  reduziert,  vereinfacht  werden,  um  in 
diesem  unterzukommen.  Die  Seele  ist  ein  soviel  weiter  ausgreifendes, 
tiefer  erfassendes,  bewegter  schwingendes  Gestaltungsprinzip,  daß  sie 

Zcilsclir.  f.  Ästhetik  II.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  2 


18  EMIL  UTITZ. 

I 

ihre  Macht  über  ganz  frei  spielende,  unendlich  differenzierte,  mit  der 
Berechnung  gar  nicht  festzulegende  Elemente  üben  kann.  Den  äußersten 
Pol  dieser  Reihe  stellen  gewisse  Porträtbüsten  von  Rodin  dar,  die  mit 
offenbarer  Absichtlichkeit  noch  die  letzte  Schematik :  die  Symmetrie  der 
beiden  Gesichtshälften  zerstören,  deren  Ungleichheit  fast  übertreibend 
betonen;  die  Seele  zeigt  vielleicht  erst  hier  das  Unbegrenzte  ihrer 
Möglichkeiten.«  Aber  auch  diese  Kunst  kann  nicht  völlig  ausschalten 
das  rein  formale  Aufeinanderangewiesensein  der  Oberflächenteile,  den 
Zusammenhalt  durch  ihr  dekoratives  Verhältnis.  »Es  kommt  nur  darauf 
an,  welches  der  beiden  diametral  entgegengesetzten  Prinzipien  den  ent- 
scheidenden und  gewollten  Dienst  für  die  Vereinheitlichung  der  mensch- 
lichen Erscheinung  leistet.« 

Das  Zeitgenössische«  und  »Moderne«  —  wovon  wir  bereits  ein- 
gehend sprachen  —  treten  gerade  in  diesem  Aufsatz  besonders  stark 
hervor.  Ein  Nachhall  aus  Pragmatismus  und  Bergson  leitet  ihn  ein; 
dann  melden  sich  deutlich  die  Anschauungen  Fiedlers  und  Hildebrands 
an.  Der  Streit  von  »Form  und  Seele«,  »Abstraktion  und  Einfühlung«  usw. 
spielt  sehr  charakteristisch  hinein.  Staunenswert  ist  wieder  die  Weite 
des  Blicks!  Aber  der  Standpunkt  scheint  so  hoch  gewählt,  daß  die 
meisten  Linien  sich  verzerren  oder  ineinanderfließen.  Man  fühlt  sich 
immer  versucht,  an  bestimmten  Punkten  zu  unterbrechen,  um  kritische 
Erwägungen,  Sicherungen  und  Ergänzungen  einzuschieben.  Es  ist 
wunderlich,  wie  Simmel  bisweilen  ganz  offenkundige  Ungereimtheiten 
übersieht,  wie  er  sich  mit  vieldeutigen  Umschreibungen  begnügt,  weil 
er  ganz  im  Banne  des  Problems  liegt,  dem  er  gerade  nachpürscht.  Ich 
will  nicht  durch  eine  ins  einzelne  sich  verbeißende  Kritik  den  Eindruck 
verwischen;  aber  vielleicht  darf  ich  meinen  eigenen  Eindruck  schildern: 
er  ist  fast  quälend,  weil  die  einander  überstürzenden  und  durcheinander 
wirbelnden  halben  und  dreiviertel  Wahrheiten  mich  nicht  in  Ruhe  ent- 
lassen, sondern  aufpeitschen.  Das  möchte  ich  beinahe  als  Erfolg 
Simmeis  buchen :  diese  fast  zwingende  Gewalt,  einen  zur  selbständigen 
Weiterführung  zu  nötigen.  Auf  den  ersten  Blick  blendet  z.  B.  die 
kühne  Erfüllung  Fiedlerschen  Formalismus  mit  seelischem  Gehalt  auf 
den  Wegen  einer  psychologischen  Deutung,  die  an  James,  Bergson, 
Scheler  oder  William  Stern  erinnert,  und  durch  die  Erklärung,  Beseelt- 
heit sei  das  Ordnungsgesetz  der  Sichtbarkeit.  Was  wird  aber  damit 
geholfen?  Wir  wissen  alle,  daß  etwa  die  melancholische  Stimmung 
eines  Herbstabends  zum  Gestaltungsmotiv  eines  Bildes  werden  kann, 
und  in  diesem  Falle  die  gesamte  Komposition  bedingt.  Die  Stimmung 
liegt  nicht  irgendwie  »hinter«  den  Farben,  steht  nicht  als  >ldee  über 
ihnen«,  sondern  lebt  nur  in  eben  dieser  bestimmten  räumlichen  und 
qualitativen   Anordnung  der  Farben.    Simmel   pointiert  lediglich  eine 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  IQ 

heute  in  fortschrittlichen  Kreisen  kaum  mehr  bestrittene  Lehre.  Neu 
ist  nur,  daß  die  Beseeltheit  > Mittel«  bleiben  muß.  Aber  gerade  das 
erscheint  schief:  ihre  Gestaltung  in  die  reine  Form  der  Sichtbarkeit  ist 
ja  zweifellos  gerade  der  Zweck,  wenn  wir  schon  von  diesem  Typ  der 
Kunst  reden.  Nur  auf  diese  eine  Unausgeglichenheit  wollte  ich  hin- 
weisen, weil  auch  sie  für  Simmel  charakteristisch  scheint,  nämlich  eine 
gewisse  Übertünchung  bestehender  Anschauungen.  Sie  entspringt 
keineswegs  eitler  Originalitätshascherei,  selbst  wenn  sie  so  deutlich 
sich  aufdecken  läßt  wie  in  unserem  Falle,  sondern  jener  Eigenart 
Simmeis,  alles  der  Bewegtheit  seines  Denkens  anzupassen  und  in  sie 
hereinzuziehen.  Streift  man  aber  diese  Form  ab  —  dann  verlischt 
manchmal  der  Glanz  —  und  auch  dies  weist  auf  das  Kunstmäßige 
im  Schaffen  Simmeis  hin.  Gewiß  hat  jede  Wissenschaft  ihre  Form, 
die  man  nicht  als  Kleid  betrachten  darf,  das  beliebig  gewechselt  werden 
kann,  sondern  als  apriorische  Voraussetzung  ihres  Seins;  die  Form 
Simmeis  ist  aber  häufig  nicht  jene  von  der  Wissenschaft  geforderte, 
sondern  die  seiner  eigenen  Persönlichkeit. 


Darum  treten  nun  auch  Vorlieben  für  bestimmte  Künstler  und 
Kunstrichtungen  so  überaus  stark  hervor.  Simmel  bemüht  sich  kaum, 
seine  ausgeprägten  Zuneigungen  aus  Gründen  historischer  oder  syste- 
matischer Gerechtigkeit  zu  unterdrücken.  Schon  aus  der  Porträtabhand- 
lung geht  hervor,  daß  er  das  Prinzip  der  Beseeltheit  dem  ornamentalen 
vorzieht,  es  irgendwie  als  das  höhere  betrachtet.  Und  diese  Beseelt- 
heit erscheint  ihm  dann  zur  höchsten  Vollendung  gereift,  wenn  sie 
anschauliche  Manifestation  jener  Lebensbewegtheit  wird,  die  ihm  selbst 
Grundlage  des  Seins  und  Schaffens  bedeutet.  Diese  sucht  er  in  der 
Kunst,  und  er  glaubt  sie  besonders  bei  Michelangelo,  Rembrandt  und 
Rodin  gefunden  zu  haben,  und  vor  allem  auch  bei  Goethe.  Seine, 
diesen  einzelnen  Persönlichkeiten  gewidmeten  Schriften  wirken  fast 
wie  Umlagerungen  seiner  eigenen  geistigen  Gesetzlichkeit  in  eine  andere 
Ebene,  und  wie  komplizierte  Variationen  über  ein  nie  abbrechendes 
Motiv;  man  könnte  auch  sagen:  wie  letzte  Überhöhungen  des 
eigenen  Selbst. 

Wir  folgen  zuerst  dem  Rembrandtbuch  und  wollen  dann  die 
anderen  Arbeiten  nur  kürzer  besprechen.  Das  Bezeichnende  ist,  wie 
Simmel  jede  Qualität  der  Rembrandtschen  Kunst  bis  ins  Metaphysische 
hinein  verfolgt,  also  nicht  nur  eine  ganze  Kunstwissenschaft  um  sie 
umbaut,  sondern  eine  ganze  Philosophie.  Natürlich  nicht  im  Sinne 
eines  Systems,  sondern  immer  gelegentlich  im  Zuge  der  einzelnen 
Fragen.    Er  handelt  z.  B.  vom  Bewegungsproblem  Rembrandts.    Da 


20 


EMIL  UTITZ. 


beruft  er  sich  darauf,  daß  der  »ganze  Mensch,  das  Absolute  von  Seele 
und  Ich,  in  jedem  einzelnen  Erlebnis  enthalten  zu  sein«  scheint;  »denn 
die  in  ihm  geschehende  Produktion  wechselnder  Inhalte  ist  die  Art, 
auf  die  das  Leben  lebt,  und  es  behält  sich  nicht  eine  irgend  abtrenn- 
bare »Reinheit«  und  Fürsichsein  jenseits  seiner  Pulsschläge  vor«.  Leben 
ist  Kontinuität,  die  in  jedem  Augenblick  sich  als  ganze  in  einer  anderen 
Form  äußert.  »Dies  ist  nicht  weiter  zu  deduzieren,  weil  das  Le^jen, 
das  hiermit  irgendwie  zu  formulieren  versucht  wird,  eine  fundamentale, 
unkonstruierbare  Tatsache  ist.  Jeder  Augenblick  des  Lebens  ist  das 
ganze  Leben,  dessen  stetiger  Fluß  —  dies  eben  ist  seine  unvergleich- 
liche Form  —  seine  Wirklichkeit  nur  an  der  Wellenhöhe  hat,  zu  der 
er  sich  jeweilig  hebt;  jeder  jetzige  Moment  ist  durch  den  ganzen  vor- 
herigen Lebenslauf  bestimmt,  ist  der  Erfolg  aller  vorangegangenen 
Momente,  und  schon  deshalb  ist  jede  jetzige  Lebensgegenwart  die 
Form,  in  der  das  ganze  Leben  des  Subjekts  wirklich  ist.«  Und  die 
Rembrandtsche  Lösung  des  Bewegungsproblems  steht  völlig  im  Zeichen 
dieser  Auffassung  des  Lebens.  Man  bemerkt,  wie  Simmel  gleichsam 
in  Rembrandt  die  künstlerische  Bestätigung  seiner  eigenen  philosophi- 
schen Lebenshaltung  gewinnt,  und  wie  er  darum  Rembrandt  schätzt. 
Ganz  im  Gegensatz  dazu  steht  die  italienische  Kunst,  eingeordnet  in 
die  Wertmetaphysik  des  klassischen  Griechentums:  »Sinn  und  Wert 
der  Dinge  liegt  im  Sein,  in  ihrer  festumschriebenen  Wesenheit,  wie 
ihr  zeitloser  Begriff  sie  ausdrückt.«  So  sucht  diese  Kunst  die  jenseits 
alles  Kommens  und  Gehens  verharrende  Idee,  die  überhistorische  Form 
der  seelisch-körperlichen  Existenz. 

Wie  kann  aber  der  Maler  Bewegtheit  im  Bilde  wiedergeben  ?  Be- 
wegtheit ist  —  nach  Simmel  —  Qualität  gewisser  Anschauungen.  Der 
Künstler  bringt  sie  auf  ihren  Höhepunkt,  indem  er  sie  an  ein  tatsäch- 
lich unbewegtes  Bild  zu  binden  weiß.  »Und  erst,  wenn  wir  uns  klar- 
machen, daß  wir  auch  der  Wirklichkeit  gegenüber  nicht  die  von  der 
Momentphotographie  festgehaltene  Attitüde  .sehen',  sondern  Bewegung 
als  Kontinuität,  was  dadurch  ermöglicht  wird,  daß  .  . .  unser  subjektives 
Leben  selbst  eine  Lebenskontinuität  ist  und  nicht  ein  Kompositum  aus 
einzelnen  Momenten,  das  ja  überhaupt  kein  Prozeß  und  keine  Aktivität 
wäre  —  so  begreifen  wir,  daß  das  Kunstwerk  viel  mehr  ,Wahrheit' 
darbieten  kann,  als  die  Momentphotographie.«  Wir  empfinden  den 
Augenblick  der  Bewegung  als  den  Erfolg  der  Vergangenheit  und  die 
Potentialität  des  Zukünftigen;  eine  »gleichsam  an  einem  inneren  Punkte 
gesammelte  Kraft  setzt  sich  in  die  Bewegung  um.  Je  reiner  und  stärker 
aber  diese  Bewegung  erfaßt  ist,  desto  weniger  bedarf  sie  für  den  Be- 
schauer der  intellektuellen  und  phantasiemäßigen  Assoziationen,  sondern 
ihre  Bestimmtheiten  liegen  unmittelbar  innerhalb  der  Anschauung,  nicht 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST,  21 


außerhalb  ihrer«.  Ist  die  Bewegung  wiri<iich  in  ihrer  ganzen  Kraft. 
Richtung,  undurchkreuzten  Einheit  innerlich  erfaßt  und  künstlerisch 
durchlebt,  so  ist  der  geringste  Teil  ihrer  Erscheinung  eben  schon  die 
ganze,  »denn  jeder  Punkt  enthält  ihr  bereits  Abgelaufenes,  weil  es  ihn 
bestimmte,  und  ihr  noch  Bevorstehendes,  weil  er  es  bestimmt  —  und 
diese  beiden,  zeitlichen  Determinationen  sind  in  der  einen,  einmaligen 
Sichtbarkeit  dieses  Striches  gesammelt,  oder  vielmehr:  sie  sind  der 
Strich«,  eben  der  Strich  Rembrandts. 

Ist  so  Rembrandt  der  Maler  der  unmittelbaren  Lebenskontinuität, 
handelt  es  sich  doch  keineswegs  bei  ihm  um  gemalte  Psychologie; 
denn  diese  ergreift  einzelne,  ihrem  Gehalt  nach  begrifflich  ausdrück- 
bare Elemente  oder  Seiten  der  inneren  Geschehensganzheit.  »Ein  sozu- 
sagen logisch  faßbares  Element  wird  von  der  Kunst,  wo  Psychologie 
sie  beherrscht,  als  Vertreter  dieser  Ganzheit  vorgetragen.  Die  psycho- 
logische Gerichtetheit  bewirkt  immer  eine  Singularisierung  und  damit 
eine  gewisse  Verfestigung,  die  sich  der  in  jedem  Augenblick  vor- 
handenen, aber  kontinuierlich  fließenden  Ganzheit  des  Lebens  enthebt. 
Die  Darstellung  des  Menschen  bei  Rembrandt  ist  im  äußersten  Maße 
beseelt,  aber  nicht  psychologisch.«  Und  ebenso  darf  man  nicht  Rem- 
brandts Kunst  unter  dem  Gesichtspunkt  des  rein  Malerischen  betrachten. 
Als  ihr  malerisches  Problem  erscheint  einfach  die  »Darstellung  einer 
menschlichen  Lebensganzheit,  aber  wirklich  als  malerisches,  nicht  als 
psychologisches,  oder  metaphysisches  oder  anekdotisches  Problem«. 

Von  so  tiefem  Leben  durchschüttert,  in  so  langlaufende  Schick- 
salsfäden versponnen  Rembrandts  Figuren  uns  oft  erscheinen,  keine 
hat  jenes  eigentümlich  Rätselhafte,  wie  die  Mona  Lisa  oder  Botticellis 
Giuliano  Medici,  wie  Giorgiones  Jünglingsköpfe  in  Berlin  und  Budapest 
und  Tizians  Junger  Engländer  in  Pitti;  obgleich  gerade  diese  Kunst 
durchaus  auf  rationalistische  Klarheit  ausgeht,  auf  die  Descartessche 
»Deutlichkeit«.  Gewissen  letzten  Tatsachen  und  Problemen  gegenüber 
ist  die  Bemühung  nach  logisch-begrifflicher  Klarheit  ihrer  Darstellung 
und  Lösung  bisher  immer  aus  einer  fundamentalen  Unklarheit  ent- 
sprungen, die  sich  in  eine  nicht  geringere  der  scheinbaren  Resultate 
fortgesetzt  hat.  Oder  anders  ausgedrückt:  »das  Sein,  so  viel  plastischer, 
formsicherer,  unproblematischer  als  das  Werden  es  erscheint,  ist  dennoch 
rätselhaft  und  verschlossen,  während  das  Werden,  dem  all  jenes  mangelt, 
dennoch  erst  uns  eigentlich  nachfühlbar  ist  und  jedes  Stadium  des 
Seins  uns  innerlich  assimiliert  und  begreiflich  macht  —  vielleicht,  weil 
auch  das  Begreifen  ein  Leben  ist,  und  nur  das  Lebendige  eigentlich 
vom  Leben  begriffen  werden  kann.  Jenes  Rätselhafte,  bis  zur  Un- 
heimiichkeit  gesteigert,  das  dem  klassischen  Porträt  oft  eignet,  geht 
vielleicht  darauf  zurück,  daß  es  ein  der  zeitlichen  Lebendigkeit  ent- 


22  EMIL  UTITZ. 


hobenes  Sein  darstellt;  das  Rembrandtsche  Porträt  scheint  uns  seine 
Rätsel  selbst  zu  deuten,  weil  es  dem  immer  nur  werdenden,  dem  Zeit- 
schicksal unterworfenen  Leben  enttaucht,  dem  es  doch  oder  das  ihm 
doch  verhaftet  bleibt«. 

Diese  Verwurzelung  im  Leben  hebt  bei  Rembrandt  —  genau  so 
wie  bei  Shakespeare  —  den  Dualismus  des  Sinnlich-Körperlichen  und 
des  Geistigen  auf.  Vielleicht  haben  wir  wie  eine  Totalexistenz,  so  auch 
eine  Totalwahrnehmung,  nämlich  eine  Fähigkeit,  den  anderen  Menschen 
mit  einer  einheitlichen  Funktion  wahrzunehmen,  in  der  sinnliches  und 
geistiges  Wahrnehmen  so  wenig  durch  einen  inneren  Teilstrich  ge- 
trennt sind,  wie  eben  das  Körperliche  und  das  Seelische  als  Lebens- 
tatsachen es  sind.  Innerhalb  der  Plastik  dürften  die  Gestalten  Michel- 
angelos das  am  eindringlichsten  machen.  Hier  erscheint  die  körper- 
liche Gestaltung  objektiv,  vom  Schöpfer  her,  derart  von  der  seelischen 
Stimmung  durchdrungen,  daß  ein  einziger,  innerlich  ganz  untrennbarer 
Akt  des  Beschauers  beides  aufnimmt:  körperliche  Geformtheit  und 
seelische  Bedeutung  sind  hier  nur  zwei  Worte  für  einen  und  denselben 
Tatbestand  des  Seins,  der  viel  zu  einheitlich  ist,  als  daß  seine  Auf- 
nahme sich  erst  aus  einer  bloß  sehenden  und  einer  bloß  deutenden 
Funktion  zusammensetzen  sollte.  Die  Einheit  des  Kunstwerks  kann 
jedenfalls  nicht  nach  der  Synthese  ihrer  Teile,  als  wären  sie  Zweck 
und  Mittel,  aufgefaßt  werden,  schon  weil  sie  keine  »Teile«  in  dem- 
jenigen selbständigen  Sinne  besitzt,  der  solche  Synthese  ermöglichte. 
Darum  faßt  das  Porträt,  mindestens  in  der  von  Rembrandt  erreichten 
Vollkommenheit,  Körper  und  Seele  nicht  in  einer  »Wechselwirkung 
auf,  in  der  eines  das  Mittel  zur  Darstellung  oder  Deutung  des  anderen 
wäre,  sondern  erfaßt  die  Totalität  des  Menschen,  die  nicht  die  Synthese 
von  Körper  und  Seele,  sondern  ihre  Ungetrenntheit  bedeutet.  Dem 
ganzen  theoretischen  und  moralischen  Gezänk  zwischen  dem  Körper- 
lichen und  dem  Seelischen,  oder  den  Sinnen  und  dem  Geist,  wird  der 
Kampfplatz  entzogen,  sobald  der  Mensch  Wesen  und  Sinn  seiner 
Existenz  darin  sieht,  daß  er  Individuum  ist,  eben  das  Unteilbare.  Simmel 
hält  es  für  eine  »durchgehende  Erfahrung,  daß,  je  tiefer  wir  die  Indi- 
vidualität eines  Menschen  erfassen,  sein  Äußeres  und  sein  Inneres 
um  so  unscheidbarer  für  uns  zusammengehen,  um  so  weniger  auseinander- 
gedacht werden  können.  Die  maximale  Herausarbeitung  des  Indivi- 
duellen in  der  Rembrandtschen  Kunst  erscheint  als  einer  der  inneren 
Wege,  auf  denen  sich  Überwindung  des  seelisch-körperlichen  Dualismus 
vollzieht,  oder  richtiger,  die  beschreitend  es  einer  eigentlichen  Über- 
windung seiner  im  vornherein  nicht  bedarf«.  Ich  gebe  diese  An- 
schauungen Simmeis  hier  wieder,  obgleich  sie  zum  Teil  mit  denen  aus 
dem  bereits  angeführten  Porträtaufsatz  sich  decken,  zum  Teil  ihnen 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPraE  DER  KUNST.  23 

widerstreiten.  Aber  gerade  sie  zeugen  deutlich  von  den  Wandlungen 
einer  Problematil<  durch  mannigfache  Spiegelung  und  Einstellung.  Ich 
will  mich  nun  auch  hier  und  im  folgenden  jeder  Kritik  enthalten, 
sondern  lediglich  darauf  bedacht  sein,  ein  möglichst  treues  und  an- 
schauliches Bild  Simmelscher  Kunstphilosophie  zu  entwerfen.  Nur  eine 
Freiheit  muß  ich  mir  nehmen,  nämlich  die  einer  gewissen  systemati- 
schen Verbindung  und  Ordnung,  um  nicht  dem  Leser  lauter  Bruch- 
stücke vorzulegen. 

Sind  nun  aber  die  Rembrandtschen  Bildnisse  bloß  »Symbole«,  um 
etwas  vorstellen  zu  lassen,  was  ihre  gegebene  Anschaulichkeit  nicht 
vorstellt?  Sie  treten  uns  als  Äußerungen  seiner  Vision  entgegen,  das 
betrachtende  Auge  bleibt  an  die  Erscheinung,  wie  sie  dasteht,  gebannt, 
und  überträgt  sie  nicht  in  die  Kategorie  der  Wirklichkeit.  Damit  ist 
nicht  jener  Solipsismus  eines  gewissen  Artistentums  gemeint,  dem  die 
menschliche  Form  auf  der  Leinwand  nur  eine  Anordnung  von  Farb- 
flecken, ein  Sammelpunkt  optischer  Reize,  ein  besonders  kompliziertes 
Ornament  ist;  alles  Seelische  und  Übersinnliche,  das  seinen  Gestalten 
einwohnt,  bleibt  zu  Recht  bestehen.  Aber  es  ist  gleichgültig,  ob  es 
von  dem  Menschen  jenseits  dieser  Vision  gilt,  oder  nicht  gilt,  es  gilt, 
als  von  seinem  Definitivum,  von  dem  Menschen  innerhalb  dieser  Vision 
selbst.  Tatsächlich  ist  hier  also  erreicht,  was  begrifflich  unmöglich 
erschien:  der  Eindruck  des  nur  materiellen  Bildnisses,  das  nur  Körper- 
haftes nachbildet,  kann  nicht  anders  ausgedrückt  werden,  als  daß  Leben 
und  Seele  unmittelbar  —  und  nicht  erst  in  Rückdatierung  zu  deren 
realem  Bestände  am  Modell  —  mit  ihm  gegeben  sind,  an  ihm  empfunden 
werden.  Dieser  Eindruck  müßte  in  seiner  Tatsächlichkeit  auch  dann 
anerkannt  werden,  wenn  er  uns  logisch  widerspruchsvoll  und  psycho- 
logisch nicht  analysierbar  wäre.  Und  wirklich  sehe  ich  mich  zu  einer 
genauen  Auflösung  des  Problems  nicht  imstande.«  Simmel  spricht  die 
Vermutung  aus,  daß  jener  Eindruck  vielleicht  darauf  beruhe,  daß  die 
Gestalt  Schöpfung  einer  Seele  sei.  Aber  —  wendet  er  selbst  ein  — 
die  künstlerische  Seele  schafft  zwar  das  Gebilde  als  ihr  objektives  Er- 
zeugnis, allein  sie  ist  doch  nicht  dessen  subjektive  Seele,  die  ihm  zu- 
käme, wie  die  lebendige  Seele  ihrem  eigenen  lebendigen  Leib.  So 
formuliert  und  gewendet  tritt  das  Einfühlungsproblem  bei  Simmel 
hervor. 

Sind  Kunstwerke  Äußerungen  von  Visionen,  so  stellen  sie  Objekti- 
vierungen des  Subjekts  dar  und  erhalten  dadurch  ihren  Platz  jenseits 
der  Realität,  die  am  Objekt  für  sich  oder  am  Subjekt  für  sich  haftet. 
Gibt  das  Kunstwerk  die  Reinheit  seiner  Jenseitsschicht  auf,  sei  es,  um 
bloß  ein  Objekt  darzustellen,  sei  es,  um  bloß  das  Subjekt  auszusprechen, 
so  gleitet  es  in  eben  diesem  Maße  aus  seiner  spezifischen  Kategorie 


24  EMIL  UTITZ. 


in  die  der  Realität.  Es  wäre  aber  bürolcratische  Engherzigkeit,  bloß 
um  der  Reinlichlceit  des  Begriffes  Kunst  willen  die  Bedeutung  gewisser 
Werke  herabzusetzen,  in  denen  die  eine  oder  die  andere  jener  Inten- 
tionen auf  die  Wirklichkeit  hin  oder  von  der  Wirklichkeit  her  sich  ver- 
nehmbar macht,  falls  nur  ein  Großes  und  Wesentliches  erreicht  ist. 
In  der  Schauspielkunst  —  dem  besten  Beispiel  —  lassen  zwei  ent- 
sprechende Extreme  das  reine  Kunstgebilde  in  die  Realität  verlaufen. 
Auf  der  einen  Seite  steht  der  Imitator,  dessen  Leistung  einen  jenseits 
der  Kunstsphäre  gelegenen  Wirklichkeitsvorgang  vortäuscht,  auf  der 
anderen  der  subjektivistische  Schauspieler,  der  in  allen  Rollen  sich  selbst 
spielt.  Rembrandts  Porträts  offenbaren  den  weitesten  Abstand  von 
diesen  beiden  Formen  des  Realismus. 

Wie  haben  wir  uns  nun  die  künstlerische  Zeugung  zu  denken, 
jenen  Weg  von  der  Vision  bis  zum  vollendeten  Kunstwerk?  Simmel 
meint,  die  ganze  extensive  Gestaltung  jeglichen  Kunstwerkes  gehe  von 
einem  seelischen  Keim  aus,  der,  wenn  nur  das  Extensive  Gestaltung 
ermögliche,  gestaltlos  sei.  Der  Keim  oder  Samen  enthält  auch  nicht 
das  Lebewesen  im  kleinen,  sondern  hat  zu  diesem  ein  rein  funktionelles 
Verhältnis,  indem  er  ausschließlich  die  auf  jene  Bestimmtheit  hin  ge- 
richteten potenziellen  Energien  enthält.  Das  seelische  Keimgebilde  tritt 
nicht  in  Erscheinung,  sondern  bleibt,  wie  man  sagt,  »unbewußt«,  denn 
sein  Hervortreten  bedeutet  ja  gerade,  daß  es  nun  auseinandergelegt 
ist,  daß  es  den  Reifezustand  vielheitlicher  Gliederung  erreicht  hat.  Ver- 
gleicht man  ein  minderwertiges  Porträt,  insbesondere  eines  von  dilet- 
tantischem Charakter,  das  doch  von  der  Ähnlichkeit  mit  seinem  Modell 
überzeugt,  mit  einem  Meisterporträt,  so  hat  man  von  dem  ersteren  den 
Eindruck,  der  Maler  habe  von  dem  Modell  jeweils  Zug  für  Zug,  wie 
er  ihn  einzeln  erschaute,  in  dem  gleichen  Nacheinander  auf  die  Lein- 
wand übertragen.  Bei  Rembrandt  aber  ist  es,  als  habe  er  die  Er- 
scheinung des  Menschen  auf  eine  schlechthin  einheitliche  transphäno- 
menale Wesensintuition  zurückgeführt  und  diese  nun  den  in  ihr 
gesammelten  Triebkräften  überlassen,  aus  denen  sich,  in  freiem  or- 
ganischem Wachstum,  die  Extensität  der  Formen  entfaltete.  »Dies 
scheint  mir  das  eigentliche  Schöpfertum  in  der  Porträtkunst  zu  sein: 
daß  für  den  Künstler  die  Beschauung  des  Modells  nur  Empfängnis, 
Befruchtung  ist,  und  daß  er  die  Erscheinung  noch  einmal  zeugt,  daß 
sie  noch  einmal  auf  dem  Boden  und  unter  den  eigentümlichen  Kate- 
gorien des  Künstlertums  wächst,  als  Entwicklung  jenes  seelischen  Ge- 
bildes, das  ich  dem  Keimbläschen  verglich.«  Die  immer  gründlichere 
Verneinung  der  Unmittelbarkeit  des  Verhältnisses  zwischen  der  Wirk- 
lichkeit und  dem  Kunstwerk  hält  Simmel  für  eine  der  wesentlichsten 
Obliegenheiten  der  Kunstphilosophie.     Es   muß  durchaus  anerkannt 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  25 

werden,  daß  die  Kunst  ein  schlechthin  selbständiges  Gebilde  ist,  und 
als  Formung  der  Weltinhaite  nicht  auf  Borg  von  deren  anderer  Formung 
lebt,  »die  wir  Wirk!ichi<eit  nennen.  Nicht  die  mindeste  Gegeninstanz 
ist  es,  daß  alle  großen  Künstler  rastlos  die  natürliche  Wirklichkeit 
studiert  haben.  Denn  wenn  das  Kunstwerk,  wie  ich  vermute,  aus  einem 
seelischen  Keim  hervorgeht,  der  dessen  schließlich  anschauliche  Ex- 
tensität gar  nicht  enthält,  —  so  ist  damit  nach  keiner  Richtung  hin 
präjudiziert,  welche  Bedingungen  und  Anregungen  denn  die  künst- 
lerische Seele  braucht,  damit  jener  Keim  in  ihr  entstehe«. 

Jenes  Verhältnis  des  Kunstwerks  zur  gewöhnlichen  Wirklichkeit 
erläutert  Simmel  sehr  eingehend  an  der  Hand  eines  Beispiels:  der  Pelz- 
kragen auf  der  Rembrandtschen  Radierung  ist  nicht,  wie  eine  Photo- 
graphie es  wäre,  ein  Oberflächenbild  von  demjenigen,  den  seine  Mutter 
wirklich  trug,  sondern  ist  ein  ebenso  selbständiges,  ebenso  gleichsam 
aus  eigener  Wurzel  gewachsenes  Gebilde,  wie  dieser,  kein  »Schein^ 
einer  Wirklichkeit,  vielmehr  der  künstlerischen  Welt  und  deren  eigenen 
Kräften  und  Gesetzen  angehörig,  und  deshalb  der  Alternative:  Wirk- 
lichkeit oder  Schein  —  durchaus  enthoben.  Der  Schein  gehört  noch 
der  Wirklichkeit  zu,  wie  der  Schatten  noch  der  Körperwelt,  denn  er 
ist  nur  durch  sie,  beide  stehen,  wenn  auch  gewissermaßen  mit  ent- 
gegengesetzten Vorzeichen,  innerhalb  derselben  Ebene.  Die  Kunst  aber 
lebt  in  einer  anderen,  mit  jener  sich  nicht  berührenden  —  gleichviel, 
ob  der  Künstler,  ebenso  wie  der  Beschauer,  um  in  sie  zu  gelangen, 
durch  jene  hindurchgehen  muß.  In  dem  Geschaffenen,  das  schließlich 
in  unabhängiger  Objektivität  dasteht,  sind  die  psychologischen  Vor- 
stadien und  Bedingungen  seines  Geschaffenwerdens  überwunden.  Der 
wirkliche  Pelzkragen  und  der  radierte  Pelzkragen  sind  eine  und  dieselbe 
Wesenheit,  auf  zwei  voneinander  essenziell  verschiedene  und  unab- 
hängige Arten  ausgedrückt.  »Kann  man  sich  von  der  metaphysischen 
Belastetheit  des  Wortes  frei  machen,  so  ist  es  ganz  legitim  zu  sagen, 
daß  die  Idee  des  Pelzkragens  von  der  Wirklichkeit  und  von  der  Kunst 
wie  von  zwei  Sprachen  ausgesprochen  wird.  Daß  die  erstere  nun 
gleichsam  unsere  Muttersprache  ist,  daß  wir  die  Seinsinhalte  oder  Ideen 
aus  dieser,  in  der  sie  uns  zuerst  begegnen,  in  jene  übersetzen  müssen  — 
diese  seelisch  zeitliche  Notwendigkeit  ändert  doch  nichts  an  der 
Selbständigkeit  und  Fundamentalität  jeder  der  beiden  Sprachen ;  ändert 
nichts  daran,  daß  jede  den  gleichen  Inhalt  mit  ihren  Vokabeln  und 
nach  ihrer  Grammatik  ausdrückt,  und  diese  Form  nicht  von  der  anderen 
borgt.«  Was  wir  Wirklichkeit  nennen,  ist  auch  nur  eine  Kategorie, 
in  die  ein  Inhalt  geformt  wird,  so  ein  völlig  einheitliches  Gebilde  er- 
gebend. Auch  die  Kunst  ist  nichts  anderes,  und  wenn  wir  den  Rem- 
brandtschen   Pelzkragen   sehen,   so  sehen   wir  tatsächlich   nur  diese 


26  EMIL  UTITZ. 


Striche,  die  nicht  einen  anderswo  gegebenen  und  sich  assoziativ  vor- 
schiebenden Pelzl<ragen  »darstellen«,  sondern  genau  so  ein  Pelzkragen 
»sind«,  wie  die  einzelnen  Haare  des  von  Rembrandts  Mutter  getragenen 
zusammen  ein  Pelzkragen  sind.  Hier  rühren  wir  an  eine  der  Orund- 
überzeugungen  Simmeis,  die  in  metaphysischer  Verankerung  sein  letztes 
Werk  »Lebensanschauung«   in  immer  neuen  Spiegelungen  beleuchtet. 

Wenn  so  »Wirklichkeit«  und  Kunst  als  Welten  eigener  Ordnung 
voneinander  sich  lösen,  vereint  lediglich  im  Pulsschlag  des  Lebens, 
was  bedeutet  dann  der  Gegenstand  im  Kunstwerk?  Daß  z.  B.  die 
Madonna  in  der  kirchlichen  Sphäre  ein  Gegenstand  der  Anbetung  ist, 
geht  das  Kunstwerk  als  solches  so  wenig  an,  wie  daß  der  Kohlkopf 
in  der  Sphäre  der  Praxis  ein  Gegenstand  der  Ernährung  ist.  Diese 
Gleichgültigkeit  des  Gegenstandes,  die  seinen  außerhalb  der  Kunst  ge- 
legenen Sinn  für  diese  betrifft,  wird  nun  aber  völlig  unrichtig  als  eine 
Gleichgültigkeit  gedeutet,  die  dem  Gegenstand  als  reinem  Inhalt  des 
Kunstwerks  zukommt,  in  der  »grenzsicheren  Immanenz  seiner  künst- 
lerischen Verwertung.  Ihn  auch  in  diesem  Sinne  für  indifferent  zu 
erklären,  ist  eine  willkürliche  Zerreißung  der  Einheit  des  Kunstwerks, 
die  für  kein  in  sie  eingeschlossenes  Element  Gleichgültigkeit  zuläßt«. 
Die  Madonna  ist  freilich  nicht  deshalb  ein  »würdigerer«  Darstellungs- 
gegenstand, weil  sie  angebetet,  der  Kohlkopf  aber  nur  verspeist  wird, 
sondern  weil  ihre  Darstellung  mehr  Gelegenheit  zur  Entfaltung  rein 
künstlerischer  Qualitäten  gibt. 

Jene  Einheit  des  Kunstwerks  —  in  der  Simmeis  Betrachtungen 
von  den  verschiedensten  Seiten  her  einmünden  —  gehört  ebenso,  wie 
sein  »Antinaturalismusc,  zu  den  Grundfesten  seines  Verhältnisses  zur 
Kunst.  Und  so  spielt  das  Problem  der  Einheitsprinzipien  bei  ihm  — 
wie  wir  bereits  auch  sahen  —  eine  große  Rolle.  Die  Einheit  des  wohl- 
komponierten Renaissancebildes  liegt  außerhalb  des  Bildinhaltes  selbst; 
sie  ist  als  abstrakte  Form  zu  denken:  Pyramide,  Gruppensymmetrie, 
Kontrapost  usw.  —  Formen,  deren  an  und  für  sich  selbständige  Be- 
deutung auch  mit  anderem  Inhalt  erfüllt  werden  könnte.  »Diese 
gleichsam  tendenziöse,  unbarmherzig  betonte  Vollendetheit  der  Form 
begünstigt  es,  daß  das  Sonett  die  am  meisten  zur  äußerlichen  Spielerei 
verführende,  am  leichtesten  leer  und  formalistisch  wirkende  Versart 
ist  —  wo  nicht,  genau  wie  bei  dem  geometrischen  Schema  der 
bildenden  Kunst,  eine  singulare  Genialität  dieser  Gefahren  Herr  wird.« 
Bei  Rembrandt  erwächst  die  Gesamtform  des  mehrfigurigen  Bildes  aus 
dem  Leben  der  einzelnen  Figuren,  d.  h.  daraus,  daß  das  Leben  der 
einzelnen,  ausschließlich  von  ihrem  eigenen  Zentrum  aus  bestimmt, 
gewissermaßen  über  sie  hinausströmt  und  dem  der  anderen  begegnet. 
Eine  übergreifende  Gesamtform,  die  man  als  für  sich  vorstellbare  und 


ÜEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  27 


bedeutsame  dem  Ganzen  entnehmen  oder  als  ein  Schema  vorzeichnen 
könnte,  wie  an  geometrisch  komponierten  Bildern,  besteht  hier  nicht. 
Diese  mehr  geometrisch  orientierte  Einheit  ist  aber  ersichtlich  nicht 
an  organische  Erfüllungen  gebunden,  sondern  kann  sich  mit  dem 
gleichen  Erfolge  formaler  Geschlossenheit  auch  an  unlebendigen  In- 
halten verwirklichen.  Im  Unterschiede  dazu  aber  gibt  es  eine  Ein- 
heitlichkeit, die  unmittelbar  ihren  Erfüllungen  verhaftet  ist,  die  gerade 
nur  an  diesem  Stoff  bestehen  kann  und  zwar,  weil  sie  nur  aus  ihm 
zu  erstehen  vermag.  Dies  ist  die  Einheit  ausschließlich  des  organischen 
Wesens;  sie  läßt  sich  gar  nicht  als  eine  Form  denken,  die  mit  einem 
irgendwie  qualitativ  anderen  Gehalt  auszufüllen  wäre.  »Indem  die 
Nachtwache  so  und  so  viele  Lebendigkeiten  und  nur  sie  zum  Bild- 
inhalt macht  und  dem  Geheimnis  ihrer  rein  vitalen  Wechselwirkungen 
anschauliche  Sprache  gibt,  hat  sie  jenes  alte  germanische  Drängen  zu 
einer  Einheit,  die  nicht  geschlossen  formmäßig,  nicht  für  sich  darstellbar, 
sondern  nur  an  ihren  Trägern  zu  realisieren  ist,  zum  erstenmal  in  der 
Geschichte  der  Kunst  rein  befriedigt.  Die  Einheit  ist  hier,  wo  sie 
zugleich  ganz  tief  und  ganz  labil  ist,  auf  eine  viel  gewagtere  Weise 
gewonnen  als  im  klassischen  Kunstwerk,  bei  dem  sie  durch  den  eigenen 
vorbestehenden  Sinn  der  Form  eine  gewisse  Garantie  für  das  Nicht- 
auseinanderfallenkönnen  und  das  Verstandenwerdenmüssen  in  sich  trägt. 
Es  besteht  hier  eine  tiefe  Beziehung  zu  dem  Prinzip  der  Individualität: 
daß  sie  dasjenige  Gebilde  ist,  dessen  Form  absolut  mit  seiner  Wirk- 
lichkeit verbunden  ist,  nicht  unter  der  Voraussetzung  oder  zum  Gewinn 
eines  selbständigen  Sinnes  aus  dieser  Wirklichkeit  herauszuabstra- 
hieren  ist.< 

Stellt  sich  in  der  reinen  Form  gewissermaßen  die  abstrakte  Idee 
der  Erscheinung  dar,  so  steht  die  Farbe  sowohl  diesseits  wie  jenseits 
dieser:  sie  ist  »sinnlicher  und  metaphysischer«,  ihre  Wirkung  ist  einer- 
seits unmittelbarer,  andererseits  tiefer  und  geheimnisvoller.  »Ist  die 
Form  etwa  als  die  Logik  der  Erscheinung  zu  bezeichnen,  so  bedeutet 
die  Farbe  eher  deren  psychologischen  und  metaphysischen  Charakter  — 
auch  hier  diese  beiden,  untereinander  durchaus  geschiedenen  Intentionen 
in  ihrer  gemeinsamen  Gegensätzlichkeit  gegen  das  logische  Prinzip  er- 
weisend; die  vorwiegend  logisch  interessierten  Denker  verhalten  sich 
deshalb  häufig  gleichmäßig  ablehnend  gegen  die  psychologische  wie 
gegen  die  metaphysische  Sinnesart,  und  dies  scheint  nur  der  tiefere 
Zusammenhang  zu  sein,  aus  dem  heraus  Kant  in  seinem  ästhetischen 
Wertsystem  die  Farbe  eigentlich  ganz  zugunsten  der  Form  ablehnt. 
Macht  man  sich  nun  klar,  daß  die  Farbe  im  Unterschied  gegen  die 
Linie  —  gerade  wie  an  ihrer  Stelle  Psychologie  und  Metaphysik  im 
Unterschied  gegen  die  Logik  —  der  Ort  der  Graduierungen,  des  Stärker 


28  EMIL  UTITZ. 


und  Schwächer,  der  Valeurs  mit  ihren  unendlichen  quantitativen  Mög- 
lichkeiten ist,  so  ist  weiterhin  ersichtlich,  daß  mit  dem  Vorherrschen 
der  Form  und  ihrer  geometrischen  Intendierung  die  gleichmäßige 
Durchführung  aller  Bildteile  gegeben  ist.  In  dem  geometrischen  Ge- 
bilde ist  alles  gleich  berechtigt  ...  die  geometrisierende  Tendenz  und 
die  scharfe  Deutlichkeit  alles  Vorgeführten  sind  nur  zwei  Ausdrücke 
für  dieselbe  rationalistische  Gesinnung.«  Wo  aber  das  Bild  vom  Leben 
durchtränkt  ist,  da  ist  auch  Ungleichmäßigkeit  der  Durchführung  ge- 
geben ;  »denn  Leben  ist  Rangierung,  betonte  Hauptsache  und  vernach- 
lässigte Nebensache,  Mittelpunktsetzung  und  Abstufung  zur  Peripherie«. 
»Insofern  hat,  wenn  man  will,  das  Leben  der  Welt  gegenüber  etwas 
Ungerechtes;  aber  alle  Genialität  läßt  sich  so  ausdrücken,  daß  sie  uns 
die  Überzeugung  gibt,  mit  dieser,  unmittelbar  vom  Subjekt  und  nicht 
vom  Objekt  abhängigen  Akzentverteilung  dennoch  eine  tiefere  Ge- 
rechtigkeit auch  dem  Objekt  gegenüber  realisiert  zu  haben  —  nicht 
freilich  in  seiner  scharf  abschneidenden  Isolierung,  auch  vielleicht  nicht 
in  der  rein  kosmischen  Betrachtung,  die  den  Elementen  keine  Be- 
deutungsunterschiede läßt.  Wohl  aber  wird  durch  diese  Unterschiede 
das  Verhältnis  zwischen  dem  Subjekt  und  dem  Objekt,  das  doch  auch 
eine  objektive  Tatsache  ist,  allein  angemessen  ausgedrückt.« 

Wir  lernten  die  Beziehung  der  organischen  Einheit  des  Kunst- 
werks zum  Prinzip  der  Individualität  kennen.  Hier  knüpfen  weitere 
Untersuchungen  Simmeis  an.  Gerade  das  für  Menschheit  oder  Kultur 
Allgemeinste  ist  für  den  Schöpfer  sein  Persönlichstes,  gerade  dies 
markiert  die  Einzigkeit  dieser  Individualität.  :>Die  unvergleichliche  In- 
dividualität Schopenhauers  liegt  doch  nicht  in  seinen  »persönlichen« 
Verhältnissen:  daß  er  in  Danzig  geboren  wurde,  ein  unliebenswürdiger 
Junggeselle  war,  mit  seiner  Familie  zerfiel  und  in  Frankfurt  starb;  denn 
jeder  dieser  Züge  ist  nur  typisch.  Seine  Individualität,  das  Persönlich- 
Einzige  an  Schopenhauer  ist  vielmehr  »die  Welt  als  Wille  und  Vor- 
stellung« —  sein  geistiges  Sein  und  Tun,  das  gerade  als  umso  indi- 
vidueller hervortritt,  je  mehr  man  nicht  nur  von  jenen  Spezialbe- 
stimmungen  seiner  Existenz,  sondern  auch  innerhalb  der  geistigen 
Ebene  von  dem  Detail  der  Leistung  abzieht.  Gerade  dessen  Einzel- 
heiten und  Besonderheiten  mögen  hier  und  da  an  andere  Schöpfer 
erinnern,  ihr  Allgemeinstes,  einheitlich  Durchgehendes,  ist  schlechthin 
mit  Schopenhauer  und  nur  mit  ihm  synonym.«  Im  Äußeren  und  Un- 
lebendigen freilich  gewinnt  eine  Erscheinung  Besonderheit  und  relative 
Einzigkeit  in  dem  Maße,  in  dem  immer  mehr  Einzelbestimmungen  an 
ihr  hervortreten.  Denn  in  eben  diesem  Maße  wird  die  Wiederholung 
der  gleichen  Kombination  unwahrscheinlicher;  hier  wird  talsächlich  die 
Individualisiertheit  einer  Vorstellung  durch  Detaillierung  innerhalb  ihres 


3 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  29 

Inhalts  erreicht:  und  dies  geschieht  auch  an  seelischen  Objekten,  in- 
soweit wir  sie  in  psychologischer  Äußerlichkeit,  also  nach  mechanisti- 
scher Art  betrachten;  dann  wächst  auch  hier  das  Maß  der  Besonder- 
heit proportional  der  Zahl  angebbarer  Einzelheiten  —  obgleich  ersicht- 
lich die  sichere  Erreichung  einer  wirklichen  Individualität  auf  diese 
Weise  eine  nie  zu  vollendende  Aufgabe  wäre.  Wird  aber  eine  seelische 
Existenz  von  innen  erfaßt,  nicht  als  eine  Summe  von  Einzelqualitäten, 
sondern  als  eine  Lebendigkeit,  deren  Einheit  jenes  ganze  Detail  erzeugt 
oder  bestimmt  oder  deren  Zerlegung  dieses  ist,  so  ist  solche  Existenz 
von  vornherein  als  volle  Individualität  da.  Die  Individualität  des  Ge- 
bildes als  Ganzen,  seine  dadurch  entstehende  Einzigkeit,  daß  jedes 
Teilchen  nur  in  bezug  auf  gerade  dieses  Zentrum  Existenz  und  Sinn 
hat  —  diese  wird  jedenfalls  durch  das  Fehlen  genauer  Detaillierung 
begünstigt;  denn  eine  solche  läßt  den  Teilen  einen  Sonderbestand,  der 
ihre  Einstellung  in  einen  anderen  Zusammenhang  prinzipiell  ermöglicht 
und  sie  der  Einzigkeit  ihrer  jetzigen  Bedeutung  enthebt.  Und  dies 
gilt  nun  in  vollem  Maße  von  der  Kunst,  besonders  der  Rembrandts. 
Das  Rembrandtsche  Begreiflichmachen  einer  Persönlichkeit  verfolgt 
demnach  ein  anderes  Ziel  und  einen  anderen  Weg  als  eine  Vermittlung 
durch  den  Typus.  Darin  spiegelt  sich  der  ganze,  weit  reichende  Unter- 
schied zwischen  den  beiden  Arten,  wie  wir  überhaupt  einen  Menschen 
kennen.  Die  eine  unterstellt  ihn  allgemein  seelischen  Begriffen:  er  ist 
klug  oder  dumm,  großartig  oder  kleinlich,  gutmütig  oder  boshaft  usw. 
Dies  ist  in  steigernder  Verfeinerung  die  Methode  wissenschaftlich- 
psychologischer Erkenntnis.  Aber  damit  lerne  ich  einen  Menschen 
nicht  von  ihm  selbst  her  kennen,  aus  ihm  selbst  heraus,  sondern  meine 
Kenntnis  seiner  fließt  aus  Begriffen,  die  ich  bereits  mitbringe.  Von 
jenem  unmittelbaren  Wissen  ist  das  erste  Stadium  bereits  in  dem 
Augenblick  gewonnen,  in  dem  der  Mensch  ins  Zimmer  tritt.  »Wir 
wissen  in  diesem  ersten  Augenblick  nicht  dies  und  das,  keine  jener 
angedeuteten  Kategorien  von  ihm,  aber  doch  unendlich  viel,  ihn  selbst, 
sein  Unverwechselbares.  Es  gibt  eine  kontinuierliche  Entwicklungs- 
reihe des  Kennens,  die  sich  an  diesen  ersten  Augenblick  ansetzt  und 
in  dessen  Art  verbleibt,  die  dieses  erste,  gar  nicht  auseinanderlegbare 
Wissen  nur  vertieft  und  vermehrt,  ohne  daß  es  sich  damit  um  be- 
stimmte Teile  vermehrte.«  Worauf  es  hier  ankommt,  ist  nicht  das 
Unbezweifelte:  daß  der  Mensch  eine  Individualität  ist,  die  nicht  aus 
der  Summe  seiner  angebbaren  Eigenschaften  zusammenzusetzen  ist,  — 
sondern,  daß  die  Erkenntnis  eben  dieser  Individualität  gleichsam  mit 
einem  besonderen  Organ  erfolgt,  das  für  die  Erkenntnis  der  beschreib- 
lichen  Eigenschaften  gar  nicht  zusammenfällt.  Rembrandt  muß  dieses 
Organ  in  erstaunlicher  Ausbildung  besessen  haben.    »Aus  seinen  Por- 


30  EMIL  UTITZ. 

träts  leuchtet  uns,  der  Art  nach,  vor  allem  das  entgegen,  was  wir  von 
einem  Menschen  beim  ersten  Anbh'ck  als  ganz  Unaussprechbares  wissen, 
als  die  Einheit  seiner  Existenz.  Denn  nur  die  Totalität  des  Menschen  — 
die  Rembrandt  als  den  Totalverlauf  seiner  Schicksale  anschaulich  macht  — 
ist  das  Einzige,  alles  Einzelne  an  ihm  ist  ein  Allgemeines.  Auf  das 
letztere  aber  richtet  sich  im  wesentlichen  das  italienische  Porträt.« 

In  dieser  Totalität  des  Lebendigen  liegt  auch  der  Tod  beschlossen. 
Denn  er  steht  dem  Leben  nicht  als  Möglichkeit  gegenüber,  die  irgend- 
wann einmal  Wirklichkeit  wird,  sondern  unser  Leben  wird  zu  dem, 
als  was  wir  es  kennen,  überhaupt  nur  dadurch  geformt,  daß  wir, 
wachsend  oder  verwelkend,  immer  solche  sind,  die  sterben  werden. 
Freilich  sterben  wir  erst  in  der  Zukunft,  aber  daß  wir  es  tun,  ist  kein 
bloßes  Schicksal«,  sondern  es  ist  eine  innere  Immer-Wirklichkeit  jeder 
Gegenwart,  ist  Färbung  und  Formung  des  Lebens,  ohne  die  das  Leben, 
das  wir  haben,  unausdenkbar  verwandelt  wäre.  »Der  Tod  ist  eine  Be- 
schaffenheit des  organischen  Daseins,  wie  es  eine  von  je  mitgebrachte 
Beschaffenheit,  eine  Funktion  des  Samens  ist,  die  wir  so  ausdrücken: 
daß  er  einst  eine  Frucht  bringen  wird.«  Diese  Art,  den  Tod  zu 
empfinden,  glaubt  Simmel  bei  Rembrandt  gegeben;  allerdings  nicht  in 
einem  elegischen  oder  pathetischen  Sinne.  Denn  dieser  gerade  ent- 
steht, wo  der  Tod  als  eine  dem  Leben  wie  von  außen  drohende  Ver- 
gewaltigung erscheint,  als  ein  Schicksal,  das  an  irgendeiner  Stelle  unseres 
Lebensweges  auf  uns  gewartet  hat,  unvermeidlich  zwar  der  Tatsache 
nach,  aber  nicht  aus  der  Idee  des  Lebens  heraus  notwendig,  sondern 
ihr  sogar  widersprechend.  Ganz  anders,  wenn  der  Tod  von  vorn- 
herein ein  characterindelebilis  des  Lebens  ist.  Nun  ordnen  sich  aber 
viele  unserer  wesentlichen  Daseinsbestimmungen  zu  Oegensatzpaaren, 
so  daß  der  Begriff  des  einen  seinen  Sinn  erst  an  der  Korrelation  mit 
dem  andern  findet:  das  Gute  und  das  Böse,  das  Männliche  und  das 
Weibliche  und  zahlreiche  andere.  Diese  beiden  Relativitäten  werden 
aber  oftmals  noch  einmal  umfaßt  von  einem  absoluten  Sinne,  den  eine 
von  beiden  erwirbt.  >Gewiß  schließt  Gutes  und  Böses  in  beider  re- 
lativem Sinne  sich  gegenseitig  aus;  vielleicht  aber  ist  das  Dasein  in 
einem  absoluten  göttlichen  Sinn  schlechthin  gut,  und  dieses  Gute  birgt 
in  sich  das  relativ  Gute  wie  das  relativ  Böse  .  . .  Und  so  vielleicht  sind 
Leben  und  Tod,  insofern  sie  einander  logisch  und  physisch  auszu- 
schließen scheinen,  doch  nur  relative  Gegensätze,  umgriffen  vom  Leben 
in  dessen  absolutem  Sinne,  der  das  gegenseitige  Sichbegrenzen  und 
Sichbedingen  von  Leben  und  Tod  unterbaut  und  übergreift.«  Diese 
Grundtatsache  —  Immanenz  des  Todes  im  Leben  —  scheinen  die 
tiefsten  Rembrandtporträts  zu  verkünden;  jene  Porträts  enthalten  das 
Leben   in   seiner  weitesten  Bedeutung,  in  der  es  auch  den  Tod  ein- 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  3| 


schließt.  Der  Typus  —  wenn  es  mit  Simme!  gestattet  ist,  diese  Be- 
traclitungen  noch  weiterzuführen  —  stirbt  nicht,  aber  das  Individuum 
stirbt.  Je  individueller  also  der  Mensch  ist,  desto  »sterblicher«  ist  er, 
denn  das  Einzige  ist  eben  unvertretbar  und  sein  Verschwinden  ist 
deshalb  um  so  definitiver,  je  mehr  es  einzig  ist.  So  hat  die  italienische 
Kunst,  weil  sie  typisiert,  etwas  Heiteres,  die  germanische,  mit  ihrer 
individualistischen  Leidenschaft,  oft  etwas  Zerrissenes;  »jenes  eigen- 
tümlich Unabgeschlossene  gegenüber  der  Abgerundetheit  des  Klassi- 
schen, das  ins  Unendliche  Weiterstrebende  der  germanischen  Kunst, 
als  würde  man  von  jeder  endlichen  und  beruhigenden  Lösung  immer 
weiter  einem  erst  zu  Gewinnenden  oder  niemals  zu  Gewinnenden  zu- 
getrieben —  dies  speist  sich  vielleicht  aus  der  Unversöhnlichkeit  der 
Individualität,  in  die  der  Tod  eingewebt  ist,  mit  der  Kunst,  die  rein 
als  Kunst  über  dem  Tode  steht.« 

Diese  —  nun  genügend  nach  allen  Seiten  hin  charakterisierte  — 
germanische  Kunst,  zu  deren  glanzvollsten  Beispielen  Rembrandts  Werk 
zählt,  zielt  nicht  in  letzter  Linie  auf  Schönheit.  Was  aber  ist  Schön- 
heit? Es  ist  eine  eigentümliche  Tatsache,  daß  von  allen  großen  Werten, 
mit  denen  unser  Geist  dem  Dasein  Bedeutung  verleiht,  nur  die  Schön- 
heit sich  auch  am  Unlebendigen  verwirklicht.  Bloß  das  Beseelte  kann 
sittliche  Werte  erzeugen,  nur  für  den  Geist  kann  es  Wahrheit  geben. 
Schönheit  aber  kann  an  dem  Stein,  an  dem  Wassersturz  und  seinem 
Regenbogen,  an  dem  Zug  und  der  Färbung  der  Wolken  haften,  am 
Unorganischen  wie  am  Organischen.  Schönheit  ist  >in  unserer  durch- 
gängigen Auffassung  des  Wortes«  keineswegs  ein  völlig  abstrakter, 
an  jeder  Auffassungsweise  der  menschlichen  Erscheinungen  realisier- 
barer Begriff;  wir  verstehen  unter  ihr  die  klassische  Formgebung.  Aus 
der  Inthronisierung  dieser  Schönheit  spricht  die  Weltanschauung,  die 
in  dem  Allgemeinen  (wie  die  Herrschaft  des  Typus  in  dem  indivi- 
duellen Phänomen  sie  offenbart)  und  in  der  immanenten  Gesetzlich- 
keit (die  die  Elemente  der  Erscheinung  unmittelbar  untereinander  und 
gleichsam  freischwebend  verbindet)  absolute  Werte  sieht. 

Dringen  wir  über  diese  Schönheitskunst  zur  Gesamtheit  der  Kunst 
vor,  so  drückt  Simmel  ihre  Beziehung  zum  Leben  in  dem  Buche  über 
Lebensanschauung  in  knappster  und  klarster  Formulierung  aus:  das 
Leben  mit  seiner  biologischen  und  religiösen,  seelischen  und  meta- 
physischen Bedeutung  wirkt  nicht  von  jenseits  der  künstlerischen 
Formen  in  das  Werk  hinein,  sondern  diese  Formen  sind  die  Formen 
des  Lebens  selbst,  die  sich  freilich  vom  Leben,  als  einem  teleologisch 
strömenden,  emanzipiert  haben,  aber  ihre  Dynamik  und  ihren  Reichtum 
doch  von  eben  diesem  Leben,  soweit  es  diese  Güter  besitzt,  zu  Lehen 
tragen.     Das  Mehr-als-Kunst,  das  jede  große  Kunst  zeigt,   fließt  aus 


32  EMIL  UTITZ. 


derselben  Quelle,  der  sie,  nun  als  rein  ideales,  lebensfreies  Gebilde, 
entstammt  ist.  In  die  aus  ihm  entsprungenen  Formen  überträgt  das 
Leben,  auch  wenn  sie  in  schlechthin  objektivem,  unabhängig  eigenem 
Sinne  wirken,  dann  doch  seinen  Charakter,  und  läßt  sich  wiederum 
von  ihnen  bestimmen,  so  daß  es  gleichsam  diesseits  und  jenseits  ihrer 
steht;  zu  gleichen  Rechten  wird  es  in  ihnen  äternisiert,  wie  sie  in  ihm 
vitalisiert  werden. 

In  zwei  ganz  unterschiedenen  Bedeutungen  können  wir  —  auf 
dem  Boden  dieser  Auffassung  —  von  unvollkommener  Kunst  reden. 
Es  gibt  unvollkommene  Kunst,  insoweit  das  Werk  zwar  ganz  und  gar 
um  der  künstlerischen  Intention  willen  gestaltet  ist  und  sich  in  der 
strengen  Umgrenzung  der  autokratisch  künstlerischen  Formen  hält  — 
aber  den  immanenten  Forderungen  der  Kunst  nicht  genügt,  uninter- 
essant, banal,  kraftlos  ist.  Und  es  gibt  unvollkommene  Kunst,  wenn 
das  Werk,  die  letzteren  Beeinträchtigungen  vielleicht  nicht  zeigend,  seine 
künstlerischen  Formen  noch  nicht  völlig  von  der  Lebensdienstbarkeit 
befreit,  die  Wendung  dieser  Formen  von  ihrem  Mittel-Sein  zu  ihrem 
Eigenwert-Sein  noch  nicht  im  absoluten  Maße  vollzogen  hat.  Dies  ist 
der  Fall,  wo  ein  tendenzhaftes,  anekdotisches,  sinnlich  exzitatives  In- 
teresse als  ein  irgendwie  bestimmendes  in  der  Darstellung  mitklingt. 
Dabei  kann  das  Werk  von  großer  seelischer  und  kultureller  Bedeutung 
sein;  denn  dazu  braucht  es  keineswegs  an  die  begriffliche  Reinheit 
einer  einzelnen  Kategorie  gebunden  zu  sein.  Aber  als  Kunst  bleibt 
es  unvollkommen,  solange  seine  Formungen  noch  irgend  etwas  von 
derjenigen  Bedeutung  fühlbar  machen,  mit  der  sie  sich  den  Strömungen 
des  Lebens  einfügen  —  so  tief  und  umfassend  sie  diese  Strömungen 
auch  in  sich  aufgenommen  haben. 


Simmel  hat  sein  Erleben  und  Erfassen  Rembrandtscher  Kunst  und 
Rembrandtschen  Wesens  zu  einer  Philosophie  der  Kunst  ausgeweitet. 
Auch  wo  er  andere  Künstlerpersönlichkeiten  eingehender  behandelt, 
sind  ihm  diese  in  erster  und  letzter  Linie  Objektivierungen  seiner  eigenen 
Geistigkeit,  seines  Lebens-  und  Weltverhältnisses  in  der  Sphäre  der 
Kunst,  in  ihrer  Wirklichkeitsschicht.  Darum  sind  ihre  Werke  ihm 
Beispiele,  Bestätigungen  seiner  Problemstellungen  und  Problemlösungen. 
Aber  er  braucht  diese  Beispiele  oder  Bestätigungen  nicht  zusammen- 
zuklauben und  zu  suchen,  um  ein  System  praktisch  zu  illustrieren, 
sondern  jene  Erlebnisse  sind  Quellpunkt  und  Rechtsgrund  seiner  theo- 
retischen Anschauungen;  diese  sind  nur  begriffliche  Deutungen  und 
Verknüpfungen  jener,  Weiterführungen  ins  Metaphysische.  Denn 
Simmeis  gesamte  Kunstphilosophie  ist  ihrer  Tendenz  nach  metaphysisch, 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  33 

SO  viele  und  reiche  psychologische  oder  rein  l<unstwissenschaftliche 
Ergebnisse  sie  auch  zeitigen  mag.  Wir  glauben,  ihre  Orundzüge  bereits 
skizziert  zu  haben;  das  folgende  soll  sie  noch  ergänzen,  keineswegs 
aber  » erschöpfen  c. 

Michelangelo  würdigt  Simmel  als  die  ganz  und  gar  tragische  Per- 
sönlichkeit. Sein  Leben  war  auf  das  Anschauliche,  Irdischschöne  ge- 
richtet. Aber  die  Sehnsucht  nach  dem  Transzendenten  zerbrach  diese 
Tendenz.  Und  doch  war  diese  Sehnsucht  nicht  weniger  notwendig, 
denn  sie  stammte  aus  dem  tiefsten  Fundamente  seiner  Natur,  und 
darum  konnte  er  innerer  Vernichtung  so  wenig  entrinnen,  wie  er  sich 
von  sich  selbst  abtun  konnte.  Denn  tragisch  ist  gerade  dasjenige, 
was  gegen  den  Willen  und  das  Leben,  als  dessen  Widerspruch  und 
Zerstörung  gerichtet  ist,  und  dennoch  aus  dem  Letzten  und  Tiefsten 
des  Willens  und  des  Lebens  selbst  wächst  —  im  Unterschied  gegen 
das  bloß  Traurige,  in  dem  die  gleiche  Zerstörung  aus  einem  gegen 
den  innersten  Lebenssinn  des  zerstörten  Subjekts  zufälligen  Verhängnis 
gekommen  ist.  Die  tragische  Vernichtung  stammt  aus  demselben 
Wurzelgrunde,  aus  dem  das  Vernichtete  in  seinem  Sinn  und  seinem 
Wert  gewachsen  ist.  In  dem  Buche  über  »Lebensanschauung«  kommt 
Simmel  noch  einmal  auf  das  Tragische  zu  sprechen,  und  ohne  den 
Standpunkt  zu  wechseln,  vertieft  er  ihn  in  großartiger  Weise.  Er  deutet 
auf  das  unheimliche  Gefühl  hin,  daß  das  ganz  Notwendige  unseres 
Lebens  doch  noch  irgendwie  ein  Zufälliges  sei.  Das  volle  Gegenteil 
und  die  Überwindung  davon  bietet  nur  die  Form  der  Kunst  in  der 
Tragödie.  Denn  diese  läßt  uns  fühlen,  daß  das  Zufällige  gerade  bis 
in  seinen  letzten  Grund  hinein  ein  Notwendiges  ist.  Gewiß  geht 
der  tragische  Held  an  der  Reibung  zwischen  irgendwelchen  äußeren 
Gegebenheiten  und  seiner  eigenen  Lebensintention  zugrunde;  allein 
daß  dies  geschieht,  ist  eben  in  dieser  letzteren  selbst  ganz  fundamental 
vorgezeichnet  —  sonst  wäre  sein  Untergang  nichts  Tragisches,  sondern 
nur  etwas  Trauriges.  »In  der  Aufhebung  jener  Unheimlichkeit  des 
Zufälligen  im  Notwendigen  —  und  zwar  nicht  nach  einer  vorgeblichen 
»sittlichen  Weltordnung«  Notwendigen,  sondern  nach  dem  Lebens- 
Apriori  des  Subjekts  —  liegt  das  »Versöhnende«  der  Tragödie;  sie  ist 
insofern  immer  »Schicksals«-Tragödie.  Denn  die  Bedeutung  des  Schick- 
salsbegriffes: daß  das  bloß  Ereignishafte  der  Objektivität  sich  in  das 
Sinnhafte  einer  individuellen  Lebensgerichtetheit  wandele  oder  als  solches 
enthülle,  —  stellt  sie  in  einer  Reinheit  dar,  zu  der  es  unser  empirisches 
Schicksal  nicht  bringt,  weil  sein  Ereigniselement  hier  auf  sein  selb- 
ständig kausales,  sinnfremdes  Wesen  nie  ganz  verzichtet.« 

Ist  Michelangelo  für  Simmel  die  tragische  Persönlichkeit,  stellt 
Goethe  ihm  schlechthin  das  menschliche  Ideal  dar;  ihm  hat  er  darum 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  alli;.  Kunstwissenschaft.    MV.  3 


34  EMIL  UTITZ. 

auch  ein  Buch  der  Huldigung  gewidmet,  das  ganz  einzigartig  ist  — 
ich  würde  vorbildlich  sagen,  wenn  da  nicht  die  Frage  eines  Nachbildes 
einfach  unsinnig  wäre  —  in  dem  kühnen  und  sicheren  Spürsinn,  mit 
dem  hier  der  geistige  Sinn  der  Ooetheschen  Existenz  erfaßt  wird,  die 
Eigengesetzlichkeit  seines  Wesens.  Ich  kann  weder  den  Inhalt  dieses 
Werkes  wiedergeben,  noch  seine  Grundgedanken.  Aber  an  einigen 
wenigen  Beispielen  will  ich  doch  aufweisen,  bis  zu  welchen  Tiefen 
der  Deutung  Simmel  vorgedrungen  ist. 

Die  Erzeugung  von  an  sich  wertvollen  Inhalten  des  Lebens  aus 
dem  unmittelbaren,  nur  sich  selbst  gehorsamen  Prozeß  des  Lebens 
selbst  begründet  die  fundamentale  Abneigung  Goethes  gegen  allen 
Rationalismus,  denn  dessen  eigentliches  Absehen  ist,  umgekehrt  das 
Leben  aus  den  Inhalfen  zu  entwickeln,  erst  aus  ihnen  ihm  Kraft  und 
Recht  zuzuleiten  —  weil  er  dem  Leben  selbst  nicht  traut.  ^Das  tiefe 
Zutrauen  zum  Leben,  das  überall  in  Goethe  zu  Worte  kommt,  ist  nur 
der  Ausdruck  jener  genialischen  Grundformel  seiner  Existenz.«:  Daß 
die  Produktivität  nach  dem  eigenen  Gesetz  und  Trieb  bei  Goethe  so 
die  vollkommenste  Angemessenheit  zur  Welt  zeigt,  ist  zwar  in  der 
letzten  metaphysischen  Beschaffenheit  seines  Naturells  verankert;  inner- 
halb der  bezeichenbareren  Schichten  aber  wird  es  von  der  ungeheuren 
Assimilationskraft  seines  Wesens  gegenüber  allem  Gegebenen  getragen. 
Diese  Schaffenskraft,  die  ununterbrochen  aus  dem  einheitlichen  Quell 
der  Persönlichkeit  zeugte,  nährte  sich  ebenso  ununterbrochen  aus  der 
Wirklichkeit  um  sie  herum.  Seine  Geistigkeit  muß  eine  Analogie  zu 
dem  Vermögen  des  ganz  gesunden  physischen  Organismus  gehabt 
haben,  die  Nahrungsmittel  bis  ins  Letzte  auszunutzen,  das  Unverwend- 
bare störungslos  auszuscheiden,  das  Zurückbehaltene  dem  Lebenskreis- 
lauf so  selbstverständlich  einzuverleiben,  als  bildeten  beide  schon  von 
vornherein  eine  organische  Einheit.«  Aus  jenem  festen  Vertrauen  zum 
Leben  entwickelt  Goethe  sein  Schönheitsideal,  das  er  weder  ins  Trans- 
zendente, hinter  die  Natur,  verbannt,  noch  auch  einem  Singulären  in 
Isoliertheit  gegen  das  ganze  Sein  zuerkennt,  sondern  bloß  derjenigen 
Erscheinung,  in  der  die  einheitliche  Ganzheit  des  natürlichen  Seins  zum 
Ausdruck  kommt.  Wie  im  psychologischen  Symbol  drückt  Goethe 
diese  tiefste  Bedeutung  des  Schönen«  in  dem  Satze  aus:  Wer  die 
Schönheit  erblickt,  fühlt  sich  mit  sich  selbst  und  mit  der  Welt  in  Über- 
einstimmung.< 

Mit  prachtvoller  Klarheit  entwickelt  Simmel,  wie  schon  in  Goethes 
Jugend,  in  der  doch  die  Fülle  und  Bewegtheit  seines  Inneren  mit  einer 
ganz  einzigen  Unmittelbarkeit  und  Unabgelenktheit  in  Äußerungen  und 
Lebensgestaltung  ausfloß,  die  Objektivierung  des  Subjekts  sich  anzeigt, 
und   wie   sich  diese  in  großartiger  Weise  entfaltet.     Und  das  Kapitel 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  35 

Über  die  >Liebe<  gehört  gewiß  zum  Besten  und  Edelsten,  das  über 
Goethe  geschrieben  wurde.  Ich  l<ann  es  mir  nicht  versagen,  eine  be- 
sonders charal<teristische  Steile  trotz  ihrer  Länge  hier  wörtlich  anzu- 
führen: »Die  Wesensformel,  die  an  Goethe  ihre  reinste  und  stärkste 
historische  Verwirklichung  findet,  war  doch  immer  diese:  daß  ein  Leben, 
ganz  dem  eigenen  Gesetz  gehorchend,  wie  in  einheitlich  naturhaftem 
Triebe  sich  entwickelnd,  eben  damit  dem  Gesetz  der  Dinge  entspricht, 
d.  h.  daß  seine  Erkenntnisse  und  Werke,  reine  Ausdrücke  jener  inner- 
lichen, aus  sich  selbst  wachsenden  Notwendigkeit,  doch  wie  von  den 
Forderungen  des  Objekts  und  denen  der  Idee  her  gebildet  sind.  Er 
hat  jeden  eigengesetzlichen  Sachgehalt  durch  die  Tatsache,  daß  er  ihn 
erlebte,  so  von  innen  her  geformt,  als  wäre  er  aus  der  Einheit  dieses 
Lebens  selbst  geboren.  Gemäß  diesem  Gesamtsinn  seiner  Existenz 
scheinen  sich  auch  deren  erotische  Inhalte  zu  entwickeln.  Auch  diese 
treten  auf,  als  wären  sie  von  seinem  Innern  und  dessen  Entwicklungs- 
notwendigkeiten bestimmt,  wie  sich  eine  Blüte  an  den  Zweig  ansetzt, 
in  dem  Augenblick  und  in  der  Form,  wie  dessen  eigenste  Triebkraft 
es  erfordert  und  entwickelt.  Nirgends,  selbst  in  so  extremen  Fällen, 
wie  in  der  Leidenschaft  für  Lotte  und  Ulrike  von  Levetzow,  spüren 
wir  jenes  Preisgegebensein,  das  dem  erotischen  Erlebnis  das  Symbol 
des  Liebestranks  verschafft  hat  und  oft  den  Gefühlston,  als  wäre  es 
viel  eher  etwas,  das  mit  uns  oder  an  uns  vorgeht,  als  eine  Äußerung 
eines  sich  selbst  gehörenden  Lebens.  Wir  hören,  daß  er  mit  all  seinen 
sinnlichen  Hingerissenheiten  doch  immer  Herr  seiner  selbst  ge- 
blieben ist.« 

Die  Art,  wie  Simmel  Goethes  Schaffens  deutet,  entfernt  sich  weit 
von  jenem  »Erlebnis',  das  Dilthey  als  Quelle  des  Kunstwerks  ansah. 
Mit  Recht  macht  Simmel  darauf  aufmerksam,  daß  damit  die  Genesis 
aus  Milieu  und  Modell  keineswegs  grundsätzlich  verlassen  ist,  sondern 
nur  subjektivisch  verfeinert.  Denn  auch  aus  dem  Erlebnis  wächst  un- 
mittelbar keine  Überleitung  zu  der  künstlerischen  Spontaneität.  Im  Ver- 
hältnis zu  ihr  ist  auch  das  Erlebnis  etwas  Äußeres,  mag  sich  auch 
beides  im  Umfang  des  Ich  abspielen.  Die  Verbindungsmöglichkeit 
liegt  darin,  daß  der  Lebensprozeß  mit  seinem  beharrenden  Charakter, 
Intention  und  Rhythmus  als  die  gemeinsame  Voraussetzung  und  Form- 
gebung sowohl  für  das  Erleben,  wie  für  das  Schaffen  wirkt.  Es  gibt 
vielleicht  eine  —  für  jedes  Individuum  andere  —  allgemeinste,  nicht 
in  Begriffe  zu  fassende  Wesensformel,  nach  der  seine  seelischen  Vor- 
gänge sich  bestimmen,  ebenso  das  Hineinnehmen  der  Welt  in  das  Ich 
im  Erlebnis,  wie  das  Hinausgehen  des  Ich  in  die  Welt  im  Schöpfer- 
tum.« In  dem  Maße,  in  dem  diese  fundamentale  Wesensbewegtheit 
selbst  schon  den   Charakter  überwiegender  Spontaneität  und  künst- 


36  EMIL  UTITZ. 


lerischen  Oestalfens  trägt,  in  eben  dem  wird  auch  schon  das  Erlebnis 
von  vornherein  und  in  der  Art  eben  seines  Erlebtwerdens  die  Züge 
des  Schöpfertums  und  der  künstlerischen  Werte  an  sich  tragen.  »Wo 
die  Wurzelsäfte  der  Persönlichkeit  .  . .  künstlerisch  fingiert  sind,  da  ist 
das  Erlebnis  sozusagen  schon  ein  artistisches  Halbprodukt  und  seine 
prinzipielle  Fremdheit  gegen  das  Kunstwerk  aufgehoben.«  Bei  Goethe 
scheint  dieser  Prozeß  sich  mit  einer  so  selbstverständlichen  Unmittel- 
barkeit, einer  souveränen  Ungestörtheit  durch  Kategorien  anderer  Rich- 
tung vollzogen  zu  haben,  und  vor  allem  über  eine  so  weite  Gesamt- 
heit einer  höchst  differenzierten  Existenz  hin,  »wie  bei  keiner  uns  sonst 
bekannten  Erscheinung.  Sogar  die  Hingabe  an  das  Erkennen  und  an 
reine  Wissenschaft  war  nicht  imstande,  die  Herrschaft  seiner  künst- 
lerischen Kategorien  in  Weltbild  und  Erlebnis  zu  durchbrechen«. 

So  wie  Simmel  es  liebt,  Rembrandts  Wesen  durch  den  Vergleich 
mit  der  italienischen  Renaissance  zu  belichten,  kontrastiert  er  gern 
Goethe  und  Kant.  Ausgangspunkt  ist  natürlich  cler  kategorische  Im- 
perativ. Simmel  glaubt,  Kants  Moral  habe  wohl  das  Schicksal  der 
meisten  Menschen  ausgesprochen,  wenn  sie  das  Sinnliche  und  Leiden- 
schaftliche gegen  die  Forderung  der  Pflicht  kämpfen  läßt  (»zwischen 
Sinnenglück  und  Seelenfrieden  bleibt  dem  Menschen  nur  die  bange 
Wahl«),  was  schließlich  entweder  einen  unbefriedigten  Dualismus  oder 
eine  Verarmung  hinterläßt.  »In  Goethe  aber  kämpfte  es  gegen  die 
Forderung  der  Harmonie,  der  ausgeglichenen  Totalität  des  Lebens  — 
wie  er  sich  ja  auch  nicht  scheut  von  einer  Übertriebenheit  des  Morali- 
schen zu  sprechen,  eine  für  Kant  völlig  unausdenkbare  Vorstellung  — 
und  darum  konnte  der  Sieg  hier  ein  vollkommener  sein,  weil  der  Feind 
selbst  in  die  Einheit  der  schließlich  gewonnenen  Form  einbegriffen 
ist.«  Im  Sinnlichen  fand  Goethe  dieselbe  Wertströmung  der  Lebens- 
einheit, die  das  Sittliche  trägt.  Und  diesen  Vergleich  »Kant  und 
Goethe«  führt  Simmel  in  einem  eigenen  Buche  weiter,  er  erblfckt  in 
ihnen  die  äußersten  Pole  zweier  Weltanschauungen,  wobei  er  aber 
persönlich  derjenigen  Goethes  zuneigt.  Jenes  Problem  der  Goethe- 
schen  Moralauffassung  findet  erst  in  dieser  Schrift  seine  umfassende 
Auswirkung:  Goethes  Vorstellungen  über  das  Verhältnis  der  Ge- 
schlechter oder  über  die  Taten  Napoleons  oder  über  die  Verbindung 
des  Einzelnen  mit  seiner  Nation  widerstreiten  sicher  den  üblichen 
ethischen  Idealen,  denn  sie  werden  völlig  von  dem  darüber  gelegenen 
Ideal  der  Natur  beherrscht:  daß  der  Mensch  —  so  könnte  man  in 
Goethes  Sinne  sagen  —  seine  Triebe  und  Anlagen  in  der  Art  und 
mit  der  Auswahl  zu  entwickeln  habe,  daß  ein  Maximum  von  Gesamt- 
entwicklung herauskommt.  Da  das  Sein  und  der  Wert  nichts  Ge- 
trenntes sind  —  »am  Sein  erhalte  dich  beglückt!«  —  so  ist  die  höchste 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  37 

Steigerung  des  Seins  auch  die  des  Wertes.  »Ihren  tiefsten  Ausdruck 
scheint  mir  diese  übermoralische  Moral  in  dem  folgenden  merkwürdigen 
Satz  zu  gewinnen,  den  er  sich  aus  antiker  Quelle  aneignet:  »Was  die 
Menschen  gesetzt  haben  (nämlich  die  Gesetze),  das  will  nicht  passen, 
es  mag  recht  oder  unrecht  sein;  was  aber  die  Götter  setzen,  das  ist 
immer  am  Platz,  recht  oder  unrecht.«  Über  den  Gegensatz  von  Recht 
und  Unrecht,  also  über  den  am  Kriterium  der  Moral  entstandenen, 
stellt  er  hier  einen  höheren  Begriff:  das  »Passen«:,  d.  h.  die  Fähigkeit 
der  Einzelheit,  sich  in  den  letzten,  höchsten  Zusammenhang  und 
Harmonie  der  Dinge  einzustellen.  Ich  stehe  nicht  an,  jenen  ange- 
führten Satz  für  eine  der  tiefsten  und  größten  Deutungen  vom  Sinn 
des  Daseins  zu  halten;  er  läßt  uns  einen  fundamentalen  Zusammen- 
hang, eine  gegenseitige  Beziehung  aller  Dinge  ahnen,  in  dem  die 
Einheit  der  Natur  besteht  oder  sich  offenbart  und  demgegenüber  es 
ein  kleinlicher  Anthropomorphismus  ist,  in  dem  zufälligen  Ausschnitt, 
den  wir  als  Moral  bezeichnen,  den  Höhepunkt  des  Seins  zu  erblicken.« 
Auf  der  Voraussetzung,  daß  Natur  und  Geist,  oder  Wirklichkeit 
und  Wert  nicht  ihrem  Wesen  nach  auseinanderklaffen,  sondern  daß 
ihre  tiefe  Einheit  an  dem  einzelnen  Werk  nur  eine  besonders  über- 
zeugende Deutlichkeit  gewinne  —  darauf  steht  die  Existenz  jedes 
Künstlers.  Sie  würde  leer  und  sinnlos  sein,  wäre  er  nicht  überzeugt, 
daß  die  Schönheit  und  Bedeutsamkeit,  die  die  Erscheinung  unter  seinen 
Händen  annimmt,  kein  äußeres  Hinzufügsei  ist,  sondern  die  eigentliche 
Wahrheit,  das  von  allen  Verfälschungen  befreite  Wesen  dieser  Wirk- 
lichkeit ausspricht.  In  diesem  Sinne  ist  freilich  jede  Kunst  ;>Naturalis- 
mus«,  weil  für  den  Künstler  als  solchen  :>Natur<  eben  von  vornherein 
die  Einheit  des  Realen  und  des  Idealen  bedeutet.  Wenn  Goethe  nach 
seinem  eigenen  Wort  »die  Idee  mit  Augen  sieht«,  so  heißt  das,  »daß 
ihm  Wert  und  Vollendung  der  Dinge,  die  für  uns  andere  nur  wie  ein 
mehr  oder  weniger  traumhaftes  Gebilde  über  ihnen  zu  schweben  scheint, 
in  ihrer  Wirklichkeit  wohnte,  wie  er  sie  zu  sehen  verstand«. 


Simmeis  stärkste  geistige  Liebe  gilt  —  in  Sachen  der  Kunstphilo- 
sophie —  dem  Wesen  der  einzelnen,  singulären  Künstlerpersönlichkeit; 
in  ihre  Gesetzlichkeit  eindringend,  gewinnt  er  die  Weite,  in  der  sich 
ihm  die  Gesamtheit  der  Kunst  enthüllt,  ja  noch  mehr,  in  der  sich  ihm 
die  letzten  Geheimnisse  des  Lebens  und  der  Welt  erschließen.  Aber 
selbstverständlich  ist  es,  daß  der  berühmte  Vertreter  der  modernen 
Geschichtsphilosophie  auch  der  Entwicklung  der  Kunst  seine  Auf- 
merksamkeit widmet.  Außer  seinen  »Problemen  der  Geschichtsphilo- 
sophie«   kommen   hier   vornehmlich  zwei   Abhandlungen   aus   seinem 


38  EMIL  UTITZ. 


letzten  Lebensjahre  in  Betracht:  »Vom  Wesen  des  historischen  Ver- 
stehens«  und  »Die  historische  Formungc 

Geschichte  ist  nicht  das  Vergangene,  das  uns,  unmittelbar  und 
genau  genommen,  immer  in  Gestalt  diskontinuierlicher  Stücke  gegeben 
ist,  sondern  eine  bestimmte  Form  oder  Summe  von  Formen,  mit  denen 
der  betrachtende  synthetische  Geist  diesen  zuvor  festgestellten  Stoff, 
die  Überlieferung  des  Geschehenen  durchdringt  und  bewältigt.  Durch 
das  historische  Verstehen  einer  Reihe  kommt  ihr  inhaltlich  nichts  Neues 
zu,  nur  eine  funktionelle  Verbindungsart  wird  damit  von  der  inneren 
Anschauung  gewonnen  oder  gestiftet.  Wenn  verschiedene  Arten  des 
Verständnisses  den  Ansprüchen  an  logischen  und  künstlerischen  Zu- 
sammenhang, einheitliche  Klärung  der  Dunkelheiten,  nachfühlbare  Ent- 
wicklung der  Teile  auseinander  in  gleichem  Maße  genügen,  so  sind 
sie  alle  in  gleichem  Maße  richtig.  Soll  ich  den  Faust  dagegen  historisch- 
psychologisch verstehen,  das  heißt,  das  entstandene  Gebilde  aus  den 
seelischen  Akten  und  Entwicklungen  verstehen,  die  es  Teil  für  Teil 
in  Goethes  Bewußtsein  erwachen  ließen,  so  ist  eine  entsprechende 
Mehrdeutigkeit  prinzipiell  ausgeschlossen;  denn  dieser  Schöpfungs- 
prozeß hat  sich  schlechthin  in  einer  bestimmten  Weise  abgespielt,  die 
unsere  Erkenntnis  ergreifen  oder  verfehlen  mag,  die  sie  aber  nicht  auf 
mehrere  äquivalente  Arten  vorstellen  kann.  Reichtum  und  Beweglich- 
keit seelischer  Verbindungen  sind  so  groß,  daß  keinerlei  >psychologi- 
sches  Gesetz K  die  Weiterentwicklungen  einer  bestimmten  seelischen 
Konstellation  bündig  zu  bestimmen  imstande  ist,  daß  sehr  oft  vielmehr 
eine  solche  Entwicklung,  nach  einer  bestimmten  Seite  hingehend,  uns 
genau  so  plausibel  erscheint,  wie  die  nach  der  genau  entgegenge- 
setzten hin  erfolgende.  Wo  also  genetische  Reihen  durch  psychologi- 
sche Interpolation  zustande  kommen  —  was,  mehr  oder  weniger  be- 
wußt, allenthalben  der  Fall  ist  —  ist  von  eingesehener  Notwendigkeit  nicht 
die  Rede.  Nur  um  Annäherungen  an  die  Wirklichkeit  kann  es  sich 
handeln. 

Gehen  wir  vom  Gebiet  der  allgemeinen  Geschichte  auf  das  der 
Kunstgeschichte  über,  so  finden  wir,  daß  z.  B.  Gemälde  diskonti- 
nuierlich hintereinander  stehen,  je  eine  inselhafte  Einheit.  Der  Kunst- 
historiker konstruiert  unter  ihnen  eine  allmähliche  Entwicklung  von 
Starrheit  zu  Bewegtheit  usw.  Es  kann  dabei  gar  nicht  die  Rede  sein, 
daß  der  Schöpfer  des  höchsten  Werkes  etwa  alle  vorangängigen  Stadien 
in  seiner  persönlichen  Entwicklung  durchlaufen  hätte.  Auch  wird 
danach  überhaupt  nicht  gefragt,  sondern  nach  der  Möglichkeit,  diese 
:Entwicklungs«-Reihe  nach  sachlichen  Kriterien  aus  dem  objektiven 
Bestand  der  Werke,  als  wäre  jedes  vom  Himmel  gefallen,  aufzubauen. 
Aber  eben  diese  Möglichkeit  liegt  in  dem,  was  man  das  methodische 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  3g 

Subjekt  nennen  könnte,  einem  ideellen  Gebilde,  das  diese  Schöpfungen 
in  einer  seeliscii  begreifiiciien  Evolution  durchläuft,  die  sachlicfie  Ord- 
nung ihres  Nebeneinander  in  einen  als  zeitlich  gedachten  lebendigen 
Verlauf  vereinheitlichend,  dessen  Kontinuität  nicht  an  dem  Rahmen  des 
einzelnen  Werkes  stockt.  Wir  hypostasieren  also  einen  Hilfsbegriff, 
der  die  ausschließlich  dem  Lebendigen  vorbehaltene  Fähigkeit  der  Selbst- 
entwicklung hat,  und  dessen  Lebensäußerungen  oder  Etappen  die  ein- 
zelnen Kunstwerke  sind. 

Das  Nacheinander  der  Künstlerpersönlichkeiten  würde  niemals  die 
kontinuierliche  Zusammengehörigkeit  einer  einheitlichen  historischen 
Reihe  haben,  wenn  ihre  Leistungen  nicht  ihrem  Sachgehalt  nach  und 
ohne  jede  Rücksicht  auf  ihre  historische  Plazierung  aufeinander  An- 
weisungen gäben,  wenn  sie  nicht  eine  ideale  Reihe  bildeten.  So  sind 
es  die  inneren  Verhältnisse  dieser  Kunstbildungen,  die  wir  gemäß  der 
artistischen  Logik  ergreifen  und  in  ihrer  rein  sachlichen  Bedeutung  ver- 
stehen müssen,  damit  jene  in  der  Zeit  realen  Erscheinungen  eine 
historische«  Reihe  formen;  andernfalls  wären  sie  ein  beziehungsloses 
Nacheinander,  dem  Prinzip  und  Möglichkeit  der  Zusammenfassung  zu 
einer  Reihe  fehlte.  Geht  nun  die  Kunstgeschichte  auf  ein  volles  und 
fundamentales  Begreifen  der  Erscheinungen  aus,  kann  sie  sozusagen 
keine  immanente  sein,  d.  h.  keine,  die  eine  künstlerische  Erscheinung 
aus  der  anderen  verständlich  und  gesetzmäßig  entwickelte,  weil  die 
Verhältnisse  der  Gesellschaft,  der  Religion,  des  intellektuellen  Niveaus, 
der  individuellen  Schicksale  die  nächsten  Erscheinungen  mitbestimmen 
und  doch  ihrerseits  aus  den  vorhergegangenen  künstlerischen  nicht 
berechenbar  sind. 

Aber  nicht  nur  der  großen  rhythmischen  Wellenbewegung  des 
Stilwandels  schenkt  Simmel  seine  Aufmerksamkeit,  sondern  auch  dem 
i^litzernden  Oberflächenspiel  der  Mode.  Gerade  ihr  hat  er  eine  seiner 
anziehendsten  Abhandlungen  gewidmet.  Er  spricht  von  den  Lebens- 
bedingungen der  Mode  als  einer  durchgängigen  Erscheinung  in  der 
Geschichte  unserer  Gattung.  Sie  ist  Nachahmung  eines  gegebenen 
Musters  und  genügt  damit  dem  Bedürfnis  nach  sozialer  Anlehnung; 
sie  führt  den  Einzelnen  auf  die  Bahn,  die  Alle  gehen;  sie  gibt  ein 
Allgemeines,  das  das  Verhalten  jedes  Einzelnen  zu  einem  bloßen  Bei- 
spiel macht.  Nicht  weniger  aber  befriedigt  sie  das  Unterschieds- 
bedürfnis, die  Tendenz  auf  Differenzierung,  Abwechslung,  Sichabheben. 
So  ist  die  Mode  nichts  anderes  als  eine  besondere  unter  den  vielen 
Lebensformen,  durch  die  man  die  Tendenz  nach  sozialer  Egalisierung 
mit  der  nach  individueller  Unterschiedenheit  und  Abwechslung  in  einem 
einheitlichen  Tun  zusammenführt.  Sie  ist  die  Geschichte  der  Versuche, 
die  Befriedigung  dieser  beiden  Gegentendenzen  immer  vollkommener 


40  EMIL  UTITZ. 


dem  Stande  der  jeweiligen  individuellen  und  gesellschaftlichen  Kultur 
anzupassen.  Daß  die  Mode  ein  bloßes  Erzeugnis  sozialer  oder  auch 
formal  psychologischer  Bedürfnisse  ist,  wird  vielleicht  durch  nichts 
stärker  erwiesen  als  dadurch,  daß  in  sachlicher,  ästhetischer  oder 
sonstiger  Zweckmäßigkeitsbeziehung  unzählige  Male  nicht  der  geringste 
Grund  für  ihre  Gestaltungen  auffindbar  ist.  Darum  ist  die  Herrschaft 
der  Mode  am  unerträglichsten  auf  den  Gebieten,  auf  denen  nur  sach- 
liche Entscheidungen  gelten  sollen.  Religiosität,  wissenschaftliche  In- 
teressen, ja  Sozialismus  und  Individualismus  sind  freilich  Modesachen 
gewesen;  aber  die  Motive,  aus  denen  diese  Lebensinhalte  allein  ange- 
nommen werden  sollten,  stehen  in  absolutem  Gegensatz  zu  der  voll- 
kommenen Unsachlichkeit  in  den  Entwicklungen  der  Mode  und  ebenso 
zu  jenem  ästhetischen  Reize,  den  ihr  die  Entfernung  von  den  inhalt- 
lichen Bedeutungen  der  Dinge  gibt,  und  der,  als  Moment  solcher  tiefer 
Entscheidungen  ganz  unangebracht,  ihnen  einen  Zug  von  Frivolität 
aufprägt.  Wenn  die  Mode  —  welcher  Sachverhalte  sie  sich  auch 
immer  bemächtigt  —  den  Egalisierungs-  und  den  Individualisierungs- 
trieb, den  Reiz  der  Nachahmung  und  den  der  Auszeichnung  zugleich 
zum  Ausdruck  bringt  und  betont,  so  erklärt  dies  vielleicht,  weshalb 
die  Frauen  im  allgemeinen  der  Mode  besonders  stark  anhängen. 
Die  Mode  gibt  dem  Menschen  ein  Schema,  durch  das  er  seine  Bindung 
an  das  Allgemeine,  seinen  Gehorsam  gegen  die  Normen,  die  ihm  von 
seiner  Zeit,  seinem  Stande,  seinem  engeren  Kreise  kommen,  aufs  un- 
zweideutigste dokumentieren  kann,  und  mit  dem  er  es  sich  so  erkauft, 
die  Freiheit,  die  das  Leben  überhaupt  gewährt,  mehr  und  mehr  auf 
seine  Innerlichkeiten  und  Wesentlichkeiten  rückwärts  konzentrieren  zu 
dürfen.  »Vielleicht  ist  Goethe  in  seiner  späteren  Epoche  das  leuchtendste 
Beispiel  eines  ganz  großen  Lebens,  das  durch  die  Konnivenz  in  allem 
Äußeren,  durch  die  strenge  Einhaltung  der  Form,  durch  ein  williges 
Sichbeugen  unter  die  Konventionen  der  Gesellschaft  gerade  ein  Maximum 
von  innerer  Freiheit,  eine  völlige  Unberührtheit  der  Zentren  des  Lebens 
durch  das  unvermeidliche  Bindungsquantum  erreicht  hat.« 


Ich  habe  mich  bemüht,  Simmel  möglichst  selbst  sprechen  zu  lassen. 
Ich  habe  also  ganz  mit  seinen  Farben  gemalt.  Nur  eine  Freiheit  nahm 
ich  —  notgedrungen  —  für  mich  in  Anspruch:  Auswahl  und  Kompo- 
sition. Ich  zog  das  heran,  was  mir  entweder  für  Simmeis  Wesen  beson- 
ders charakteristisch,  oder  für  die  Wissenschaft  besonders  wichtig  er- 
schien. Und  da  ich  es  nicht  in  atomisierender  Zerstückelung  darbieten 
konnte,  war  eine  Verknüpfung  notwendig,  die  hoffentlich  nicht  Simmeis 
Geist  widerstreitet.    Aber  selbst  im  Falle  des  Gelingens  meiner  Ab- 


H 


GEORG  SIMMEL  UND  DIE  PHILOSOPHIE  DER  KUNST.  41 

sieht  kann  es  sich  nur  um  eine  Si<izze  handeln,  um  einen  dürftigen 
Anfang,  Simmeis  Sein  nnd  Werk  darzustellen.  Das  ist  gewiß  keine 
irgendwie  spielerische  Bescheidenheit,  sondern  Ausdruck  der  Über- 
zeugung, daß  es  gerade  in  diesem  Falle  ganz  besondere  Schwierig- 
keiten bereitet,  das  uns  überkommene  Erbe  auf  seinen  Gehalt  zu  prüfen 
und  dadurch  erst  eigentlich  nutzbar  zu  machen.  Zwei  Aufgaben  hat 
da  die  Wissenschaft  in  erster  Linie  zu  erfüllen:  die  geistige  Existenz 
Simmeis  in  ihrem  Sinn  uns  so  aufzuhellen,  wie  er  es  mit  Goethe 
getan,  d.  h.  aus  der  Einzigkeit  seiner  Persönlichkeit  sein  Tun  und 
Lassen,  sein  Schaffen  und  Leisten  zu  verstehen.  Und  dann:  Simmeis 
Arbeiten  gesammelt  und  geordnet  vorzulegen,  versehen  mit  genauen 
Registern.  Dadurch  werden  sie  für  den  Betrieb  der  Wissenschaft  erst 
recht  fruchtbar  werden,  und  sie  kommt  in  die  Lage,  all  das  viele  Gold, 
das  aus  Simmeis  Werk  glitzert,  gleißt  und  glänzt,  in  die  Münzen  ihrer 
Prägung  umzuformen.  Es  ist  ja  tragisch,  daß  nicht  die  Persönlich- 
keiten in  der  Wissenschaft  weiterleben,  sondern  einzelne  gesicherte 
Ergebnisse,  Methoden,  Gesetze  oder  Hypothesen.  Aber  auch  so  — 
in  restloser  Entpersönlichung  —  wird  von  Simmel  vieles  noch  lange 
bleiben,  und  es  wird  geraume  Zeit  währen,  bis  seine  Arbeit  völlig 
überwunden  und  nur  noch  historische  Erinnerung  ist;  aber  in  der 
allgemeinen  Geistesgeschichte  wird  Simmel  gewiß  nie  sterben;  als 
»lebende  Philosophie«  gehört  er  zu  unseren  »großen  Schriftstellern« 
und  vor  allem  zu  den  wenigen,  in  denen  sich  das  gewaltige  und  er- 
schütternde Bild  der  untergegangenen  geistigen  Gegenwart  in  breiter 
Vielseitigkeit  und  echter  Tiefe  spiegelt.  Und  aus  dem  Werk  klingt 
so  vieles,  das  in  die  Zukunft  weist:  das  tiefe,  gläubige  Vertrauen  zum 
Leben,  die  radikale  Abwendung  von  aller  Mechanisierung  und  Materiali- 
sierung und  trotz  aller  Skepsis  die  leidenschaftlich  hervorbrechende 
Bejahung  einer  metaphysischen  Weltergreifung.  Diese  Qualitäten  haben 
auch  seine  ganzen  kunstphilosophischen  Bestrebungen  geadelt.  Als 
Schutzheilige  schweben  nicht  über  ihnen,  sondern  leben  in  ihnen: 
Rembrandt  und  Goethe. 


II. 
Die  Deutung  des  Homunkulus  in  Goethes  Faust. 

Von 

Carl  Enders. 

Eine  Idassische  Schrift  muß  nie  ganz  verstanden 
werden  können.  Aber  die,  welche  gebildet  sind  und 
sich  bilden,  müssen  immer  mehr  daraus  lernen  wollen 

Friedrich  Schlegel,  Lyzeumsfragmente  Nr.  20. 

1. 

Es  kann  nicht  bestritten  werden,  daß  die  Deutung  des  Homun- 
kulus einer  der  Angelpunkte  für  die  Erklärung  des  2.  Teils  von  Goethes 
Faust  ist.  Er  spielt  eine  entscheidende  Rolle  sowohl  im  äußeren  Gang 
■der  Handlung,  d.  h.  in  der  ursächlichen  Verknüpfung  der  Ereignisse 
in  sich,  wie  in  der  Entfaltung  der  Idee  oder,  besser  gesagt,  der  Ideen- 
welt, welche  in  der  Dichtung  lebendig  wird.  Zunächst  im  Gang  der 
Handlung:  Der  Erzeugung  des  chemischen  Männleins  liegt  ursprüng- 
lich die  Absicht  Mephistos  zugrunde,  Faust  durch  die  Beschäftigung  mit 
einem  der  elementarsten  Rätsel  des  denkenden  und  schaffenden  Menschen- 
geistes abzulenken  von  einer  Richtung  seines  Wollens,  in  welcher 
Mephisto  fürchten  muß,  ihm  mit  seiner  Macht  nicht  viel  helfen  zu 
können  und  dadurch  seinen  Einfluß  zu  verlieren.  Nun  zeigt  sich 
Homunkulus  aber  befähigt,  Faust  gerade  in  dieser  Richtung  zu  dienen, 
und  wird  daher  der  Führer  zu  jenen  Regionen  geistigen  Lebens,  die 
Mephisto  so  fremd  sind.  Der  Schalk  muß  zusehen,  wie  er  sich  In 
diese  Lage  hineinfindet  und  nach  Möglichkeit  seinen  vertraglichen 
Pflichten  gegen  Faust  nachkommt.  In  der  »klassischen  Walpurgis- 
nacht«, die  Faust  den  Weg  zu  Helena  eröffnet,  übernimmt  dann  Homun- 
kulus für  weite  Strecken  die  Führung  der  Handlung,  einer  Handlung, 
die  zwar  unmittelbar  nichts  zu  tun  hat  mit  Fausts  Geschick,  aber  doch 
eine  gewisse  Parallele  zu  dessen  seelischer  Entwicklung  darstellt. 

Ebenso  ist  Homunkulus  von  Bedeutung  für  die  Durchführung  des 
ideenhaften  Gehalts.  Nachdem  Faust  die  kleine  Welt  egoistischer  trieb- 
hafter Genüsse  nicht  nur  unbefriedigt,  sondern  in  seinen  Ansprüchen 
an  das  Wesen  des  Genusses  anspruchsvoller,  geläuterter,  überwunden 
hat,  soll  er  von  der  Sehnsucht  nach  dem  Bild  höchster  Schönheit  zum 
Besitz  Helenas  als  der  Verkörperung  dieses  im  Griechentum  wirklich 
gewordenen   Ideals   geführt   werden.    Nur   ein   geistiges  Wesen,  ein 


n 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  43 


Dämon«,  der  durch  eine  vollkommene  Menschwerdung  noch  nicht 
verdüstert  und  beschränkt  worden<  ist,  kann  ihn  dahin  geleiten,  ein 
Wesen,  das  geeignet  ist,  ihm  die  >Antezedentien<;  zu  vermitteln,  die 
befähigen,  in  der  Luft  der  griechischen  Mythologie  und  Heidensage 
zu  leben,  in  der  Helena  erst  das  wird,  was  sie  ist.  Daß  Homunkulus 
dazu  der  einzig  mögliche  Führer  ist,  gilt  es  natürlich  noch  zu  er- 
weisen. 

Schließlich  betont  ja  auch  Goethe  selbst  im  Gespräch  mit  Ecker- 
mann 1829')  die  Bedeutung  des  Homunkulus,  gegen  den  sogar  Me- 
phistopheles  in  Nachteil  zu  stehen  kommt.  Er  gleicht  diesem  an 
geistiger  Klarheit,  hat  aber  durch  seine  Tendenz  zum  Schönen  und 
förderlich  Tätigen  viel  vor  ihm  voraus. 

Grell  sticht  gegen  diese  Bedeutsamkeit  der  Gestalt  die  Ratlosig- 
keit und  Unbestimmtheit  ab,  mit  der  die  Forschung  dem  Homunkulus 
gegenübersteht.  Nicht  nur  Kuno  Fischer  begnügt  sich  '■')  mit  einer 
bescheidenen  Paraphrase,  über  die  ja  überhaupt  seine  Erklärung  des 
2.  Teils  nicht  hinauskommt,  sondern  auch  die  neuere  Forschung  ist 
nicht  viel  weiter  gekommen. 

2. 

Aus  der  Notwendigkeit,  diesen  »Stein  des  Anstoßes  endlich  aus 
dem  Wege  zu  räumen«,  hat  nun  Paul  Alsberg^)  eine  Deutung  ver- 
sucht. Durchaus  zu  billigen  ist  seine  Methode,  dem  Wesen  des 
Dämons  dadurch  auf  die  Spur  zu  kommen,  daß  man  seine  Entwick- 
lung in  der  Vorstellungswelt  des  Schöpfers  zu  verfolgen  sucht.  Diesen 
Weg  werden  auch  wir  zu  gehen  haben,  wenn  wir  in  der  Kritik  seiner 
Resultate  und  in  der  Darstellung  unserer  eigenen  Meinung  eine  andere 
Deutung  versuchen,  die  wohl  mit  der  seinigen  einiges  gemeinsam  hat, 
aber,  weitergreifend,  ein  geschlosseneres,  notwendigeres  und  in  sich 
weniger  widerspruchsvolles  Bild  entwirft. 

Aisberg  meint,  Homunkulus  habe  in  seiner  späteren  Umbildung 
aus  dem  chemischen  Männlein  zum  Dämon  einen  »faustischen  Charakter« 
erhalten.  ^Er  ist  in  seinem  inneren  Wesen  geradezu  auf  Faust  zu- 
geschnitten, um  nicht  zu  sagen:  er  ist  aus  Faust  herausgeschnitten. 
So  sehr  grenzt  ihre  Wesensverwandtschaft  an  Wesensgleichheit.«  Er 
kann  sich  mit  dieser  hauptsächlich  auf  die  Tendenz  des  Geistes  zur 
Tätigkeit,  auf  den  Trieb  von  dem  unbefriedigenden,  rein  geistigen  Zu- 
stand ins  Körperlich-Menschliche,  auf  die  Überlegenheit  über  Mephisto 
gestützten  Behauptung  nicht  genug  tun:   »Hier  kann  es  keine  andere 


')  Castles  Ausgabe  1,  S.  29S. 

')  4.  Ausgabe,  herausgegeben  von  V.  Michels,  Bd.  4,  S.  79  ff. 

')  Jahrbuch  der  Goethegesellschaft  1918,  Bd.  5,  S  108  ff. 


44  CARL  ENDERS. 


Meinung  geben  (!)«.  »Die  Cliarakter-  und  Wesensübereinstimmung  ist 
unbestreitbar.«  Das  kann  für  ihn  natürlich  nur  den  Sinn  haben: 
Homunkulus  soll  irgendwie  als  Symbol  für  Faust,  d.  h.  für  dessen 
Geisteserlebnis  dienen  (S.  115).  Aus  dieser  Wesensgleichheit  heraus 
muß  Homunkulus  den  Traum  des  Faust  (Ledas  Empfängnis)  wie  sein 
eigenes  Erlebnis  verkünden  und  zur  Fahrt  nach  Griechenland  anstiften, 
gewissermaßen  als  Doppelgänger  für  Faust  selbst  sprechend.  Als 
weitere  Stütze  führt  er,  wie  schon  vor  ihm  Rosenthal  (siehe  unten  S.  67) 
die  »Gleichartigkeit«  der  Faust-  und  Homunkulushandlung  an  und  das 
Wechselspiel  der  Handlungen,  welches  so  scharf  durchgeführt  ist,  daß 
die  eine  Handlung  schweigt,  wenn  die  andere  spielt.  »Dadurch  wird 
die  Homunkulushandlung  in  zwei  gesonderte  Teile  gespalten,  welche 
die  kurze  Fausthandlung  einschließen.  Sie  umrahmt  dieselbe  nicht  nur, 
sondern  sie  ergänzt  sie  auch  und  führt  sie  fort.  Kam  im  ersten  Teile, 
gemäß  der  Fausthandlung,  lediglich  der  Trieb  zur  Griechenwelt  zum 
Ausdruck,  so  wird  ihr  zweiter  Teil  allein  von  dem  Drange  nach  Ent- 
stehung beherrscht,  wiederum  entsprechend  dem  Fortgange  der  Faust- 
handlung (S.  119).« 

Im  weiteren  verdichtet  sich  nun  für  Aisberg  das  Bild  des  Homun- 
kulus zu  der  Idee  echt  mittelalterlichen  Geistes  (Glasgehäuse  aus  dem 
alchymistischen  Laboratorium,  mittelalterliche  Absperrung  anzeigend). 
Nun  bedrängt  ihn  aber  die  Schwierigkeit,  die  Entstellung  dieses  faustisch- 
mittelalterlichen Geistes  aus  Wagners,  des  »trockenen  Schleichers«  Re- 
torte zu  erklären.  Wir  dürfen  diesem  Wagner  nach  seiner  Meinung 
nicht  unrecht  tun:  »Denn  auch  ein  Wagner  hat  seine  Leistung  für 
sich,  wenn  sie  auch  nicht  an  der  eines  Faust  gemessen  werden  darf.« 
Daß  er  Fausts  überreiches  Wissen  in  sich  aufgenommen  habe,  mache 
ihn  »schließlich  doch  zu  einem  treuen  Verkünder  der  Lehre  seines 
Meisters«.    Unermüdlich  bearbeitet  er  den  von  Faust  übernommenen 

Wissensstoff,  und :   »nichts  anderes  als  das  Wissen  und  den 

Geist  seines  Lehrers  läßt  er  in  seiner  Retorte  brodeln  und  blitzen  (!)«. 
So  windet  sich  denn  Aisberg  bis  zu  seiner  These  durch:  »Fausts 
Geist  steckt  in  der  Phiole«  (S.  123),  der  Homunkulus  ist  nichts 
anderes,  als  die  »symbolische  Verkörperung  von  Fausts  altem,  mittel- 
alterlichem Geiste«.  In  der  Homunkulushandlung  soll  nun  nach  seiner 
Meinung  die  mittelalterliche  Begriffswelt  überwunden  und  Faust  zum 
Renaissancemenschen  wiedergeboren  werden,  um  ihn  so  zu  Helenas 
Gemahl  heranreifen  zu  lassen.  Die  Lücke  in  den  »Antezedentien«  zum 
Helenaakt  (Losbittung  in  der  Unterwelt,  Proserpinaszene),  die  uns  in 
den  Entwürfen  zur  Ankündigung  und  in  verschiedenen  Blättern  der 
Paralipomena  bekanntlich  skizziert  ist  und  in  der  fertigen  Dichtung 
allgemein  schmerzlich  vermißt  wird,  will  Aisberg  als  Lücke  nicht  mehr 


F 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.      45 

gelten  lassen.  Sie  soll  geschlossen  werden  eben  durch  Fausts  Stell- 
vertreter Homunkulus  in  dessen  Kampfstellung  gegen  die  gewaltsame 
Abschließung  von  der  Natur,  in  seinem  Anschluß  an  die  griechischen 
Naturphilosophen  und  seinem  Drang  zur  natürlichen  Entstehung.  »Zu- 
gleich gibt  Homunkulus  zu  erkennen,  wie  der  naturbeseligte  Geist 
(sc.  Fausts  in  Homunkulus)  nunmehr  in  unaufhaltsamem  Drange  zur 
Oriechenwelt  hinstürmt,  wie  der  vorher  so  ängstliche  Hüter  seines 
Olasgehäuses  mit  begeistertem  Ungestüm  gegen  den  Muschelwagen 
der  griechischen  Schönheitsgöttin  anprallt«  (S.  130).  »Weilt  auch  Faust 
fern  von  unseren  Blicken,  Homunkulus  ist  sein  Herold,  der  der  Welt 
seine  geistige  Eroberung  der  Helena  verkündet.«  Um  die  Einheitlich- 
keit des  2.  Aktes,  in  dem  der  innerlich  erlebende  und  sich  erneuernde 
Faust  in  der  Rolle  des  Homunkulus  uns  vorgeführt  werde,  nicht  zu 
zerstören,  sei  die  Proserpinaszene  nicht  ausgeführt  worden. 

3. 

Es  ist  nicht  zu  verkennen,  daß  diese  Meinung  Aisbergs  manches 
Bestechende  hat,  und  eine  verwandte  Auffassung  ist  ja  auch  ungefähr 
gleichzeitig  von  Rosenthal  (siehe  unten  S.  67)  ausgesprochen  worden. 
Das  liegt  vor  allem  daran,  daß,  wie  wir  sehen  werden,  richtige  Er- 
kenntnisse in  eine  im  Grunde  haltlose  Hypothese  verwoben  sind.  Daß 
ein  geistiger  Wandlungsprozeß  rückständig  gewordener  Weltanschauung 
in  der  Lebensgeschichte  des  Homunkulus  versinnlicht  ist,  daß  dieser 
Wandlungsprozeß  zu  den  Antezedentien  des  Helenaaktes  notwendig 
gehört,  um  die  geistig-seelische  Atmosphäre  zu  schaffen,  in  der  allein 
der  nordisch-germanische  Faust  sich  mit  der  südlich-griechischen  Helena 
vereinigen  kann,  das  ist  das  Wahre  in  diesen  Ausführungen;  daß  Faust 
selbst  in  Homunkulus  lebendig  wäre,  daß  Homunkulus  geradezu  eine 
geistige  Stufe  seines  individuellen  Seins  vertrete,  ist  das  Falsche 
und  Irreführende  der  Hypothese. 

Die  Wesensgleichheit  des  Homunkulus  und  des  Faust  aus  den 
wenigen  Worten  seines  Bekenntnisses  und  der  Charakteristik  von 
außen  her  feststellen  zu  wollen,  ist  mehr  als  kühn.  Es  ist  freilich  das 
Bewußtsein  seines  tätigen  Dranges  in  Homunkulus  lebendig.  Er 
bekennt:  »Dieweil  ich  bin,  muß  ich  auch  tätig  sein«,  und  dem- 
entsprechend legt  ihm  auch  Goethe  die  Tendenz  zum  Schönen  und 
förderlich  Tätigen  bei.  Aber  eine  lebendige  Anschauung  der  ideen- 
haften  Gestalt  der  Helena,  wie  Faust,  hat  er  schon  nicht.  Er  hat  nur 
eine  rezeptive  Aufnahmefähigkeit  für  die  Vision  des  Faust,  dem  er  als 
selbständige  Individualität  gegenübertritt.  Wie  wäre  es  sonst  zu  ver- 
stehen, daß  er,  Faust  erblickend  und  seine  Traumvision  erschauend, 
erstaunt  wäre,  wie  Goethe  ausdrücklich  als  Anweisung  vermerkt, 


I 


46  CARL  ENDERS. 

und  daß  er  aus  diesem  Erstaunen  über  ein  ihn  so  überraschendes  und 
also  durchaus  nicht  selbstverständliches  Gesicht  bewundernd  und  ur- 
teilend ausriefe:  »Bedeutend«?  Er  schildert  nun,  was  er  im  Traume 
Fausts  sieht:  die  Empfängnis  der  Leda. 

Mephisto:  So  klein  du  bist,  so  groß  bist  du  Phantast. 
Ich  sehe  nichts.  — 
Homunkulus:  Das  glaub'  ich;  du  aus  Norden, 
Im  Nebeialter  jung  geworden. 
Im  Wust  von  Rittertum  und  Pfäfferei, 
Wo  wäre  da  dein  Auge  frei! 
Im  Düstern  bist  du  nur  zu  Hause  .  . . 
Wie  wollt  er  sich  hierher  gewöhnen, 
Ich,  der  bequemste,  duld'  es  kaum. 

Hier  setzt  er  sich  durchaus  in  Gegensatz  zu  der  nordisch-mittel- 
alterlichen Nebelwelt,  aus  der  Mephisto  zu  Hause  ist,  nicht  er.  Er 
setzt  sich  aber  auch  in  einen  graduellen  Abstand  zu  Faust  selbst  und 
hebt  sich  als  Eigenwesen  durch  abweichende  Anlage  von  ihm  ab:  er 
ist  bequemer,  beharrender  als  Faust.  An  diesem  Wort  einwandfreier 
Überlieferung  ist  doch  wohl  weniger  zu  rütteln  und  zu  deuteln,  als 
an  einem  durch  die  Erinnerung  Eckermanns  überlieferten  Gespräch, 
des  Mannes,  dessen  Materialbedingtheit  die  neue  Ausgabe  von  Castle 
erneut  dartut  und  dessen  oft  willkürliche  Sinnbiegungen  und  Unge- 
nauigkeilen  neuerdings  an  einigen  trefflichen  Beispielen  Max  Wundt  ^) 
erwiesen  hat.  Homunkulus,  der,  eingeschlossen  in  die  Schranken  seines 
Olaskäfigs,  bequem,  beharrend  und  sich  anpassend  wider  Willen  ist, 
kann  nicht  mehr  haben  als  den  Drang  zur  Tätigkeit,  der  aus  seiner 
Orundanlage  stammt,  dem  ihm  von  seinem  paracelsistischen  Ahn  ver- 
erbten lehrhaften  Wissen  um  alles  was  geschieht.  Solange  er  reiner 
Geist  ist,  kann  er  nicht  wirklich  tätig  sein,  d.  h.  sich  frei  schaffend  in 
die  Wirklichkeit  projizieren.  Der  Drang  zur  Tätigkeit,  der  sich-  vor- 
läufig nur  in  einer  gewissen  Geschäftigkeit  äußert,  ist  der  Trieb,  der 
ihn  später  befreit. 

Daß  die  Träume  des  Faust,  die  um  Helena  kreisen,  unabhängig 
von  Homunkulus  gedacht  waren,  und  diesem  daher  als  ein  objektiv 
Fremdes  vorkommen  müssen,  zeigt  auch  der  zweite  Entwurf  zur  An- 
kündigung der  Helena,  wo  es  noch  nach  dem  tumultuarischen  Ende 
der  Geisterbeschwörung  am  Kaiserhofe  heißt :  Faust,  aus  einer  schweren 
langen  Schlafsucht,  während  welcher  seine  Träume  sich  vor  den 
Augen  des  Zuschauers  sichtbar  umständlich  begeben, 
ins  Leben  zurückgerufen,  tritt  exaltiert  hervor  und  fordert den 


')  Max  Wundt,  Goethes  Wilhelm  Meister  und  die  Entwicklung  des  modernen 
Lebensideals,  Berlin  1913,  Anhang,  S.  493  ff. 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.      47 

Besitz  (Helenas)  heftig  von  Mephistopheles«^.  Daraufhin  erst  kommt 
Mephisto  auf  den  Gedanken,  ihn  zu  Wagner  zurückzuführen  und  durch 
die  Erzeugung  des  chemischen  Männieins  zu  fesseln  und  abzulenken. 
Ursprünglich  sollten  also  die  Träume  selbst  auch  bildhaft  vorgestellt 
werden. 

Die  Oleichartigkeit  der  Handlungen,  vor  allem  die  Oleichartigkeit 
des  Ziels  für  Homunkulus  und  Faust,  wird  nur  durch  eine  unklare 
Auflösung  der  beiden  Ziele  ins  Nebelhaft-Allgemeine  konstruiert.  Die 
Sehnsucht  des  Homunkulus  ist  darauf  gerichtet,  von  seiner  reinen 
Geistigkeit  loszukommen,  einen  Körper  zu  erhalten  und  so  von  dem 
Scheinmenschentum,  das  in  seinem  nicht  ohne  ironische  Färbung 
wirkenden  Namen  Homunkulus  (=  Menschlein)  sich  selbst  bezeichnet, 
zum  wahren  Menschentum  zu  gelangen,  dadurch  die  künstliche  Ge- 
bundenheit (symbolisiert  durch  die  Glashülle)  eines  nur  leuchtenden, 
erhellenden  Zustandes  des  reinen  Wissens  und  Denkens  zu  verlieren 
und  den  Drang  zum  Tätigsein,  der  sich  jetzt  nicht  entfalten  kann,  zur 
Auswirkung  zu  bringen.  Er  strebt  aus  einem  ganz  allgemeinen 
Zustand  in  einen  anderen  ganz  allgemeinen  Zustand  menschlichen 
Erlebens  und  Strebens.  Er  klaubt,  diesem  Drang  nachgebend,  im 
Humus  der  thessalischen  Ebene  (Pharsalus),  wo  so  viele  ganze, 
aus  Geist  und  Körper  bestehende  Menschenwesen  sich  aufge- 
löst haben,  phosphoreszierende  Atome  auf,  wie  die  Kohorten  der 
Cäsareaner  und  Pompejaner  versuchen,  zu  »legitimer  Auferstehung« 
sich  die  Bestandteile  ihrer  Individualitäten  stürmisch,  wie  es  ihrem 
Wesen  entsprach,  zuzueignen,  er  läßt  sich  zu  diesem  Zweck  auf  die 
Naturphilosophien  des  Anaxagoras  und  Thaies  ein  in  der  Hoffnung, 
durch  sie  zu  erfahren,  wie  diese  legitime  Entstehung  möglich  ist. 

Faust  ist  über  die  Bedingtheiten  dieses  Zustandes  für  seine 
Individualität  längst  hinaus;  wenn  er  auch  solche  Naturerkenntnisse 
als  System  noch  nicht  erörtert  hat.  so  sind  sie  ihm  doch  längst 
natürlich,  ersehnt  schon  vor  dem  Zeichen  des  Erdgeistes  und  Makro- 
kosmos, erst  recht  in  der  Erfüllung  seines  Einsgefühls  mit  der  Natur 
und  ihren  wirkenden  Kräften  in  >Wald  und  Höhle«.  Nicht  staunenden 
Besuch  nur  erlaubt  ihm  längst  der  erhabene  Geist, 

Vergönnest  mir,  in  ihre  tiefe  Brust 

Wie  in  den  Busen  eines  Freunds  zu  schauen, 

Du  führst  die  Reihen  der  Lebendigen 

Vor  mir  vorbei,  und  lehrst  mich,  meine  Brüder 

Im  stillen  Busch,  in  Luft  und  Wasser  kennen. 

Wenn  Mephisto  sich  wundert,  wie  er  »aus  dumpfem  Moos  und 
triefendem  Gestein  wie  eine  Kröte  Nahrung  sich  einschlürfen  könne, 
so  antwortet  ihm  schon  der  Faust  des  I.Teils:     Verstehst  du,  was 


48  CARL  ENDERS. 


für  neue  Lebenskraft  Mir  dieser  Wandel  in  der  Öde  schafft?«  Und 
nur  dem  Naturverwandten  kann  die  Natur  so  heilsam  werden,  wie 
Faust  im  Eingang  des  2.  Teils.  Klare  Interpretation  muß  die  Grund- 
lage alier  unserer  Betrachtungen  bleiben.  Und  auf  dieser  Grundlage 
bleibt  es  dabei:  Fausts  Ziel  ist  kein  so  allgemeines,  sondern  ein  ganz 
besonderes,  ganz  bestimmtes:  Helena!  Und  nichts  anderes!  Freilich 
Helena  nicht  mehr  als  das  schönste  Weib  schlechthin,  wie  im  Volks- 
buch und  Volksschauspiel,  wie  auch  noch  im  Spiegel  der  Hexenküche, 
sondern  Helena  als  die  Ledatochter,  deren  Zeugungsstunde  er  eben 
im  Traum  erlebt  hat,  die  verkörperte  Idee  klassischer  Schönheit.  Zur 
Erfassung  dieser  Idee,  welche  in  Faust  selbst  ja  schon  lebendig  ist, 
ist  freilich  die  Fähigkeit  notwendig,  griechisch-sinnlichen  Geist  zu  er- 
leben. Ganz  allgemein  notwendig,  für  jeden  Menschen  notwendig, 
also  auch  für  das  ideale  Publikum  vor  der  Bühne,  auf  der  dieser 
2.  Teil  der  Dichtung  sich  abspielt,  und  das  nachher  diese  Idee,  welche 
Helena  verkörpert,  in  sich  lebendig  aufnehmen  soll.  Ihm  diesen  Geist 
nahezubringen,  ist  auch  die  klassische  Walpurgisnacht  da,  in  der  Ho- 
munkulus mitspielt.  Insofern  stellt  sie  Antezedentien  des  Helena- 
aktes dar. 

Damit  fallen  auch  die  Betrachtungen  Aisbergs  über  das  Wechsel- 
spiel der  Handlungen  (Fausthandlung  und  Homunkulushandlung)  in 
sich  zusammen.  Denn  wie  könnten  sich  zwei  Handlungen,  deren 
Wesen  und  Ziel  so  verschieden  ist,  wechselseitig  fortführen,  gegen- 
seitig sich  ergänzen?  Das  Ziel  der  einen  ist  ein  naturphilosophisches: 
psychisch-physische  Entstehung  der  realen  Individualität  des  Menschen; 
das  Ziel  der  anderen  ist  ein  kulturphilosophisches:  sinnfälliges  Er- 
lebnis der  kulturbildenden  Idee  der  griechischen  Helena.  Die  natur- 
philosophische Anschauung  ist  eine  der  Voraussetzungen  dieser  Idee 
und  insofern  antezedentischen  Charakters  für  den  3.  Akt  unseres 
Dramas;  das  ist  alles,  was  die  beiden  Handlungen  verbindet.  Helena 
selbst  wird  gar  nicht  zu  realem  individuellem  Leben  er- 
weckt; sie  hat  in  der  Inhaltsangabe  der  Dichtung  für  »Dichtung 
und  Wahrheit«  von  1816  noch  reinen  Märchen  Charakter.  Durch 
einen  magischen  Ring  wird  ihr  die  Körperlichkeit  gegeben,  und  das 
Schloß,  auf  dem  sie  (wie  in  einem  früheren  griechischen  Märchen  mit 
Achill  auf  der  Insel  Leuke)  in  Sparta  leben  kann,  ist  »mit  einer 
Zaubergrenze  umzogen,  innerhalb  welcher  allein  diese  Halb  Wirk- 
lichkeiten gedeihen  können«,  genau  wie  in  Tiecks  Elfenmärchen; 
da  sie  in  Verzweiflung  die  Hände  ringt,  »streift  sie  den  Ring  ab  und 
fällt  Faust  in  die  Arme,  der  aber  nur  ihr  leeres  Kleid  umfaßt«,  genau 
wie  der  Held  im  Melusinemärchen.  Aber  auch  später,  in  der  voll- 
endeten Dichtung,  bleibt  sie,  wenn  auch  nicht  eine  so  naive  Märchen- 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  4Q 

kgestalt,  so  doch  durchaus  Allegorie,  ein  Phantom  für  die  »Phantasma- 
gorie«,  als  welche  der  Helenaakt  in  die  Dichtung  eingereiht  wird. 
Bekanntlich  übernimmt  Mephisto  zum  Teil  die  Rolle  eines  erklärenden 
^  Epilogisten  für  das  Publikum,  in  welcher  er  geradezu  seinen  teuflischen 
P  Orundcharakter  ablegt.  So  sehr  wird  die  Phantasmagorie  von  der 
Bühnenwirklichkeit  der  übrigen  Handlung  abgerückt  in  »romantischer 
Ironie«.  Also:  Helena  wird  gar  nicht  zu  realem  individuellem  Leben 
erweckt,  wie  es  Homunkulus  erstrebt,  sondern  aus  dem  Schattenreiche 
losgebeten  zu  zeitweiligem  rein  ideellem  Leben,  um  nach  Voll- 
bringung ihrer  Mission  in  der  Entwicklungsbahn  Fausts  zurückzu- 
kehren in  den  Hades.  Und  so  kann  denn  auch  nie  und  nimmer  die 
Homunkulushandlung  jene  Lücke  ausfüllen,  die  man  mit  Recht  immer 
festgestellt  hat.  jenen  Aufenthalt  Fausts  in  der  Unterwelt  unter  Führung 
der  Manto,  der  Mittlerin  zwischen  Lebenden  und  Schatten,  der  gleich- 
gearteten Tochter  des  homerischen  Teiresias;  jene  Szene,  in  welcher 
Faust  Helena  losbittet.  Nicht  weil  Homunkulus  sie  überflüssig  ge- 
macht hätte  (besäßen  wir  sie  doch !),  sondern  weil  Goethe  die  Stunde 
für  das  unendlich  schwere  Werk  nicht  erschien:  >Was  muß  das  nicht 
für  eine  Rede  sein,  da  die  Proserpina  selbst  zu  Tränen  davon  gerührt 
wird !  —  Dieses  alles  .  .  .  hängt  sehr  vom  Glück  ab,  ja  fast  ganz  von 
der  Stimmung  und  Kraft  des  Augenblicks.«  Dieser  Augenblick  hat 
sich  nicht  mehr  eingestellt.  In  der  Ausführung  der  Antezedenlien  zur 
Helena  (im  2.  Akt)  fehlt  deshalb  die  Szene,  so  notwendig  sie  auch 
für  den  Abschluß  der  Fausthandlung  ist. 

Wie  Aisberg  sich  in  der  Erklärung  des  Verhältnisses  winden  muß, 
in  dem  Homunkulus  zu  den  übrigen  Personen  der  Laboratoriumszene 
steht,  haben  wir  schon  angedeutet.  Wie  widerspruchsvoll  ist  schon  der 
Satz:  »So  verdichtet  sich  das  äußere  Bild  des  Homunkulus  im  Zu- 
schauer von  selbst  zu  der  Idee,  in  ihm  ein  Abbild  echt  mittelalterlichen 
Geistes  vor  Augen  zu  haben«,  wenn  wir  gerade  erfahren,  daß  der 
Dämon  deshalb  die  Vision  Fausts  sofort  erfaßt,  weil  er  selbst  sie  in 
sich  erlebt  als  Herold  und  Doppelgänger  des  Faust.  Nur  die  merk- 
würdige Entstehungsart  aus  der  Retorte  des  armseligen  Wagner  hält 
Aisberg  für  kurze  Zeit  zurück,  seine  Wesensgleichheit  mit  Faust  zu 
proklamieren.  Und  so  muß  denn  der  trockene  Schleicher  gegen  allen 
Sinn  der  Dichtung  noch  zu  einem  brauchbaren  Gelehrten  erhoben 
werden,  der  Gewalt  hat  über  den  Geist  eines  Faust,  sei  es  auch  des 
vorpaktischen!  Das  durfte  uns  nicht  zugemutet  werden!  Daran  allein 
hätte  ihm  die  ganze  Hypothese  unwahrscheinlich  werden  müssen.  An 
einer  anderen  Schwierigkeit  schleicht  Aisberg  vorbei,  ohne  mit  einem 
Wort  sie  anzudeuten.  Damit  ist  sie  aber  doch  nicht  verschwunden, 
wie  dem   Kinde,  das  die  Augen  zumacht,  ein  schreckliches  Gesicht 

Zeilschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  4 


50  CARL  ENDERS. 

verschwindet.  Das  ist  die  heimliche  Mitwirkung  des  Mephistopheles 
an  der  Erzeugung  des  Homunl<uius,  die,  wie  ja  auch  Aisberg  vermeri<t, 
im  Drama  mehrfach  angedeutet  und  auch  vom  Dichter  ausdrücklich 
bestätigt  ist.  Betrachten  wir  Homunkulus  nur  als  Figur  der  äußeren 
Handlung,  so  ist  klar,  wozu  Mephistopheles  sich  Wagner  hilfreich  er- 
zeigt, ihn  zustande  zu  bringen.  In  der  zweiten  Ankündigung  zur  Helena 
wird  das  ganz  deutlich  ausgesprochen:  »Zuletzt  noch  die  wachsende 
Ungeduld  des  Herrn  zu  beschwichtigen,  beredet  er  ihn  gleichsam  im 
Vorbeigehen  auf  dem  Weg  zum  Ziele  den  akademisch  angestellten 
Doktor  und  Professor  Wagner  zu  besuchen,  den  sie  in  seinem  Labora- 
torium finden,  hoch  gloriierend,  daß  eben  ein  chemisch  Männlein  zu- 
stande gekommen  sei.«  Also  Ablenkung!  Nach  R.  Petsch  *)  hat  Me- 
phisto den  Homunkulus  schlechthin  geschaffen  und  ihm  daher  auch 
seine  besonderen  Eigenschaften  vererbt,  Ironie,  Erfahrenheit  und  Klug- 
heit. Wenn  das  richtig  wäre,  so  wüßte  man  nicht,  wozu  diese  Wieder- 
holung seiner  selbst  dienen  sollte.  Diese  Auffassung  verbietet  auch 
durchaus  die  Überlegenheit,  welche  Homunkulus  gerade  hier  Mephisto 
gegenüber  an  den  Tag  legt.  Der  Verstand  des  Mephisto  und  des 
Homunkulus  ist  verschieden  geartet;  der  des  Mephisto  ist  negativ, 
zergliedernd,  analytisch,  der  des  Homunkulus  positiv,  zusammen- 
fassend, aufbauend,  konstruierend,  synthetisch.  Mephisto  ist  nur  mit- 
beteiligt an  seiner  Erzeugung,  er  hat  Elemente  beigesteuert,  die  über  die 
Kraft  des  trockenen  Schleichers  gehen.  Die  Verwandtschaft  zwischen 
beiden  soll  denn  auch  nur  entfernter  Art  sein:  Ȇbrigens  nennt  er 
ihn  Herr  Vetter«,  sagt  Goethe  zu  Eckermann  =);  »denn  solche  geistige 
Wesen,  wie  der  Homunkulus,  die  durch  eine  vollkommene  Mensch- 
werdung noch  nicht  verdüstert  und  beschränkt  werden,  zählte  man 
zu  den  Dämonen,  wodurch  denn  unter  beiden  eine  Art  von  Verwandt- 
schaft existiert«.  Aber  immerhin  eine  Art  von  Verwandtschaft.  Es 
ist  jedenfalls  Homunkulus  in  dem  anhängigen  Prozeß  zwischen  Faust 
und  Mephisto  näher  zu  diesem  gezogen  als  zu  Faust.  Was  gibt  das 
nun  für  ein  seltsames  Verhältnis,  wenn  Homunkulus,  der  »Vetter»  des 
Mephisto,  identisch  wird  mit  dem  mittelalterlichen  Faust  als  dessen 
symbolischer  Vertreter!  Wie  vor  allen  Dingen  läßt  sich  das  mit  der 
Sauberkeit  des  Paktes  zwischen  Faust  und  Mephisto  vereinigen? 

4. 
Wie  steht  es  denn  nun  aber  um  die  Deutung  des  Homunkulus? 
Was  ist  seine  tiefere  Wesensart? 


')  Vorträge  über  Goethes  Faust,  Würzburg  1903,  S.  142  ff. 
')  Castle  I,  S.  298. 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.      15 

Als  der  I.Teil  des  Faust  erschien,  war  Goethe  fast  sechzig  Jahre 
alt.  Ein  Werk  war  abgeschlossen,  das  in  wesentlichen  Teilen  aus 
Kunstanschauungen  heraus  entstanden  war,  die  ihm  längst  nicht  mehr 
galten.  Die  neuen,  jetzt  sein  Schaffen  bestimmenden  Anschauungen 
hatten  —  öfters  unorganisch  genug  wirkend  —  sich  eingemischt,  z.  B. 
in  der  1.  Walpurgisnacht,  besonders  in  der  Umbildung  eines  alten 
literarischen  Oelegenheitsspieis  »Oberons  und  Titanias  goldene  Hoch- 
zeit« zum  Walpurgisnachtstraum  >).  Die  stärksten  Anregungen  zu 
diesen  neuen  Anschauungen  gingen  aus  von  seiner  Aufnahme  der 
Antike  Winckeimannscher  Observanz.  Auf  dem  Wege  zu  dieser  neuen 
antikisierenden  klassischen  Kunst  stehen  die  römischen  Elegien,  in 
denen  das  sinnlich-lebendige  Erlebnis  antiken  Geistes  in  Italien  sich 
am  unmittelbarsten  auswirkt,  die  Idyllen  >Alexis  und  Dora«  und  der 
»neue  Pausias«.  Der  Orundzug  dieser  antikisierenden,  klassisch-fröh- 
romantischen  Kunstlehre,  soweit  es  sich  um  Gestaltung  von  Kultur- 
erlebnissen handelt,  ist  die  Typisier ung,  die  in  dem  Begriff  der 
Allegorie  ihren  Höhepunkt  findet.  Die  Theoretiker  auf  dieser  Linie 
sind  vor  allem  Winckelmann,  Herder  und  Friedrich  Schlegel. 

Winckelmanns  Abhandlung  über  die  Nachahmung  läuft  aus  in  die 
Erhebung  der  Allegorie  als  letzter  Blüte  einer  kultureilen  Kunst,  einer 
Kunst,  die  eine  eminente  Ideenmasse  in  Anschauung  umsetzen  muß. 
Epochemachend  war  der  letzte  Satz  dieser  berühmten  Schrift:  »Der 
Pinsel,  den  der  Künstler  führt,  soll  in  Verstand  getunkt  sein,  wie 
jemand  von  dem  Schreibegriffel  des  Aristoteles  gesagt  hat:  Er  soll 
mehr  zu  denken  hinterlassen,  als  was  er  dem  Auge  gezeigt,  und 
dieses  wird  der  Künstler  erhalten,  wenn  er  seine  Gedanken  in  Alle- 
gorien nicht  zu  verstecken,  sondern  einzukleiden  gelernt  hat.  Der 
Kenner  wird  zu  denken  haben  und  der  bloße  Liebhaber  wird  es 
lernen«  -). 

Während  die  Ausführungen  Herders  über  das  Wesen  der  Allegorie 
im  4.  Stück  des  2.  Bandes  der  Adrastea ')  nicht  tiefer  in  das  Problem 
hineinführen,  hat  Friedrich  Schlegel,  mitbestimmt  durch  die  Vorstel- 
lungen des  Hemsterhuis  über  die  Ursprache  und  angeregt  durch 
Herdersche  Gedanken  zur  Mythologie,  die  Winckelmannschen  An- 
schauungen weiter  ausgebaut  in  der  »Rede  über  die  Mythologie«  und 
dort  wieder  im     Gespräch  über  die  Poesie«  '). 

Die  Allegorie  wird  ihm  zur  Konzentration  von  Kultur- 
erlebnissen der  Generationen   und  Völker  in  einer  von  Be- 


')  Vgl.  M.  Morris,  üoelhestudieii,  Bd.  1,  Berlin  1902,  S.  54  ff. 

4  C.  Enders,  Fr.  Schlegel,  Leipzig'  1913,  S.  71. 

')  180102,  Suphans  Ausgabe,  Bd.  23,  S.  309  ff. 

*)  J.  Minors  Ausgabe  der  Jugendschriften  Fr.  Schlegels,  Bd.  II,  S  357  ff. 


52  CARL  ENDERS. 


griffen  umwitterten  Gestalt,  die  so  zu  einem  Bedeutungs- 
träger wird,  der  den  Eingeweiliten,  den  der  gemeinschaftlichen 
Kultur  wirklich  Teilhaftigen,  Unendliches  zu  sagen  weiß,  und 
mehr  noch  anzudeuten  als  auszusprechen,  weil  die  mitarbeitende 
Vorstellungswelt  der  Genießenden  die  Gestalt  sofort  mit  einer 
Atmosphäre  von  Begriffen,  Bildern  und  Handlungen  umgibt,  die 
durch  die  allegorische  Gestalt  jederzeit  lebendig  vertreten  werden.  Sie 
erhebt  so  ganze  Massen  von  Kulturerfahrungen  ins  halbe  Bewußtsein, 
während  sie  doch  als  Einzelgestalt  in  einem  einfachen  Geschehen 
stehen  und  sich  bewegen  kann.  Eine  solche  Gestalt  ist  im  voll- 
kommensten Sinne  z.  B.  Helena  in  der  Faustdichtung.  Sie  tritt  als 
in  sich  bedingte  Individualität  in  die  Handlung  mit  Faust  ein,  in  ein 
individuelles,  durch  individuelle  Charakterzüge  bedingtes  Verhältnis  von 
Mensch  zu  Mensch  und  ist  doch  zugleich  Versinnlichung  einer  ganzen 
Anschauungswelt,  die  nicht  nur  in  der  Antike,  sondern  im  Lauf  unserer 
ganzen  Kulturentwicklung  sich  um  ihre  Gestalt  geschichtet  hat;  ihr 
Name  ist  eine  Idee,  und  doch  ist  sie  eine  individuelle  Persönlichkeit, 
die  nichts  von  ihrem  Dunstkreis  weiß,  oder,  wenn  sie  ihn  traumhaft 
ahnt,  ängstlich  sich  wehrt,  um  nicht  in  seelische  Verwirrung  zu  geraten. 

Friedrich  Schlegel  verlangt,  daß  für  eine  jede  nur  geahnte  Geislig- 
keit  solche  Allegorien  den  Ausdruck  schüfen.  Dabei  sollen  sich  die 
Künstler  an  das  schon  auf  natürlichem  Wege  Gebildete  anschließen,  vor 
allem  also  an  die  allegorisch-mythologischen  Gestalten  der  Griechen  *). 
Solch  eine  Allegorie  des  tatbereiten  Heldentyps  ist  im  Volksbuch 
und  in  einem  Paralipomenon  zum  1.  Akt  des  2.  Teils  Alexander  der 
Große,  der  in  ähnlichem  Sinn  von  Faust  als  alter  Fortinbras  ange- 
redet wird;  es  wird  lebendig  das  Unrecht,  das  um  der  Tat  willen 
geschieht  und  geschehen  muß,  und  es  wird  der  ganze  Konflikt  lebendig, 
der  um  Hamlets  Unlähigkeit  zur  Tat  wittert.  Solchen  allegorischen 
Charakter  haben  mehr  oder  minder  alle  Persönlichkeiten,  welche  in  der 
klassischen  Walpurgisnacht  auftreten,  z.  B.  Chiron,  der,  da  er  zu  Ver- 
trauten spricht,  nur  aus  der  pädagogischen  Bildungsatmosphäre,  die 
ihn  umhüllt,  einzelnes  auftauchen  läßt.  Im  Mummenschanz  des  1.  Aktes 
legen  die  Mitspielenden  allegorische  Masken  an:  der  beschmeichelte 
Kaiser  die  ironisch  wirkende  Maske  des  großen  Pan,  Faust  die  des 
Plutus,  seiner  neuen  Stellung  am  Hofe  gemäß.  So  ist  uns  schließlich 
Faust  selbst  zu  einer  solchen  Allegorie  geworden,  wie  Iphigenie  zu  der 
Allegorie  neuhumanistischer  Geisteskultur. 

Goethe  selbst  hat  dann  in  den  Propyläen,  zunächst  für  die 
bildende  Kunst,  sich  zu  Anschauungen  bekannt,  die  mit  diesen  in  enge 


■)  Enders,  a.  a.  O.  S.  228  ff. 


p 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  53 

Verbindung  gebracht  werden  können.  Auf  die  Dichikunst  übergeleitet 
wird  dann  die  neue  Kunstanschauung,  die  ihre  Wurzeln  natürlich 
schon  in  die  früheren  Epochen  bis  in  die  Jugenddichtung  erstreckt 
und  aus  einem  Orundtriebe  seines  menschlichen  und  künstlerischen 
Wesens  erwächst,  im  Briefwechsel  mit  Schiller.  Hier  entwickeln  sich 
die  neuen  Erkenntnisse  aus  Schillers  gleichzeitigem  Studium  antiker 
Dramen.  »Es  ist  mir  aufgefallen,«  schreibt  dieser  im  April  1797,  >da6 
die  Charaktere  des  griechischen  Trauerspiels  mehr  oder  weniger  idea- 
lische Masken  und  keine  eigentlichen  Individuen  sind.«  Im  Ulysses 
des  »Ajas«  und  des  »Philoktet«  sieht  er  das  Ideal  der  listigen,  über 
ihre  Mittel  nie  verlegenen  engherzigen  Klugheit,  im  Kreon  des  »Öpi- 
pus«  und  der  »Antigene«  die  kalte  Königswürde.  Die  (psychologische) 
Wahrheit  leide  darunter  nicht,  weil  sie  bloßen  logischen  Wesen  ebenso 
entgegengesetzt  sind,  wie  »bloßen  Individuen«.  Goethe,  dem  diese 
Erfahrungen  ja  von  der  Plastik  ausgehen,  bestätigt,  »daß  in  den  Ge- 
stalten der  alten  Dichtkunst  wie  in  der  Bildhauerkunst  ein  Abstraktum 
erscheint,  das  seine  Höhe  nur  durch  das,  was  man  Stil  nennt,  er- 
reichen kann«.  Er  hebt  es  ab  gegen  das  Abstrakte  aus  Manier.  Die 
lebendige  Ausführung,  die  desto  stetiger  sein  könne,  je  besser  die 
Fabel  sei,  bleibe  das  Verdienst  des  Dichters.  Also  wird  die  indivi- 
duelle Verknüpfung  in  ein  besonderes  Geschehen  immer  erforderlich 
sein.  Wie  ernst  ihm  diese  Erkenntnisse  sind,  bestätigt  die  Mahnung: 
»Wir  wollen  deshalb  künftig  sorgfältiger  als  bisher  das,  was  zu  unter- 
nehmen ist,  prüfen.« 

Praktisch  hat  er  um  die  Jahrhundertwende  ganz  diesen  Forde- 
rungen entsprechend  sein  Drama  »Paläophron  und  Neoterpe«  ge- 
schaffen. 1807  entwirft  er  die  »Pandora«.  Sie  ist  eine  allegorische 
Gestalt  in  diesem  hohen  Sinne.  Sie  tritt  zwischen  Epimetheus,  den 
»Sinn«Begabten,  der  nach  allem  Unendlichen,  Unerreichbaren,  nach 
den  »Gestalten«  der  Ideenwelt  strebt,  und  den  auf  das  praktisch  Er- 
reichbare gerichteten  Tatmenschen  Prometheus,  der  das  Streben  nach 
dem  Unerreichbaren  haßt,  weil  es  die  reale  Wirkungskraft  lähmt,  um 
schließlich  beide  zu  versöhnen  im  dritten  Reich  beseelter,  durchgeistigter 
Kultur,  in  welchem  die  Gestalten  jenes  Reiches  Wirklichkeit  in  diesem 
werden  ^).  Was  Goethe  von  dem  Festspiel  »Pandora«  bekennt,  es 
gehe  nicht  mehr  unmittelbar  auf  »Varietät  und  Individualität«  aus,  sondern 
»mehr  aufs  Generelle«,  gilt  ebenso  von  allen  allegorischen  Gestalten 
des  2.  Teils  des  Faust.  Alle  sind  sie  über  das  individuelle  Schicksal 
Fausts  erhoben  in  die  Entwicklungssphäre  der  Kulturmenschheit  über- 
haupt.   Homunkulus  kann  aus  diesem  Kreise  nicht  herausgenommen 


')  E.  Cassirer,  Goethes  Pandora,  in  dieser  Zeitschrift  XIH,  1918,  S.  113«. 


54  CARL  ENDERS. 


werden.  Auch  er  hat  eine  überindividuelle,  d.  h.  hier  überfaustische, 
ideelle  Entwicklungsstufe  allegorisch  zu  vertreten.  Er  ist  eine  Allegorie, 
wie  die  anderen  auch.  Freilich  ist  er  das  erst  geworden  während 
seiner  allmählichen  Ausbildung  im  Geiste  seines  Schöpfers.  Drückten 
sich  diesem  doch,  wie  er  bekennt,  solche  »Motive,  Legenden,  uralt 
geschichtlich  Überliefertes  tief  in  den  Sinn«,  schien  es  ihm  doch  »der 
schönste  Besitz,  solche  werte  Bilder  oft  in  der  Einbildungskraft 
erneut  zu  sehen,  da  sie  sich  denn  zwar  immer  umgestalteten,  doch, 
ohne  sich  zu  verändern,  einer  reinem  Form,  einer  entschiedeneren  Dar- 
stellung entgegenreiften«.  Genau  so  ist  es  ihm  mit  dem  Homunkulus 
ergangen. 

Es  ist  Schlegel  bei  der  Unzulänglichkeit  seiner  Gestaltungskraft 
nicht  gelungen,  die  Allegorien,  welche  er  selbst  aus  seiner  theoretischen 
Forderung  heraus  schuf,  so  lebendig  zu  machen,  wie  er  es  wünschen 
mußte;  aber  auch  bei  ihm  sollten  sie  nicht  nur,  »weil  der  Gedanke  der 
Dichtung  sie  fordert«,  auftreten.  Es  sollte  immer  so  sein,  wie  Helene 
Herrmann ')  von  den  Gestalten  der  klassischen  Walpurgisnacht  sagt: 
»Hier  bleibt  kaum  etwas  antiquarisch  oder  allegorisch  (im  heutigen 
gebräuchlichen  Wortsinn),  wie  fern  hergeholt  es  auch  scheinen  mag, 
vielmehr  findet  für  jeden,  der  erst  das  Grundgefühl  dieser  Szenen  er- 
griffen hat,  eine  wunderbare  Belebung  des  fernsten  Kulturgutes  statt.« 
—  »Gestaltblühende  Lebendigkeit«  sollte  immer  die  künstlerische  Frucht 
charakterisieren.  Und  doch  ist  keine  dieser  Gestalten  mehr  als  »Aus- 
wirkung der  allgemeinen  Lebendigkeit  ihrer  besonderen  Sphäre,  alle 
haben  nur  an  ihr  Existenz«  ^).  Das  unterscheidet  sie  eben  von  den  realen 
Individualitäten.  Von  allen  Gestalten  des  Faust  (auch  im  L  Teil)  kann 
Helene  Herrmann  sagen:  »So  lebensvoll  sie  als  Gestalten  sind,  sie  leben 
doch  immer  von  jenem  großen  Grundstrom  lyrischen  Weltgefühls  her, 
der  sie  trägt.  Sie  sind  immer  zu  fühlen  als  sein  verschiedenartiges 
Gestalt  werden  «ä).  Im  2.  Teil  lebt  hinter  ihnen  eine  universale  Weltan- 
schauung, welche  ihre  einzelnen  Elemente,  aus  der  sie  historisch  und 
in  inneren  Wandlungen  sich  gebildet  hat,  kultursymbolisch  in  den 
Gestalten  der  Dichtung  sich  auswirken  läßt. 

Daß  Homunkulus  zunächst  Mephisto  nur  zur  Ablenkung  von 
Helena  dienen  soUte,  haben  wir  schon  bemerkt.  Im  Anschluß  an  die 
Überlieferung  des  Paracelsus  (de  generatione  rerum  naturalium),  der 
Paracelsisten  und  des  Anthropodemlcus  Plutonicm  des  Prätorius,  welche 
Goethe  ja  schon  früher  und  neuerdings  für  seine  Balladen  und  die 
1.  Walpurgisnacht   benutzt   hatte,   wird  das  Männlein   (von  dem  die 

')  Anm.  unten  a.  a.  O.  S.  94. 
^)  S.  114. 
4  S.  119. 


i 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  55 

Inhaltsangabe  für  Dichtung  und  Wahrheit  von  1816  noch  nichts  weiß) 
eingeführt  zuerst  in  der  zweiten  Ankündigung  zur  Helena;  dort  aber 
noch  als  Zwerglein,  ein  Kristallisationsgebilde,  wie  es  zu  Goethes  Zeit 
der  Philosoph  J.  J.  Wagner  für  möglich  hielt.  Für  die  Überleitung  zur 
klassischen  Walpurgisnacht  ist  hier  schon  das  der  Überlieferung  ent- 
nommene Wissen  des  Zwergleins  willkommen,  das  durchaus  welt- 
kalenderartig  ist. 

Aber  wie  Pandora  aus  dem  lockenden  Dämon  der  antiken  Über- 
lieferung, aus  dessen  Gefäß  alle  Übel  aufsteigen,  auf  dem  von  Goethe 
selbst  gekennzeichneten  Wege  zu  der  Allbegabten  und  Allgebenden 
wird  (Cassirer,  a.  a.  O.),  wie  Helena  sich  von  dem  mittelalterlichen 
Buhlweib  entwickelt  über  die  Märchengestalt  der  Inhaltsangabe  für 
Dichtung  und  Wahrheit  zu  der  allegorischen  und  doch  individuellen 
Persönlichkeit  der  fertigen  Dichtung,  so  auch  Homunkulus  von  dem 
alchymistischen  Produkt,  das  die  äußere  Handlung  fortschiebt,  zu  einem 
allegorischen  Individuum.  Der  Drang  nach  Vertiefung  der  Gestalt  liegt 
schon  angedeutet  in  der  Betonung  des  historisch-mythischen  Naturells, 
das  Homunkulus  zugeschrieben  wird.  Auch  das  »grenzenlose  Ge- 
schwirre historisch-geographischer  Notizen«  führt  schon  etwas  weiter, 
jedenfalls  aber  sollte  schon  hier  die  symbolische  Deutung  des  Ent- 
stehungstriebes angebahnt  werden,  der  nun  die  ganze  Walpurgisnacht 
belebt  und  an  dieser  Stelle  als  organische  Notwendigkeit  erklärt.  Des- 
halb wird  denn  auch  Homunkulus  ganz  folgerichtig  der  Führer  zu  dieser 
Welt,  die  sich  aus  Uranfängen  bildet,  dieser  Welt  von  allegorischen 
Gestalten  im  Winckelmann-Schlegelschen  Sinne,  die  in  geschichtsphilo- 
sophischer  Anordnung  Epochen  der  Weltentwicklung  andeutet. 

5. 

Mittelalterlich,  aber  auch  noch,  wie  eben  ausgeführt,  bis  in  die 
jüngste  Gegenwart  des  schaffenden  Dichters  reichend,  sind  die  Ver- 
suche Wagners,  auf  alchymistisch-experimentellem  Wege  einen  künst- 
lichen Menschen  zu  schaffen,  aber  die  durch  diese  allegorischen  Vor- 
gänge zur  Anschauung  gebrachte  Idee,  auf  rein  geistigem  Wege 
mit  Ausschaltung  der  natürlichen  Zeugung,  ja  mit  Verachtung  ihrer 
Elemente  einen  Menschen  bilden  zu  können,  ist  eine  Grundidee  der 
durch  den  Schöpfer  des  Faust  überwundenen  Aufklärungsepoche,  im 
besonderen  ihres  verflachenden  Ausklangs.  Den  zerebralen  Verstandes- 
menschen nach  Art  des  Nikolai  waren  die  natürlichen  Dinge  ja  ab- 
scheulich und  tierisch,  und  der  Gedanke,  der  Mensch  könne  einmal 
^ höheren«  Ursprungs  werden,  rein  aus  Verstandes-  und  wissenschaft- 
lichen Experimenten  entstehen,  war  den  Herren  zwar  ein  Märchen, 
aber  ein  schönes  Märchen.    Sie  hätten  eben  gerne  den  Menschen  der 


56  CARL  ENDERS. 


Zukunft  nach  ihrem  eigenen  Bilde  erschaffen.  Und  allegorische  Satiren 
dieses  lebensfremden  Schöpfungs-  und  Entwicklungsgedankens  waren 
denn  auch  vor  der  künstlichen  Erschaffung  des  Homunkulus  in  der 
romantischen  Literatur  schon  vorhanden,  die  bekannteste  und  be- 
liebteste in  Friedrich  Schlegels  Lucinde.  Man  findet  sie  dort  in  der 
»Idylle  über  den  Müßiggang«,  welche  die  ziellose,  nichtige  Geschäftig- 
keit der  Aufklärer  ironisieren  will. 

Julius,  der  Held  des  Romans,  sieht  sich  in  einem  Theater.  Das 
Publikum  zeigt  sich  in  einem  »unermeßlichen  Gedränge  von  Zuschauern, 
einem  wahren  Meer  von  wißbegierigen  Köpfen  und  teilnehmenden 
Augen.  An  der  rechten  Seite  des  Vordergrundes  war  statt  der  De- 
koration ein  Prometheus  abgebildet,  der  Menschen  verfertigte.  Er  war 
an  einer  langen  Kette  gefesselt  und  arbeitete  mit  der  größten  Hast  und 
Anstrengung;  auch  standen  einige  ungeheure  Gestalten  daneben,  die 
ihn  unaufhörlich  antrieben  und  geißelten.  Leim  und  andere  Materialien 
waren  im  Überfluß  da;  das  Feuer  nahm  er  aus  einer  großen  Kohlen- 
pfanne« ').  Das  ist  die  Fratze  eines  wahren  Schöpfers,  der  statt  von  der 
»Tätigkeit«,  diesem  Ziele  auch  des  Faust,  von  nichtiger  Geschäftigkeit 
erfüllt  ist;  die  Materialien  sind  ihm  die  Hauptsache;  das  Feuer  der  Be- 
lebung stammt  nicht  von  der  Sonne,  sondern  aus  einer  schwelenden 
Kohlenpfanne,  wie  hier  im  Laboratorium  aus  Retorten  und  Tigeln. 
Dieser  Prometheus  gleicht  einer  satirischen  Verzerrung  Wagners,  und 
seine  Produkte  werden  uns  anmuten  wie  Persiflagen  des  Homunkulus. 
In  der  Lucinde  heißt  es  weiter:  »Gegenüber  zeigte  sich  auch  als  stumme 
Figur  der  vergötterte  Herkules,  wie  er  abgebildet  wird  mit  der  Hebe 
auf  dem  Schoß.  Vorn  auf  der  Bühne  liefen  und  sprachen  eine  Menge 
jugendlicher  Gestalten,  die  sehr  fröhlich  waren,  und  nicht  bloß  zum 
Seh  ein  lebten.  Die  jüngsten  glichen  Amorinen,  die  mehr  erwachsenen 
Bildern  von  Faunen«  *).  Herkules,  als  der  Vertreter  der  Lebenskraft, 
ist  der  physisch  starke  und  sexuell  besonders  befähigte  Mann.  Die 
amoureusen  und  faunischen  Satanisken  sind  danach  nicht  schwer  zu 
fassen.  Herkules  ist  hier  (mit  der  Hebe,  der  Göttin  der  Fruchtbarkeit 
auf  dem  Schoß)  stumm,  denn  bei  diesem  zerebralen  Aufklärungs- 
prometheus hat  er  nichts  zu  sagen.  Die  Satanisken  reden  nun  die 
Geschöpfe  des  falschen  Prometheus  höhnisch  an:  »Ihr  irrt  darin,  daß 
ihr  ein  Ich  zu  haben  glaubt;  aber  wenn  ihr  indessen  euren  Leib  und 
Namen,  oder  eure  Sachen  dafür  haltet,  so  wird  doch  wenigstens  ein 
Logis  bereitet,  wenn  etwa  ja  noch  ein  Ich  kommen  sollte.«  —  »Und 
diesen  Prometheus  könnt  ihr  nur  recht  in  Ehren  halten,  sagte  einer 


')  Lucinde,  Neudruck  von  Jonas  Fränkel,  Jena  1907,  S.  88  f. 
»)  S.  89  f. 


i 


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DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.      57 

der  größten;  er  hat  euch  alle  gemacht  und  macht  Immer  mehrere 
euresgleichen.«  —  In  der  Tat  warfen  auch  die  Gesellen  jeden  neuen 
Menschen,  sowie  er  fertig  war,  unter  die  Zuschauer  hinab,  wo  man 
ihn  sogleich  gar  nicht  mehr  unterscheiden  konnte,  so  ähnlich  waren 
sie  alle.  >Er  fehlt  nur  in  der  Methode!«  fuhr  der  Sataniskus  fort: 
»Wie  kann  man  allein  Menschen  bilden  wollen?  Das  sind  gar  nicht 
die  rechten  Werkzeuge.«  Und  dabei  winkte  er  auf  eine  rohe  Figur 
vom  Gott  der  Gärten '),  die  ganz  im  Hintergrunde  der  Bühne  zwischen 
einem  Amor  und  einer  sehr  schönen  unbekleideten  Venus  stand. 
»Darin  dachte  unser  Freund  Herkules  richtiger,  der  fünfzig  Mädchen 
in  einer  Nacht  für  das  Heil  der  Menschheit  beschäftigen  konnte,  und 
zwar  heroische.  Er  hat  auch  gearbeitet  und  viele  grimmige  Untiere  er- 
würgt, aber  das  Ziel  seiner  Laufbahn  war  doch  immer  ein  edler  Müßig- 
gang^), und  darum  ist  er  auch  in  den  Olymp  gekommen.  Nicht  so 
dieser  Prometheus,  der  Erfinder  der  Erziehung  und  Aufklä- 
rung. Von  ihm  habt  ihr  es,  daß  ihr  nie  ruhig  sein  könnt  und  euch 
immer  so  treibt;  daher  kommt  es,  daß  ihr,  wenn  ihr  sonst  gar  nichts 
zu  tun  habt,  auf  eine  alberne  Weise  sogar  nach  Charakter  streben 
müßt,  oder  euch  einer  den  anderen  beobachten  und  ergründen  wollt. 
Ein  solches  Beginnen  ist  niederträchtig.  Prometheus  aber,  weil  er  die 
Menschen  zur  Arbeit^)  verführt  hat,  so  muß  er  nun  auch  arbeiten, 
er  mag  wollen  oder  nicht.  Er  wird  noch  Langweile  genug  haben  und 
nie  von  seinen  Fesseln  frei  werden«^).  Witkowski  hat  kürzlich  an  der 
Hand  Nordens  gezeigt  ■*),  daß  eine  ähnliche  Auffassung  des  Prometheus 
als  des  Feindes  der  gesammelten  Ruhe  und  des  Glücks  der  Menschen 
schon  vom  Altertum  her  (bei  Seneca,  Plutarch,  Phädros,  Chrysostomos) 
sich  neben  der  des  göttlichen  Lichtbringers  geltend  macht  und  daß 
Rousseau  in  seinem  Discours  sur  les  sciences  et  les  arts  1750  aus- 
führt: »Cetait  une  ancienne  tradition,  passee  de  V Egypte  en  Orece, 
qWun  dieu,  ennemi  du  repos  des  hommes,  etait  Vinventeur  des 
sciences. t  Dieser  bezieht  die  Überlieferung  auf  die  allegorische  Fabel 
von  Prometheus.  Wie  hier  Prometheus  als  Feind  der  Ruhe  der  Men- 
schen erscheint,  so  bei  Wieland  in  den  »Beiträgen  zur  geheimen 
Geschichte  des  menschlichen  Verstandes  und  Herzens^:  (1770),  als  der 


')  Der  Gott  der  Gärten  ist  der  Phallus. 

■^)  Das  ist  in  der  paradoxen  Terminologie  Sclilegels  der  Gegensatz  der  auf- 
klärerischen Geschäftigkeit  ohne  tiefes  Erlebnis,  es  ist  die  Ruhe  zur  Anschauung, 
die  echte  Mutter  der  wahren  Tätigkeit. 

')  Im  Gegensatz  zu  fruchtbarer  Tätigkeit;  Arbeit  ist  die  nicht  von  innen  heraus, 
sondern  von  außen  bestimmte  Beschäftigung. 

')  A.  a.  O.  S.  91  ff. 

»)  Zeitschrift  für  Bücherfreunde,  Juli  1916,  S.  90  ff. 


58  CARL  ENDERS. 


»nüchterne  Denker«,  der  vom  goldenen  Zeitalter  nichts  wissen  will  und 
(in  einer  Traumerscheinung)  Menschen  aus  Leim  und  Wasser  macht  i). 
Es  ist  eine  so  interessante  Verwandtschaft  vorhanden  zwischen 
dieser  Bildnerei  zerebraler  Aufklärungsmenschen  und  der  Erzeugung 
des  Homunkulus,  daß  irgend  eine  geistige  Beziehung,  die  wir  jedoch 
durchaus  nicht  im  Sinn  unmittelbarer  Abhängigkeit  verstanden  wissen 
wollen,  angenommen  werden  muß,  und  daß  man  die  Äußerung  aus 
Riemers  Mitteilungen  (11,  251)  etwas  tiefer  als  bisher  auffassen  möchte, 
Homunkulus  sei  der  apriorische  theoretische  Mensch,  wie  er  auf 
unseren  Akademien  formiert  werde.  Die  innere  Verwandtschaft  wird 
noch  deutlicher,  wenn  wir  die  Szene  im  Faust  uns  darauf  noch  einmal 
ansehen.  Da  haben  wir  bei  Wagner  dieselbe  hochmütige  und  groteske 
Erhabenheit  über  die  natürlichen  Zeugungs Vorgänge: 

Behüte  Gott!    Wie  sonst  das  Zeugen  Mode  war, 

Erklären  wir  für  eitel  Possen. 

Der  zarte  Punkt,  aus  dem  das  Leben  sprang, 

Die  holde  Kraft,  die  aus  dem  Innern  drang. 

Und  nahm  und  gab,  bestimmt  sich  selbst  zu  zeichnen, 

Erst  Nächstes,  dann  sich  Fremdes  anzueignen. 

Die  ist  von  ihrer  Würde  nun  entsetzt: 

Wenn  sich  das  Tier  noch  weiter  dran  ergetzt, 

So  muß  der  IVlensch  mit  seinen  großen  Gaben 

Doch  künftig  reinem,  höhern  Ursprung  haben. 

Und  da  haben  wir  dieselbe  diabolische,  ja  zynische  Ironie  Mephistos, 
wie  bei  dem  großen  Sataniskus.  Er  stellt  sich,  als  ob  er  nicht  ver- 
stünde, wo  er  doch  ganz  genau  weiß,  was  geschieht:  »Und  welch 
verliebtes  Paar  habt  ihr  ins  Rauchloch  eingeschlossen?«  —  Wagner, 
durchaus  nicht  stumm,  wie  der  Herkules  bei  Schlegel,  prahlt: 

Was  man  an  der  Natur  Geheimnisvolles  pries. 

Das  wagen  wir  verständig  zu  probieren. 

Und  was  sie  sonst  organisieren  ließ. 

Das  lassen  wir  kristallisieren. 

Mutet  es  nicht   fast   an,  als   ob  Mephisto   in   jenem   Sataniskus 
Schlegels  gesteckt  hätte,  wenn  er  antwortet: 
Wer  lange  lebt,  hat  viel  erfahren, 
Nichts  Neues  kann  für  ihn  auf  dieser  Welt  geschehn; 
Ich  habe  schon  in  meinen  Wanderjahren 
Kristallisiertes  Menschenvolk  gesehn. 

Dazu  muß  man  sich  klar  machen,  welchen  Wert  die  klassische 
und  frühromantische  Ästhetik  auf  den  Organisationsgedanken  legte, 
der  das  bestimmende  Werk  von  Karl  Philipp  Moritz  (Ȇber  die  bildende 
Nachahmung  des  Schönen«)  erfüllt^). 

')  Witkowski,  a.  a.  O.  S.  99.    Vgl.  auch  Morris,  Der  junge  Goethe  VI,  S.  315. 
*)  Vgl.  außer  meinem  Buch  über  Fr.  Schlegel  Walzels  Studie  «Die  Sprache  der 
Kunst«  im  Jahrbuch  der  Goethegesellschaft  I,  1914,  S.  3  ff. 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.      59 

Die  Vermutung  einer  ideenmäßigen  Verbindung  des  Schlegelschen 
Prometheus  und  seiner  künstlichen  Menschprodukte  mit  dem  Professor 
Wagner  in  seinem  Laboratorium  und  seiner  künstlichen  Schöpfung, 
dem  Homunkulus,  wird  noch  wahrscheinlicher  dadurch,  daß  wir  einen 
Verwandten  aus  der  dichterischen  Werkstatt  Goethes  selbst  haben,  in 
der  Gestalt  des  Prometheus  der  »Pandora«  von  1807,  den  schon  Roethe 
in  seinem  Festvortrag  von  1914')  als  einen  Handwerker  bezeichnet, 
dessen  Ziel  durchaus  utilitaristisch  bestimmt  ist.  Witkowski*)  hat  in  eben 
dem  Prometheus  der  Lucinde  einen,  den  wesentlichen  Anreger  zu  diesem 
Prometheus  der  »Pandora«  sehen  wollen,  der  so  gänzlich  abweicht  von 
dem  Prometheus  des  jungen  Goethe,  dem  gewaltigen,  himmelstürmenden 
Titanen.  Selbstverständlich  ist  der  Ooethesche  Altersprometheus  weit 
erhaben  über  die  Schlegelsche  Parodie,  er  ist  immerhin  ein  Positiver, 
ein  Ganzer,  aber  doch  nur  Repräsentant  des  positiv  und  unmittelbar 
Nützlichen.  »In  seinem  Bereich  der  materiellen  Zwecke,  in  welchem 
der  Maßstab  und  die  Rechtfertigung  alles  Strebens  nur  in  seinem  Ertrag 
gesucht  wird,  hat  alles,  was  der  reinen  Form  als  solcher  angehört, 
keine  Stätte«  (Cassirer),  ganz  anders,  als  bei  Epimetheus,  in  dessen 
Welt  des  Sinns  und  des  Bildens  die  Idee  herrscht.  Dieser  Prometheus 
ist  ein  Feind  der  geruhigen  Versenkung,  wie  der  Prometheus  der 
Lucinde:  »Was  kündest  du  für  Feste  mir,  sie  lieb  ich  nicht:  Erholung 
reichet  Müden  jede  Nacht  genug:  Des  echten  Mannes  Feier  ist  die 
Tat.«  Die  letzte  große  Tat  aber  ermöglicht  erst  das  Reich  der  Pan- 
dora,  die  Tat,  welche  durch  die  Idee  geheiligt  und  befruchtet  ist.  Dort 
gibt  es  keine  Arbeit  mehr,  wie  sie  der  Schlegelsche  Prometheus  zum 
Unglück  der  Menschen  erfunden  hat,  »die  ihren  Wert  erst  durch  den 
äußerlichen  Zweck,  dem  sie  dient,  erhält,  sondern  die  Tätigkeit  selbst 
ist  Ausfluß  des  Formwillens«.  Die  Geschäftigkeit  Wagners  und  des 
Homunkulus  läßt  sich  vergleichen  mit  der  Tendenz  der  neuen  Pro- 
metheusgestalten, die  Tat,  zu  welcher  Faust  selbst  geläutert  werden 
soll,  ist  jene  höhere,  die  im  Reich  Pandorens  lebendig  wird. 

In  der  Lucinde  wird  das  »leere,  unruhige  Treiben«  charakterisiert 
als  eine  »nordische  Unart«,  die  nichts  wirkt  als  Langeweile,  fremde 
und  eigene.  »Und  womit  beginnt  und  endigt  es,  als  mit  der  Antipathie 
gegen  die  Welt,  die  jetzt  so  gemein  ist?  Der  unerfahrene  Eigendünkel 
ahndet  gar  nicht,  daß  dies  nur  Mangel  an  Sinn  und  Verstand  sei  und 
hält  es  für  hohen  Unmut  über  die  allgemeine  Häßlichkeit  der  Welt 
und  des  Lebens,  von  denen  er  doch  noch  nicht  einmal  das  leiseste 
Vorgefühl  hat.«  Wer  denkt  da  nicht  an  die  Haltung  Wagners  im 
Osterspaziergang: 

')  Jahrbuch  der  Qoethegesellschaft  I.  ^ 

•)  A.  a.  O.  S.  lOZ 


60  CARL  ENDERS. 


Doch  würd'  ich  nicht  allein  mich  herverh'eren, 

Weil  ich  ein  Feind  von  allem  Rohen  bin. 

Das  Fiedeln,  Schreien,  Kegelschieben 

Ist  mir  ein  gar  verhaßter  Klang; 

Sie  toben,  wie  vom  bösen  Geist  getrieben, 

Und  nennen's  Freude,  nennen's  Gesang. 

»Er  kann  es  nicht  haben,«  fährt  Schlegel  fort,  »denn  der  Fleiß 
und  der  Nutzen  sind  die  Todesengel  mit  dem  feurigen  Schwert, 
welche  dem  Menschen  die  Rückkehr  ins  Paradies  verwehren.  Nur  mit 
Gelassenheit  und  Sanftmut,  in  der  heiligen  Stille  der  echten  Passivität, 
kann  man  sich  an  sein  ganzes  Ich  erinnern,  und  die  Weit  und  das 
Leben  anschauen.  Wie  geschieht  alles  Denken  und  Dichten,  als  daß 
man  sich  der  Einwirkung  irgend  eines  Genius  ganz  überläßt  und  hin- 
gibt« '),  wie  es  Epimetheus  tut. 

So  entsteht  also  Homunkulus,  als  verkörperter  Verstand,  als  ein 
rein  geistiges,  unsinnliches  Destillat  der  Aufklärung.  Ausgezeichnet 
charakterisiert  Helene  Herrmann  die  zarte  Geistigkeit  der  Szene,  die  sie 
künstlerisch  so  hoch  erhebt  über  unsere  Parallelbilder.  Faust  selbst 
»darf  hier  nicht  sprechen,  die  Erregung  seiner  Stimme  zerrisse 
das  zarte  Gewebe  dieser  dünnen,  hellen  Geistesluft«.  Wie  Homun- 
kulus, »selbst  eine  Art  Ballung  all  der  den  inneren  Raum  dieser  Szenen 
durchschwirrenden  Geistigkeiten«,  von  dem  Ledatraume  spricht,  »ver- 
liert sich  alle  Passion;  ein  zuschauender,  wissender  Geist  wägt  lächelnd 
Gewicht  und  Recht  dieser  Wünsche  und  verteidigt  sie  gegen  den 
Nebel-  und  Norddämon,  der  sie  nicht  versteht,  mit  leichtem,  fast  welt- 
männischem Ton«.  Sie  zeigt,  wie  im  Gegensatz  zur  Aufnahme  des 
gleichen  Bildes  durch  Faust  am  Peneios  die  Schilderung  in  Homunkulus 
Munde  etwas  beinahe  Rokokohaftes  gewinnt.  »Das  Suchen  nach  dem 
tiefen,  erfüllenden  und  vollendenden  Leben  ist  hier  abgehandelt  in  einer 
Gestalt,  wie  es  in  der  Sphäre  der  Nurgeistigkeit  gefaßt  werden  kann»*). 
Die  drangvolle  Geschäftigkeit,  die  Homunkulus  mit  Wagner  gemein 
hat,  und  die  in  ihm  allerdings  läuterungsfähig  ist,  wie  in  dem  Prometheus 
der  Pandora,  ist  ein  Wesenszug  der  Aufklärung,  gefördert  durch  ihren 
mählich  verflachenden  Optimismus.  Gegen  sie  schrieb  Schlegel  ja 
vor  allem  seine  Idylle.  —  Homunkulus  selbst  aber  wird  nun  in  die 
Kulturentwicklung  hineingestellt,  wie  der  Prometheus  der  »Pandora«. 
Sein  Drang  zur  Tat  sucht  nach  Sinn  und  Ziel,  und  wird  sich  schließ- 
lich nach  seiner  Erlösung  zum  organischen  Werdensgang  wirklich  ent- 
falten können.  Dann  wird  er  sich  auch  Zeit  nehmen,  sich  nicht  mehr 
»so  treiben  lassen«: 


')  A.  a.  O.  S.  84  ff. 

')  Helene  Herrmann,  Faust,  der  Tragödie  II.  Teil,  Studien  zur  inneren  Form 

des  Werks,  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  XII,  1916,  S.  93. 


I 


DIE  DEUTUNG  EffiS  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  61 

Da  regst  du  dich  nach  ewigen  Normen, 
Durch  tausend,  abertausend  Formen, 
Und  bis  zum  Menschen  hast  du  Zeit. 

Der  wißbegierige  und  lehrhafte  Reisende,  als  der  Homunkulus 
auftritt,  ist  eine  der  bezeichnendsten  Erscheinungen  der  Aufklärung. 
Die  Sucht  nach  der  mannigfaltigen  Fülle  von  Tatsachen  bestimmt  die 
Mehrzahl  der  bändereichen  Reisebeschreibungen,  »die  oft  ohne  viel 
Urteil  und  Phantasie  eine  Fülle  von  Tatsachen  vor  dem  Leser  aus- 
schütten, um  dem  Reisenden  ein  Wegweiser,  dem  daheimgebliebenen 
Publikum  eine  Fundgrube  alles  Wissens-  und  Sehenswerten  zu  sein^'). 
Oar  oft  ließ  da,  wie  bei  Homunkulus,  »ein  grenzenloses  Oeschwirre 
geographisch-historischer  Notizen,  auf  die  Gegenden,  worüber  sie  hin- 
streifen, bezüglich«,  die  Reisenden  »unterwegs  nicht  zu  sich  selbst 
kommen«.  —  Auch  in  der  Rolle  des  Seelenkünders  erscheint  uns  Ho- 
munkulus als  Vertreter  der  fortgeschrittenen  Aufklärungsepoche.  Me- 
phisto wendet  sich  an  ihn  wie  an  einen  Adepten  des  Magazins  für 
Erfahrungsseelenkunde  von  Karl  Philipp  Moritz  oder  ähnlicher  Be- 
strebungen Lavaters:  »Hier  zeige  deine  Gabe«  (nämlich:  in  der  Seele 
Fausts  zu  lesen).  Daraus  wird  es  auch  verständlich,  daß  Wagner,  ehe 
er  Homunkulus  zu  eigenem  Werk  entläßt,  von  ihm  etwas  erfahren 
will,  über  Probleme,  wie  sie  jene  Leute  beschäftigten: 

Zum  Beispiel  nur:  noch  niemand  könnt'  es  fassen, 
Wie  See!  und  Leib  so  schön  zusammenpassen, 
So  fest  sich  halten,  als  um  nie  zu  scheiden. 
Und  doch  den  Tag  sich  immerfort  verleiden. 

Auch  der  Sataniskus  in  der  Schlegelschen  Idylle  wirft  den  Geschöpfen 
des  falschen  Prometheus  vor,  wenn  sie  sonst  gar  nichts  zu  tun  hätten, 
strebten  sie  auf  eine  alberne  Weise  nach  Charakter  und  suchten  sich 
gegenseitig  zu  beobachten  und  zu  ergründen. 

In  der  Aneignung  des  Wissenstoffs  und  in  der  Erschließung  der 
Erfahrungsquellen  gilt  der  Grundsatz,  daß  Rücksicht  genommen  werden 
muß  auf  das,  was  dem  einzelnen  für  seine  .Absichten  brauchbar  und 
dienlich  ist^).  So  sucht  sich  jeder  von  den  Reisenden  in  der  klassi- 
schen Walpurgisnacht  das  aus,  was  ihm  angemessen  ist.  Faust  fragt 
nur  nach  »ihr«,  nach  Helena;  Mephisto  hält  sich  zu  den  Phorkyaden, 
seinen  Geistesverwandten,  Homunkulus  an  die  Elemente  physischer 
Organisation  und  an  die  Lehren  der  Naturphilosophie.  Aber  auch 
der  Entwicklungstrieb  des  Homunkulus  zur  individuellen  Entfaltung 
und  Ergänzung  ist  in  der  fortschrittlichen  Aufklärung  gefördert  worden. 
Die  Scheingebilde  der  Vernunft  befriedigen  nicht  mehr.    Der  Geist  ist 


')  Max  Wundt,  a.a.O.  S.  11. 
»)  Max  Wundt,  a.a.O.  S.  31. 


62  CARL  ENDERS. 

den  wahren  Jüngern  des  Leibniz  »ein  ewig  Lebendiges,  das  unablässig 
Vergangenes  abstreift,  um  Künftigem  zuzustreben«.  Das  Zeitalter 
»glaubt  an  die  Zukunft  und  die  Kraft  des  Geistes,  sie  schöner  und 
besser  zu  gestalten,  als  die  Gegenwart« '),  oder,  wie  Helene  Herrmann  *) 
meint:  Die  Weltschicht  des  Studierzimmers  »hat  sich  mit  Wagners  Men- 
schenfabrikation in  ihrer  eigenen  Richtung  bis  ins  Extreme  bewegt,  bis 
dahin,  wo  das  tollgewordene  Gehirnwesen  umschlägt  in  sein  Gegenteil, 
wo  auch  dies  verstandeserzeugte,  dämonische  Kleinwesen  Homunkulus 
sehnlich  ins  Lebendige  verlangt«.  Die  Antike  aber  ist  es,  die  alle 
leitenden  Werte  in  ewig  gültiger  Form  ausgebildet  hat,  die  nicht  mehr 
als  einfacher  Besitz  angeeignet  werden  soll,  sondern  die  als  Aufgabe 
wirkt,  das  »eigene  Wesen  immer  völliger  diesem  Ideal  nachzubilden«*). 
Selbstverständlich  ist  die  allegorische  Bedeutsamkeit  des  Homun- 
kulus nicht  zeitlich  beschränkt;  aus  dem  zeitlichen  Erlebnis  hat  Goethe 
nur  seine  Erfahrung  gezogen.  Solche  falsche  Prometheusgestalten  und 
Wagnernaturen,  und  solche  entwicklungsgierige  Aufklärungsmenschen 
gibt  es  immer.  Homunkulus  ist  so  unzeitlich,  wie  es  auch  Euphorion 
ist,  trotz  dem  Klagegesang  auf  Byron,  und  wie  es  Helena  selbst  ist, 
die  für  alle  ihre  allegorischen  Brüder  und  Schwestern  dasteht  in  den 
Versen : 

Der  Dichter  bringt  sie,  wie  er's  braucht,  zur  Schau, 

Nie  wird  sie  mündig,  wird  nicht  alt, 

Stets  appetitlicher  Gestalt. 

Wird  jung  entführt,  im  Alter  noch  umfreit; 

G'nug,  den  Poeten  bindet  keine  Zeit. 

6. 
Alle  Bemühungen,  den  Weg  zur  Entstehung  zu  finden,  alle  Be- 
lehrungen  durch   Anaxagoras   und  Thaies   haben  Homunkulus  nicht 
zum  Ziel  geführt.    Von  Nereus,  der  mit  seiner  Erziehung  und  Berätung 
der  Menschen  zu  Dingen,  die  ihnen  nun  einmal  nicht  liegen,  so  böse 
Erfahrungen   gemacht   hat,   daß  er  mit  dem  großen  Sataniskus  den 
falschen  Prometheus  als  den  Erfinder  der  Erziehung  schelten  könnte, 
wird   er  zu  Proteus  gewiesen,   der  die  wahren  Entwicklungsstadien 
durch  Verwandlung  von  Stufe  zu  Stufe  vermittelt.    Thaies  stellt  ihn  vor: 
Ihm  fehlt  es  nicht  an  geistigen  Eigenschaften; 
Doch  gar  zu  sehr  am  greiflich  Tüchtighaften. 

Das  ist  die  schärfste  Charakteristik,  die  er  bis  dahin  erfahren,  dieser 
Geist  ohne  Körper,  dieses  Verstandeswesen,  das  sich  schon  nach 
Gefühl  zu  sehnen  beginnt,   diese  Männlichkeit,  die  nach  Weiblichkeit 

')  M.  Wundt,  a.  a.  O.  S.  26. 

■')  A.  a.  O.  S.  92. 

')  M.  Wundt,  a.  a.  O.  S.  34  ff. 


d 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  gj 

verlangt,  diese  These,  welche  nach  ihrer  Antithese  strebt,  umSynthese  zu 
werden;  der  erst  greiflich  Tüchtighaftes  leisten  wird,  erst  wahrhaft  tätig 
sein  kann  nach  dieser  Vereinigung  mit  dem  ausgleichenden  Gegensatz- 

Bis  jetzt  gibt  ilim  das  Olas  aliein  Oewiciit, 
Docti  war'  er  gern  zunäctist  verl<örper!icht. 

Er  ist  für  Proteus  ein  wahrer  Jungfernsohn,  der  nur  einseitig  ge- 
schlechtlich bestimmt  ist,  wie  jene  Geschöpfe  des  falschen  Prometheus 
in  der  Lucinde;  frühreif,  wie  jene,  die  sich  sofort  lebhaft  unter  die 
Menge  mischen,  seiend,  ohne  doch  wahrhaft  zu  sein,  wie  die  Satanisken 
Schlegels  höhnen:  Ihr  habt  kein  Ich.  Sollte  er  hermaphroditisch  sein, 
so  müßte  es,  meint  Proteus  ironisch,  desto  eher  glücken  nach  der 
Lehre  des  Professors  Oken '),  der  hier  eine  versteckte,  spöttische  Ab- 
fuhr für  seine  Phantastereien  über  die  menschliche  Urzeugung  im 
Meere  erfährt^). 

Auch  die  glückliche,  liebende  Vereinigung  dieses  männlichen  Organi- 
salionselementes  mit  dem  weiblichen  in  religiös-mystischer  Inbrunst,  er- 
innert an  romantische,  künstlerische  Manifestationen  von  allegorisch- 
mythischem Charakter,  wie  die  Miniatur  auf  das  Leben  und  Weben 
der  ewig  strömenden  Schöpfung  in  der  berühmt-berüchtigten  »Re- 
flexion« der  Lucinde:  »Das  vollendete  Bestimmende  wirft  sich  durch 
einen  kühnen  Sprung  aus  dem  seligen  Traum  des  unendlichen  Wollens 
in  die  Schranken  der  endlichen  Tat  und  nimmt,  sich  selbst  verfeinernd, 
immer  zu  an  großmütiger  Beschränkung  und  schöner  Genügsamkeit. 
Dort  geschautes  Bild  der  Idee,  hier  nachdenkende  Reflexion. 

Der  Weg  von  der  Führerschaft  des  Thaies  bis  zu  dieser  geistig- 
seelischen Einheit  im  jubelnd  sich  ausgleichenden  Ineinanderströmen 
der  Gegensätze  (Homunkulus  und  Galatea)  zur  Einheit  lebendiger 
Persönlichkeit  ist  noch  ein  weiter;  aber  er  ist  in  seinen  einzelnen 
Stufen  historisch  kaum  faßbar,  weil  diese  Wandlungen  für  jeden  zu 
individuell,  weil  sie  zu  irrational  sind.  Auch  dazu  findet  sich  in  der 
Lucinde  eine  Betrachtung,  von  der  ich  gewiß  nicht  behaupten  will, 
daß  Goethe  sie  mit  dem  Bewußtsein  unmittelbarer  Bezugnahme  ge- 
lesen und  dementsprechend  irgendwie  »verwandt-«  hätte,  die  aber  eine 
geistesgeschichtliche  Parallele  erschließt,  welche  festzustellen  meines 
Erachtens  viel  wertvoller  ist,  als  irgendeine  Abhängigkeitsnachweisung. 
Julius  will  der  Geliebten  von  seinen  Entwicklungsstadien  sprechen 
und  führt  aus:  »Andeuten  will  ich  dir  wenigstens  in  göttlichen 
Sinnbildern,  was  ich  nicht  zu  erzählen  vermag.  Denn  wie  ich 
auch  die  Vergangenheit  überdenke  und  in  mein  Ich  zu  dringen  strebe. 


')  Über  die  Entsteiiuiig  des  Menschen,  Isis  1819. 

-')  W.  Büchner,  Goethes  Faust,  eine  Analyse  der  Dichtung,  Leipzig  191 1,  S.  111  f. 


64  CARL  ENDERS 


um  die  Erinnerung  in  klarer  Gegenwart  anzuschauen  und  dich  an- 
schauen zu  lassen:  es  bleibt  immer  etwas  zurück,  was  sich  nicht 
äußerlich  darstellen  läßt,  weil  es  ganz  innerlich  ist.  Der  Geist  des 
Menschen  ist  sein  eigener  Proteus,  verwandelt  sich  und  will 
nicht  Rede  stehen  vor  sich  selbst,  wenn  er  sich  greifen  möchte. 
In  jener  tiefsten  Mitte  des  Lebens  treibt  die  schaffende  Willkür 
ihr  Zauberspiel.  Da  sind  die  Anfänge  und  Enden,  wohin  alle  Fäden 
im  Gewebe  der  geistigen  Bildung  sich  verlieren.  Nur  was  allmählich 
fortwirkt  in  der  Zeit  und  sich  ausbreitet  im  Raum,  nur  was 
geschieht,  ist  Gegenstand  der  Geschichte.  Das  Geheimnis  einer 
augenblicklichen  Entstehung  oder  Verwandlung  kann  man  nur 
erraten  und  durch  Allegorie  erraten  lassen«  i).  So  empfand  es 
auch  Goethe.  Und  er  schuf  dieses  allegorische  Bild:  Homunkulus 
auf  dem  Rücken  des  Proteus.  Nereus,  der  alte  Weise,  hat  es,  im 
Gegensatz  zu  dem  noch  aufklärerisch-erziehungsgläubigen  Homunkulus, 
längst  erfahren,  daß  man  den  Menschen  überhaupt  nicht  so  »allmählich 
fortrücken c  kann  in  seiner  Entwicklung  durch  bewußte,  erzieherische 
Tätigkeit.  Daher  sind  ihm  schon  die  Stimmen  der  Menschen,  die  ihm 
diese  bittere  Erfahrung  gebracht  haben,  verhaßt: 

Wie  es  mir  gleich  im  Herzen  grimmt! 

Gebilde,  strebsam,  Götter  zu  erreichen, 

Und  doch  verdammt,  sich  immer  selbst  zu  gleichen. 

Seit  Jahren  ifonnt'  ich  göttlich  ruhn, 

Doch  trieb  mich's  an,  den  Besten  wohlzutun; 

Und  schaut  ich  dann  zuletzt  vollbrachte  Taten, 

So  war  es  ganz,  als  hätt'  ich  nicht  geraten. 

Auf  welchen  Wegen  die  Entwicklung  wirklich  schreitet,  das  erlebt  er 
heute  mit  hoher  Vaterfreude  in  der  Erhöhung  der  Galatea,  die  in  pro- 
teischen Verwandlungen  im  Meer  entstanden  ist  zur  Erbin  der  Kypris 
auf  Paphos.  Nie  wirst  du  ein  Wesen  durch  Erziehung  und  Ratschläge 
zu  etwas  anderem  machen  können,  als  es  ist:  nur  die  »schaffende 
Willkür«,  welche  »in  jener  tiefsten  Mitte  des  Lebens  ihr  Zauberspiel 
treibt«,  vermag  das  in  proteischer  Verwandlung.  Solche  proteischen 
Wandlungen,  allegorisch  darstellbar,  erlebt  Julius  in  seiner  Laufbahn, 
solche  proteische  Wandlung  hat  Goethe  selbst  oft  erlebt,  am  wunder- 
barsten in  Italien,  zu  neuem  Leben  auftauchend  aus  der  Zerschellung 
des  alten  als  der  junggewordene  Dichter  der  römischen  Elegien. 

So  ist  es  denn  durchaus  keine  Verlegenheitsabweisung,  um  den 
lästigen  Frager  los  zu  werden,  sondern  folgerichtige  Forderung,  wenn 
Nereus,  nun  nicht  mehr  ärgerlich,  sondern  wahrhaft  hilfreich,  seine 
letzte  Erkenntnis  preisgebend,  rät: 


')  Lucinde,  S.  213  f. 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.      65 


Hinweg,  es  ziemt  in  Vaterfreudestunde 
Niciit  Haß  dem  Herzen,  Scheltwort  nicht  dem  Munde, 
Hinweg  zu  Proteus!    Fragt  den  Wundermann: 
Wie  man  entstehn  und  sich  verwandeln  Itann. 

Die  Allegorie  dieser  organischen  Lebensbildung  des  Menschen 
auf  ihrer  höchsten  Stufe,  in  welcher  Homunkulus  das  geistig-erotische 
Element  darstellt,  Oalatea  das  physisch-erotische,  hat  eine  reizvolle  Ab- 
wandlung schon  früher  in  der  »Pandora«  gefunden,  die  als  Vorstufe 
der  Gestaltung  im  Faust  anzusprechen  ist.  Nur  sind  hier,  wo  der 
abstrakt-gedankliche  Charakter  überwiegt,  die  Rollen  der  Geschlechter 
getauscht,  entsprechend  ihrer  Abstammung  in  dem  allegorischen  Fest- 
spiel, die  mächtiger  wirkt,  als  die  Geschlechtlichkeit  an  sich.  Phileros, 
der  liebeverlangende  Triebmensch,  dem  die  geistige  Beherrschung  seines 
Temperaments  vor  seiner  Wiedergeburt  versagt  ist,  und  der  deshalb 
für  das  neue  dritte  Reich  der  Pandora  sich  wandeln  muß,  der  Sohn 
des  diesseitigen  Prometheus,  vertritt  hier  den  physischen  Lebenstrieb; 
Epimeleia,  die  Nachdenkliche,  die  zum  ewig-Typischen,  zu  Kunst  und 
Wissenschaft  gewandte  Tochter  des  jenseitigen  Epimetheus,  verkörpert 
den  geistigen  Bildungstrieb.  Das  szenische  Bild  ist  schon  ganz  ähn- 
lich, wie  im  Faust,  und  hat  dieses  sicher  mitbestimmt:  Das  bewegte 
Meer,  von  leuchtendem  Glanz  übergössen:  »Eos  (vom  Meere  herauf- 
steigend): Jugendröte,  Tagesblüte  Bring  ich  schöner  heut  als  jemals 
Aus  den  unerforschten  Tiefen  Des  Okeanos  herüber.«  Homunkulus 
läßt  in  dieser  Lebensfeuchte  erst  seine  Leuchte  mit  herrlichem  Getön 
erglänzen,  er  »flammt  um  die  Muschel,  um  Galateas  Füße. 

Bald  lodert  es  mächtig,  bald  lieblich,  bald  süße. 

Als  war'  es  von  Pulsen  der  Liebe  gerührt.« 

Ganz  ebenso  entfaltet  sich  die  »gottgewählte,  die  festliche  Stunde«  in 
der  Vereinigung  des  Phileros  und  der  Epimeleia: 

Aus  den  Fluten  schreitet  Phileros  her. 

Aus  den  Flammen  tritt  Epimeleia; 

Sie  begegnen  sich  und  eins  im  andern 

Fühlt  sich  ganz  und  fühlet  ganz  das  andre. 

So  vereint  in  Liebe,  doppelt  herrlich, 

Nehmen  sie  die  Welt  auf.    Oleich  vom  Himmel 

Senket  Wort  und  Tat  sich  segnend  nieder, 

Gabe  senkt  sich,  ungeahnet  vormals'). 

')  Friedr.  Schlegel,  Lucinde,  »Dithyrambische  Phantasie  über  die  schönste 
Situation«  (a.  a.  O.  S.  17):  »Nur  hier  sehe  ich  mich  ganz  und  harmonisch,  oder 
vielmehr  die  volle  ganze  Menschheit  in  mir  und  in  dir.  Denn  auch  de'n  Geist 
steht  bestimmt  und  vollendet  vor  mir;  es  sind  nicht  mehr  Züge,  die  erscheinen  und 
zerfließen:  sondern  wie  eine  von  den  Gestalten,  die  ewig  dauern,  blickt  er  mich 
aus  hohen  Augen  freudig  an  und  öffnet  die  Arme,  den  meinigen  zu  umschließen  . . . 
Jede  Idee  öffnet  ihren  Schoß  und  entfaltet  sich   in  unzählig  neuen  Geburten.«     So 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  ii.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  5 


I 


66  CARL  ENDERS. 


Und  wie  Galatea  von  ihrem  Meergefolge  umringt  und  umtanzt  wird, 
so  auch  Phileros.  Die  Delphine,  die  hilfreichen  Rosse  des  schöpferischen 
Meeres,  deren  Gestalt  auch  Proteus  am  angemessensten  scheint  für 
diesen  Moment  der  Wiedergeburt,  fehlen  auch  hier  nicht. 

Nun  entsteigt  der  Oöttergleiche 

Von  den  ringsumschäumten  Rücken 

Freundlicher  Meerwunder  schreitend, 

Reichutnblüht  von  meinen  (der  Eos)  Rosen, 

Er,  ein  Anadyomen, 

Auf  zum  Felsen. 

Ein  Anadyomen,  ein  proteisch-Gewandeiter,  ist  auch  Phileros,  der  jetzt, 
gereinigt  von  seiner  triebhaften  Zügellosigkeit,  reif  geworden  ist  zur 
Vereinigung  mit  Epimeleia. 

Auch  hier  hat  wieder  Helene  Herrmann  in  ihren  Studien  zur 
inneren  Form  des  Faust  gezeigt,  wie  Homunkulus  allmählich  seinen 
Ton  ändert.  »Er  begann  nach  seiner  anorganischen  Geburt  ganz 
wissend,  sicher,  spöttisch-hell«,  schon  im  Anfang  der  Walpurgisnacht 
»wird  etwas  wie  leidenschaftliches  Entzücken  in  seiner  Sprache  hörbar« 
und  zuletzt  »spricht  er  in  weichen,  gedehnten,  ja  dunklen  Lauten,  ganz 
gewiegt  von  der  sinnlichen  Empfindung«,  um  schließlich  in  »schaukelnden 
Rhythmen,  echoverlangenden  Reimen«  hinzuschmelzen  *). 

7. 

Wir  haben  schon  gesagt,  daß  die  Vorgänge  der  klassischen  Wal- 
purgisnacht, an  welchen  Homunkulus  als  Zuschauer  und  Lernender, 
dann  als  Handelnder  beteiligt  ist,  mit  ihrer  naturphilosophischen 
Tendenz  insofern  als  Antezedentien  zum  Helenaakt  aufzufassen  sind, 
als  diese  naturphilosophische  Tendenz  Voraussetzung  der  kultur- 
philosophischen des  Faustganges  zur  Unterwelt  ist:  Die  vollendetste 
Gestalt  im  Reigen  der  meergeborenen  Allegorien  physischer  Ent- 
wicklungsstufen ist  die  Tochter  des  Meerbeherrschers  Nereus. 
Galatea,  die  herrliche  Statthalterin  der  Kypris  selbst,  die  Schönste  im 
Farbenspiel  von  Venus  Muschelwagen.  Auch  sie  hat  man  wieder  in 
dunstiger  Paraphrase  mit  Helena  identifiziert.  Sie  ist  nicht  Helena, 
sondern  nichts  anderes  als  Galatea;  sie  ist  auch  in  keiner  Weise  Stell- 
vertreterin der  Helena,  sondern  Statthalterin  der  Kypris,  sie  steht 
durchaus  auf  einer  Stufe,  wenn  auch  auf  einer  hochentwickelten,  der 
physischen  Welt;  sie  ist  eine  Grazie  des  Meeres,  ein  schön  Gebild, 
das  sich  so  zierlich  regt<,  die  Herrin  der  Doriden,  denen  die  Knaben 


erscheinen  die  Gaben  aus  der  Kypsele  der  Pandora  (»Sitzende  Dämonen  —  Wissen- 
schaft  und   Kunst«),   die    Hochzeitgabe  der   Pandora.     »Die   äußersten   Enden  der 
zügellosen  Lust  und   der  stillen  Ahndung   leben   in   mir«:  Phileros  und  EpimeleiaJ 
')  A.  a.  O.  S.  97  f. 


3 


DIE  DEUTUNG  DES  HOMUNKULUS  IN  GOETHES  FAUST.  67 

geschenkt  sind  zu  wechselnder  Liebe,  Die  Treue,  diese  Frucht  höherer 
seelischer  Entwicklungsstufen,  kann  Nereus,  wie  er  bekennt,  nicht  ver- 
leihen, sondern  nur  Zeus  gewähren.  Helena  ist  dagegen  herausge- 
sliegen  aus  menschlichen  Kulturkreisen;  ihr  Anbeginn  aus  dem  Meere 
liegt  um  unzählige  Entwicklungsstufen  weiter  zurück,  als  der  Galateas, 
die  noch  im  Meere  lebt  und  webt,  die  noch  eng  verbunden  ist  mit 
den  Quellen  und  Entwicklungsstufen  ihrer  physischen  Bedingtheit. 
Galatea  hat  Voraussetzungscharakter  für  Helena,  wie  diese  in  Verbindung 
mit  Oretchen  Voraussetzungscharakter  hat  für  die  höchste,  übermensch- 
liche Stufe  des  Ewig-Weiblichen  in  den  Schlußszenen  im  Himmel. 

Aber  wir  haben  in  der  klassischen  Walpurgisnacht  ja  neben  den 
Vertretern  der  physisch-psychischen  Entwicklung,  welche  Homunkulus 
erlebt,  auch  die  Vertreter  von  Kulturstufen  der  Menschheit.  Das 
Gemeinsame  ist  die  Entwicklungstendenz.  Ihr  Verständnis  und  ihr 
Erlebnis  ist  die  Voraussetzung  auch  für  Verständnis  und  Erlebnis  der 
Helena.  Und  so  gilt  es  natürlich,  wie  für  das  ideale  Publikum  des 
Dramas,  auch  für  Faust  selbst.  »Nereiden  und  Tritonen,  die  mehr  als 
Fische  sein  wollen,  die  Kabiren,  jene  sehnsuchtsvollen  Hungerleider; 
nach  dem  ewig  Unerreichlichen,  Proleus,  sind  ihm  dauernde  Vorbilder 
des  Eingehens  in  höhere  Lebensformen«  ^).  Es  hindert  uns  nichts, 
anzunehmen,  ja,  das  dürfte  eine  stillschweigende  Voraussetzung  des 
Dichters  sein,  daß  auch  Faust  auf  seiner  Reise  durch  die  klassische 
Walpurgisnacht  dem  Wesen  nach  ähnliche  Erlebnisse  gehabt  hat,  wie 
die,  welche  wir  an  der  Seite  des  Homunkulus  zu  unserer  eigenen  Vor- 
bereitung auf  den  Helenaakt  genossen  haben.  Also  auch  aus  diesem 
Gesichtspunkte  ist  die,  wie  gezeigt  wurde,  in  sich  unmögliche  Gleich- 
setzung von  Faust  und  Homunkulus  durchaus  nicht  erforderlich.  Für 
Homunkulus  gilt  vielmehr  das,  was  Helene  Herrmann  allen  Gestalten 
des  zweiten  Teils  zuschreibt:  sie  >erscheinen  als  Symbole  der  per- 
sönlichen Entfaltung  und  als  unbedingt  seiend  in  ihrer  kos- 
mischen Wahrheit«-). 

8. 
»Es  gibt  Dichtungen  in  der  alten  Religion,<  so  formuliert  der  Held 
der  Lucinde  zusammenfassende  Betrachtungen,  »die  selbst  in  ihr  einzig 


')  Georg  Rosenthal,  Homunkulus,  Monatshefte  der  Comeniusgesellschaff  XXVI, 
1Q17,  S.  74.  Rosenthal  hat  die  Hypothese  von  der  Identifizierung  des  Faust  und 
Homunkulus  innerlicher  durchgeführt  als  Aisberg.  Insofern,  als  der  Kulturstand, 
den  Homunkulus  allegorisch  vertritt,  als  ein  allgemein  menschlicher,  auch  für  Fausts 
Ausbildung  gilt,  behalten  seine  Ausführungen  ihre  volle  Bedeutung;  am  reizvollsten 
ist  seine  Parallele  der  Homunkulusidee  mit  der  stufenweisen  Entfaltung  Fausts  in 
den  Verklärungsszenen  des  Schlusses. 

')  A.a.O.  S.  116. 


68  CARL  ENDERS. 


schön,  heilig  und  zart  erscheinen.  Die  Poesie  hat  sie  so  fein  und 
reich  gebildet  und  umgebildet,  daß  ihre  schöne  Bedeutsamkeit  unbe- 
stimmt geblieben  ist  und  immer  neue  Deutungen  und  Bildungen  er- 
laubt.« Unter  diesen  hat  er  seiner  Lucinde,  um  ihr  einiges  anzudeuten, 
was  er  über  die  Metamorphosen  des  liebenden  Gemütes  ahnt,  d.  h. 
also,  über  die  proteischen  Verwandlungen,  in  denen  es  sich  entfaltet, 
die  ausgewählt,  von  denen  er  glaubt,  »der  Gott  der  Harmonie  könnte 
sie,  nachdem  ihn  die  Liebe  vom  Himmel  auf  die  Erde  geführt  und 
ihn  zum  Hirten  gemacht,  den  Musen  erzählt,  oder  doch  von  ihnen 
angehört  haben.  Damals,  an  den  Ufern  des  Amphrysos,  hat  er  auch 
glaube  ich,  die  Idylle  und  die  Elegie  ersonnen«.  Dadurch,  daß  ein 
reales  Geschehen,  das  in  sich  selbst  Phantasiereize  hat,  mit  höherer 
Bedeutsamkeit  erfüllt  wird,  wird  die  Synthese  von  Realität  und  Idealität 
erreicht,  welche  die  »Universalpoesie«  verlangt.  Mit  ihr  wird  Idylle 
und  Elegie  in  enge  Verbindung  gebracht.  Schlegel  knüpfte  hier  eng 
an  die  Definitionen  Schillers  an.  Die  sentimentalische  Dichtung,  zu 
der  ja  fraglos  unsere  Szenen  des  zweiten  Aktes  gehören,  wird  durch 
die  Reflexion  mit  bezug  auf  das  Absolute  zerlegt  in  die  satirische  (Kon- 
trast von  Wirklichkeit  und  Ideal),  die  elegische  (Sehnsucht  nach  dem 
Ideal)  und  die  idyllische  (Glück  im  erreichten  Ideal).  Alle  diese 
Gattungen  sind  durch  die  Reflexion  an  das  Absolute  gebunden.  Die 
Schillersche  Elegie  darf  deshalb  nicht,  wie  die  der  Zeitgenossen  und 
Vorgänger,  die  Entbehrungen  irdischer  Genüsse  besingen,  sondern  nur 
den  Verlust  des  Ideals.  Und  ebenso  darf  die  Idylle  nicht  versinken 
in  die  Ausmalung  von  sinnlich  wohltuenden  Naturstimmungen  und 
behaglichen  Bildern  menschlicher  Zufriedenheit  im  Alltag,  sondern  sie 
muß  das  hohe  Lied  heiliger  Synthese  von  Wirklichkeit  und  Ideal  singen. 
Schlegel  paßt  sich  dieser  Definition  an,  läßt  aber  die  Scheidung  der 
drei  Gattungen  als  besonderer  Gattungen  nicht  bestehen,  weil  sich  das 
mit  seiner  Proklamation  der  Universalpoesie,  die  alles  in  sich  vereinigt, 
nicht  vertrug.  Bei  ihm  sind  daher  Satire,  Elegie  und  Idylle  nur  Zu- 
standsbezeichnungen  der  einen  Poesie.  »Sie  beginnt  als  Satire  mit 
der  absoluten  Verschiedenheit  des  Idealen  und  des  Realen,  schwebt 
als  Elegie  in  der  Mitte  und  endigt  als  Idylle  mit  der  absoluten  Identität 
beider«').  Praktisch  kommt  das  auf  dasselbe  hinaus.  Es  ist  nach  alle- 
dem klar,  daß  man  die  Homunkulusepisode  am  besten  und  treffendsten 
als  klassisch-romantische  Idylle  charakterisiert,  wie  die  Euphorionepisode, 
über  die  demnächst  in  gleicher  Weise  zu  sprechen  wäre,  als  Elegie. 


')  Athenäumsfragment  238,  Enders,  a.  a.  O.  S.  52  f.  und  S.  375  f. 


III. 
Wilhelm  von  Scholz  als  Theoretiker  des  Dramas. 

Von 

Heinrich  Merk. 

Dem  Schaffen  des  Künstlers,  das  sich  mit  Iriebhafler,  instinl<livcr 
Sicherheit  betätigt,  kann  Großes  gelingen,  aber  das  Größte  wird  ihm 
versagt  bleiben.  Der  schöpferische  Wille,  der  zu  den  erhabensten 
Zielen  emporstrebt,  braucht  den  führenden,  zielschaffenden  Gedanken. 
Wir  sehen  daher,  wie  sofort  das  Nachdenken  über  Mittel,  Wege  und 
Aufgaben  der  Kunst  einsetzt,  sobald  sich  ein  Dichter  der  höchsten 
Kunstform,  dem  Drama,  zuwendet.  Man  hat  diese  intellektuellen  Be- 
strebungen nicht  immer  gebührend  zu  würdigen  gewußt;  manche  sahen 
darin  nur  müßige  Theorien,  gewissermaßen  eine  Zeit-  und  Kraftver- 
geudung —  aber  man  mußte  sich  damit  abfinden.  Denn  gerade  unsere 
bedeutendsten  Geister  hatten  nun  einmal  das  Bedürfnis,  ihre  Kraft  auch 
intellektuell  zu  vergeuden.  Es  liegt  hier  zweifellos  ein  Problem  ver- 
borgen. Bereits  Wilhelm  v.  Humboldt  spricht  in  seinem  Versuch  über 
Schillers  Geistesentwicklung  von  den  Hindernissen,  welche  :'ZU  mächtig 
angeschwollene  Ideenbeschäftigung  und  zu  deutlich  gewordenes  Be- 
wußtsein entgegensetzten«. 

Wilhelm  v.  Scholz,  der  als  Lyriker  wie  als  Dramatiker  in  der 
zeitgenössischen  Dichtung  Sitz  und  Stimme  hat,  entfaltete  seit  seinen 
ersten  Anfängen  eine  reiche  literarästhetische  Tätigkeit.  In  grundlegen- 
den Essays  hat  er  sich  um  ein  tieferes  Verständnis  Günthers,  der  Droste 
und  Hebbels  bemüht;  in  dem  Sammelwerk  »Deutsche  Dramaturgie« 
sucht  er  das  Gedankengut  unserer  Dramatiker  für  die  Bühne  flüssig 
zu  machen;  vornehmlich  aber  durch  seine  Theorien  zur  Lehre  vom 
Drama  hat  er  in  den  zuständigen  Kreisen  Beachtung  und  Anerkennung 
gefunden.  Ein  Beurteiler  kam  sogar  zu  dem  achselzuckenden  Ergeb- 
nis: —  vielleicht  weiß  er  zu  viel  für  einen  Dichter.«  Das  drama- 
turgische Denken  von  Scholz  entwickelte  sich  an  dem  Problem  Friedrich 
Hebbel  (> Friedrich  Hebbel«  —  in  der  Sammlung  »Die  Dichtung«  von 
P.  Remer).  Seinen  ersten  selbständigen  Ausdruck  fand  es  in  den 
»Gedanken  zum  Drama«  (1905  bei  Gg.  Müller,  München).  Die  Fort- 
setzung, Ergänzung  und  Vollendung  dieses  Buches  sind  die  »Gedanken 
zum  Drama,  neue  Folgen   (1915  ebenda).    Man  hat  sich  bisher  meist 


70  HEINRICH  MERK. 


auf  anerkennende  Worte  und  empfehlende  Hinweise  beschränl<t.  Damit 
ist  natürlich  der  Sache  selbst  nicht  gedient.  Wir  wollen  in  dieser 
Studie  das  Versäumnis  nachholen.  Wir  werden  versuchen,  die  wich- 
tigsten Gedanken  und  Erkenntnisse  herauszuarbeiten,  um  für  die  künf- 
tige kritische  Auseinandersetzung  eine  sichere  Grundlage  zu  schaffen  >). 

r. 

In  der  ersten  These  seiner  Abhandlung  »Kunst  und  Notwendig- 
keit« greift  Scholz  auf  gewisse  Tatsachen  unseres  Seelenlebens  zurück, 
um  von  hier  aus  die  Einsicht  in  das  Wesen  des  Dramas  zu  fördern. 
Er  behauptet  nämlich,  die  Grundtendenz  aller  menschlichen  Tätigkeit 
sei  ein  »Streben  nach  Zwang,  nach  empfundener  Notwendigkeitc 
(N.  G.  S.  5Q).  Er  weist  damit  auf  folgende  Erscheinungen  hin :  Wie 
etwa  die  Luft  den  Raum  in  seiner  ganzen  Ausdehnung  zu  durchdringen 
sucht  und  nicht  eher  ruht,  bis  sie  seine  letzten  Höhen  und  Tiefen 
erfüllt  hat,  so  geht  auch  das  menschliche  Streben  dahin,  die  letzten 
ihm  gezogenen  Grenzen  zu  erreichen,  das  Leben  mit  dem  denkbar 
reichsten  Inhalt  und  Gehalt  auszustatten.  Solange  diese  Grenzen  noch 
nicht  erreicht  sind,  bewegen  wir  uns  in  dem  Bereiche  der  Möglich- 
keit, in  der  Sphäre  des  unsicheren  Schwankens. 

Daß  Scholz  bei  seinen  Erörterungen  gerade  von  dem  Begriff  der 
Notwendigkeit  ausgeht,  ist  nicht  willkürlich  und  zufällig.  Was  für  das 
logische  Denken  Gewißheit  und  Wahrheit  sind,  das  ist  für  den  Künstler 
und  den  Betrachter  seiner  Schöpfung  die  künstlerische  Notwendigkeit. 
Bei  den  Klassikern  und  vor  allem  bei  den  Nachklassikern,  auch  bei 
den  philosophischen  Systematikern  der  Ästhetik  spielt  dieser  Begriff 
eine  entscheidende  Rolle.  Die  Kritiker  bedienen  sich  seiner,  um  den 
Wert  eines  Kunstwerkes  festzustellen.  Man  fragt  sich,  ob  es  Ausdruck 
einer  schöpferischen  Notwendigkeit  ist;  man  prüft,  ob  seine  einzelnen 
Teile  organisch,  d.  h.  eben  notwendig  zusammengehören  usw.  Immer 
kommt  man  dabei  auf  den  Begriff  Notwendigkeit  zurück.  Es  ist  daher 
eine  wichtige  Angelegenheit  des  Theoretikers,  sich  über  den  Sinn 
dieser  ästhetischen  Grundkategorie  klar  zu  werden.  Scholz  stellt  eine 
Reihe  von  Bedeutungen  fest.  Man  kann  darunter  verstehen:  >einmai 
das  elementar  notwendige  Hervorgehen  des  Werkes  aus  der  Seele  eines 
Schöpfers,  ein  anderes  Mal  die  Zwangslage  des  Handelns,  in  der  sich 
die  Figuren  befinden  (von  woher  der  Begriff  wahrscheinlich  stammt!), 
die  Übereinstimmung  der  Kausalität  im  Kunstwerk  mit  der  realen  Kau- 
salität, im  höchsten  Falle  die  organische  Beziehung  und  Wechsel- 
wirkung des  Ganzen  und  seiner  Teile«  (N.  G.  S.  82). 


')  Der  »HebbeU-Essai  ist  zitiert  mit  H.,  das  Werk  »Gedanken  zum  Drama« 
mit  O.  und  das  letztgenannte  Buch  »O.  z.  Drama,  Neue  Folge«  mit  N.  O. 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  71 


Was  aber  sagen  uns  diese  verschiedenen  Definitionen  und  Kon- 
struktionen von  dem  Gegenstande  unserer  Betrachtung?  Sagen  sie  uns 
überhaupt  etwas  davon?  Die  Notwendigkeit  erleben  wir  nur  in 
unserem  Bewußtsein;  wir  finden  sie  einzig  und  allein  als  Bewußtseins- 
erlebnis, aber  nicht  als  eine  Objektseigenschaft.  Diese  erkenntnis- 
theoretische Einsicht  ist  auch  entscheidend  für  die  Lösung  unseres 
dramaturgischen  Problems.  Wenn  ein  Kritiker  ein  Kunstwerk  als  not- 
wendig bezeichnet,  so  spricht  er  nicht  vom  Kunstwerk,  sondern  nur 
von  sich.  Darum  lehnt  auch  Scholz  die  verschiedenen  Wendungen, 
die  man  dem  Notwendigkeitsgedanken  gegeben  hat,  mit  Recht  ab. 
Der  »Wille  zum  Zwang«,  den  er  dafür  einführt,  soll  kein  Ersatz  für 
den  aufgegebenen  Begriff  sein,  sondern  die  Rückführung  des  Problems 
in  seine  ursprüngliche  Lebenssphäre.  Man  hat  wiederholt  Versuche 
gemacht,  Kriterien  der  künstlerischen  Notwendigkeit  zu  gewinnen. 
Hebbel  z.  B.  stellt  die  Skala  auf:  »es  kann  sein,  es  ist,  es  muß  sein«. 
Der  Urteilscharakter  des  problematischen  »es  kann  sein«  wird  von 
manchen  Logikern  angezweifelt.  Der  Ästhetiker  wird  sich  dieser  Auf- 
fassung anschließen.  Der  Begriff  der  »Möglichkeit«  ist  etwas  Unfer- 
tiges; er  kann  geradezu  als  der  logische  Ausdruck  für  künstlerische 
Formlosigkeit  bezeichnet  werden;  er  ist  das  Widerspiel  der  Kunst. 
Nicht  minder  unbrauchbar  ist  für  die  künstlerische  Betrachtung  das 
apodiktische  Urteil  »es  muß  sein«.  Wir  sind  nicht  imstande  —  wie 
es  diese  Modalität  erfordert  — ,  ein  Gesetz  zu  formulieren,  aus  dem 
wir  etwa  die  Erkenntnis  einer  Notwendigkeit  ableiten  könnten.  Wir 
müssen  uns  eben  letzten  Endes  mit  dem  einfachen  »es  ist<:  begnügen. 
Diese  Seinsnotwendigkeit  besteht  nun  darin,  daß  wir  uns  an  das 
Tatsächliche  halten,  und  geht  in  dem  Bewußtsein  auf,  daß  wir  über 
die  Tatsachen  nicht  hinauskommen.  Wir  lehnen  eine  »Ilias  post 
tiomerum.'i  instinktiv  ab,  weil  wir  empfinden,  daß  ein  Hinauskommen 
über  Homer  nkht  möglich  ist. 

Die  Notwendigkeit  wird  hier  als  Unmöglichkeit  des  Gegenteils 
erlebt  und  kann  daher  auch  als  »negative  Notwendigkeit«  umschrieben 
werden.  Da  aber  jedes  bloß  negative  Urteil  im  Hinblick  auf  seinen 
Erkenntniswert  nur  eine  Urteilsvorstufe  darstellt,  so  können  wir  mit 
Scholz  von  »niederen  negativen  Notwendigkeiten«  sprechen,  die  sich 
unserem  Erkenntnisstreben  als  unübersteigliche  Schranken  entgegen- 
stellen (N.  G.  S.  73  f.).  Das  Bewußtsein  dieser  Schranken  ist  —  positiv 
gewendet  —  nichts  anderes  als  die  Anerkennung  des  Zufalls.  »Das 
Wort  jZufall'  hat  in  unserem  Sprachgebrauch  seinen  Sinn  sehr  weit 
nach  der  Seite  des  scheinbar  ganz  Zusammenhanglosen,  Unbegründeten, 
ich  muß  das  Wort  selbst  zu  seiner  Erklärung  zu  Hilfe  rufen:  des 
Zufälligen  verschoben.    Wir  brauchen  diesen  Sinn  aber  nicht  notwen- 


72  HEINRICH  MERK. 


dig  mit  dem  Worte  zu  verbinden  und  können  in  dem  Hauptwort 
jedenfalls  einfach  ,das  Zufallende'  sehen«  (N.  O.  S.  81).  Scholz,  der 
so  nachdrücklich  die  Notwendigkeit  in  den  Mittelpunkt  des  dramatur- 
gischen Denkens  stellt,  vertritt  nun  mit  der  gleichen  Entschiedenheit 
das  Recht  des  Zufalls.  Wir  dürfen  dabei,  wie  bereits  hervorgehoben 
wurde,  unter  diesem  Begriff  nicht  das  »Unbegründete«  verstehen,  denn 
im  Drama  muß  alles  sehr  wohl  begründet  sein;  aber  nichts  hindert 
uns,  ihn  im  Sinne  des  »Unergründlichen«  zu  nehmen.  Wir  werden 
niemals  in  der  Lage  sein,  anzugeben,  warum  die  Personen  eines  Stückes 
in  einer  ganz  bestimmten  Weise  handein  müssen;  wir  werden  daher 
niemals  begründen  können,  warum  die  einzelnen  Szenen  gerade  so 
und  nicht  anders  aufeinander  folgen.  Wir  können  uns  höchstens  auf 
die  »in  unserem  Leben  herrschenden  Zwänge  und  Notwendigkeiten« 
(N.  G.  S.  66)  berufen,  d.  h.  eine  Unbekannte  auf  eine  andere  zurück- 
führen. 

Und  doch  erleben  wir  das  große  Kunstwerk  als  eine  Notwendig- 
keit, wir  erleben  höchste  Kraftentfaltung,  worin  der  »Wille  zum  Zwang« 
seine  Erfüllung  findet.  Dieses  Erlebnis  gehört  zum  Werk  wie  der 
Geist  zum  Körper;  es  würde  in  seinen  tiefsten  Daseinsbedingungen 
getroffen,  sobald  vom  künstlerischen  Organismus  nur  ein  Glied  heraus- 
genommen würde.  Wir  stellen  hiermit  keinen  Widerspruch  fest,  son- 
dern eine  Lücke,  die  wir  vorläufig  mit  dem  Hinweis  Lotzes  ausfüllen 
müssen,  daß  der  Umkreis  unseres  Erlebens  eben  weiter  ist  als  der 
unseres  Erkennens.  Es  kommt  nur  immer  darauf  an,  daß  wir  uns 
nicht  in  Wortillusionen  verlieren;  daß  wir  uns  stets  bewußt  bleiben, 
was  unsere  Begriffe  leisten  und  was  sie  nicht  leisten  können. 

"• 

Nach  dieser  grundsätzlichen  Erörterung  gehen  wir  über  zur  Be- 
trachtung des  Dramas.  Wir  handeln  zunächst  vom  Drama  überhaupt, 
dann  von  seinen  wichtigsten  Erscheinungsformen:  Komödie  und  Tra- 
gödie. 

Hebbel  bemerkt  einmal,  »daß  der  religiöse  Ursprung  des  Dramas 
nicht  zufällig  ist«  (vgl.  Deutsche  Dramaturgie  I,  S.  361).  Man  kann 
hinter  diesen  Worten  allen  erdenklichen  Tiefsinn  vermuten.  Scholz 
aber  greift  den  Gedanken  auf,  um  aus  dieser  religiösen  Bedingtheit 
dramaturgische  Erkenntnisse  zu  gewinnen.  Während  man  gewöhnlich 
das  Theater  aus  dem  Drama  herleitet,  leitet  Scholz  das  Drama  aus  dem 
Theater,  d.  h.  aus  der  festlich  gestimmten  Versammlung  her. 

Aus  der  strahlenden  Helligkeit  des  Tages  sind  wir  in  die  Stille 
des  verdunkelten  Raumes  versetzt.  Ungewisse  Erwartungsgefühle,  ver- 
gangene   Theatererlebnisse    wirken    in    uns   und    erzeugen   so    »eine 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS. 


73 


bestimmte  Spannung«.  In  der  versammelten  Menge  entsteht  eine  Oe- 
fühlsfülle,  »die  nacii  Auslösung  drängt,  Wille,  der  sich  kaum  beherr- 
schen läßt,  weil  er  zum  Zuschauen  gezwungen  ist  und  handeln  möchte. 
Die  Gemütsspannung  läßt  sich  geradehin  als  den  betrachtenden  Willen 
bezeichnen.    Vor  ihm  spielt  sich  das  Drama  ab«  (O.  S.  6). 

Der  Zuschauer  ist  nicht  in  das  Theater  gekommen,  um  sich  han- 
delnd zu  betätigen,  sondern  um  die  Wirkungen  eines  Kunstwerkes  zu 
erleben.  Man  kann  an  Stelle  des  >Erlebens«  auch  von  einem  »Be- 
trachten« sprechen.  Anderseits  strebt  der  Wille,  jene  »Gefühlsfülle, 
die  nach  Auslösung  drängt«,  zur  Entfaltung  und  Befriedigung.  Auf 
den  ersten  Blick  scheint  dieses  Streben  mit  dem  Geiste  der  Betrachtung 
im  Widerspruch  zu  stehen,  scheint  es  durch  Reflexionshemmungen  im 
bloßen  Wunsche  zu  erstarren.  Das  ist  aber  nicht  der  Fall.  Indem 
nämlich  der  Zuschauer  das  Geschehen  auf  der  Bühne  betrachtet,  d.  h. 
in  seiner  ganzen  Fülle  erlebt,  lebt  er  sich  in  die  fremden  Gestalten 
und  Schicksale  hinein,  lebt  er  mit  ihnen  und  löst  so  die  Willens- 
spannung in  seinem  Innern  in  hemmungslose  Willenstätigkeit  aus. 
»Wir  werden  vor  dem  Drama  an  einem  außerordentlichen  Ereignis 
unmittelbar  Teilnehmende«  (N.  G.  S.  21).  Die  zunächst  paradox  an- 
mutende Wendung  »betrachtender  Wille«  wird  so  verständlich. 

Die  Frage  ist  nun:  Wie  wird  dieser  Wille  zum  Schöpfer  des 
Dramas?  Wie  lernen  wir  aus  dem  Wesen  des  Theaters  heraus  das 
Wesen  des  Dramas  verstehen? 

»Der  Zuschauer  will  sich  sehen  und  versteht  nur  sich.  Wille  ist 
Zuschauer;  so  ist  Wille  das  Thema  des  Dramas.  Wille  läßt  sich  zeigen 
nur  an  Widerständen,  die  er  bezwingt,  charakterisieren  nur  durch  die 
Art  der  Widerstände,  die  sich  ihm  gegenüberstellen.  Auch  diese  Wider- 
stände müssen  Willen  sein,  wenn  der  Zuschauer  Wille  sie  lebendig 
mitfühlen  soll.  Willen  gegen  Willen:  Kampf«  (G.  S.  2,3).  Vor  grauen 
Zeiten  gehörte  diese  Lehre  zu  den  dramaturgischen  Binsenwahrheiten, 
Nachdem  aber  die  Gegenwart  dem  Wesen  des  Dramas  so  sehr  ent- 
fremdet wurde,  daß  man  die  Darstellung  des  Kampfes  durch  novel- 
listische und  lyrische  Zustandsschilderungen  zu  ersetzen  suchte,  ist  es 
doppelt  wichtig,  mit  dem  gebührenden  Nachdruck  darauf  hinzuweisen. 
Es  handeh  sich  dabei  um  keine  blutleere,  abstrakte  Theorie,  sondern 
um  eine  Forderung  des  Theaters.  Diese  Tatsache  sollte  zu  denken 
geben. 

Damit  sind  aber  die  wesentlichen  Eigenschaften,  die  spezifischen 
Kennzeichen  des  dramatischen  Kampfes  noch  nicht  berührt.  Dieses 
Problem  wird  uns  aber  nahegerückt,  wenn  wir  bedenken,  daß  auch 
der  epischen  Dichtung  meist  ein  Kampf  zugrunde  liegt. 

Goethe  und  Schiller  sahen  den  Hauptunterschied  bekanntlich  darin, 


74  HEINRICH  MERK. 


»daß  der  Epiker  die  Begebenheit  als  vollkommen  vergangen  vorträgt 
und  der  Dramatiker  sie  als  vollkommen  gegenwärtig  darstellt«.  »Das 
epische  Gedicht  stellt  vorzüglich  persönlich  beschränkte  Tätigkeit,  die 
Tragödie  persönlich  beschränkte  Leiden  dar;  das  epische  Gedicht  den 
außer  sich  wirkenden  Menschen:  Schlachten,  Reisen,  jede  Art  von 
Unternehmungen,  die  eine  gewisse  sinnliche  Breite  fordert;  die  Tra- 
gödie den  nach  innen  geführten  Menschen,  und  die  Handlungen  der 
echten  Tragödie  bedürfen  daher  weniges  Raumes«  (vgl.  Deutsche  Dra- 
maturgie Bd.  II,  S.  303  f.).  Diese  Bemerkungen  wirkten  anregend  und 
befruchtend  auf  die  dramaturgische  Diskussion.  Die  beiden  Klassiker 
gehen  von  den  Mitteln  aus,  deren  sich  die  einzelnen  Dichtungs- 
gattungen bedienen.  Das  Epos  ist  »Schilderung«,  das  Drama  »unmittel- 
bare Darstellung«.  Diese  Formunterschiede  müssen  natürlich  auf  eine 
stoffliche  Grundlage  zurückgeführt  werden.  Auch  hiezu  haben  Goethe 
und  Schiller  den  Weg  gewiesen.  Schlachten,  Reisen  usw.  sind  Gegen- 
stand der  epischen  Dichtung:  Zustände  und  Vorgänge,  die  sich  immer 
nur  schildern  lassen.  Man  kann  wohl  ein  Ereignis  aus  einer  Reise 
dramatisch  gestalten,  aber  nie  die  Reise  selbst ;  was  der  Reisende  erlebt 
hat,  das  kann  er  nur  erzählen,  und  so  etwas  ist  immer  episch,  auch 
wenn  es  auf  der  Bühne  geschieht.  Man  spricht  von  einer  »epischen 
Breite«.  Je  weiter  der  Horizont  ist,  den  die  Erzählung  umspannt,  je 
umfassender  der  Raum,  den  die  Tatsachen  ausfüllen  —  umso  größer 
ist  die  künstlerische  Leistung.  Aber  niemand  wird  von  einer  »drama- 
tischen Breite«  sprechen.  Im  Gegenteil:  Konzentration,  Streben  auf 
einen  Mittelpunkt  hin,  ist  das  Grundgesetz  des  Dramatikers.  Hier  haben 
vor  allem  die  nachklassischen  Kritiker  des  Dramas  —  Grillparzer,  Otto 
Ludwig  —  eingesetzt.  Auch  Hebbel  scheint  dieser  Auffassung  nicht  fern 
zu  stehen,  wenn  er  im  Drama  ohne  großartige  Persönlichkeit  nichts 
sieht  als  einen  »Roman  in  umgekehrter  Form«. 

Scholz  hat  dieser  dramaturgischen  Überlieferung  keine  wesentlich 
neuen  Gedanken  hinzugefügt. 

»Mag  der  epische  Dichter  uns  mit  dem  Teleskop  seiner  Anschau- 
ung die  fernen  Begebenheiten  auch  nah  und  lebensgroß  vors  Auge 
rücken:  sie  behalten  eine  gewisse  Lautlosigkeit  hinter  der  Stimme  des 
Dichters,  die  zwischen  uns  und  ihnen  liegt.  Das  Drama  stellt  nicht 
nur  die  Handlung  sinnlich-gegenwärtig  vor  uns,  es  schafft  wesentlich 
mehr,  als  daß  es  uns  nur  zu  unbeteiligten  Zuschauern  eines  in  sich  abge- 
schlossenen Bühnengeschehens  macht.  Wir  werden  vor  dem  Drama: 
an  einem  außerordentlichen  Ereignis  unmittelbar  Teilnehmende«  (N.  G. 
S.  20/1). 

Ebenso  wird  die  räumliche  Enge  des  Dramas  hervorgehoben. 

Ȇberall,  wo  nichts  die  Menschen  hindert,  mit  aller  Leidenschaft 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS. 


75 


offen  oder  verhüllt  aufeinander  zu  prallen,  und  wo  die  Enge  zum  Kampfe 
zwingt,  wächst  das  Drama:  in  voli<reichen  Städten,  in  Heerlagern,  an 
Königshöfen;  schließlich  auch  in  Familien.  Aber  nicht  in  der  großen, 
mächtigen  Natur,  die  der  Idylliker . . .  immer  wieder  vergeblich  mit 
Dramen  zu  beleben  versuchen  wird.  So  ist  das  Alpendrama  ein  unlös- 
bares Problem  — c  (N.  O.  S.  287). 

Neben  dieser  objektiven  Analyse  des  Werkes  selbst  betont  Scholz 
die  subjektive  Seite,  den  psychischen  Vorgang,  das  persönliche  Erlebnis 
des  Schaffenden,  das  seinerseits  wieder  auf  die  dichterische  Eigenart 
der  Kunstgattung  zurückzuführen  ist  (s.  N.  O.  S.  3Q). 

Das  Ergebnis  dieses  Exkurses  ist  nicht  ganz  so  bedeutungslos, 
wie  es  auf  den  ersten  Blick  hin  scheinen  möchte.  Das  Drama  hat 
seine  eigenen  Gesetze;  es  macht  keine  Zugeständnisse  und  duldet 
keine  Grenzverwirrungen.  Wäre  diese  Einsicht  überall  dort,  wo  sie 
nötig  ist,  durchgedrungen,  so  gäbe  es  nicht  immer  wieder  Dichter, 
die  sich  verpflichtet  fühlten,  aus  einem  Roman  oder  einer  Novelle  kurz- 
händig ein  Theaterstück  zu  bauen.  Der  Dramatiker  müßte  erst  den 
Versuch  machen,  den  Stoff  aus  seiner  epischen  Form,  mit  der  er  zu 
einer  Einheit  zusammengeschmolzen  ist,  herauszulösen.  Das  ist  natür- 
lich umso  schwieriger,  je  größer  die  Kunst  des  Vordermannes  ist.  — 

Ungleich  wichtiger  sind  die  Erkenntnisse,  die  wir  gewinnen,  sobald 
wir  aus  der  Phantasiesphäre  heraustreten,  um  Drama  und  Leben  ein- 
ander gegenüber  zu  stellen.  Die  hohen  Ansprüche,  die  das  Drama 
erhebt,  fordern  zu  diesem  Vergleich  heraus.  Menschen  beruft  es  in 
seinen  strengen  Dienst,  damit  sie  seinen  Schattengestalten  Körper, 
Leben  und  Seele  verleihen.  Der  Bühnenraum  öffnet  sich,  eine  fremde 
Welt  mit  ihren  geheimnisvollen  Schauern  entringt  sich  der  Dunkelheit; 
alles  ist  Leben,  wirkliches  Leben,  das  uns  für  Stunden  in  seine  Zwänge 
nimmt  wie  die  Welt,  in  der  wir  uns  täglich  bewegen.  Was  gibt  dem 
Drama  diese  Lebenskraft,  diese  Wirklichkeit,  der  wir  uns  nicht 
entziehen  können,  die  uns  in  ihre  Kreise  lockt  und  erinnerungsschwer 
wie  ein  großes  Ereignis  in  uns  nachwirkt? 

»In  der  Wirklichkeit  spannt  uns  jeder  Kampf,  der  Wettkampf  der 
Pferde,  ein  Prozeß,  ein  Ringkampf.  Wir  wissen,  daß  der  Kampf  auf 
der  Bühne  im  Sinne  der  Ailtagswirklichkeit  unwirklich  ist;  wissen 
auch,  daß  die  Wucht  und  Spannung,  mit  der  ein  Kampf  uns  erfaßt, 
von  seinem  Gewicht,  d.  h.  von  dem  Maß  an  Wirklichkeit  abhängig  ist> 
das  wir  in  ihm  sehen.    Wirklichkeit:  darin  liegt  alles«  (O.  S.  6). 

Den  Illusionsmitteln  —  Kulisse,  Kostüm,  künstliche  Beleuchtung  — 
fehlt  diese  Lebenskraft.  Wir  durchschauen  sie,  wenn  der  Reiz  der 
Neuheit  verflogen  ist,  bald  als  leere  Scheingebilde.  Wir  können  sogar 
beobachten,  daß  überall,  wo  im  Drama  selbst  die  Nachahmung  des 


76  HEINRICH  MERK. 


Lebens,  die  Illusion  vorherrscht,  die  Spannung  sofort  nachläßt.  Wir 
empfinden  den  Schein  zu  aufdringlich.  Wenn  aber  nicht  das  äußere, 
so  kann  es  nur  noch  das  innere,  das  geistige  Geschehen  sein,  in  dem 
wir  das  dramatische  Geheimnis  suchen  müssen.  Worin  besteht  nun 
jene  unwiri<iiche  Wirklichkeit,  in  der  das  Drama  wurzelt  und  ohne  die 
es  in  Schein  zerfiele? 

Wir  müssen  hier  von  dem  Gedanken  ausgehen,  daß  alles,  was 
unser  geistiges  Leben  berührt,  das  Interesse  weckt,  auch  wenn  es  nur 
als  Phantasieerlebnis  erscheint.  Wir  betrachten  dabei  die  äußeren  Vor- 
gänge nicht  als  selbständige  Tatsachen,  sondern  als  Ausdrucksmittel. 
Man  hat  das  dramatische  Schaffen  auch  so  gedeutet,  daß  der  Dichter 
die  verborgenen  Fäden  bloßlegt,  aus  denen  das  Gewebe  der  mensch- 
lichen Handlungen  besteht,  so  daß  sich  nun  das  wahre  Gesicht  der 
Dinge  enthüllt.  Das  Drama  stellt  —  um  ein  Wort  von  Goethe  und 
Schiller  zu  wiederholen  —  »den  nach  innen  geführten  Menschen  dar«. 
Was  ist  mit  dieser  Innerlichkeit  gemeint?  Wessen  werden  wir  inne? 
Diese  Frage  kann  einmal  dahin  beantwortet  werden,  daß  im  Kunst- 
werk das  Dunkel  unserer  Seele  gelichtet  wird,  daß  wir  darin  wie  in 
einem  Spiegel  in  unbekannte  Tiefen,  die  hinter  uns  liegen,  hinab- 
blicken. Es  ist  also  zunächst  ein  psychologisches  Interesse,  das  uns 
in  Spannung  hält.  Scholz  bemerkt  hiezu:  »Hier  ist  wirklicher  Kampf, 
auch  wo  er  nur  Spiel  ist.  Er  hat  die  Wirklichkeit  der  Dinge,  die  nicht 
zutage  treten  können,  solange  noch  in  der  groben  Welt  des  Faust- 
kampfes oder  des  geschriebenen  Rechts  gerungen  wird,  die  ganz  aus 
ihrem  Bann  gelöst  werden,  wenn  das  äußere  Bild  des  Kampfes  nur 
Schein  ist«  (N.G.  S.  17). 

Die  Antwort  wird  in  einem  mehr  ethisch-metaphysischen  Sinne 
lauten:  In  den  dramatischen  Vorgängen  offenbaren  sich  die  großen 
ewigen  Gesetze  und  Mächte,  von  denen  das  menschliche  Dasein  be- 
herrscht wird.  »Mächte,  die  wir  kraft  unserer  menschlichen  Veran- 
lagung nie  als  möglich,  sondern  immer  als  wirklich,  als  unausschaltbar 
empfinden,  wo  sie  nur  genannt  werden.  Jene  Leben  zeugenden  und 
fördernden  Mächte,  Werte,  die  in  unserem  zur  Bewußtheit  gesteigerten 
Fühlen  und  Wollen  herrschen,  denen  wir  Untertan  und  hingegeben 
sind,  auf  denen  wir  beruhen,  aus  denen  unsere  Kraft  und  unser  Glück 
fließt,  deren  Willenswirklichkeit  aus  unserem  Innern  heraus  alle  andere 
Wirklichkeit  überwuchert,  wie  uns  unser  Wille  wirklicher  wird  als  die 
Dinge«  (N.  G.  S.  17).  Auch  die  Iliusionsmittel  erfüllen  nur  insoweit 
ihren  Zweck,  als  sie  von  diesem  inneren  Leben  getragen  werden. 
»Wenn  der  Dichter  für  die  Handlung  seiner  Personen  eine  alte  Gasse, 
einen  Marktplatz,  ein  städtisches  Tor  als  Prospekte  aufstellt,  so  bleiben 
diese  Bilder  tot,  wofern  er  nicht  das  Leben  einer  Stadt,  wie  fernes 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  ^^ 

Geräusch  und  Rollen,  wie  Gesetze  und  Macht,  wie  Wollen  und 
Leiden  vieler  Menschen,  in  die  gemalten  Kulissen  zu  dichten  vermag« 
(N.  G.  S.  8). 

Nur  diese  Durchseelung  des  Scheins,  diese  Vergeistigung  des  Stoffes 
hebt  das  Spiel  des  Dichters  über  bloße  Spielerei,  so  daß  es  würdig 
wird,  eine  Angelegenheit  für  ernste  Menschen  zu  bilden. 

Das  Illusionsproblem  hat  eine  umfangreiche  Literatur  hervorgerufen, 
aber  es  ist  dabei  nicht  viel  herausgekommen.  Dieser  Mißerfolg  ist 
hauptsächlich  auf  eine  falsche  Fragestellung  zurückzuführen.  Man  hat 
die  Illusion  in  den  Mittelpunkt  des  künstlerischen  Schaffens  gerückt, 
wohin  sie  offenbar  nicht  gehört.  Wir  suchen  in  der  Kunst  nicht 
Täuschung,  sondern  Wahrheit.  Alle  Illusionen  sind  nur  Mittel,  um 
uns  die  Wege  zur  inneren  Wahrheit  eines  Kunstwerkes  zu  öffnen. 
Und  je  stärker  diese  Lebenswahrheit  ist,  umso  schwächer  können  die 
Illusionsmittel  sein.  Das  Grundphänomen  der  Kunst  ist  nicht  die 
ästhetische  Illusion,  sondern  das  Leben  —  und  dieses  läßt  sich  nie- 
mals vortäuschen.  — 

Das  Drama,  von  dem  wir  bisher  gehandelt  haben,  hat  nach  der 
Ansicht  von  Scholz  »für  uns  heute  den  Wert  einer  Urform,  von  der 
die  Erkenntnis  ausgehen  muß«.  Es  ist  zweier  Steigerungen  fähig: 
»es  kann  zur  Komödie  und  es  kann  zur  Tragödie  werden«  (G.  S.  5), 
Wir  gehen  zunächst  auf  die  Komödie  ein. 

IIL 

Scholz  gibt  folgende  Begriffsbestimmung:  »Die  Komödie  ist  eine 
Steigerung  des  Inhalts  zu  einer  in  Willkür  persönlich  schöpferischen 
Widerspiegelung  des  Lebens«  (G.  S.  5).  Er  spricht  ausdrücklich  von 
einer  »Widerspiegelung«,  nicht  von  einer  Nachahmung.  Das  Spiegel- 
bild ist  etwas  ganz  anderes  als  das,  was  sich  darin  spiegelt.  Darum 
ist  auch  das  Kunstwerk  etwas  ganz  anderes  als  das  sogenannte  Leben. 
Es  ist  Neuschöpfung  aus  dem  Geiste,  Stoffverwandlung,  Übergang  in 
eine  andere  Sphäre  der  Wirklichkeit. 

Dieses  Schöpfertum  muß  sich  willkürlich,  persönlich  entfalten. 
Anderseits  ist  es  dem  Gesetze  der  Notwendigkeit  unterworfen. 

Scholz  bezeichnet  es  als  Wirkung  der  Komödie,  daß  sie  »das 
Drama  zur  Freiheit  im  Geiste  führe«.  Was  wir  darunter  zu  verstehen 
haben,  hat  Schiller  einmal  dahin  formuliert:  »Unser  Zustand  in  der 
Komödie  ist  ruhig,  klar,  frei,  heiter,  wir  fühlen  uns  weder  tätig  noch 
leidend,  wir  schauen  an  und  alles  bleibt  außer  uns,  dies  ist  der  Zustand 
der  Götter,  die  sich  um  nichts  Menschliches  bekümmern,  die  über  allem 
frei  schweben,  die  kein  Schicksal  berührt,  die  kein  Gesetz  zwingt« 
(Deutsche  Dramaturgie  Bd.  II,  S.  426).    Diese  Wirkung  aber  kann  der 


78  HEINRICH  MERK. 

Dichter  nur  dann  erzeugen,  wenn  sie  in  ihm  bereits  als  schöpferische 
Kraft  lebt.  Einen  solchen  ursächlichen  Zustand  und  die  aus  ihm  her- 
vorgehende Tätigkeit  nennen  wir  Willkür.  Sie  ist  nichts  anderes  als  die 
persönliche  Eigenart  des  Künstlers,  die  mit  dem  gegebenen  Stoffe  frei, 
d.  h.  nach  den  eigenen,  nicht  nach  den  Gesetzen  des  Stoffes  waltet. 
Damit  hängt  der  Spielcharakter  der  Komödie  zusammen,  der  den  Schein 
unverhüliter  und  unbekümmerter  hervortreten  läßt,  als  in  der  Tragödie. 

Die  Notwendigkeit  nun,  die  auch  in  diesem  willkürlichen  Schöpfer- 
tum zur  Geltung  kommen  muß,  besteht  darin,  daß  die  persönliche 
Eigenart  sich  wirklich  voll  entfaltet,  daß  sie  ihre  letzten  als  unüber- 
windbar  empfundenen  Grenzen  erreicht;  daß  in  der  dramatischen  Be- 
handlung der  Willkür  jede  Willkür  ausgeschaltet,  daß  der  »Wille  zum 
Zwang«  nicht  verkümmert  wird. 

Aus  dieser  Wesensbestimmung  ergeben  sich  alle  anderen  Kenn- 
zeichen der  Dichtungsart.  Sie  trachtet  danach,  »sich  im  höchsten 
Intellekt  zu  verkörpern«;  sie  ist  »breites,  behagliches  Verweilen,  Gegen- 
wart; wie  denn  auch  in  der  Komödie  der  Monolog  zu  einer  Höhe  der 
Bühnenwirkung  werden  kann«  (G.  S.  5).  Aus  einer  intellektuellen  Über- 
legenheit ist  sie  hervorgegangen,  nur  im  höchsten  Intellekt  kann  sie 
daher  ihren  Höhepunkt  finden.  Das  Wesen  des  Intellekts  ist  gegen- 
warterfüllte Anschauung;  also  Gegenwart  das  Wesen  der  Komödie. 
Wir  finden  daher  nicht  selten  ein  sorgloses  Ausruhen  in  den  komischen 
Situationen;  der  einzelne  Augenblick  wird  hinausgedehnt,  um  ihn  in 
vollen  Zügen  auszukosten  und  zu  genießen.  In  der  Tragödie  wäre 
so  etwas  nicht  möglich.  Da  es  sich  ferner  letzten  Endes  um  einen 
schöpferischen  Befreiungsakt  handelt,  in  dem  die  Selbstherrlichkeit  des 
Dichters  ihre  eigenen  Gesetze  durchsetzt,  so  daß  sich  die  Forderungen 
des  Stoffes  als  unverbindliche  Scheinforderungen  entpuppen,  so  ist 
klar,  daß.  die  Komödie  —  wie  wir  bereits  angedeutet  haben  —  einen 
anderen  Grad  von  >WirklichkeitsiUusion  als  die  Tragödie  hat.  Die 
leichten  Gefühle,  die  die  Komödie  erzeugt,  begnügen  und  befriedigen 
sich  an  einem  bewußteren  Schein,  als  die  schweren  tragischen  Gefühle. 
Darauf  beruht  die  Möglichkeit  komischer  Unmöglichkeiten,  die  mit 
Lachen  hingenommen  werden  und  wirken«  (G.  S.  5  f.).  Bei  allen  diesen 
grundlegenden  Unterschieden  darf  aber  nicht  vergessen  werden:  ;  Das 
Letzte,  was  die  Komödie  darstellt,  ist,  in  einer  anderen  geistigen  Ver- 
fassung gespiegelt,  auch  der  Inhalt  der  Tragödie:  ein  Menschliches^ 
(G.  S.  6).     Dies  führt  zur  Tragödie. 

IV. 
Um  das  Wesen  der  Tragödie  recht  zu  erfassen,  dürfen  wir  nicht  — 
wie  z.  B.  Hebbel  tat  —  von  einer  Weltanschauung  ausgehen,  aus  der 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  79 

sich  das  tragische  Geschehen  entwici<elt,  sondern  wir  müssen  sie  vom 
Drama  her  zu  verstehen  suchen.  Man  neigt  nur  allzusehr  dazu,  »die 
Tragödie  schon  im  Stoff  zu  sehen,  während  sie  nur  in  der  Form,  im 
Drama  entsteht«  (N.  G.  S.  301).  Scholz  definiert  sie  daher  kurz  als 
eine  Steigerung  5 der  dramatischen  Form  zum  höchsten  Formgehalt«.  — 
Wenn  wir  nun  bedenken,  daß  Form  nichts  anderes  ist,  als  die  restlose 
Entfaltung  ihres  Inhalts;  wenn  wir  uns  ferner  daran  erinnern,  daß  der 
Inhalt  des  Dramas  ein  Kampf  ist,  so  kann  der  Sinn  der  Definition  von 
Scholz  nur  der  sein:  die  Tragödie  ist  eine  Steigerung  des  dramatischen 
Kampfes  bis  zur  völligen  Auswegslosigkeit.  Hier  gibt  es  keine  schwan- 
kenden Möglichkeiten  mehr,  sondern  nur  noch  eherne,  unerbittliche 
Notwendigkeit. 

Worin  besteht  nun  diese  Auswegslosigkeit?  Welcher  Weg  führt 
zu  ihr? 

Wir  können  drei  Stufen  des  Tragischen  unterscheiden.  Nehmen 
wir  den  Fall:  Eine  Freundschaft  wird  durch  eine  Frau,  die  dazwischen 
tritt,  zertrümmert.  Heiligste  Bande  lösen  sich  unter  den  schmerzlichsten 
Erlebnissen,  die  Freunde  treten  sich  mit  der  Waffe  gegenüber  und  der 
überlebende  Sieger  nimmt  erschüttert  von  der  Geliebten  Besitz.  —  Man 
wird  hier  mit  Recht  bezweifeln,  ob  der  Zweikampf  das  letzte  Mittel 
und  der  Tod  die  einzige  Lösung  ist;  aber  die  meisten  Tragödien  halten 
sich  auf  dieser  ersten  Stufe. 

Über  ihr  steht  eine  zweite,  höhere  Auffassung.  »Überall,  wo  Freude 
und  Leid,  Glück  und  Unglück,  Jubel  und  Schmerz,  Erfüllung  und  Ver- 
lust in  eines  geschmiedet  sind,  aus  einer  Quelle  fließen,  unlöslich 
organisch  verbunden  beide  hingenommen  werden  müssen,  da  entsteht 
in  uns  der  Gefühlskonflikt,  den  das  Wort  ,tragisch'  bezeichnet« 
(G.  S.  lOf.).  Ein  erlauchtes  Beispiel  hiefür  ist  die  Tragödie  der 
Antigone.  Indem  diese  ihren  religiösen  Pflichten  und  schwesterlichen 
Gefühlen  genügt,  frevelt  sie  gegen  Kreons  Gebot.  Ihr  höchstes  Glück 
ist  zugleich  ihr  tiefstes  Unglück.  In  dem  Wirbel  der  Widersprüche, 
der  sie  umkreist,  bricht  sie  ohnmächtig  zusammen.  Aber  auch  hier 
ist  die  Notwendigkeit  noch  keine  unbedingte.  Der  Tod  streckt  von 
draußen  seine  Hand  nach  der  Heldin  aus;  innerlich  jedoch  ist  sie 
ungebrochen  und  ungebeugt.  Auch  dieser  typische  Fall  kann  daher 
noch  nicht  die  letzte  Erfüllung  der  Forderungen  bedeuten,  die  wir  an 
die  Tragödie  stellen.  Erst  wenn  die  Vernichtung  von  innen  heraus 
wächst,  wenn  der  Kampf  nicht  mehr  nur  die  äußeren  Verhältnisse, 
die  schließlich  immer  in  gewisser  Weise  vom  Zufall  beherrscht  sind, 
sondern  die  Seele  des  Helden  zerreißt,  erst  dann  ist  jener  Grad  von 
Notwendigkeit  erreicht,  der  zur  völligen  Auswegslosigkeit  führt. 

Wir  kommen  damit  zur  dritten  Stufe:  zur  Lehre  vom  sich-selbst- 


80  HEINRICH  MERK. 


setzenden  Konflikt.  »Zwei  Momente  kennzeichnen  die  Antithesen  des 
sich-selbst-setzenden  Konflikts:  die  innere  Nähe  zueinander  und  ihre 
Unvereinbarkeit,  ihr  unlöslicher  Zusammenhang  in  der  Vorstellung,  in 
der  sie  einander  immer  erzeugen,  und  das  Beruhen  ihrer  Verwandt- 
schaft in  ihrer  ewigen  Urfeindschaft«  (N.  G.  S.  68).  Das  Drama  wurde 
bereits  als  Gegensatz  zur  Wirklichkeit,  als  Vorstellungskunst  erkannt. 
Nur  unter  dieser  Voraussetzung  ist  die  wahre  Tragödie  überhaupt 
denkbar.  Aus  dem  ursprünglichen  Stoff  muß  alles,  was  der  restlosen 
Entfaltung  der  tragischen  Möglichkeiten  widerstrebt,  herausgelöst  und 
ausgeschaltet  werden.  Der  Formwille  des  Dichters  erst  schafft  das 
Problem,  schafft  eine  neue  Wirklichkeit,  die  mit  der  alten  vielleicht 
noch  ein  paar  Namen  oder  eine  spärliche  Handlung  gemein  hat.  Wir 
können  hier  auch  von  einer  dramatischen  Stilisierung  sprechen.  »Alle 
Zufallsschranken,  die  die  großen  Gegensätze  im  Leben  trennen  und 
einen  Konflikt  zwischen  ihnen  verhindern,  räumt  der  Gedanke  hinweg. 
Die  Dinge,  die  im  Leben  durch  breiten  Raum  jeder  Art  getrennt  sind, 
die  aber  in  der  Seele  des  die  Breite  des  Lebens  überschauenden  Dra- 
matikers kraft  ihrer  inneren  Verwandtschaft,  kraft  der  ewigen  und  rätsel- 
haften Verwandtschaft,  die  in  jeder  Gegensätzlichkeit  liegt,  in  Oedanken- 
nähe  zusammentreten  können  und  dadurch  in  Konflikt  geraten,  erzeugen 
das  Drama,  das  dann  aus  einem  für  unser  Vorstellen  nicht  mehr  aus- 
schaltbaren Konflikt  hervorgeht«  (ebenda).  Scholz  spricht  mit  guten 
Gründen  von  einer  Wesensnähe  der  Antithesen,  denn  die  eine  ver- 
dankt der  anderen  ihre  Entstehung.  Und  er  spricht  mit  dem  gleichen 
Rechte  von  ihrer  ewigen  Urfeindschaft,  denn  die  eine  jagt  die  andere 
aus  dem  Bewußtsein.  Der  Wille  des  Dramatikers  aber  zwingt  sie  zu 
einem  Nebeneinander  und  zwingt  sie  so  kraft  ihrer  inneren  Unverein- 
barkeit zum  Konflikt.  Der  im  höchsten  Sinne  tragische  Fall  ist  etwas 
zeitlich  Unbedingtes;  er  darf  nicht  erst  durch  eine  bestimmte  äußere 
Situation  oder  besondere  Zeitverhältnisse  geschaffen  werden.  Die  Tra- 
gödie wird  daher  von  Scholz  gelegentlich  auch  bezeichnet  »als  ein 
zeitloses,  rein  aus  unserem  in  Antithesen  erlebenden  Geiste  hervor- 
gehendes Urphänomen,  das  aus  jeder  Art  objektiver  Wirklichkeit  nur 
das  Gewand  für  die  subjektivsten  aller  Vorstellungsgeschehnisse  nimmt« 
(N.  G.  S.  301).  Das  Musterbeispiel  für  diesen  Konflikt  und  zugleich 
ein  ragendes  Denkmal  der  großen  Tragödie  ist  Schillers  »Wallensteinc. 
»Macht  und  Ohnmacht,  Herr  und  Diener  sein,  bis  zur  Stärke  der  Idee 
ausgeprägt  und  in  einen  Menschen  gebunden,  führt  notwendig  einen 
Konflikt  mit  sich,  beide  Gegensätze  zerzerren  den  Menschen,  der  in 
ihnen  auf  die  Dauer  nicht  leben  kann.  Dieser  sich-selbst-setzende 
Konflikt  reiner  Gegensätze  ist  der  Konflikt  des  ,Wallenstein':  Der  macht- 
lose Herr  und  der  übermächtige   Diener«  (N.  G.  S.  6Q).    Wenn  wir 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  81 

unter  der  Idee  im  Drama  das  schöpferische  Prinzip  verstehen,  aus  dem 
heraus  das  Geschehen  sich  entwickelt,  so  ist  l<lar,  daß  für  Scholz  der 
sich-selbst-setzende  Konflikt  mit  der  dramatischen  Idee  zusammenfällt. 
Wir  behandeln  hier  nicht  alle  Fragen,  die  mit  diesem  Problem  in  Zu- 
sammenhang stehen;  nur  die  Grundfragen  sollen  uns  beschäftigen. 
Mit  der  Auswegslosigkeit  allein  ist  es  noch  nicht  getan,  denn  diese 
könnte  an  sich  auch  komische  Wirkungen  hervorbringen.  Darum  ist 
es  wichtig,  die  Bedingungen  zu  kennen,  die  den  Konflikt  zum  tragischen 
Konflikt  machen.  »Eine  Tragödie«  —  heißt  es  in  dem  Hebbel- Essay 
(H.  43)  —  »kann  nur  da  entstehen,  wo  tief  berechtigte  Dinge,  also 
letzte  ethische  Werte,  in  Gegensatz  geraten:  nur  in  der  Region  des 
Allgemein-Menschlichen.  Denn  nur  die  Mächte,  die  ihr  Recht  dort 
beweisen  können,  sind  als  berechtigt  im  höchsten  Sinn  —  wie  es  die 
Tragödie  erfordert  —  anzuerkennen.«  Von  diesem  Standpunkt  aus 
kommt  Scholz  zur  Ablehnung  der  »bürgerlichen  Tragödie« :  Ihr  Wesen 
bestehe  darin,  daß  ihre  Konflikte  einzig  und  allein  in  der  Welt  des 
Bürgerlichen  möglich  sind,  daß  sie  nicht  allgemein-menschliche  Probleme, 
sondern  nur  »Fälle«  darstellen  (vgl.  H.  S.  42  ff.).  Daß  Scholz  das  All- 
gemein-Menschliche so  entschieden  in  den  Mittelpunkt  rückt,  liegt 
hauptsächlich  darin,  daß  dieses  in  seiner  höchsten  Ausprägung  das 
allein  Wertvolle  darstellt.  Wir  können  daher  auch  sagen:  Der  tragische 
Konflikt  ist  an  die  Entfaltung  des  Wertvollen  im  Menschen  gebunden. 
Damit  kommen  wir  zur  letzten  grundlegenden  Bestimmung  des  Tragi- 
schen. »Die  seltsame,  schicksalsvoll-ursächliche  Zusammenschweißung 
eines  Wertes  und  eines  Unterganges  ist  das  unbedingte  Erfordernis 
der  Tragödie«  (H.  S.  40).  Scholz  verlangt  schlechthin,  »daß  ein  wert- 
voller Mensch  gerade  in  seinem  Werte  Grund  und  Anlaß  seines  Unter- 
ganges trägt«.  »Allein  wertvolle  Menschen  können  in  die  großen 
Konflikte  geraten.  Und  erst  in  den  großen  Konflikten  entsteht  und 
bewährt  sich  ihr  Wert.  Hier  haben  wir  das  typische  Epigramm« 
(G.  S.  11).  Scholz  bewegt  sich  mit  diesen  Gedanken  in  den  Bahnen 
idealistischer  Denker,  die  es  als  ein  Vorrecht  großer  Seelen  betrachten, 
schuldig  zu  werden.  Nur  der  unbedeutende  Mensch  ist  nach  dieser 
Anschauung  vor  solchen  Konflikten  geschützt.  Hier  ist  vielleicht  der 
Punkt,  wo  die  Ableitung  des  Tragischen  aus  dem  Dramatischen  nicht 
mehr  restlos  gelingt,  wo  die  großen  Weltanschauungsfragen  in  den 
Umkreis  irdischer  Dinge  und  Vorgänge  hereinragen. 

V. 

Die  Technik  des  Dramas,  der  wir  uns  in  diesem  Schlußabschnitt 
zuwenden,  hat  die  Aufgabe:  »die  volle  Erfüllung  aller  unabweisbaren 
Forderungen,  die  der  Stoff  stellt,  zu  ermöglichen«  (G.  S.  17).    Die  erste 

ZdtKhr.  f.  Ästhetik  u.  alle.  Kunstwisjenschaft.    XIV.  6 


82  HEINRICH  MERK. 


dieser  Forderungen  lautet:  Am  Anfang  ist  die  Situation.  —  Die  Situa- 
tion fordert  die  Ciiaralttere  zur  Willensbetätigung  heraus  und  umschreibt 
das  Gebiet  ihres  Handelns,  sie  ist  das  Gegebene,  die  Voraussetzung, 
für  die  der  Charakter  des  Möglichen  und  nicht-ailzu-Entlegenen  genügt« 
(G.  S.  3).  Scholz  bezeichnet  es  als  einen  »Irrtum,  anzunehmen,  die 
Handlung  eines  Dramas  entwickle  sich  aus  dem  Charakter  des  Helden« 
(O.  S.  4).  Sobald  eine  Situation  da  ist,  führt  sie  ein  selbständiges  Dasein, 
und  der  Held  des  Dramas  hat  sich,  selbst  wenn  er  sie  geschaffen 
haben  sollte,  mit  ihr  auseinanderzusetzen.  Beide  zusammen  bilden  den 
Ausgangspunkt,  die  Aufgabestellung.  »Ein  Schicksal,  weiches  das 
Letzte  aus  einem  Charakter  herausreißt;  ein  Charakter,  welcher  not- 
wendig Schicksal  auf  sich  zieht.  Ein  Schicksal  und  ein  Charakter,  die 
aneinander  erst  sichtbar  werden,  die  voneinander  nicht  zu  trennen  sind 
(N.  O.  S.  28).  Auch  diese  Aufgabestellung  wird  unter  die  Perspektive« 
der  Notwendigkeit  genommen.  »Man  lehnt  sehr  zufällig  und  willkür- 
lich gestellte  Aufgabjen  ab,  als  ohne  Interesse  bei  ihrer  Seltenheit  und 
Vereinzelung.  Man  verlangt  eine  typische  oder  wesentliche  Aufgabe- 
stellung. Sie  ist  die  Grundlage  mehrerer  großen  Dramen,  bei  denen 
ein  Gefühl  von  Notwendigkeit  erwacht,  weil  sie  ständigen,  sich  immer 
wiederholenden  Problemen  nachgebildet  sind«  (N.  G.  S.  67).  Notwen- 
digkeit heißt  danach  hier  nichts  anderes  als:  Probleme  aufstellen,  in 
denen  sich  das  Leben  eines  Individuums,  einer  Zeit,  zur  höchsten 
Fülle  steigert;  heißt:  Symbole  schaffen.  »Ein  einmaliges  Besonderes 
drückt  das  sich  ewig  Wiederholende,  Allgemeine  —  nur  nach  irgend- 
einer seiner  wesentlichen  Seiten  verstärkt  und  deutlicher  gemacht  — 
aus.  Es  wird  ein  Epigramm  auf  dieses  Allgemeine«  (N.  O.  S.  212). 
Hier  beginnt  bereits  der  Streit  der  Meinungen,  den  keine  Theorie  und 
Dramaturgie  aus  der  Welt  schaffen  wird.  Je  tiefer  ein  Dichter  seine 
Probleme  sucht,  umso  schwerer  wird  es  sein,  ihm  zu  folgen.  Hebbels 
dramatische  Ideen  galten  bei  seinen  Zeitgenossen  für  erklügelt.  Das 
Typische  darf  eben  mit  dem  Landläufigen  nicht  verwechselt  werden  — 
man  würde  damit  der  künstlerischen  Eigenart  nicht  gerecht. 

Die  Aufgabestellung  ist  von  der  sogenannten  Exposition  wohl 
zu  unterscheiden;  sie  ist  mehr  als  diese,  sie  umfaßt  im  Keime  das 
ganze,  noch  unausgeführte  Drama.  Die  Exposition  hingegen  enthält 
nur  die  Summe  der  zeitlichen,  örtlichen  und  persönlichen  Verhältnisse, 
unter  denen  die  dramatische  Handlung  einsetzt  und  sich  entwickelt. 
Sie  ist  also  lediglich  eine  technische  Frage.  Die  Exposition,  lehrt 
Scholz,  teilt  sich:  >sie  geht  in  den  starken  Mittelstrom  der  Handlung 
über,  aber  sie  löst  sich  nicht  ganz  in  ihm  auf;  es  geht  auch  ein  Blei- 
bendes (oder  ein  sich  Entwickelndes)  aus  ihr  hervor,  das  Expositions- 
charakter, d.  h.  aufgabestellenden  Charakter  behält,  das  die  Handlung 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  83 


umschließt  und  immer  wieder  bedingt.  Fast  überall  läßt  sich  die  feine 
Grenze  zwischen  dem  eigentlichen,  körperhaften,  stark  erlebten  Drama 
und  der  als  gegeben  hingenommenen  Forlführung  der  Exposition,  der 
Aufgabe  auffinden«  (O.  S.  18).  Die  Exposition  ist  der  Hintergrund 
des  dramatischen  Geschehens,  der  größere  Zusammenhang,  in  den 
dieses  als  Teil  des  Ganzen  hineinwächst.  Ein  Werk,  dessen  Elemente 
sich  nicht  in  einer  höheren  Einheit  zusammenfinden,  ist  nicht  lebens- 
fähig, ist  mit  den  Kennzeichen  des  Zerfalls  behaftet. 

Im  Dienste  der  Einheit  des  Dramas  steht  vor  allem  die  berühmte 
Lehre  von  den  drei  Einheiten.  Sie  wird  zu  den  Grundproblemen  der 
Dramaturgie  gerechnet  —  und  teilweise  mit  Recht.  Aber  sie  wird 
insofern  doch  zu  hoch  eingeschätzt,  als  man  in  ihr  eine  Einsicht  in 
das  Wesen  des  Dramas  zu  besitzen  glaubte.  Das  gibt  sie  uns  zweifellos 
nicht;  sie  gehört  nur  zur  Technik.  Scholz  nimmt  zu  diesem  Problem 
in  folgender  Weise  Stellung:  »In  den  alten  umstrittenen  Einheiten  kann 
ich  nichts  anderes  sehen,  als  ein  Verlangen  nach  deutlich  zusammen- 
hängender Handlung  ohne  spannung-zerreißende  epische  Unterbrechung. 
In  diesem  Sinne  haben  sie  hohe  Berechtigung.«  Freilich  wird  auch 
betont,  daß  durch  die  Einheit  der  Handlung  die  Einheit  von  Ort  und 
Zeit  ersetzt  werden  kann.  Das  hängt  aber  ganz  allein  von  der  Kunst 
des  Dichters  ab.  Wenn  die  Handlung  nach  einem  Vorhangfall  nicht 
unmittelbar  an  das  Vorangegangene  anknüpft,  darf  nur  ein  Stück  selbst- 
verständlicher Entwicklung  überschlagen  werden,  die  der  Zuschauer 
schon  kommen  sah,  ehe  der  Vorhang  fiel,  in  die  sich  die  neue  Situation 
sofort,  nach  wenigen  Worten,  deutlich  einrichtet«  (G.  S.  19).  Die  Folge 
aller  Erzählungen,  Schilderungen  und  Berichte  ist  ein  Loslassen  der 
dramatischen  Spannung,  die  »der  Zuschauer  neu  knüpfen  muß:  an 
solchen  Stellen  wird  stets  der  Gewinn  der  vorangegangenen  Steige- 
rungen verloren«  (ebenda).  Diese  Spannungslösung  ist  auf  eine  Tat- 
sache zurückzuführen,  die  wir  bereits  kennen:  Am  dramatischen  Ge- 
schehen nehmen  wir  unmittelbar  teil;  bei  der  Erzählung  aber  hören 
wir  bloß  zu.  Damit  sind  natürlich  nicht  alle  epischen  Elemente  aus 
dem  Drama  verbannt;  sondern  nur  solche,  wodurch  Lücken  ergänzt 
werden  sollen. 

Die  Lehre  von  der  Einheit  der  Handlung  erfordert  noch  eine 
gesonderte  Betrachtung.  Dieses  Prinzip  sagt  nicht,  daß  es  im  Drama 
nur  eine  einzige  Handlung  geben  dürfe.  In  der  Tragödie,  die  die 
Gegensätze  braucht,  wird  es  meist  ohne  Mehrheit  von  Handlungen 
nicht  abgehen.  Die  ^Einheit«  bekommt  dann  den  Sinn  von  -Einheit- 
lichkeit«. In  dieser  Bedeutung  wird  sie  durch  den  Begriff  der  Not- 
wendigkeit wesentlich  ergänzt.  Die  wichtigste  Forderung  ist  dabei, 
»daß   die  dargestellten   Vorgänge    einander  deutlich    und  ausreichend 


84  HEINRICH  MERK. 


bedingen,  daß  das  Gefühl  der  Lückenlosigkeit  dieses  Sichbedingens 
sich  bis  zur  Einsicht  in  sie  steigert«  (N.  O.  S.  66).  Scholz  bezeich- 
net dies  auch  als  »Notwendigl<eit  des  Ablaufs«.  Die  Betrachtung 
dieses  Problems  greift  bereits  über  in  das  Gebiet  der  dramatischen 
Kausalität.  Von  einer  Kausalität  spricht  man  nur,  wo  es  Veränderungen 
gibt.  Jede  Veränderung  aber,  die  Ausdruck  einer  Willenstätigkeit  ist, 
nennt  man  Handlung.  Die  dramatische  Kausalität  setzt  daher  den 
Begriff  der  Handlung  voraus. 

Man  unterscheidet  in  herkömmlicher  Weise  zwischen  einer  stei- 
genden und  sinkenden  Handlung.  Die  sinkende  Handlung  ist  die  »nur 
aus  sich  selbst  weiterlaufende,  keine  Expositionsmomente  mehr  ent- 
haltende, gewissermaßen  in  den  Flammen  der  Konsequenzen  auf  ihrem 
Wege  bis  zum  Ende  des  Dramas  die  Exposition  verbrennende  Hand- 
lungf.  »Wie  die  Schönheit  der  sinkenden  Handlung  zweifellos  Not- 
wendigkeit ist,  so  ist  die  Schönheit  der  steigenden  Handlung  möglichst 
früh  vorhandene  und  möglichst  früh  sichtbare  Einheit . . .  Diese  Einheit 
und  Ordnung  ist  gewissermaßen  die  unumgängliche  Vorstufe  jener 
Konzequenz,  sie  ist  die  beginnende  Konzentration  auf  den  ringsum  be- 
dingten Zwangsschlußlauf  der  Handlung.  Nur  wenn  von  der  Mitte 
des  Stückes  aus  alles  Weitere  lediglich  Folgerung  ist,  nirgends  mehr 
der  Erklärung  bedarf,  tritt  das  hochgesteigerte  dramatische  Miterleben 
des  Zuschauers,  die  Wirkung  ein«  (H.  S.  23).  Es  ist  das  Grund- 
gebrechen vieler  Werke,  daß  die  Gegensätze  zu  spät  in  jene  unverein- 
bare Einheit  zusammengepreßt  werden,  aus  der  die  großen  Katastrophen 
hervorgehen.  Die  Vorbereitung,  die  Schaffung  des  Konflikts  nimmt 
zu  viel  Raum  in  Anspruch,  so  daß  für  das  eigentliche  Drama  nichts 
mehr  übrig  bleibt;  es  erscheint  meist  nur  noch  als  ein  dürftiger  Anhang 
zu  einer  großen,  gegenstandslosen  Aufmachung.  Sobald  aber  jene 
Einheit  hergestellt  ist,  darf  kein  neues  Moment  mehr  entscheidend  in 
die  Ereignisse  eingreifen.  Dadurch  würde  das  Gewebe  wieder  zerstört 
und  müßte  neu  geflochten  werden.  Auch  dagegen  wird  nicht  selten 
gefehlt.  Die  Handlung  stockt,  die  Bewegungskraft,  die  in  der  vor- 
handenen Einheit  wirkt,  ist  oft  nicht  stark  genug,  um  das  Ende  herbei- 
führen zu  können.  Neue  Kräfte  müssen  einsetzen,  damit  der  tote  Punkt 
überwunden  wird.  Oft  aber  erschöpft  sich  das  schöpferische  Unver- 
mögen auch  in  Gefühlsaussprachen  und  lyrischen  Stimmungsbildern. 
—  Die  lückenlose  Führung  der  Handlung,  von  der  wir  ausgegangen 
sind,  ist  kein  besonderes  Kennzeichen  des  Dramas;  auch  die  epische 
Darstellung  fordert  sie.  Der  Unterschied  besteht  nur  in  der  Art  und 
Weise,  wie  diese  Lückenlosigkeit  erreicht  wird.  Wilhelm  v.  Humboldt 
sieht  —  von  Goethe  und  Schiller  kommend  —  im  Drama  eine  Linie, 
während  das  Epos  den  Eindruck  des  Flächenhaften  hervorrufe.    Von 


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WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  85 

einem  anderen  Standpunkte  aus  müssen  wir  diesen  Satz  in  sein  völliges 
Gegenteil  verkehren:  Das  Auge,  das  sich  von  der  Gegenwart  der  Ver- 
gangenheit zuwendet,  erschaut  alles  als  eine  Linie,  in  der  sich  die 
Ereignisse  in  einem  Nacheinander  bewegen,  Scholz  spricht  daher  bei 
der  epischen  Kausalität  schlechthin  von  einer  »Kausalität  in  einer  Linie« 
Der  Dramatiker  aber,  der  in  der  Gegenwart  lebt,  sieht,  wie  die  Fäden 
von  dort  und  hier  zusammen  laufen,  wie  sich  von  allen  Seiten  Gegen- 
sätze entwickeln  und  sich  den  Raum  streitig  machen.  »Die  eigentliche 
dramatische  Kausalität  zeigt  das  Werden  und  Wachsen  eines  Gescheh- 
nisses aus  mehreren,  einander  teilweise  oder  gänzlich  widerstrebenden, 
sich  begegnenden  oder  auseinandergehenden  Willen,  als  ein,' so  wie 
es  wird,  Ungewolltes,  Naturnotwendiges  . . .  Vom  bühnentechnischen 
Standpunkt  aus  gesehen,  ist  jede  andere  als  eine  im  Sinne  des  Epos 
unberechenbare  Handlung  langweilig  und  ermüdend.  Denn  nicht  das 
gut  Vorbereitete  überhaupt,  sondern  die  gut  vorbereitete  Überraschung 
ist  dramatisch«  (H.  S.  6Q  f.).  Damit  haben  wir  unsere  frühere  Unter- 
scheidung zwischen  Epos  und  Drama  von  der  technischen  Seite 
her  nicht  unwesentlich  ergänzt;  zugleich  werden  wir  auf  das  wich- 
tigste Mittel  der  Kausalität  hingewiesen:  auf  die  Motivation.  Hebbel 
bemerkt:  »Das  Notwendig-bringen,  aber  in  der  Form  des  Zufälligen: 
das  ist  das  ganze  Geheimnis  des  dramatischen  Stils.«  Diese  Idee 
gehört  auch  für  Scholz  zu  den  Grundpfeilern  des  Dramas.  »Man  hat 
,dramatisch'  definiert  als  gut  vorbereitet.  Schon  Lessing  hat  die  Über- 
raschung im  Drama  bekämpft.  Die  psychologisch  schärfste  Analyse 
findet  aber  in  allen  dramatisch  wirkenden  Momenten  einen  gewissen 
Gehalt  an  Überraschung«  (Die  Schaubühne  1905,  S.  115).  Die  Über- 
einstimmung mit  Hebbel  wird  noch  deutlicher,  wenn  wir  bedenken, 
daß  Überraschung  letzten  Endes  nichts  anderes  ist  als  das  Erlebnis 
eines  Zufälligen.  So  können  wir  auch  hier  beobachten,  wie  Zufall  und 
Notwendigkeit  überall  ineinander  überfließen.  Scholz  lehnt  die  Psycho- 
logie als  Grundlage  des  Dramas  ab.  »Psychologische  Richtigkeit  eines 
Motivs  ist  für  die  Bühnenwirkung  zunächst  gänzlich  belanglos;  sie 
erzeugt  im  Zuschauer  kaum  mehr  als  ein  halb  wissenschaftliches  Bei- 
stimmen, eine  bejahende  Kritik  der  Erfahrung«  (G.  S.  25).  »Alles  Psycho- 
logische ist  nur  wie  eine  Farbe  an  einem  Bau.  Der  Bau  muß  fest 
und  sicher  stehen  auch  ohne  diese  Farbe«  (G.  S.  23).  Am  schärfsten 
wird  diese  antipsychologistische  Anschauung  ausgeprägt  in  dem  Apho- 
rismus: »Psychologisch  motivieren  und  dramatisch  motivieren  sind 
Gegensätze«  (Schaubühne  1905,  S.  115).  Der  Sinn  dieser  Worte  ist 
folgender:  Bei  der  psychologischen  Motivierung  gelangen  wir  zur 
Erkenntnis:  es  mußte  so  kommen  und  daher  überrascht  es  uns  nicht. 
Bei  der  dramatischen  Motivierung  aber  sagen  wir:  es  mußte  so  kom- 


86  HEINRICH  MERK. 


men  und  trotzdem  überrascht  es  uns.  Die  hier  dargelegte  Lehre  hat 
also  mit  den  Gedanken,  die  ihr  Joh.  Volkelt  in  seiner  »Ästhetik« 
(III.  124)  unterlegt,  nichts  zu  tun. 

Es  ist  nur  eine  letzte  Konsequenz  seiner  Orundanschauungen, 
wenn  Scholz  erklärt:  »Alles  ist  im  Drama  auch  ohne  ausdrückliche 
Motivierung  und  Vorbereitung  möglich,  was  wie  Schicksal  empfunden 
wird,  was  den  sonderbar  packenden  Charakter  bestimmter  persönlicher 
Züge  im  unbestimmten  unpersönlichen  Kräftechaos  hat  —  wie  sich 
für  Augenblicke  gestaltende  Umrisse  eines  Kopfes,  einer-  Hand  im 
treibenden  Gewölk.  Der  Dramatiker  wird  ein  schlechter  Dichter  sein, 
wenn  das  Schicksal  nicht  mitten  in  jedem  seiner  Werke  steht« 
(O.  S.  20).  Für  die  technische  Behandlung  des  Motivs  ist  besonders  die 
Tatsache  der  psychischen  Einreihung  oder  Ausgleichung  bedeutsam. 
Die  Seele  nimmt  die  empfangenen  Eindrücke  nicht  einfach  passiv  hin, 
sondern  sucht  sie  einzugliedern  in  den  Kreis  der  Dinge,  die  sie  be- 
beschäftigen. In  jeder  Erfahrung  liegt  neben  dem  rezeptiven  auch  ein 
aktives  Moment,  eben  diese  Durchdringung  des  einzelnen  Eindrucks 
mit  den  Gesetzen  der  individuellen  Eigenart  und  Beschaffenheit.  >Die 
Seele  vollzieht  nun  diese  Ausgleichung  völlig  im  Dunkeln,  ohne  daß 
etwas  ins  klare  Bewußtsein  tritt,  ja  ohne  daß  der  Gedanke  das  zu 
Tuende,  nachdem  es  einmal  in  die  Seele  hineingeglitten  ist,  mehr  zu 
berühren  braucht.«  »Für  das  Drama  bedeutet  diese  seelische  Tatsache: 
daß  aus  Gründen  psychologischer  Richtigkeit  jedes  neue  Motiv  dunkle 
Zeit  in  den  Seelen  der  Gestalten  braucht,  um  sich  in  ihren  Ideenkreis 
einzureihen  —  und  ebenso,  aus  Gründen  der  Wirkung,  im  Zuschauer 
einmal  untersinken  muß,  um  von  ihm  angeglichen  zu  werden.  Auch 
das  heißt:  Vorbereitung  im  Drama«  (N.  G.  S.  2312). 

Wir  sehen  hier  an  einem  treffenden  Beispiel,  wie  Scholz  ständig 
auf  die  Grundtatsachen  des  Seelenlebens  zurückgreift,  wie  er  durch 
wissenschaftliche  Erkenntnisse  das  Schaffen  des  Künstlers  zu  befruchten 
sucht.  Der  schöpferische  Genius  braucht  zwar  diese  Hilfsmittel  nicht, 
aber  auch  er  kann  sie  brauchen,  wenn  er  sie  auch  nicht  immer  ge- 
hrauchen kann.  —  Wir  haben  bisher  das  Motiv  hauptsächlich  als 
psychische  Tatsache  betrachtet;  es  ist  aber  noch  eine  andere,  und 
zwar  die  eigentlich  dramaturgische  Betrachtungsweise  möglich,  ob- 
wohl auch  sie  letzten  Endes  psychologisch  fundiert  ist.  Die  Be- 
deutung des  Motivs  besteht  —  wie  schon  der  Name  sagt  —  darin, 
das  menschliche  Handeln  vorwärts  zu  bewegen  und  so  die  Handlung 
zum  Konflikt  zu  steigern.  Motiv  und  Konflikt  gehören  zusammen. 
Es  ist  nun  wichtig,  das  innere  Verhältnis  zwischen  diesen  beiden 
Elementen  des  Dramas  zu  erfassen.  Was  ist  ursprünglicher:  das  Motiv 
oder  der  Konflikt?   Vom  Zuschauer  aus  gesehen,  ist  es  das  Motiv, 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS.  87 

vom  Dramaliker  aus  der  Konflikt.  In  seinen  früheren  Schriften  formu- 
lierte Scholz  seine  Anschauung  mehr  vom  Zuschauer  aus.  »Es  gilt, 
für  jedes  Motiv  den  wesentlichen  Konflikt  zu  finden,  der  es  am  klarsten 
ausdrückt,  der  am  wenigsten  fremder  Zutaten  bedarf,  um  zu  entstehen« 
(H.  S.  61).  Später  änderte  er  seinen  Standpunkt,  womit  natürlich  nicht 
gesagt  ist,  daß  er  auch  seine  Auffassung  geändert  hätte.  Er  geht  nun- 
mehr von  der  Mitte  des  Dramas,  der  Idee,  aus,  um  die  Aufgabe  der 
Motive  zu  bestimmen.  Er  weist  dabei  vor  allem  auf  die  Bedeutung 
des  sich-selbst-setzenden  Konfliktes  hin,  der  ja  schließlich  das  Wesen 
der  dramaturgischen  Idee  ausmacht.  Er  stellt  hier  die  Forderung  auf: 
daß  alle  wichtigen  Momente,  die  den  Ablauf  bedingen,  aus  den  beiden 
Orundgegensätzen  des  sich-selbst-setzenden  Konfliktes  hervorgehen, 
daß  sie  diese  Antithese  spiegeln  müssen«  (N.  O.  S.  70).  Dieses  Postulat 
wird  verständlich,  wenn  man  bedenkt,  daß  die  Idee  kein  abstraktes, 
theistisch-abgeschiedenes  Dasein  führt,  sondern  als  die  Seele  des  Kunst- 
werkes in  dem  voll  entfalteten  Drama  in  die  Erscheinung  tritt.  Ein 
Motiv,  das  nicht  aus  diesem  schöpferischen  Ursprung  hervorgeht, 
gehört  daher  nicht  in  das  Drama  hinein;  es  ist  ein  Fremdkörper,  der 
dessen  organische  Einheit  zerstört.  »Der  Konflikt  steht  so  sehr  im 
Herzen  des  Dramas,  daß  das  ganze  Werk,  soweit  es  von  Blut  durch- 
pulst wird,  von  ihm  erfüllt  ist . . .  daß  ein  neues  Moment  der  Hand- 
lung immer  dann  überzeugt  und  voll  begründet  erscheint,  wenn  es 
sich  auf  eine  der  beiden  Gegenmächte  des  Grundkonfliktes  stützt« 
(N.  G.  S.  19).  Begriff  und  Eigenart  des  dramatischen  Konflikts  selbst, 
seine  besonderen  Merkmale  usw.  wurden  bereits  ausführlich  behandelt. 
Hier  handelt  es  sich  nur  noch  um  einzelne  Bestimmungen,  die  weniger 
das  Wesen  als  die  Gestaltung  betreffen;  um  Probleme  also,  die  man 
mit  Recht  zur  Technik  des  Dramas  rechnet.  »Der  Konflikt  bedingt 
im  Helden  nicht  ein  langes,  bewußtes  Schwanken,  sondern  setzt  nur 
ein  schweres,  von  den  Hemmungen  des  Zwiespalts  beengtes  Handeln 
voraus.  Das  Zaudern  des  tragischen  Helden  ist  vielleicht  nicht  einmal 
ein  Zweifeln,  sondern  nur  ein  in  Qualen  vor  sich  gehendes  Wachsen 
des  siegenden  Willens  über  den  unterdrückten«  (N.  G.  S.  IQ).  Der 
Konflikt  ist  kein  Zustand  zaudernder  Überlegung,  mag  diese  auch  noch 
so  schmerzlich  sein,  sondern  Kraftentfaltung  und  -entladung,  die  durch 
die  »Wucht  der  in  ihr  gebundenen  Gegensätze«  (N.  G.  S.  225)  für  das 
Drama  fruchtbar  wird.  »In  der  großen  Leidenschaft  wird  das  Handeln 
des  Menschen  schicksalhaft.  Es  wird  von  den  aufgeregten  Urkräften 
getragen  wie  vom  Sturm.  Der  Wille  wird  ein  dahingerissenes  Ge- 
schehen« (N.  G.  S.  223).  Hier  ist  das  höchste  Ziel  dichterischer  Wahr- 
heit erreicht.  Der  Zuschauer  fragt  nicht  mehr  nach  der  Möglichkeif 
Wahrscheinlichkeit  oder  Notwendigkeit  der  Handlung.     »Die  Illusion 


88  HEINRICH  MERK. 


ist  ein  Erzeugnis  seiner  Erregung«  (N.  G.  S.  21 Q).  Als  eine  der  tiefsten 
dicilterischen  Wirkungen  wird  hervorgehoben,  wenn  »der  Held  selbst 
an  das  schlummernde  Verderben  rührt,  so  daß  es  erwacht  und  über 
ihn  hereinbricht«  (N.  G.  S.  226).  Hier  ist  eben  mehr  als  ein  mensch- 
liches Handeln;  hier  ahnen  wir  ein  Schicksal.  Jeder  große  Konflikt 
ist  Schicksalsfügung,  jede  große  Tragödie  Schicksalstragödie.  —  Vom 
Schluß  des  Dramas  verlangt  Scholz,  daß  er  wirklich  ein  Abschluß  sei. 
Darum  lehnt  er  z.  B.  den  Ahasverstoff  als  ungeeignet  für  das  Drama 
ab.  Diese  Sage  verliere  sich  im  Endlosen;  was  dargestellt  werden 
könne,  sei  demgegenüber  nur  eine  unscheinbare  Episode  (vgl.  G.  S.  Q4). 
Beachtenswert  ist  ferner  die  Bemerkung,  daß  der  Selbstmord  als  tra- 
gischer Abschluß  verfehlt  sei.  »Ihm  mangelt,  da  der  Selbsterhaltungs- 
trieb als  stärkste  Lebensmacht  nur  sehr  bedingt  künstlerisch  als  über- 
wunden dargestellt  werden  kann,  fast  immer  die  überzeugende  innere 
Notwendigkeit.  Die  Willenskunst  vermag  die  Aufhebung  des  Lebens- 
willens mit  ihren  Mitteln  schlechthin  nicht  zu  geben  und  kann  sie  nur 
beiläufig  darstellen,  indem  sie  den  Willen  auf  etwas  richtet,  dem  diese 
Aufhebung  des  Selbst  notwendiges  Mittel  ist:  das  Sich-opfern«  (H.  S.  40). 


Wir  haben  uns  in  dieser  Übersicht  hauptsächlich  darauf  beschränkt, 
die  grundsätzlichen  Gedanken  aus  den  Schriften  von  Scholz  hervor- 
zuheben und  in  einen  systematischen  Zusammenhang  zu  bringen. 
Aufgabe  des  Kritikers  wird  es  sein,  den  Wert  und  die  Berechtigung 
solcher  Konstruktionen  zu  prüfen.  Er  wird  vor  allem  die  Frage  nach 
der  Bedeutung  dieser  Theorien  für  das  künstlerische  Schaffen  und 
ästhetische  Erkennen  untersuchen.  Die  wissenschaftliche  Forschung 
betätigt  sich  meist  in  der  Sphäre  allgemeiner  Grundlegungen;  sie  bildet 
die  wichtigsten  Elementarbegriffe,  befaßt  sich  mit  dem  Wesen  der 
ästhetischen  Erkenntnis  (Intuition,  Einfühlung),  stellt  Formalprinzipien 
auf  usw.  So  unerläßlich  diese  Dinge  an  sich  auch  sind,  bei  der  Beur- 
teilung des  einzelnen  Werkes  leisten  sie  nur  geringe  Dienste.  Die 
Ästhetik  ist  eben  zum  größten  Teil  Prinzipienwissenschaft  in  dem 
Sinne,  in  dem  Wundt  diesen  Begriff  nimmt  (Wundt,  Naturwissenschaft 
und  Psychologie  S.  IIQ).  Wie  nun  der  Naturforscher  aus  einem  metho- 
dologischen Prinzip  keine  naturwissenschaftlichen  Entdeckungen  ab- 
leiten kann,  ebensowenig  kann  der  Kritiker  den  Wert  eines  Dramas 
feststellen.  Schließlich  ist  das  auch  gar  nicht  der  Zweck  von  Prin- 
zipien. Sie  sollen  nicht  Erkenntnis  unmittelbar  hervorbringen,  sondern 
die  Bedingungen  ermitteln,  unter  denen  Erkenntnis  möglich  ist.  Eine 
Ästhetik,  die  sich  damit  zufrieden  gäbe,  würde  gar  bald  die  Fühlung 
mit  der  Kunst  verlieren;  sie  würde  sich  selbst  zur  Unfruchtbarkeit 
verurteilen.    Es  wird  deshalb   immer  ihre  vornehmste  Aufgabe  sein. 


WILHELM  VON  SCHOLZ  ALS  THEORETIKER  DES  DRAMAS. 


89 


nicht  allgemeine  Regeln  und  Normen  zu  abstrahieren,  sondern  die 
Fülle  der  Phänomene  selbst  zu  erfassen  und  zu  durchdringen.  Wir 
haben  umfassende,  auf  gründlicher  Sachkenntnis  beruhende  Werke  — 
wie  z.  B.  die  »Ästhetik  des  Tragischen«  von  Joh.  Volkelt  — ,  die  dieser 
Forderung  zu  entsprechen  suchen;  aber  sie  begnügen  sich  gewöhnlich 
damit,  die  Erscheinungsformen  lediglich  zu  klassifizieren,  ihre  Arten 
und  Gattungen  zu  bestimmen.  Damit  ist  natürlich  die  Erkenntnis 
nicht  wesentlich  gefördert,  denn  die  Ästhetik  hat  bekanntlich  andere 
Ziele  als  die  Botanik.  Wie  die  moderne  Wissenschaft  der  genetischen 
Definition  den  Vorrang  vor  der  topischen  (klassifizierenden)  einge- 
räumt hat,  so  wird  sich  auch  die  ästhetische  Arbeit  mehr  als  bisher 
einer  genetischen  Betrachtungsweise  zuwenden.  Das  Kunstverständ- 
nis wurde  von  manchen  Forschern  (Theod.  Lipps,  Georg  Simmel)  als 
bewußte  Neuschöpfung  eines  Kunstwerkes  bezeichnet.  In  diese  Rich- 
tung weisen  gegenwärtig  die  wertvollsten  Untersuchungen,  zu  denen 
der  Kritiker  wohl  auch  die  dramaturgischen  Betrachtungen  von  Scholz 
zählen  wird. 


Bemerkungen. 


Die  impressionistische  Methode. 

Von 

Georg  Marzynski. 

Die  Frage  nach  der  impressionistischen  Methode  gabelt  sich  in  zwei  Fragen: 
Wie  sieht  der  Impressionist  die  Weit,  und  wie  gibt  er  die  gesehene  Welt  wieder? 

Die  impressionistische  Technik  des  Sehens  läßt  sich  in  eine  Folge  von  Re- 
duktionen zerlegen.  Der  Rohstoff  ist  die  Welt  des  gewöhnlichen  Sehens,  die  durch 
den  Reduktionsvorgang  eine  sich  steigernde  Einengung  erleidet.  Die  erste  Rück- 
führung macht  aus  dieser  dreidimensionalen  Welt  eine  zweidimensionale.  Sie  ist 
die  älteste  und  gebräuchlichste  aller  Reduktionen,  jede  nachahmende  Malerei  mußte 
sie  vornehmen,  da  sie  eben  nur  flächenhaft  abbilden  kann.  Physiologisch  ausge- 
drückt heißt  das:  Der  Maler  sieht  die  Welt  so,  wie  sie  bei  Ruhigstellung  der  inneren 
und  äußeren  Augenmuskeln  erscheint.  Das  im  Sehvorgang  allmählich  eintretende 
Sehen  wird  auf  das  gleichzeitige  Sehen  reduziert. 

Die  zweite  Reduktion  unterdrückt  die  sogenannten  Gedächtnisfarben.  Ein 
»weißes«  Blatt  Papier  wird  in  jeder  Beleuchtung  und  trotz  aller  farbigen  Reflexe, 
die  auf  ihm  liegen,  als  weiß  aufgefaßt,  während  es  vielleicht  gerade  grünlich  oder 
violett  aussieht.  So  hat  jeder  Gegenstand  seine  bestimmte  Eigenfarbe,  das  Blatt  ist 
grün,  die  Zigarre  braun,  die  kindliche  Haut  rosig,  trotzdem  sie  in  Wirklichkeit  je 
nach  der  Beleuchtung  und  je  nach  den  Reflexen,  die  von  ihrer  farbigen  Umgebung 
her  auf  sie  fallen,  jedesmal  verschieden  aussehen.  Grün,  braun,  rosig  sind  die  »Ge- 
dächtnisfarben<c  von  Blatt,  Zigarre,  kindlicher  Haut.  Die  Gedächtnisfarbe  eines  Gegen. 
Standes  ist  gleich  der  Farbe,  die  er  bei  zerstreutem  Sonnenlicht  unter  Fernhaltung 
aller  Reflexe  annehmen  würde.  Ihre  Entstehung  wird  verständlich,  wenn  man  daran 
denkt,  daß  ein  weißes  Papier  und  ein  rotes  zwar  unter  jeder  Beleuchtung  anders, 
aber  jedesmal  sozusagen  im  gleichen  farbigen  Abstand  erscheinen.  Um  die  Aus- 
sage zu  machen:  »dieses  Papier  ist  weiß«,  muß  man  erst  die  Fähigkeit  erlangt  haben, 
dem  jetzt  vielleicht  gerade  grünlichen  Papier  anzusehen,  wie  es  bei  Normal- 
beleuchtung aussehen  würde,  man  muß  gelernt  haben,  die  Eigenschaftsfarbe  von 
der  augenblicklichen  Beleuchtung  abzutrennen,  sie  unter  der  Beleuchtung  zu  er- 
kennen. Die  Gedächtnisfarbe  ist  also  ein  Erzeugnis  der  Erfahrung;  ein  eben 
operierter  Blindgeborener  sieht  das  Papier  nicht  weiß,  sondern  in  der  Farbe,  die 
es  gerade  jetzt  wirklich  hat.  Die  zweite  Reduktion  nimmt  der  Erscheinung  alle 
assimilitativen  Bestandteile,  die  aus  der  Erfahrung  stammen,  sie  liefert  die  augen- 
blicklich vorhandene  farbige  Erscheinung  der  Dinge. 

Diese  Abscheidung  der  assimilitativen  Bestandteile  ist  nicht  erst  vom  Impressio- 
nismus geleistet  worden.  Er  hat  in  dieser  Hinsicht  eine  Menge  von  »Vorläufern«. 
Was  er  für  sich  in  Anspruch  nehmen  kann,  ist  allein  die  größere  Folgerichtigkeit 
Nur  der  Impressionismus  hat  sich  restlos  von  den  Gedächtnisfarben  freigemacht. 

Die  dritte  Reduktion  führt  sämtliche  Erscheinungsweisen  der  Farben  in  »Flächen- 


BEMERKUNGEN. 


91 


farbenc:  über.  Es  ist  gezeigt  worden'),  daß  man  eine  Farbe  noch  nicht  eindeutig 
beschreibt,  wenn  man  ihre  Helligkeit,  ihre  Sättigung  und  ihre  Farbqualität  festlegt. 
Es  gibt  von  einer  ganz  bestimmten  Farbabstufung,  ganz  bestimmter  Helligkeit  und 
Sättigung  sehr  verschiedene  »Erscheinungsweisen^.  Eine  Farbe  sieht  anders  aus, 
wenn  sie  als  Farbe  an  einem  Gegenstand  haftet,  anders,  wenn  sie  als  Glanz  auf 
einem  Gegenstand  liegt.  All  die  verschiedenen  Erscheinungsweisen,  und  die  auf- 
gezählten sind  nicht  die  einzigen,  haben  aber  die  Eigentümlichkeit,  daß  sie  sich 
auf  eine  Farbenart,  die  als  »Flächenfarbe«  bezeichnet  wird,  reduzieren  lassen.  Die 
bekanntesten  Beispiele  von  Flächenfarben  sind  das  Blau  des  Himmels  und  das  sub- 
jektive Augengrau.  Diese  Farben  sind  im  Vergleich  mit  den  Farben  auf  der  Ober- 
fläche eines  Gegenstandes  locker,  unkörperlich,  schwebend.  Aber  jede  Oberflächen- 
farbe kann  man  in  die  entsprechende  flächenfarbige  Erscheinungsweise  überführen, 
und  zwar  wird  dies  experimentell  dadurch  bewirkt,  daß  man  vor  einen  farbigen 
Gegenstand  einen  Schirm  mit  kleiner  Öffnung  hält,  der  den  Gegenstand  verdeckt 
und  dadurch  die  gegenständliche  Auffassung  verhindert.  Beim  Blick  durch  einen 
solchen  Schirm  verwandelt  sich  die  auf  dem  Gegenstand  haftende,  feste  Oberflächen- 
farbe ganz  deutlich  in  die  lockere,  unkörperliche  Flächenfarbe  des  gleichen  Farbtons. 
Ganz  ebenso  kann  man  die  Farbe  des  Feuers  oder  einen  Glanz,  überhaupt  jede 
Farbmodifikation,  in  die  entsprechende  Flächenfarbe  überführen.  Beim  Blick  durch 
den  Schirm  verliert  die  Feuerfarbe  ihre  ^.Feurigkeit«,  der  Seidenreflex  seinen  Glanz, 
imd  gewinnt  dafür  die  Wesensart  einer  Flächenfarbe.  iVlan  muß  nur  das  Loch  im 
Schirm  so  klein  wählen,  daß  die  betrachteten  Farberscheinungen  nicht  als  Glanz 
oder  als  Feuer  erkannt  werden  können.  Durch  die  Rückführung  werden  die  Farben 
vereinheitlicht,  sie  werden  alle  zu  Farben  der  gleichen  Erscheinungsweise.  Dazu 
kommt  noch  ein  zweiter  Umstand:  Bei  der  Reduktion  auf  die  Flächenfarbe  geben 
die  Farben  ihre  besondere  räumliche  Stelle  auf  und  rücken  alle,  wenigstens  ungefähr, 
in  eine  Ebene,  die  der  Stirn  parallel  läuft;  das  heißt  also:  diese  Reduktion  führt 
die  Welt  mit  einem  Schlage  in  ein  Bild  über.  Sieht  man  völlig  von  jeder  gegen- 
ständlichen Auffassung  ab,  so  verwandelt  sich  die  farbbehaftete,  farbig  durchleuchtete, 
dreidimensionale  Welt  der  Qegenstäde  in  eine  Fläche,  die  erfüllt  ist  mit  schimmernden, 
durchsichtigen  Farbflecken. 

Damit  ist  das  Wesen  der  impressionistischen  Sehtechnik  aufgedeckt;  denn  sie 
ist  nichts  anderes  als  Reduktion  auf  die  Flächenfarben.  Die  Impressionisten  ver- 
wenden freilich  keinen  Schirm ;  aber  worauf  es  ankommt,  ist  allein  die  Unterdrückung 
der  gegenständlichen  Auffassung.  Und  diese  leisten  die  Impressionisten  einerseits 
durch  eine  bestimmte  Art  des  »flüchtigen  Hinsehens«,  und  andererseits  durch  eine 
besondere  Einstellung,  nämlich  durch  Sammlung  der  Aufmerksamkeit  auf  die  bloße 
Farbigkeit  der  Erscheinung,  ein  seltsam  zurückhaltendes  Sehen,  das  sozusagen  an 
der  farbigen  Oberfläche  als  bloßer  farbiger  Fläche  haften  bleibt  und  sie  von  den 
Gegenständen  ablöst.  Das  Sehen  ist  eben  kein  Augenblicksvorgang,  es  ist  ein  Ablauf, 
dessen  erste  Stufe  der  impressionistisch  Sehende  festhält.  Der  Impressionismus  gibt 
das,  was  von  dem  Ablauf  noch  nicht  angerührt,  oder  wie  er  es  empfindet,  ver- 
fälscht ist. 

Schon  bei  der  ersten  Reduktion  wurde  darauf  hingewiesen,  daß  sie  das  Nach- 
einander-Sehen  auf  das  Simultan-Sehen  einschränkt.  Danach  könnte  es  scheinen, 
als  sei  die  Reduktion  auf  die  Fläche  möglich,  ohne  daß  die  Erscheinungsweisen  der 
Farben  vereinheitlicht  wurden.  In  Wahrheit  ist  das  aber  nicht  möglich.  Geschieht 
die  Rückführung  auf  die  Fläche  im  wirklichen  Sehakt,  so  verwandeln  sich  jedesmal 


')  Siehe  D.  Katz,  »Die  Erscheinungsweisen  der  Farben«.  J.  A.  Barth,  Leipzig  1911. 


92  BEMERKUNGEN. 


sämtliche  Erscheinungsweisen  in  Fiächenfarben.  Früher  hat  man  das  nicht  be- 
obachtet, weil  man  die  ReduI<tion  nicht  im  wirl<iichen  Sehen,  sondern  mit  Hilfe  der 
perspektivischen  Projektion,  einer  Art  von  angewandter  Geometrie,  durchführte.  Auch 
die  Unterdrückung  der  Gedächtnisfarbe  dürfte  als  vereinzelte  Reduktion  nicht  voll- 
ziehbar sein.  Die  Rückführung  auf  die  Flächenfarbe  ist  eben  keine  letzte  Steigerung 
der  früheren  Reduktionen,  die  ihnen  noch  irgend  etwas  hinzufügt,  sie  ist  vielmehr 
die  einzige,  wirklich  ausführbare  Reduktion,  und  die  anderen  sind  unvollkommene 
Ansätze  zu  ihr. 

Die  Methode  des  flüchtigen  Sehens,  die  dazu  bestimmt  ist,  die  gegenständliche 
Auffassung  zu  verhindern,  hat  eigentümliche  Nebenwirkungen  ').  Auf  ihr  beruht  die 
»Skizzenhaftigkeit«  der  impressionistischen  Bilder,  die  engherzige  Kritiker  gerne  als 
tadelnswerte  Faulheit  der  Maler  hinstellten.  Wichtiger  aber  ist  etwas  anderes.  Sehr 
genaue  Versuche  haben  ergeben,  daß  bei  flüchtigem  Blick  der  leere  Raum  zwischen 
den  Gegenständen  sich  mit  einer  eigentümlichen  Farbigkeit  erfüllt,  die  unter  dem 
ruhigen,  fixierenden  Blick  wieder  verschwindet.  Man  erinnert  sich,  welchen  Wert 
die  Impressionisten  darauf  legten,  den  gegenstandsleeren  Raum,  die  Luft  um  die 
Gegenstände  herum,  zu  malen.  Nur  für  den  impressionistisch,  also  »flüchtig«  Sehenden 
füllt  sich  die  Luft  mit  Farbe  und  wird  dadurch  malbar;  deshalb  hat  man  früher  die 
Luft  nicht  darstellen  können.  Nebenbei  gesagt,  dies  ist  bemerkenswert:  Der  flüchtige 
Blick  sieht  mehr,  als  der  genaue  Blick.  Hier  zeigt  sich  eine  Gelegenheit,  unsere 
allgemeinen  Untersuchungsgrundsätze  zu  verbessern. 

Man  könnte  übrigens  darüber  streiten,  ob  das  Farbigwerden  der  Luft  eine  bloße 
Nebenwirkung  der  impressionistischen  Reduktion  ist.  Es  wäre  ja  denkbar,  und 
es  ist  tatsächlich  so  geschehen,  daß  die  Impressionisten  zuerst  entdeckt  hätten,  daß 
die  Luft  bei  einer  bestimmten  Art  des  Sehens  malbar  wird,  und  nun  diese  Art  des 
Sehens  pflegten,  weil  sie  das  Reich  des  Malbaren  erweitert.  Aber  hier  wird  ja 
nicht  nach  der  geschichtlichen  Reihenfolge  gefragt.  Das  sachliche  Prius  ist  ent- 
schieden die  Reduktion,  als  eine  Art  des  Sehens,  welche  die  Welterscheinung  so 
gründlich  verändert,  daß  das  Einströmen  der  Farbe  in  den  gegenstandsleeren  Raum 
darüber  zur  Nebenwirkung  herabsinkt. 

Durch  die  Reduktion  gelangt  der  Impressionist  zu  der  Welterscheinung,  die  er 
malen  will.  Denkt  man  daran,  daß  die  Arbeit  des  Malers,  grob  gesprochen,  darin 
besteht,  eine  Fläche  mit  Farbflecken  zu  bedecken,  so  sieht  man  den  Erfolg  der  Re- 
duktion: sie  gleicht  die  natüriiche  Welterscheinung  der  bildhaften  Erscheinung  an, 
sie  macht  die  Welt  malfähig.  Die  so  vorbereitete  Welt  soll  jetzt  wiedergegeben 
werden.  Hier  setzt  also  die  Leistung  der  Maltechnik  ein.  Zuerst  wird  man  gar 
keine  Möglichkeit  mehr  zu  einer  eigentümlichen  Leistung  der  Maltechnik  sehen,  denn 
die  Schwierigkeiten  der  Hand  sind  ja  keine  Schwierigkeiten  der  Methode.  Was  die 
Reduktion  als  verbleibenden  Rest  herausgearbeitet  hat,  der  sichtbare  Kern  der  Er- 
scheinung, das  scheint  so  beschaffen,  daß  seine  malerische  Wiedergabe  keine  Probleme 
mehr  stellt,  das  wirklich  Sichtbare  ist  auch  das  wirklich  Malbare.  Die  ilächenfarbige 
Welt  besteht  aus  flächenhaft  ausgebreiteten  Farbflecken ;  man  sollte  meinen,  daß 
sich  diese  Welt  mit  den  Farbstoffen  auf  der  Leinwand  unmittelbar  nachahmen  ließe. 
Aber  auch  in  dieser  Aufgabe  steckt  ein  Problem  der  Methode,  und  dies  rührt  daher, 
daß  ein  flächenfarbiger  Farbfleck  dem  gleichtonigen  Pigmentfleck  nicht  absolut 
gleichsieht.  Die  Pigmentfarbigkeit  bleibt  stets  unüberwindbar  verschieden  von  der 
Flächenfarbigkeit,  sie  gleicht  viel  eher  der  Erscheinungsweise  von  Oberflächenfarben. 


')  Vgl.  hierzu  Jaensch,  »Über  die  Wahrnehmung  des  Raumes«.   J.A.Barth, 
Leipzig  1909. 


BEMERKUNGEN.  03 


In  diesen  Verhältnissen  liegt  es  begründet,  daß  die  vorimpressionistische  Malerei 
immer  auf  Nachahmung  der  Oegenstandsoberdächen  ausging.  Nun  wirkt  aber  eine 
Farbe  als  Oberflächenfarbe  nur  bei  gegenständlicher  Auffassung  der  Erscheinung, 
und  diese  hängt  an  der  Dreidimensionalität.  Die  dem  Flächenbild  fehlende  Drei- 
dimensionalität  versuchte  man  daher  durch  die  Kunstmittel  der  Tiefendarstellung 
vorzutäuschen.  Jede  realistische  Malerei  hatte  räumlich-gegenständliche  Täuschungs- 
absichten, das  offenbart  sich  in  der  alten  Fabel  von  den  Vögeln,  die  nach  den  ge- 
malten Trauben  picken.  Diese  Täuschungsabsicht  fehlt  dem  Impressionismus.  Der 
Impressionist  gibt  einfach  wieder,  was  er  sieht.  Für  ihn  verschwänden  daher  alle 
Darstellungsprobleme,  wenn  es  gelänge,  Farbstoffe  herzustellen,  die  wie  Flächen- 
farben wirken.  Nur  weil  man  solche  Pigmente  bisher,  und  wohl  für  immer,  nicht 
herstellen  kann,  muß  auch  der  Impressionist  darauf  verzichten,  seine  Welt  ganz 
entsprechend  wiederzugeben,  auch  er  muß  sie  mit  unangemessenen  Mitteln  nach- 
ahmen. Während  aber  der  Realist  einerseits  die  Oberflächenfarben  mit  Pigmenten 
unangemessen  wiedergibt,  anderseits  die  Dreidimensionalität  durch  perspektivische 
Verkürzung  und  Schattenführung  vortäuscht,  bildet  der  Impressionist  Flächenfarben 
mit  Pigmenten  nach.  Das  impressionistische  Bild  enthält  Imitationen,  aber,  mit  einer 
gleich  zu  erklärenden  Einschränkung  sei  das  gesagt,  keinen  Täuschungsmechanismus. 

Das  Malproblem  des  Impressionismus  hat  zwei  grundsätzliche  Lösungen  ge- 
funden. Den  unmittelbaren  Weg  schlug  der  Neo-Impressionismus  ein,  der  die 
flächenfarbigen  Farbflecken  einfach  durch  Pigmentflecken  nachahmte.  Seine  Bilder 
sehen  sehr  farbkräftig  und  leuchtend  aus,  sind  aber  immer  erlüllt  von  einem 
schimmernden  farbigen  Dunst,  bedingt  durch  die  Massigkeit,  die  Undurchdiinglich- 
keit,  wie  sie  den  Pigmenten  im  Vergleich  mit  den  Flächenfarben  eigentümlich  ist 
Daher  ist  das  Anwendungsgebiet  dieser  Technik  sehr  eng  begrenzt.  Die  Mehrzahl 
der  Impressionisten  versuchte  die  Schwierigkeiten  zu  umgehen.  Sie  malen  keine 
bloßen  Farbflecken,  sondern  zweidimensional  verkürzte  Gegenstände.  Durch  Auf- 
lockerung der  Kontur  und  Stehenlassen  des  Pinselstriches  erreichen  sie  es  aber,  daß 
die  aufgetragene  Farbe  nicht  als  Oberflächenfarbe  wirkt,  sondern  als  selbständige, 
abgelöste  Farbe.  Sie  deuten  also  den  Gegenstand  an,  um  die  Farbe  als  vom  Gegen- 
stand abgelöste  Farbe  wirken  zu  lassen ;  sie  erregen  die  gegenständliche  Auffassung 
und  heben  sie  gleich  wieder  auf;  sie  lassen  den  Sehvorgang  über  seinen  ersten 
Abschnitt  hinaus  fortschreiten  und  treiben  ihn  gleich  wieder  zurück.  Der  Neo- 
Impressionismus hingegen  kümmert  sich  gar  nicht  um  die  Gegenständlichkeit  der 
ihm  gegenüberstehenden  Welt,  sondern  liefert  einfach  den  Rohstoff  für  die  gegen- 
ständliche Formung. 

Das  impressionistische  Verfahren  besteht  also  darin,  aus  der  Welt  des  naiven 
Sehens  eine  Schicht  herauszukristallisieren,  von  der  eine  bildlich  angemessene  Wieder- 
gabe möglich  ist.  Man  muß  sich  darüber  klar  werden,  daß  es  zwei  von  Grund  auf 
verschiedene  Arten  des  Malens  gibt:  Das  wiedergebende  Malen  und  das  darstellende 
Malen.  Der  darstellende  Maler  geht  auf  die  Erzeugung  einer  Illusion  aus,  sein 
Bild  ist  ein  zweidimensionales,  farbiges  Reizsystem,  das  mit  Hilfe  eines  eigentüm- 
lichen Täuschungsmechanismus  den  Eindruck  einer  gegenständlich  dreidimensionalen 
Weif  erregt.  Der  Impressionist  hingegen  ist  ein  abmalender  Maler,  er  gibt  einfach 
wieder,  was  er  sieht.  Wirklich  treffende  Wiedergabe  ist  auch  ihm  freilich  nicht 
möglich,  auch  er  muß  sich  wegen  der  Unterschiede  zwischen  Pigmenten  und 
Flächenfarben  mit  einer  bildlichen  Angemessenheit  begnügen.  Daher  kennt  der 
Impressionist  noch  Probleme  der  Wiedergabe,  nicht  nur  Schwierigkeiten  der  aus- 
führenden Hand;  aber  das  Täuschungsfeld  ist  gegen  früher  unvergleichlich  ein- 
geengt.   Der  Impressionist   muß   sehen  lernen,  so  wie  man  früher  malen  lernen 


94  BEMERKUNüEN. 

mußte,  »ich  male  die  Welt,  wie  ich  sie  sehe^.  Kann  man  erst  richtig  sehen, 
so  bedarf  es  fast  nur  noch  der  Geschmeidiglteit  des  Handgelenks.  Sehen  und  das 
Handgeleni<  ausbilden  auf  der  einen  Seite  —  malen  lernen  auf  der  anderen:  Man 
spürt  die  Gegensätzlichkeit,  die  Verschiebung  des  Schwerpunkts.  Der  darstellende 
Maler  malt,  sozusagen,  ad  hominein;  er  steht  vor  seinem  Bild  und  fragt:  wie  wird 
das  wirken?  Während  der  Impressionist,  streng  sachlich  gerichtet,  vor  seinem  Bild 
fragt:  ist  das  richtig?  Die  Trennung  von  sachlicher  Malerei  und  Illusionsmalerei  ist 
übrigens  in  dieser  Schärfe  nur  gedanklich  möglich,  und  es  liegt  auch  keineswegs 
so,  daß  erst  der  Impressionismus  den  abmalenden  Maler  schuf.  Was  der  Impressio- 
nismus geleistet  hat,  ist  die  gründliche  Rückführung  der  gegenständlich  geformten 
Welt  auf  ihren  sichtbaren  und  darum  wirklich  abmalbaren  Kern.  Weil  seine  Welt 
wirklich  abmalbar  ist,  deshalb  braucht  er  nicht  mehr  über  Perspektive,  körperhaftes 
Zeichnen,  Möglichkeiten  der  Materialdarsteliung  nachzudenken.  Für  ihn  gilt  es  nicht 
mehr,  Kunstmittel  zu  finden  und  anzuwenden,  für  ihn  gilt  es  allein,  hinzusehen  und 
abzubilden. 

Die  getreue  Wiedergabe  der  durch  die  Reduktion  gewonnenen  Welt  ruft  im 
Beschauer  den  Eindruck  einer  gegenständlich  geformten  Welt  hervor.  Diese  Tat- 
sache ist  zwar  für  den  Psychologen  außerordentlich  wichtig,  da  sie  es  erlaubt,  die 
objektiven  Bestandteile  der  Erscheinung  von  ihren  subjektiven  zu  trennen,  die 
Scheidung  des  sichtbaren  Stoffs  von  seiner  Formung  durchzuführen  —  für  die  kfinst. 
lerische  Methode  besagt  sie  aber  gar  nichts.  Dem  Impressionisten  ist  es  eine  Art 
Nebenerfolg,  daß  seine  Welt  im  Beschauer  den  Eindruck  der  gegenständlichen 
Welt  hervorruft.  Nun  kann  man  mit  gutem  Grund  daran  zweifeln,  daß  unter  den 
geistigen  Verhältnissen  des  Jahres  1860  der  Impressionismus  aufgekommen  wäre, 
wenn  die  impressionistische  Malweise  nicht,  wie  zufällig,  das  Werkzeug  gewesen 
wäre,  die  Welt  am  besten,  wahrhaftigsten,  genauesten  darzustellen.  Man  denke  sich 
einmal,  das  Reduktionsbild  wäre  so  beschaffen,  daß  es  gegenständlicher  Formung 
widerstrebte.  Es  würde  sich  auch  jetzt  nicht  als  unbedingt  wirklichkeitsfremd  geben, 
sondern  es  erschiene  als  seltsamer,  schimmernder,  farbiger  Abglanz  der  Wirklichkeit. 
Die  seelische  Verfassung  der  letzten  Generation  war  aber  nicht  der  Art,  daß  sie  sich 
malender  Weise  mit  einem  bloßen  Abglanz  begnügt  hätte.  Hingegen  könnte  man 
sich  vorstellen,  daß  man  heute  diesen  Reflex  der  Welt,  mit  vollem  Bewußtsein  seiner 
Wirklichkeitsferne,  malenswert  fände.  Die  Umkehrung  der  Darstellungsziele  wäre 
entscheidend  für  die  künstlerischen  Intentionen  für  die  Methode  wäre  sie  gleich- 
gühig.  Das  Verfahren  dieser  Phänomenalisten  unterschiede  sich  durch  nichts  von 
dem  Verfahren  der  Impressionisten. 

Die  Impressionisten  waren  Fanatiker  des  Sehens,  und  mau  wird  ihnen  zuge- 
stehen, daß  ihre  Technik  des  Sehens  einen  Höhepunkt  und  ein  äußerstes  Ergebnis 
bedeutet;  sie  haben  tatsächlich  den  sichtbaren  Kern  in  der  Erscheinung  freigelegt. 
Ihr  letztes  Beweismittel  lautete  stets:  »Da  die  Malerei  die  Kunst  des  Sichtbaren  ist, 
darf  sie  auch  nur  malen,  was  wirklich  sichtbar  ist,  das  wirklich  Sichtbare  ist  aber 
stets  malenswert.«;  Dieses  Argument  ist  nun  nicht  so  selbstverständlich,  wie  es  sich 
gibt.  Dahinter  steckt  ein  starker  Dogmatismus,  eine  ganz  bestimmte  Auffassung  des 
Kunsthaften,  die  durchaus  der  Begründung  bedürfte. 


a 


Besprechungen. 


lugo  Münsterberg,  Oruiidzüge  der  Psychologie.  2.  Aufl.  Leipzig, 
Verlag  von  J.  A.  Bartli,  1918.    gr.  8».  XXVIII  u.  564  S. 

Es  ist  in  dieser  Zeitschrift  bereits  der  Verdienste  Münsterbergs  um  die  Ästhetik 
gedacht  worden.  Wenn  ich  auf  das  inzwischen  erschienene  Buch  unsere  Leser  be- 
sonders aufmerksam  mache,  so  geschieht  es,  weil  sie  darin  eine  (von  mir  verfaßte) 
Lebensschilderung  und  Kennzeichnung  nebst  einer  Zusammenstellung  der  Haupt- 
schriften finden  und  weil  der  Hinweis  auf  das  Vorhandensein  der  Biographie  sowie 
des  Schriftenverzeichnisses  erwünscht  sein  mag.  Vor  allem  aber  sei  das  Buch  hier 
wegen  des  Abschnittes  über  Psychologie  und  Ästhetik  genannt.  Es  ist,  obwohl  vor 
zwanzig  Jahren  geschrieben,  frisch  und  eigenartig.  Die  Grundfrage  der  Ästhetik 
lautet  nach  Münsterberg:  wie  sollen  wir  die  Welt  auffassen,  damit  das  Einzelne  für 
sich  allein  steht  und  nicht  über  sich  hinausführt?  Dies  nämlich  ist  der  Kern  des 
ästhetischen  Seins.  »Die  Natur  ist  schön,  wenn  sie  aufhört,  im  Sinne  der  Wissen- 
schaft überhaupt  Natur  zu  sein,  wenn  alle  Zusammenhänge  grundsätzlich  fortfallen.« 
Ähnlich  in  der  Kunst :  bei  einer  Bildsäule  dürfen  wir  nicht  an  die  Farben  des  wirk- 
lichen Menschen,  bei  einem  Liebesgedicht  nicht  an  den  Namen  der  Geliebten  denken 
usw.  Aus  dem  so  angedeuteten  Sachverhalt  ergeben  sich  zunächst  Aufgaben  des 
Inhalts:  wie  ist  unser  Wille,  das  Einzelne  in  der  Welt  aufzufassen,  von  fremden 
Subjektakten  abhängig  ?  und  alsdann  die  normativ-ästhetischen  Probleme :  wie  sollen 
wir  das  Gegebene  aus  dem  Zusammenhang  herauslösen  und  umarbeiten,  damit  wir 
es  schlechthin  als  Einzelnes  auffassen  können?  Mit  beiden  Problemgruppen  wird 
nirgends  die  Welt  des  Willens  und  der  Werte  verlassen;  ^sie  können  daher  auch 
keine  einzige  Frage  einschließen,  die  sich  durch  eine  physische  oder  psychologische 
Kausaluntersuchung  beantworten  ließe«. 

Daneben  aber  stehen  viele  für  den  Ästhetiker  wichtige  sozialpsychologische  (der 
vorher  genannten  ersten  Fragegruppe  beigeordnete)  Untersuchungen  und  ferner  in- 
dividualpsychologische Forschungen,  die  der  normativen  Ästhetik  entsprechen.  Dort 
handelt  es  sich  um  die  ethnologischen  Anfänge  der  Kunst,  um  Wandlungen  des 
Geschmacks  und  Ausprägung  von  Stilen,  um  rassenbiologische,  ökonomische,  soziale 
und  technische  Verhältnisse  aller  Art;  hier  eröffnet  sich  das  weite  Gebiet  der  psycho- 
logischen Experimentalforschung.  Münsterberg  selbst  hat  sie  gefördert,  indem  er 
verwickelte  Formprobleme  dem  künstlichen  Versuch  zugänglich  machte,  worüber 
Ziehens  Nachruf  auf  Münsterberg  (in  unserer  Zeitschrift)  nachgelesen  werden  mag. 
Das  vorliegende  Buch  enthält  keine  Einzelheiten  neben  der  soeben  kurz  wiederge- 
gebenen Gliederung.  Aber  die  Gliederung  selber  und  der  sie  beherrschende  Ge- 
sichtspunkt verdienen  bereits  unsere  volle  Aufmerksamkeit. 

Berlin.  Max  Dessoir. 


Harald  Hoff  ding,  Humor  als  Lebensgc  f  üh  I  (Der  gro  ße  H  unior).  Aus 
dem  Dänischen  übersetzt  von  Heinrich  Goebel.  Leipzig,  Teubner  1918.  V 
u.  205  S. 


Q6  BESPRECHUNGEN. 


»Das  Seelenleben  besteht  in  und  unter  einer  beständigen  Arbeit,  ein  Chaos  zu- 
sammenzufassen und  zu  ordnen«  (S.  35).  Nicht  jedes  seelische  Chaos  wird  zur 
Harmonie;  zwei  Möglichkeiten  gibt  es  im  besonderen,  wie  Einzelgefühle  zu  einer 
Harmonie  Icommen  können:  Verschmelzung  und  Organisation  (S.  15),  und  durch 
solche  Organisation  entsteht  das,  was  Höffding  den  großen  Humor  nennt.  Als  Text, 
den  das  Buch  zu  entwickeln  suche,  zitiert  (S.  141)  Höffding  eine  Stelle  einer  früheren 
Abhandlung  (Der  menschliche  Gedanke) :  »Es  gibt  einen  Standpunkt,  auf  dem  durch 
die  Lebensmischung  von  Tragödie  und  Komödie,  von  Sieg  und  Niederlage,  eine 
Orundstimmung  gewonnen  ist,  die  zugleich  den  Charakter  des  Ernstes  hat  —  durch 
das  Große,  das  erlebt  ist,  und  den  Schmerz,  den  es  oft  gekostet  hat  —  und  der 
Ironie  jedem  Versuch  gegenüber,  in  Bildern  ausdrücken  zu  wollen,  was  in  seiner 
Fülle  und  durch  seine  Gegensätze  jede  Form  sprengt,  die  man  festzulegen  versucht 
Die  Lebensanschauung  oder  das  Lebensgefühl,  das  so  entsteht,  hält  an  der  Über- 
zeugung von  einer  großen  Einheit  im  Dasein  fest,  sowohl  in  bezug  auf  die  Werte 
als  auf  alle  anderen  Gegenstände  und  Elemente,  und  es  kann  sich  daher  ebensowohl 
den  Schickungen  des  Lebens  scherzend  gegenüberstellen,  weil  sie  gegenüber  jener 
Überzeugung  machtlos  sind,  wie  auch  den  Versuchen,  das  Unsagbare  zu  sagen. 
Der  Scherz  bekommt  jedoch  den  Charakter  der  Wehmut,  weil  beständig  ein  Wider- 
spruch darin  gefühlt  wird,  daß  das  Große  so  oft  mit  dem  Kleinen  verknüpft  ist,  und 
darin,  daß  es  nicht  glückt,  ein  abschließendes  Wort  über  den  Kern  des  Lebens  und 
die  Bedingungen  des  Lebens  zu  finden.  Hinter  der  Ironie  und  der  Wehmut  wird 
eine  große  Resignation  liegen,  bald  mehr  praktisch,  bald  mehr  kontemplativ  —  bald 
bitter,  bald  mutig «  Das  ist  ein  weiter  Rahmen,  und  so  können  wir  nicht  wider- 
sprechen, wenn  in  ihn  als  die  ausgesprochensten  Vertreter  des  großen  Humors 
Sokrates  und  Shakespeare  gestellt  werden  (S.  170).  Bald  nach  der  eben  angeführten 
Stelle  heißt  es  weiter  (S.  142):  »Daß  der  große  Humor  so,  wie  er  hier  beschrieben 
ist,  an  sich  der  höchste  Lebensstandpunkt  wäre,  kann  . . .  nicht  behauptet  werden. 
Das  große  praktische  Streben  einerseits,  das  tragische  Leiden  andererseits  können 
beide  höhere  Lebensstandpunkte  sein  als  der  große  Humor.«  Dies  ist  sicher  richtig, 
denn  es  ist  eben  der  große  Humor  durch  eine  milde  Resignation  wesentlich  ge- 
kennzeichnet, und  Leidenschaft  ist  höher,  d.  h.  menschlich  produktiver,  als  Verzicht. 
Im  Einzelnen  enthält  das  Buch  eine  Fülle  feiner  und  geistvoller  Bemerkungen,  vor- 
getragen in  einer  liebenswürdigen,  viel  mehr  werbenden  als  lehrhaften  Sprache,  die 
der  Übersetzer  offenbar  gut  verdeutscht  hat. 

S.  148  steht  etwas  sehr  Nachdenkliches:  »Ich  glaube,  daß  das  Entstehen  jedes 
Oesamtgefühls  eine  Gefahr  mit  sich  bringen  kann,  indem  seine  Elemente  sich  so 
verbinden,  daß  sie  nicht  mehr  einzeln  für  sich  ausgelöst  werden.  Die  Klangfarbe 
der  Verschmelzung  oder  das  Gesetz  der  Organisation  entscheidet  jetzt,  in  welcher 
Weise  man  auf  ein  neues  Erleben  reagiert.«  In  der  Tat  ist  dies  für  schwache 
Charaktere  die  Gefahr  von  zuviel  Psychologie,  daß  sie  anfangen,  nach  dem  psycho- 
logischen Schema  zu  handeln:  ich  bin,  folglich  muß  ich  —  statt  nach  dem 
ethischen  es  ist,  folglich  soll  ich. 

Berlin-Pankow,  Christoph  Schwantke. 

Leonhard   Nelson,   Vorlesungen  über  die  Grundlagen  der  Ethik. 
Erster  Band:  Kritik  der  praktischen  Vernunft.    Leipzig,  Veit  ü.  Co., 
1917.    XXXIV  u.  710  S. 
Wir  wollen  versuchen,  Methode  und  Ergebnisse  des  Buches  durch  Daneben- 
stellen gegenteiliger  Methodik  scharf  zu  kennzeichnen:  Alles  Philosophieren  besteht 
zuerst  darin,  nach  der  Voraussetzung  für  jedes  von  uns  geformte  Urteil  usw.  zu 


i 


BESPRECHUNGEN.  97 


fragen,  an  die  Antwort  dieselbe  Frage  zu  stellen  und  das  Verfahren  solange  zu 
wiederholen,  bis  solches  lineare  Aufsteigen  seine  Grenze  findet.  Nach  der  Ansicht 
von  Herrn  Nelson  endet  das  Verfahren  notwendig  bei  letzten  Erkenntnissen,  d  i  e 
an  sich  gewili  sind  und  deren  Entdeckung  und  Analyse  eine  wesentlich  psycho- 
logische Betrachtung  erfordert.  Nach  unserer  Ansicht  endet  es  bei  letzten  Ergeb- 
nissen, die  deshalb  gelten,  weil  sie  in  einem  Systemzusammenhange  stehen  mit  allen 
letzten  Voraussetzungen  geistigen  Tätigseins  und  das  ganze  System  gilt;  die  Ent- 
deckung dieses  Systemzusammenhanges  und  damit  der  Oültigkeitsbeweis  einer  alt 
Grundsatz  behaupteten  Erkenntnis  fordert  dann  ein  logisches  Verfahren.  Für 
Herrn  Nelson  sind  (S.  25)  die  geometrischen  Grundsätze  unmittelbar  einleuchtende 
Wahrheiten,  die  als  solche  keines  Beweises  bedürfen.  »Es  genügt,  die  Begriffe  zu 
konstruieren,  um  zu  erkennen,  daß  ihren  Gegenständen  die  ihnen  in  den  Axiomen 
zugeschriebenen  Eigenschaften  zukommen.«  Nach  unserer  Ansicht  gelten  sie,  weil 
sie  sich  als  notwendige  Verfahrensweisen  beweisen  lassen,  um  die  Forderung  einer 
objektiven  Erfahrung  zu  erfüllen.  Die  Anschaulichkeit  erklärt  sich  dann  als  Einge- 
schliffensein dieser  Operationen  durch  die  Anwendung;  weil  wir  so  oft  Stellen- 
setzungen vorgenommen  haben,  haben  wir  die  Anschauung  des  Punktes,  weil  wir 
so  oft  Richtungen  festlegten,  die  Anschauung  der  Geraden;  aber  das  durch  zwei 
Setzungen  eindeutig  festgelegte  Richtungsbestimmen  ist  ein  durch  den  System- 
zusammenhang aller  Voraussetzungen  der  Erfahrung  logisch  gefordertes  Verfahren. 
Die  Votaussetzungen  der  Erfahrung  stehen  in  Systemzusammenhang  mit  den  Mög- 
lichkeiten des  Zwecksetzens  und  Handelns,  denn  der  Sinn  der  Erfahrung  ist,  Anlaß 
zum  Handeln  zu  sein,  Möglichkeien  des  Handelns  sind  notwendige  Voraussetzungen 
der  Erfahrungsgewinnung  usw.  So  schließt  sich  von  jeder  Erkenntnis  aus  der  ganze 
Ring.  Man  kann  bildlich  sagen:  die  Linien  des  Zurückfragens  nach  Voraussetzungen 
führrn  nach  Herrn  Nelson  zu  Punkten,  die  je  absolut  festliegen,  nach  der  unseren 
zu  solchen  eines  in  sich  stabilen  Ringes. 

Man  kann  logisch  verschiedene  solche  Ringsysteme  bauen  —  das  des  Idealis- 
mus, des  Realismus,  der  transzendenten  Dogmatik;  die  Wahl  des  einen  läßt  sich 
nicht  durch  eine  dem  Ringe  angehörende  Erkenntnis  entscheiden,  auch  nicht  durch 
eine  Erkenntnis  außerhalb,  weil  diese  ja  einem  übergeordneten  Ringe  angehören 
müßte;  sondern  die  Entscheidung  für  das  System  des  Idealismus  erfolgt  durch  den 
Nachweis,  daß  wir  uns  berei's  dafür  entschieden  haben  durch  unser  Handeln  nach 
den  Gesichtspunkten :  es  soll  objektive  Wissenschaft  —  es  soll  objektives  Recht  geben. 

Für  die  Ethik  liegt  der  Unterschied  des  Nelsonschen  Ansatzes  absoluter  Einzel- 
punkte und  des  unseren  eines  in  sich  stabilen  Ringes  darin,  daß  aus  dem  ersten 
ein  Einschränkungsprinzip  unseres  Willens  herfließt,  die  Forderung  der  Rücksicht 
auf  die  Interessen  anderer,  aus  dem  zweiten  dagegen  folg^  aus  der  Forderung  der 
Ringgeschlossenheit  ein  Schöpfungsprinzip  der  Zielsetzungen,  das  Prinzip  des  Pro- 
dukiivseins  für  die  ins  Unendliche  laufende  Reihe  des  Menschheitsschaffens,  ein 
Prinzip,  das  höher  ist,  als  alle  Individualin'.eressen. 

S.  45:  »Die  Aufgabe  der  Zurückführung  der  ethischen  Erkenntnis  auf  logisch 
höhere  Prinzipien  erscheint  als  unabweislich,  solange  man  überhaupt  für  jede  Er- 
kenntnis eine  Begründung  fordert.«  S.  48:  »Nennen  wir  eine  Erkenntnis,  die  an 
und  für  sich  gewiß  ist,  unmittelbar,  jede  andere  dagegen  mittelbar,  so  können 
wir  sagen,  daß  nur  die  mittelbaren  Erkenntnisse  einer  Begründung  bedürfen.« 
S.  50:  »Es  zeigt  sich  .  .  .,  daß  ein  Beweis  nur  für  solche  Urteile  möglich  und  not- 
wendig ist,  deren  Gründe  ihrerseits  wieder  Urteile  sind,  und  daß  daher  die  obersten, 
zur  Möglichkeit  jedes  Beweises  schon  vorausgesetzten  Prämissen  nicht  durch  Auf- 
weisung einer  ihnen  zugrunde  liegenden  unmittelbaren  Erkenntnis  begründet  werden 
Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenscliaft.    XtV.  7 


98  BESPRECHUNGEN. 

können.«:  S.  52 :  ^Nnr  wenn  es  eine  unmittelbare  ...  rationale,  ethische 
Erkenntnis  gibt,  auf  die  sich  die  ethischen  Urteile  zurückführen  lassen,  ist  eine 
wissenschaftliche  Begründung  der  Ethik  möglich.«  S.  55:  »Die  unmittelbare  ethische 
Erkenntnis  ist...  eine  ursprünglich  dunkle  Erkenntnis.  (Die  Aufzeigung 
dieser  Erkenntnis  heißt  Deduktion.)  S.  59:  »Das  Verfahren  der  Deduktion  wird  .  .  . 
psychologischer  Natur  sein  müssen.«  S.  82:  >Man  nennt  eine  Handlung,  sofern 
sie  schlechthin  geboten  ist,  Pflicht.  Eine  Handlung  ist  . . .  nur  dann  moralisch, 
wenn  durch  sie  die  Pflicht  erfüllt  wird.«  S.  129:  »Der  Inhalt  des  Sittengesetzes 
kann  . . .  nicht  darin  bestehen,  daß  uns  die  Realisierung  irgendwelcher  positiver 
Zwecke  aufgegeben  wäre,  sondern  nur  in  einer  Regel  der  Beschränkung  unserer 
positiven  Zwecke.«  S.  129:  »Die  Bedingung,  auf  die  die  Pflicht  unsere  Willkür 
einschränkt,  ist  . . .  die  Rücksicht  auf  die  Interessen  anderer.«  S.  188:  »Das  Sitten- 
gesetz ist  formal :  Man  mag  es  anstellen,  wie  man  will,  man  wird  aus  ihm  nie  durch 
bloße  logische  Schlüsse  herausbringen,  wie  wir  wirklich  handeln  sollen.«  S.  221 : 
»Das  Sittengesetz  wird  also  nur  das  eine  sein  können:  Handle  so,  daß  du  die 
Gleichheit  der  Personen  wahrst  oder  kurz:  Handle  gerecht.«  S.  250; 
»Das  allgemeine  Interesse,  das  der  Bewertung  unserer  einzelnen  Interessen  zugrunde 
liegt,  ist...  das  objektive  Interesse  am  Wert  unseres  Lebens  über- 
hau pt.^ 

Also  das  Wollen  und  das  positive  Werten  kommt  uns  aus  unserem  Leben 
überhaupt,  und  die  Moral  gibt  das  Prinzip,  dieses  unser  Lebenswollen  durch 
die  Rücksicht  auf  andere  einzuschränken.  Herr  Nelson  bezeichnet  das  ganze  Be- 
tätigungsfeld dieses  Lebenswillen  als  ästhetisches  Gebiet,  mithin  sind,  da  die 
Moral  nur  Unwertfestslellungen  leistet,  alle  positiven  Werte  ästhetischer  Art. 
S.  271:  »In  der  hier  exponierten  Ansicht,  wonach  das  ästhetisch  wertvolle  Handeln 
nicht  Pflicht  ist,  liegt  keineswegs  eine  Herabsetzung  der  ästhetischen  Wertung;  man 
kann  vielmehr  dem  ästhetischen  Wert  des  Handelns  in  der  Ethik  gar  keinen  höheren 
Platz  einräumen,  als  es  durch  diese  Ansicht  geschieht.  Denn  weder  Moralität  noch 
Rechtlichkeit  können  nach  der  entwickelten  Lehre  einer  Handlung  einen  positiven 
Wert  geben,  da  sie  vielmehr  für  sich  die  bloße  Abwesenheit  eines  Unwerts  be- 
deuten. Der  einzige  positive  Wert,  den  Handlungen  überhaupt  haben  können,  ist 
hiernach  der  ästhetische.«  Diese  Erweiterung,  die  nicht  nur  das  Erleben  des 
Schönen  in  Natur  und  Kunst  sondern  auch  das  schöne  Handeln  dem  Begriff  unter- 
stellt, gibt  die  Möglichkeit,  von  einem  Ideal  des  Handelns  zu  sprechen;  dies  aber 
läßt  sich  wieder  nicht  als  definierte  Forderung  formulieren,  sondern  es  fließt  aus 
einem  Gefühl  für  die  Schönheit  des  Lebens.  S.  411:  »Ein  Ideal  bezeichnet  einen 
objektiven  positiven  Wert,  den  zu  verwirklichen  aber  dennoch  nicht  durch  einen 
kategorischen  Imperativ  geboten  ist.  .  . .  Nun  hat  uns  die  Exposition  dieser  Begriffe 
zu  dem  Ergebnis  geführt,  daß  sich  das  Ideal  durch  die  Anforderung  der  Schön- 
heit des  Lebens  bestimmt  und  daß  also  der  Begriff  des  Ideais  seinen  Ursprung 
in  einem  ästhetischen  Wertungsprinzip  haben  muß.«  Dazu  ist  erforderlich,  das 
Leben  der  »Herrschaft  des  vernünftig  bestimmten  Willens«^  (S.  453)  zu  unterwerfen. 
Wenn  man  diese  Ethik  auf  eine  kurze  Formel  bringen  will,  so  kann  man  viel- 
leicht sagen:  Lebe  dich  nach  dem  gefühlsmäßig  in  dir  liegenden  Schönheitsideal, 
geleitet  durch  Vernunft,  dich  beschränkend  durch  die  Rücksicht  auf  andere.  Wir 
glauben,  daß  diese  individualistische  Ethik  unbrauchbar  ist,  die  Arbeitsgemeinschaft 
der  Menschen  nach  überindividualistischen  Zielen  zu  begründen  und  für  sie  immer 
bessere  Zielsetzungen  zu  schaffen.  Man  kann  noch  folgenden  Einwand  machen: 
der  Ichbegriff  ergibt  sich  im  hier  besprochenen  System  als  doppelt  definiert,  einmal 
als  Schauplatzbegriff  des  ^Lebenst,   dessen  Betätigungen   einem    Prüfungsverfahren 


I 


BESPRECHUNGEN. 


99 


nach  richtig  oder  falsch  nicht  unferh'egen,  und  ferner  als  Subjel<tsbegriff,  dessen 
Schöpfungen  so  geprüft  werden  müssen.  Wir  sehen  darin  einen  Widerspruch.  Man 
kann  vielleicht  ein  Ringsystem  aufbauen  mit  dem  Begriff  des  sich  triebhaft  leben- 
den Lebens,  und  man  kann  sicher  das  des  Idealismus  aufbauen  mit  dem  Begriff 
des  frei  schaffenden  Ich,   eine  Mischform   beider  halten  wir  nicht  für  durchführbar. 

Von  weiteren  Untersuchungen  wird  man  zu  hören  erwarten  dürfen,  wie  sich 
das  Gebiet  des  Ästhetischen  im  alten  Sinne  innerhalb  dessen  im  neuen  Sinne  ab- 
grenzt und  was  über  das  so  abgegrenzte  aus  den  gemachten  Voraussetzungen  folgt, 
im  vorliegenden  Buch  ist  darüber  Entscheidendes  nicht  gesagt. 

Berlin-Pankow. 

Christoph  Schwantke. 


Schriftenverzeichnis  für  1918'). 

Erste  Hälfte. 
I.  Ästhetik. 

1.  Geschichte  und  Allgemeines. 

Simmel,  O.,  Die  historische  Formung.    Logos.    Bd.  7.  Heft  2.  S.  113—152. 

Simmel,  G.,  Vom  Wesen  des  historischen  Verstehens.  Geschichtliche  Abende 
im  Zentralinstitut  für  Erziehung  und  Unterricht.  Heft  5.  31  S.  Berlin,  iVlittler. 
95  Pfg. 

Joel,  K.,  Jakob  Burckhardt  als  Geschichtsphilosoph.  159  S.  8°.  Basel,  Helbing  u. 
Lichtenhahn.   4.50  M. 

Simon,  K.,  Profanbaukunst  und  Dichtung  um  1200  in  Deutschland.  Zeitschrift  für 
den  deutschen  Unterricht.    32.  Jahrg.  Heft  1.  2.  S.  1—14. 

Schlosser,  J.  v.,  Die  Kunsttheorie  der  ersten  Hälfte  des  Cinquecento.  76  S. 
Sitzungsberichte  der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  Phil.-hist.  Klasse. 
184.  Bd.  2.  Abh.    gr.  8».   Wien,  Hödler.    2  M. 

Christoffel,  U.,  Der  schriftliche  Nachlaß  des  Anton  Raphael  Mengs.  Ein  Bei- 
trag zur  Erklärung  des  Kunstempfindens  im  späteren  18.  Jahrhundert.  144  S.  mit 
8  Tafeln,    gr.  8°.    Basel,  Schwabe.    4.50  M. 

Linke,  P.  F.,  Grundfragen  der  Wahrnehmungslehre.  Untersuchung  über  die  Be- 
deutung der  Gegenstandstheorie  und  Phänomenologie  für  die  experimentelle 
Psychologie.    XXXV,  383  S.  gr.  8«.    München,  Reinhardt    geb.  15  M. 

2.  Prinzipien  und  Kategorien. 
Laurila,  K.  S.,  Estetiikan  Peruskysymyksiä,  Ensi  Nidos.    (Grundfragen  der  Ästhetik, 

Erster  Band.)    Verlag  Werner  Söderström,  G.  m.  b.  H.  gr.  8°.   543  S.    12.50  M. 
Bolle,  iVl.,  Sur  la  Duree,  La  Liberte  et  Autres  »Intuitions«.    Mercure  de  France. 

Tome  CXXV,  S.  385-410. 
Simmel,  G,  Die  Gesetzmäßigkeit  im  Kunstwerk.   Logos.  Bd. 7.  Heft  3.  S. 213-223. 
Frischeisen-Köhler,  M.,  Über  das  ästhetische  Urteil  bei  Herbart.   Vierteljahrs- 
schrift für  philosophische  Pädagogik    1.  Jahrg.  Heft  3.  S.  197-203. 
Lukäcs,  G.  V.,  Die  Subjekt-Objektbeziehung  in  der  Ästhetik.    Logos.  Bd.  7.  Heft  1. 

S.  1-39. 
Dvoi'äk,  M.,  Idealismus  und  Realismus  in  der  gotischen  Skulptur  und  iWalerei 

Historische  Zeitschrift.  3.  Folge.  Bd.  23. 
Dyroff,  A.,  Über   Ideen  in  Bildern.    Zeitschrift  für  christliche  Kunst.    Jahrg.  31. 

Heft  5.  6.  S.  41-47. 
Breuker,  F.,  Lied  und  Bild.    Eine  vergleichende  Studie  über  Hauffs  und  Haugs 

Morgenrot.    Zeitschrift  für  den  deutschen   Unterricht.    32.  Jahrg.   Heft  3.  S.  108 

bis  115. 


')  Es  ist  diesmal  versucht  worden,  an  Stelle  der  alphabetischen  Anordnung 
innerhalb  der  Gruppen  eine  sachlich  begründete  Folge  eintreten  zu  lassen. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  lOJ 

Meyer,  K.  A.,  Leitmotive  in  der  Dichtkunst.    Eigenton  und  Assoziativ.   Bayreutiier 

Blätter.  1.— 3.  Stück.  S.  27—50.    4.-8.  Stück.  S.  104-130. 
Müller-Freienfels,  R.,  Die  nationale  Eigenart  der  deutschen  Verssprache.   Orenz- 

boten.  Jahrg.  77.  Heft  12.  S.  326—332. 
Schultze,  K.,  Etwas  vom  Tragischen.    Eine  Skizze.    Zeitschrift  für  den  deutschen 

Unterricht.  Jahrg.  32.  Heft  1.  2.  S.  14-33. 
Zornhoff,  H.  E,   Gedanken  über  G.  Meyrink  und  die  metaphysische  Dichtung. 

25  S.  kl.  8".    Leipzig,  Xenienverlag.    50  Pf. 
Ostwald,  W.,  Die  Farbenlehre.    In  5  Büchern.    I.Buch:  Malhetische  Farbenlehre. 

Mit  33  Figuren  im  Text.    XI  u.   129  S.   8».    Leipzig,  Verlag  Unesma.    Papp- 
band 6  50  M. 
Ostwald,  W.,  Die  Harmonie  der  Farben.    Mit  122  Figuren  im  Text.    VI  u.  48  8. 

8^    Leipzig,  Verlag  Unesma.    2  M. 
Ostwald,  W.,  Goethe,  Schopenhauer  und  die  Farbenlehre.    VI  u.  145  S.  gr,  8*. 

Leipzig,  Verlag  Unesma.    Pappband  6.60  M. 

3.  Kunst    und  Natur. 
Sehne,  A.,  Kunst,  Natur  und  Technik.    Innendekoration.  XXIX.  Jahrg.  Aprilheft. 

S.  107-110. 

4.  Ästhetischer  Eindruck. 
Oldenberg,    H.,   Die   vedischen  Worte   für  »schön«   und    ^Schönheit«   und   das 

vedische  Schönheitsgefühl.    Nachrichten  von  der  kgl.  Gesellschaft  der  Wiss.  zu 

Göttingen.    Philol.-hist.  Klasse.  1.  Heft,  S.  35-71. 
Henning,  R.,   Lektüre- Vorstellungsbilder  und   ihre  Entstehung.     Zeitschrift  für 

Psychologie.  Bd.  79.  S.  228—256. 
Hoeßlin,  J.  K.,  Das  Gesetz  der  spontanen  Nachahmung.    Archiv  für  die  gesamte 

Psychologie.  Bd.  38. 
Sterzinger,  O.,   Die  Bestandstücke  des  poetischen  Bildes  unter  dem  Gesichts- 
punkte seiner  Schöpfung.    Archiv  für  die  gesamte  Psychologie.  Bd.  37.  Heft  4. 

S.  363-401. 
Zimmermann,  E.,  Verschiedenheit  künstlerischen  Empfindens.    Innendekoration. 

S.  137—143. 

II.  Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

1.  Das  künstlerische  Schaffen. 
Cohn,  W.,  Die  Kunst  aller  Zeiten  und  Völker.    Ostasiatische  Zeitschrift.  Jahrg.  6. 

Heft  1.  2.  S.  100-110. 
Klein-Diepold,  R.,  Zur  Psychologie  des  künstlerischen  Schaffens.    Rheinlande. 

Jahrg.  18.  Heft  1.  2.  S.  33—39. 
Gissing,  G.,  Über  das  dichterische  Schaffen.    Archiv  für  das  Studium  der  neueren 

Sprachen  und  Literaturen.  Bd.  137. 
Nütgens,  H.,  Das  geistige  Schaffen  des  Malers.    Zeitschrift  für  christliche  Kunst. 

Jahrg.  31.  Heft  2.  S  11-19. 
K  u  h  I  m  a  n  n ,   C. ,   Über  Ursprung   und  Entwicklung  des  Dubslav-Charakters   in 

Th.  Fontanes  Roman  »Der  ^Stechlin«.    Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht. 

Heft  6.  S.  219-231. 
Conrad,  O.,   Leid  und   Kunst  bei  Michelangelo.     Monatsschrift  der  Comenius- 

gesellschaft.  Heft  2.  S.  23-32. 
Leitzmann,  A.,   Beethoven  und  Bettina.    Mit  Benützung  ungedruckten  Materials. 

Deutsche  Revue.  Jahrg.  43.  Februarheft  S.  109—119. 


102  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 

Schwarz,   H.,  Erinnerungen  an  meinen  Bruder  Ignaz  Brüll.    Brahms  und  Oold- 

mark.    Deutsche  Revue.  Jahrg.  43.  S.  146—157,  239—249. 
Schäfer,  W.,  Lebensabriß.    Deutsche  Rundschau.  Jahrg.  44.  Heft  4.  S.  79— 97. 
Groeper,  R.,  Emil  Oött  und  seine  Zeit.    Die  Tai  Jahrg.  10.  Heft  1.  S.  36-49. 
Wiener,  O.,  Mit  Detlev  von  Liliencron  durch  Prag.    64  S.  gr.  8».    Frankfurt  a.  M., 

Lüstenöder.    1.50  M. 
Heimann,  M.,  Alfred  Kerr.    Neue  Rundschau.  Jahrg.  29.  Heft  1.  S.  117—124 

2.  Anfänge  der  Kunst. 

Werner,  H.,  Die  melodische  Erfindung  im  frühen  Kindesalter.    Sitzungsberichte 
der  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  Phil.-hist.  Klasse  Bd.  182.  Abh.  4. 

3.  Tonkunst  und  Bühnenkunst. 

Mehlis,  O.,  Der  synthetische  Charakter  der  Musik.    Logos.  Bd.  7.  Heft  2.  S.  158 

bis  169. 
Oüldenstein,  O.,  Modulationslehre.    IV,  43  u.  39  S.  8°.    Stuttgart,  Grüninger. 

kartoniert  2.50  M. 
Hohn,  W.,   Der  Kontrapunkt  Palästrinas  und   seiner  Zeitgenossen.    Eine  Kontra- 
punktlehre mit  praktischen  Aufgaben.   124  S.  Anhang:  Notenbeigabe.  81  S.  kl.  8°. 

Aus  der  Sammlung:  Kirchenmusik,  herausgegeben  von  Weinmann.  Bd.  17.  Regens- 
burg, Pustet.    1.20  M.  u.  2  M. 
Möllendorff,  W.,   Musik  mit  Viertelstönen.    Erfahrungen  am  bichromatischen 

Harmonium.    159  S.  8".    Leipzig,  Leukart.    1.50  M. 
Rossat,  A.,  La  Chanson  Populaire  dans  la  Suisse  Romande.    VIII,  219  S. 
Rossat,  A.,  Les  Chansons  Populaires  Recueillies  dans  la  Suisse  Romande.   Bd.  1. 

160  S. 

(Beide:  Schriften  der  schweizerischen  Gesellschaft  für  Volkskunde  —  Publi- 

cations  populaires.  Bd.  13  u.  14.  Lex.  9*.   Basel.) 
Hackmann,  H.,  Die  Wiedergeburt  der  Tanz-  und  Qesangskunst  aus  dem  Geiste 

der  Natur.    86  S.  8».    Jena,  Diederichs.    2.50  M. 
Morsmann,  H.,  Deutsche  Musik.    Allgemeine  Musikzeitung.  Jahrg.  45,  Nr.  21,  22. 

S.  250-256.  Nr.  23.  S.  291—292. 
Niemann,   W.,    Revolution    und    Schreckensoper.     Gedanken    über    Cherubinis 

»Wasserträger«.    Allgemeine  Musikzeitung.  Jahrg.  45.  Nr.  11.  S.  115 — 116. 
Bekker,   P.,  Die  Sinfonie  von  Beethoven  bis  Mahler.    61  S.  8".    Berlin,  Schuster 

und  Löffler.   2  M. 
Holtzmann,   R,   Gustav   Mahlers   erste  Sinfonie.    Deutscher  Wille.   Jahrg.  31, 

Heft  11.  S.  113-117. 
Droescher,  G.,  Herders  Verhältnis  zur  Musik.   Allgemeine  Musikzeitung.  Jahrg.  45. 

Nr.  21,  22.  S.  243-250. 
Liebich,  O.,   Richard   Wagner    und   Grillparzer.    Bayreuther  Blätter.   Jahrg.  41. 
•     4.-8.  Stück.  S.  179—186. 
O  r  i  e  ß  e  r ,  L.,  Richard  Wagners  Tristan   und   Isolde.    Ein  Interpretationsversuch. 

292  S.  gr.  8«.   Wien,  Harbauer.    6  M. 
Saitschik,  R,  Wotan  und  Brünhilde.    (Die  Geburt  der  Seele.)    113  S.  8".   München, 

Beck    kartoniert  4  M. 
Sternfeld,  R.,  Motivwurzeln  der  Meistersinger-Musik.    Allgemeine  Musikzeitung. 

Jahrg.  45.  Nr.  25.  S.  308—310. 
Heindl,  M.,  Die  Esoterik  in  Wagners  »Tannhäuser..    (Mitgeteilt  durch  die  Rosen- 

kreuzer-Oesellschaft  in    Deutschland.     Übersetzt  von   Arminius.)    20  S.    Prana- 


d 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  103 


B  Bibliothek.    Vorträge  über  praktischen  Okkultismus.    8".    Heft  6.    Leipzig,  Theo- 

^^  sophisches  Verlagshaus. 

Qrunsky,  K.,  iVl.  Reger  als  kirchlicher  Tondichter.   Christliches  Kunstblatt.  Jahrg.  60. 

INr.  4.  S.  100-105. 
Poppen,  H.,  Max  Reger.    Q3  S.  mit  einem  Bildnis.    Breitkopf  und  Härteis  Musik- 
bücher.   70  Pf. 
B  e  h  r  e  n  d  ,  W.,  Niels  W.  Oade.    87  S.  mit  einem  Bildnis.    Breitkopf  und  Härteis 
Musikbücherei.  8».    1  iVI. 
Hausdorf  f,  O.,   Das  Werk   August  Halms.     Rheinlande.  Jahrg.  18.    Heft  3.  4. 

S.  69-72. 
Stork,  K.,  Der  Fall  Korngold.    Thürmer.  Jahrg.  20.  Heft  7.  S.  431— 433. 
Tiersot,  J.,  Le  Centcnaire  de  Oounod.    Revue  de  Paris.  Jahrg.  25.  Nr.  12.  S.  763 

bis  794. 
Prod'homme,  J.  O.,  Une  Familie  d'Artistes  Parisiens:  Les  Oounod.  Revue  de  Paris. 

Jahrg.  25.  Nr.  12.  S  736-762. 
Hartog,  W.  Q.,  Ouilbert  de  Pixerecourt,  sa  vie,  son  melodrame,  sa  technique  et 

son  influence.    Paris,  Champion,    vol.  1.  264  p. 
Brahms,  J.,  Briefwechsel.    Bd.  13.    Leipzig,  Engelmann.    Brahms  im  Briefwechsel 

mit  Th.  W.  Engelmann.    Mit  einer  Einleitung  von  Jul.  Röntgen  und  2  Bildnissen. 

182  S. 
Vus  den  Papieren  eines  deutschen  Musikers.    Allgemeine  Musikzeitung.    Jahrg.  45. 

Nr.  21.  22.  S.  256— 260.    Fortsetzungen  folgen. 
Verzeichnis  der  im  Jahre  1917  erschienenen  Musikalien,  auch  musikalischer  Schriften 

und  Abbildungen  mit  Anzeige  der  Verleger  und  Preise.    In  alphabetischer  Ord- 
nung nebst  systematisch  geordneter  Übersicht  und  einem  Titel-  und  Textregister. 

Jahrg.  66.  II,  198  S.  Lex.  8".    Leipzig,  Hofmeister.   24  M. 
Jahrbuch  der  Musikbibliothek   Peters  für  1917.     Herausgegeben   von   R.  Schwarz. 

Jahrg.  24.  XII,  111  S.  Lex.  8».    Leipzig,  Peters. 


Falkenfeld,  H.,  Vom  Sinn  der  Schauspielkunst.  Eine  Untersuchung  an  der  Kunst 
Max  Pallenbergs.  Mit  4  Bildern  von  Charlotte  Behrend.  151  S.  8".  Charlotten- 
burg, Lehmann.    5.50  M. 

Endemann,  H.,  Rampenlicht  und  Schattenseiten.  9  Aufsatze  über  Schauspielkunst 
und  Regieführung.    Ul,  VIII,  70  S.  8».    Charlottenburg,  Vita.    1,50  M. 

Bataille,  H.,  Ecrits  sur  le  Theätre.    Paris.    Edition  O.  Ores.    572  p. 

See,  E.,  Le  Theätre  des  Autres.  Critiques  dramatiques.  (2«  serie.)  Paris,  Ollen- 
dorf f.   331  p. 

Herald,  H.,  Bild  und  Bühnenbild.    Das  neue  Deutschland.  Heft  4.  S.  129.  130.     . 

Heine,  C,  Der  Episodenstil.    Die  lit.  Gesellschaft.  4.  Jahrg.  Heft  4.  S.  115-124. 

Frickenhaus,  A.,  Die  altgriechische  Bühne.  Mit  einer  Beilage  von  E.  Schwartz. 
Mit  29  Abbildungen  und  3  Tafeln.  VIII,  131  a  Heft  31  der  Schriften  der  wissen- 
schaftlichen Gesellschaft  in  Straßburg. 

Blanche,  J.  E.,  Les  Spectacles  de  la  Societe  Shakespeare.  Mercure  de  France. 
Tome  CXXV.  S.  619-638. 

W  e  i  c  h  e  r  t ,  M.,  Jakob  Gordin  und  das  jüdische  Theater.  Der  Jude.  Jahrg.  3. 
Heft  1.  S.  27-32.    Heft  2.  S.  88-96.    Heft  3.  S.  130-139.    Heft  4.  S.  180-191. 

Epstein,  M.,  Max  Reinhardt.    318  S.  8".    Berlin,  Winkelmann   und  Söhne.    8  M. 

Marcus,  CD.,  Reinhardts  Strindberg-Darstellung.  Das  neue  Deutschland.  Heft  2. 
S.  56-58. 

Cysotdt,  G.,   Reinhardt  und  die  Schauspieler.    Das  neue  Deutschland.    Monats- 


104  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 

Schrift  für  Theater  und  Literatur,  herausgegeben  vom  Deutschen  Theater,  Berlin. 

Jahrg.  1.  Heft  3.  O^hrg.  4  der  Blätter  des  Deutschen  Theaters.)  S.  92. 
Pander,  O.,  Der  Tanz  als  Ausdrucksl<unst.    Das  Landhaus.  3.  Jahrg.  Heft  6.  S.  89 

bis  95. 
Stern,  E.,  Die  Ballette  des  Deutschen  Theaters.    12  farbige  Original-Lithographien. 

Text  von  Oskar  Bie.  (8  S.)   32  x  49  cm.    Prospero-Drucke,  Nr.  4.   Berlin,  E.  Reiß. 

Halbpergamentband  160  M. 
Beiträge  zur  Literatur-  und  Theatergeschichte.    Ludwig  Geiger  zum  70.  Geburtstag. 

Herausgegeben  von  der   Gesellschaft  für  Theatergeschichte   Berlin.    XIl,  486  S. 

gr.  8°.    Berlin,  Behr.    gebunden  15  M. 

4.  Wortkunst. 

Kohler,  P.,  La  Literature  Personelle.    26  S.  8».    Bern,  Franke. 

Schulenburg,  W.  v.,  Ein  neues  Porträt  Petrarcas.  Eine  Studie  über  die  Wechsel- 
wirkung zwischen  Literatur  und  bildender  Kunst  zu  Beginn  der  Renaissance. 
61  S.  mit  4  Tafeln.  Lex.  8».    Bern,  Franke.    10  M. 

Trautmann,  H.,  Das  visuelle  und  akustische  Moment  im  mittelhochdeutschen 
Volksepos.    VIII,  123  S.  8".    Göttingen,  Vandenhoek  und  Rupprecht.    Diss. 

Brecht,  W.,  Klassisches  Altertum  und  neueste  Dichtung.  Vortrag.  22  S.  Wien, 
Fromme.    70  Pf. 

Gerber,  H.,  Mittelalterliches  und  Modernes  in  den  Dichtungen  Walthers  von  der 
Vogelweide.  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht.  Jahrg.  32.  Heft  3.  8.  96 
bis  108.    Heft  4.  S.  146-161. 

Pauls,  E,  Romantik  und  Neuromantik.  Zeitschrift  für  den  deutschen  Unterricht. 
Heft  4.  5,  S.  129-146. 

Cassirer,  E.,  Hölderlin  und  der  deutsche  Idealismus.  Logos.  Bd.  7.  Heft  3.  S.  262 
bis  282. 

Puls,  A.,  Kritische  und  erläuternde  Beiträge  zu  deutschen  Dichtern.  Zeitschrift 
für  den  deutschen  Unterricht.   Heft  4.  5.  S.  161-168. 

Meiler,  E.,  Der  Revolutionismus  in  der  russischen  Dichtung.  Nord  und  Süd. 
Jahrg.  42.  Februar-Heft.  S.  191—199. 

E  d  s  c  h  m  i  d ,  K.,  Expressionismus  in  der  Dichtung.  Neue  Rundschau.  Jahrg.  29. 
Heft  3.  S.  359-379. 

Döblin,  A,  Von  der  Freiheit  eines  Dichtermenschen.  Neue  Rundschau.  Jahrg.  29. 
Heft  6.  S.  843-850. 

Bartels,  A,  Lessing  und  die  Juden.  Eine  Untersuchung.  III,  380  S.  gr.  8».  Dres- 
den, Koch.    10  M. 

Marcuse,  A.,  Die  Tat  im  Drama.    Das  neue  Deutschland.  Heft  6.  S.  179—181. 

Wilamowitz-Moellendorff,  T.  v..  Die  dramatische  Technik  des  Sophokles.  Aus 
dem  Nachlaß.  Herausgegeben  von  E.  Kapp.  Mit  einem  Beitrag  von  Ulrich 
v.  Wilamowitz-Moellendorff.  IX,  379  S.  Mit  einem  Bildnis.  Heft  22  der  Philo- 
logischen Untersuchungen,  herausgegeben  von  Kießling.  gr.  8".  Berlin,  Weid- 
mann.   16  M. 

Ernst,  P.,  Die  Trachinierinnen.    Die  Rheinlande.  Heft  1.  2.  S.  20— 28. 

Bethe,  E.,  Medea-Probleme.  Berichte  über  die  Verhandl.  der  kgh  sächs.  Ges.  der 
Wissenschaften  zu  Leipzig.  70.  Bd.  Heft  1.  22  S.    Teubner.    1  M. 

Jahrbuch  der  Shakespeare-Gesellschaft.  Im  Auftrag  des  Vorstandes  herausgegeben 
von  Alois  Brandl  und  Max  Förster.  Jahrg.  54.  XXXIII,  201  S.  gr.  8».  Berlin, 
Reimer.    12  M. 

Robertson,  J.  M.,  Shakespeare  and  Chapmann.    London.  Fischer,  1917.  8".  302  p. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  105 

Chambrun,  L,  Deux  Pieces  de  Shakespeare.  Revue  de  Paris.  Jahrg.  25.  Heft  7. 
S.  625-650. 

Marcus,  CD.,  Sirindbergs  Dramatik.  Mit  Abbildungen  (auf  Tafeln)  nach  Svend 
Gade,  E.  Stern  und  Pasetti.    480  S.  8".    München,  Müller.    8  M. 

Braun,  O.,  Strindbergs  Oeschichlsphilosophie.  Logos.  Bd.  7.  Heft  2.  S.  153 
bis  157. 

Seh  naß,  F.,  Drei  Mörike-Balladen,  ästhetisch  erläutert  unter  dem  methodischen 
Gesichtspunkt  einer  induktiven  Oruppenanalyse.  Schaffende  Arbeit  und  Kunst 
in  der  Schule.   Jahrg.  6.  Heft  1.  2.  S.  14-22;  45—59. 

Heiß,  H.,  Wege  der  französischen  Lyrik  seit  100  Jahren.  Zeitschrift  für  franzö- 
sischen und  englischen  Unterricht.  Bd.  17.  Heft  2.  S.  98—125. 

Arbelet,  H.,  L'Hisloire  de  la  Peinture  en  Italic  et  les  Plagiats  de  Stendhal.  Paris 
Galman-Levy.    IV  et  536  p. 

Baudelaire,  Ch.,  Les  Fleurs  du  Mal.  Avec  une  £tude  sur  la  vie  et  les  Oeuvres 
de  Baudelaire,  par  C.  Vergniol.    Paris.    LIX  et  320  p. 

Egger,  M.,  Chateaubriand  Inedit.    Nouvelles  Letlres.    Paris,  H.  Ledere.    52p. 

Brömse,  H.,  Kampf  im  altdeutschen  Lied.  Nord  und  Süd.  Jahrg.  42.  Februar- 
Heft.  S.  199-204. 

Loerke,  O.,  Neue  Lyrik.    Neue  Rundschau.  Jahrg.  29.  Heft  2.  S.  267— 274. 

Schumann,  W.,  Zu  Franz  Werfeis  Lyrik.  Deutscher  Wille.  Jahrg.  31.  Heft  11. 
S.  107-112. 

Behrens,  O.,  Cari  Wagenfeld,  ein  plattdeutscher  Dichter.  Norddeutsche  Monats- 
hefte.   4.  Jahrg.  Nr.  12.  S.  457— 461, 

Delius,  R.  v.,  Hölderlins  Gedichtfragmente.  Die  lit.  Gesellschaft.  4.  Jahrg.  Heft  6. 
S.  188-194. 

Merck,  H.,  Ein  Weg  zu  Jean  Paul.  Die  lit  Gesellschaft.  4.  Jahrg.  Heft  6  S.  199— 204. 

Everth,  E.,  Der  Ketzer  von  Soana.   Die  Gegenwart.  47.  Jahrg.  Heft  11/12.  S.  86-89. 

Jarintzov,  N.,  Russian  Poets  and  Poems.  Vol.  1.  Classics.  Oxford,  Blackwell, 
1917.   8».   XXXIX  and  318  p. 

Persky,   S.,  La  vie  et  l'Oeuvre  de  Dostoievsky.    Avec  un  portrait.    Paris,  Payot. 

Aronstein,  Ph.,  George  Merediths  Romankunst.  Die  neueren  Sprachen.  Bd.  26. 
Heft  1.  2.  S.  14-32. 

Wandrey,  C,  Theodor  Fontanes  »Effi  Briest«.  Deutsche  Rundschau.  Bd.  44. 
Heft  5.  S.  209-227. 

Schwartz,  E.,  Zur  Entstehung  des  Hias.  V,  40  S.  Schriften  der  wissenschaft- 
lichen Gesellschaft  in  Straßburg.    Heft  34.  Lex.  8».    3  M. 

Wächter,  K.,  Kleists  Michael  Kohlhaas,  ein  Beitrag  zu  seiner  Entstehungsge- 
schichte. VIII,  92  S.  Forschungen  zur  neuen  Literaturgeschichte,  herausgegeben 
von  Fr.  Munker.    Heft  52.    Weimar,  Dunker.    5  M. 

Seh  üb  ri  ng,  P.,  Dante.    Die  Hilfe.    Nr.  26.  S.  299-302. 

Scherer,  W.,  Von  Goethe  und  seinen  Trabanten.  Für  die  deutsche  Bibliothek 
herausgegeben  von  A.  Eggers.  281  S.  Deutsche  Bibliothek.  Bd.  114.  kl.  8». 
Beriin.    2  M. 

Goethe  und  Lavater.  Zeugnisse  ihrer  Freundschaft.  98  S.  Schweizer  Bibliothek. 
Zürich,  Rascher.    2  M. 

Ehrenberg,  H.,  Goethes  Testament  am  Faust  ermessen.  Logos.  Bd.  7.  Heft  2. 
§.  170—181. 

Hartwig,  Heine  und  die  Engländer.  Monatshefte  der  Comenius-Gesellschaft  für 
Kultur-  und  Geistesleben.   Neue  Folge.  Bd.  10.  Heft  1.  S.  1-16. 

Keller,  G.,  Jeremias  Gottheit.    Aufsätze.    Herausgegeben  von  E.  KorrodL   68  S. 


106  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 


Ermatinger,  E.,  Gottfried  Kellers  Leben,  Briefe  und  Tagebücher  auf  Grund  der 
Biographie  J.  Baechtolds  dargestellt  und  herausgegeben.  Bd.  1.  Gottfried  Kellers 
Leben.  Mit  einem  Bildnis.  3.  Auflage.  XII,  677  S.  gr.  8».  Stuttgart,  Cotta.   17  M. 

Kempf,  J.  K.,  Heinrich  Hansjakob.  Sein  Leben,  Wirken  und  Dichten.  Mit  9  Bil- 
dern.   44  S.  8».    Stuttgart.   4.80  M. 

Hoffmann,  K.  E.,  Jakob  Burckhardt  als  Dichter.  Ein  Vortrag.  56  S.  kl.  8°.  Basel, 
Helbing  und  Lichtenhahn.    2.25  M. 

Frings,  Th.,  Über  die  neuere  flämische  Literatur.  Zwei  Vorträge.  79  S.  kl.  8". 
Marburg,  Elwerths.    1 .50  M. 

5.   Raumkunst. 

Scheibe,  W.,  Bauliche  Ideen  und  die  Wege  zu  ihrer  Gestaltung  in  neuerer  Zeit. 
1 1  S.  mit  Abbildungen.  8°.    Leipzig,  Leineweber.    75  Pf. 

Zetzsche,  C,  Erweiterungs-  oder  Neubau.  Beispiele  aus  dem  ländlichen  Kirchen- 
bau.   111.  Die  Kirche.    Bd.  15.  Heft  2.  3.  S.  10—19. 

Huysmans,  J.  K.,  Geheimnisse  der  Gotik.  Drei  Kirchen  und  drei  Primitive.  Über- 
tragen von  St.  Strizek.  Mit  24  Bilderbeilagen  auf  Tafeln.  202  S.  Lex.  8".  Mün- 
chen, Müller.    8  M. 

Patzak,  B.,  Die  Jesuitenbauten  in  Breslau  und  ihre  Architekten.  Ein  Beitrag  zur 
Geschichte  des  Barokstils  in  Deutschland.  Mit  40  Lichtdrucktafeln.  XIX,  348  S. 
Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte.    Heitz,  Straßburg.    Heft  204.    35  M. 

Obser,  K.,  Beiträge  zur  Baugeschichte  des  Klosters  Frauenalb,  insbesondere  im 
Zeitalter  des  Barock.  Mit  4  Lichtdrucktafeln  und  2  Plänen.  60  S.  8».  Karls- 
ruhe, Braun.    3  M. 

iJrinkmann,  A.  E.,  Barockskulptur.  Entwicklungsgeschichte  der  Skulptur  in  den 
romanischen  und  germanischen  Ländern  seit  Michelangelo  bis  zu  Beginn  des 
18.  Jahrhunderts.  Heft  1—4.  Handbuch  der  Kunstwissenschaft.  Lex.  8".  Neu- 
babelsberg, Akademischer  Veriag.  VIII,  96  S.  mit  Abbildungen  und  4  Tafeln. 
Jede  Lieferung  2.50  M. 

Das  Bürgerhaus  in  der  Schweiz.  La  Maison  Bourgeoise  dans  la  Suisse.  Heraus- 
gegeben vom  Schweizer  Ingenieur-  und  Architektenverein.  Bd.  6.  32  x  24  cm. 
Zürich.  Orell  Füßli.  Das  Bürgerhaus  im  Kanton  Schaffhausen.  LVIll  S.  mit  Ab- 
bildungen und  109  S.   20  M. 

Burg,  E.,  Cambrai.    Mit  47  Tafeln  und  1  Plan.    X,  205  S.   3.50  M. 

Rauch,  Gh.,  Douai.  Kultur-  und  kunstgeschichtliche  Studien.  Mit  63  Tafeln. 
X,  76  S.    3  M. 

Pescatore,  A.,  Der  Meister  der  bemalten  Kreuzigungreliefs.  Ein  Beitrag  zur  Ge- 
schichte der  niederländischen  Plastik  im  15.  Jahrhundert.  Mit  7  Lichtdrucktafeln. 
VII,  135  S.    Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte.    Straßburg,  Heitz.    Heft  208. 

10  m: 

Kutter,  P.,  Der  Einfluß  des  kirchlichen  Bestattungswesens  (Totenmesse)  auf  die 
ältere  Grabmalkunst.    Die  christliche  Kunst.  Jahrg.  14.  Heft  9.  10.  S.  202-222. 

6.  Bildkunst. 

Zimmermann,  M.  G.,  Winkelmann.    Der  Klassizismus  und  die  märkische  Kunst 

Bayreuther  Blätter.    Stück  4—8.  S.  149-175. 
Deri,  M.,  Idealismus  und  Expressionismus.    Das  neue  Deutschland.   Heft  4.  S.  95 

bis  98. 
Deri,  M.,  Expressionismus  in  der  Malerei.    Das  neue  Deutschland.    Heft  6.  S.  174 

bis  177. 


I 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  KÜR  1918. 


107 


Heise,  CO.,  Norddeutsche  Malerei.    Studien  zu  ihrer  -  Entwicklungsgeschichte  im 

15.  Jahrhundert   von    Köln   bis    Hamburg.    V,   192  S.    mit    100  Tafein.  Lex.  8°. 

Leipzig,  K.  Wolff.    32  M. 
Beriten,  ii.  v.  d.,  und  Mayer,   A.  L.,   Die  Malerei  des  15.  und  16.  Jahrhunderts 

in  Oberitalien.    Heft  1.   Handbuch  der  Kunstwissenschaft.   Lex.  8".    Akad.  Verl. 

Jede  Lieferung  2.50  M. 
Dürers  Zeichnungen.    Mit  einer  Einl.    Herausgegeben  von  Willibald  Franke.  112S. 

Comenius-Bücher.   Bd.  4.    4  M. 
Albrecht  Dürer.    Oewählt  und   eingeleitet  von  H.  W.  Singer.    Mit  80  Abbildungen, 

Briefen  und  Auszügen  aus  den  Tagebüchern  und  Schriften  des  Künstlers.    106  S. 

München,  H.  Schmidt.    3  M. 
Pauli,  O,  Die  Dürerliteratur  der  letzten  drei  Jahre.    Repertorium  für  Kunstwissen- 
schaft. Bd.  41.    Neue  Folge.    Bd.  6.  Heft  1.  2.  S.  1—34. 
Waetzoldt,  W.,  Deutsche  Malerei  seit  1870.    Mit  53  Abbildungen.    VII,  94  S.  und 

36  S.  Abbildungen.   Wissenschaft  und  Bildung.  Bd.  144.   Leipzig,  Quelle  &  Meyer. 
Osell,  P.,  Auguste  Rodin     Revue  de  Paris.    Jahrg.  25.  Nr.  2.  S.  400-417. 
Neues  von  Spitzweg.    Oedichte  und  Briefe.    Mit  42  Kupferdruckbildern  (auf  Tafeln) 

und  Zeichnungen.  (73  S.)  8".    München,  Delphin- Verlag.    3.50  M. 
Wich  mann.  Fr.,  Erinnerungen  an  F.  Hodler.    76  S. 
Trog,   H.,   Ferdinand  Hodler.    Erinnerung  an  die  Hodler-Ausstellung  im  Züricher 

Kunsthaus.    Mit  16  Tafeln.  51  S.  8».    Zürich,  Rascher.    3.80  M. 
Loosli,  CA.,  Ferdinand  Hodler.    Beiträge  zur  Erkenntnis  seiner  Persönlichkeit 

und  seines  Schaffens.  1.  Lieferung.  (19  Tafeln  mit  VIII,  9  S.  Text.)  56,6x42,5  cm. 

Zürich,  Rascher.    35  M. 
0 raber,   H.,  Jüngere   Schweizer   Künstler.    Bd.  1.    Mit  30  Tafeln.  41  S.   Lex.  8«. 

Basel,  Schwabe.    9  M. 
Vogel,  J.,  Otto  Oreiners  graphische  Arbeiten  in  Lithographie,  Stich  und  Radie- 
rung.   Wissenschaftliches  Verzeichnis.    Mit  40  Tafeln.   120  S.  Lex.  8".    Dresden, 

Arnold.    55  M. 
Pelka,  O.,  Ludwig  Richter.    Aus  dem  Leben  eines  deutschen  Malers.    52  S.  8°. 

Beriin,  Furche-Veriag.    1.60  M. 
Veröffentlichung  der  graphischen  Gesellschaft.    Berlin,  Bruno  Cassirer.    Der  Meister 

von  1515.    Nachbildungen  seiner  Kupferstiche.    36  Tafeln,    Herausgegeben  von 

Paul  Kristeller.   8  S.   39  x  28,5  cm.    (Nur  für  Mitglieder.) 
Drucke  der  Maree-Oesellschaft.    Herausgegeben  von  J.  Meier-Oraefe.    2.  u.  3.  Druck. 

München,  Piper. 

Cezannes   Aquarelle.    10  farbige  Tafeln   ip  Passepartout.    53  X  43  cm.    Mit 

einer  Vorrede  von  J.  Meier-Oraefe.    15  S.    350  M. 

Shakespeare -Visionen.     Eine    Huldigung   deutscher   Künstler:   Radierungen, 

Steindrucke,   Holzschnitte.    32  Blatt  in  Passepartout.    54  x  45  cm.    Vorrede  von 

O.  Hauptmann.    13  S.    250  M. 
Honore  Daumier:  Holzschnitte:  1833—1870.    Herausgegeben  von  O.Fuchs.   Mit 

122  Illustrationen.    220  S.    München,  Langen.    25  M. 
Zeichnungen  aus  dem  Besitz  der  Nationalgalerie.    Herausgegeben  von  Ludwig  Justi. 

(Amtl.  Veröffentl.  der  Königlichen  National-Oalerie  zu   Beriin.)   6.  und  7.  Liefe- 
rung.   Je  10,  zum  Teil  farbige  Tafeln  und  10  Blätter  Erklärungen.  47  x  35,5  cm. 

Beriin,  Bard. 
Jahrbuch    der    Königlich     preußischen    Kunstsammlungen.      Herausgegeben    von 

W.  Bode  etc.    Bd.  39.  4  Hefte.    35,5  x  24,5  cm.    Beriin,  Orote.    40  M. 
Ooethes  Briefwechsel  mit  Heinrich  Meyer.    Herausgegeben  von  M.  Hecker.   Schriften 


108  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918, 

der  Goethe-Gesellschaft.  Bd.  32.  (Juli  1788-1797.)  Xll,  458  S.  (Nur  für  Mit- 
glieder.) 

Eugene  Delacroix:  Briefe  I.  1813—1846.  Deutsch  von  W.Stein.  212  S.  Mit 
einem  Bildnis,   gr.  8".   9  M. 

Alfred,  E.  F.,  Zehn  Gedichte  zu  Gemälden  Feuerbachs.  15  S.  8°.  Berlin,  Schoen- 
feld  und  Sohn.    65  Pf. 

Jahrbuch  des  deutschen  Werkbundes  1916/17.  Kriegsgräber  im  Felde  und  daheim. 
63  S.  mit  164  S.  Abbildung,  gr.  8°.    München,  Bruckmann.    4M. 

Berken,  E.  Fthr.v.,  Siegel.    Mit  152  Abbildungen.    189  S.    8  M. 

Schottmüller,  F.,  Bronze-Statuetten  und  Geräte.  Mit  123  Abbildungen  im  Text. 
166  S.  8  M.  —  Beide  aus  der:  Bibliothek  für  Kunst-  und  Antiquitätensammler. 
Bd.  11  und  12.    Berlin,  Schmidt  &  Co. 

Rosenberg,  M.,  Geschichte  der  Goldschmiedekunst  auf  technischer  Grundlage. 
Abteilung  III.  Granulation,  IX,  158  S.  mit  284  S.  35,5  x  26  cm.  Frankfurt  a.  M., 
Keller.    112  M. 

Pelka,  O,  Die  Meister  der  Bemsteinkunst.  Mit  6  Abbildungen  auf  4  Tafeln.  60  S. 
Lex.  8".    Leipzig,  Hiersemann.    4  M. 

Esc  her,  K.,  Die  Miniaturen  in  den  Basler  Bibliotheken,  Museen  und  Archiven, 
)  mit  Unterstützung  der  Universitäts- Bibliothek,  der  öffentlichen  Kunstsammlungen 
und  der  Jakob  Burckhardt- Stiftung  herausgegeben.  XI,  278  S.  Mit  47  Abbil- 
dungen und  82  Tafeln.    36  X  27  cm.    Basel,  Kober.    185  M. 

Li  11,  G.,  Nymphenburger  Porzellan.  Kunst  und  Handwerk.  2.  Vierteljahrheft, 
S,  27-33. 

Pelka,  O.,  Deutsche  Hausmöbel  bis  zum  Anfang  des  19.  Jahrhunderts.  In  143  Ab- 
bildungen,   2.  Auflage.    114  S.    Voigtländers  Quellenbücher.    Bd.  8. 

7.  Geistige  und  soziale  Funktion  der  Kunst. 

Hart,  ].,  Kunst  und  Kritik.    Das  Landhaus.  3.  Jahrg.  Heft  3,  S.  44— 47, 

Fritz  Schumacher:  Die  Reform  der  kunsttechnischen  Erziehung.    Leipzig,  Quelle 

und  Meyer,  1918. 
Eggers,    P.,  Grundlagen   einer   neuen   deutschen   Kunst.     Betrachtungen   eines 

Malers.    Die  Tat.  Jahrg  10.  Heft  3,  S.  192-2>)2. 
Scheffler,   K.,   Der  Beruf  des  Architekten.    Vortrag.    16  S.  8».   Zürich,  Rascher. 

1.20  M.    S.-A.  aus  der  Schweizer  Bauzeitung.  Bd.  71. 
Behrens,   P.,   Die  Aussichten  der  deutschen  Qualitätsindustrie.    Innendekoration. 

Januar-Februar-Heft.    S.  19-24, 
Schmidt,  K.,  Vom   künstlerischen  Handwerk  in  Deutschland.    Innendekoration. 

Aprilheft.   S.  112-119, 
Bode,  W.,  Der  Kunsthandel  und  die  Kunstauktionen  in  Deutschland  während  des 

Krieges,    Deutscher  Wille.   Jahrg,  31.  Heft  8,  S.  33—36. 
>25   Jahre   Deutsche   Gesellschaft    für   christliche   Kunst«,     Die   christliche   Kunst 

Jahrg.  14,  Heft  4,  5,  S.  77—135. 
Waldmann,  E.,  Der  Mäzen,    Neue  Rundschau.  Jahrg.  29.  Heft  6.  S.  792-815. 
Süßmilch,   H.,  Die  lateinische  Vagantenpoesie  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  als 

Kulturerscheinung.  Beiträge  zur  Kulturgeschichte  des  Mittelalters  und  der  Re- 
naissance.   Bd.  25.    Herausgegeben   von   W.  Goetz.  gr.  8".    Leipzig,  Teubner. 

X,  104  S,    4.80  M, 
F !  o  e  r  k  e ,  H.,  Die  Moden  der  italienischen  Renaissance.    (Mitarbeiter  R,  Heyne.) 

112  S.  mit  132  Tafeln.    München,  .Müller.    25  .M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 


109 


Oerkrath,  E.,  Das  dramatische  Meisterwerk  des  Protestantismus.  (Hamlet.)  75  8. 
Berlin,  Hutten-Verlag.    2  M. 

Wüst,  P.,  Conrad  Ferdinand  Meyer  in  französisrhem  Lichte.  30  5.  Mitteilungen 
der  literarhistorischen  Gesellschaft  Bonn.   Jahrg.  11.  Heft  1. 

Toth,  K.,  »Jean  Christophe«  und  die  deutsche  Kultur.  Deutsche  Rundschau  44. 
Heft  4.  S.  57-78. 

Gaiffe,  F.,  L'Ame  de  la  Pologne  d'aprfes  son  Th^ätre.  Mercure  de  France. 
Tome  CXXVI. 

Zickel,  R.,  Gustav  Meyrink,  ein  Zeitphantom.  Christliche  Welt.  Jahrg.  32.  Nr.  1 
S.  8-13. 

Hirsch,  G.,  Ästhetik  und  Pädagogik.  Ein  kritischer  Beitrag  zur  Geschichte  neu- 
zeitlicher pädagogischer  Strömungen.  Die  deutsche  Schule.  Jahrg.  22.  Heft  6.  7. 
S.  209-216.    S.  241     249. 

Franfois,  K.  v.,  Ästhetische  Lebensgestaltung  einst  und  jetzt.  Bayreuther  Blätter. 
Jahrg.  41.  Stück  1—3.  S.  60—69. 

Diesendrunk,  W,,  Erziehung  zur  Musik.    Die  Tat.  Jahrg.  9.  Heft  11.  S.  942—950. 

O  ö  h  I  e  r ,  G.,  Zum  70.  Geburtstage  H.  Kretzschmars.  Türmer.  Jahrg.  20.  Heft  10. 
S.  579-581. 

Pfordten,  O.  v.  d..  Ausländerei  in  der  Musik.  Allgemeine  Musikzeitung.  Jahr- 
gang 45.  Nr.  1.  S.  3-6. 

Stork,  K.,  Kunst  und  Herrenhaus.    Türmer.  Jahrg.  20.  Heft  11.  S  625-630. 

Schlösser,  R.,  Vom  rumänischen  Reclam.    Grenzboten.  |ahrg.  77.  Nr.  1.  S.  16—26. 

Nötzold,  E.,  Wie  ich  die  Kriegsschundliteratur  bekämpfe.  Schaffende  Arbeit. 
Jahrg.  6.  Heft  3.  S  81— 88. 

H  r  u  d  i  I ,  P.,  Steirische  Volkskunde  und  Volkskunst  Österreichische  Rundschau. 
Bd.  54.  Heft  3.  S.  130—134. 


8.  Neue  Zeitschriften. 

Beiträge  zur  Philosophie  des  deutschen  Idealismus.  Im  Auftrage  der  deutschen 
philosophischen  Gesellschaft  und  unter  Mitwirkung  von  Br.  Bauch  heraus- 
gegeben von  A.  Hoffmann  und  H.  Engert.  Bd.  1.  4  Hefte.  8».  Heft  1  44  S. 
Erfurt,  Keyser.    6.50  M.    Einzelheft  2.50  M. 

Drucke  der  Wahlverwandten.  Veröffentlichungen  bedeutsamer  Werke  der  Original- 
Graphik  in  Verbindung  mit  gleichwertigen  Schöpfungen  zeitgenössischer  leben- 
der Schriftsteller.  Gegründet  und  geleitet  von  E.  Grüner.  Bd.  1—3.  Leipzig, 
Meißner. 


Vorlesungen  an  Universitäten  deutscher  Sprache. 


Winter-Halbjahr  1918/1919. 


I, 


Berlin:  Dessoir,   Übungen  zur  Ästhe- 
tik; 2stündig. 

Fleischer,  Musikinstrumehtenkunde; 
2stündig. 

Fleischer,  Hauptstreitfragen  der 
musikalischen  Ästhetik;  tstündig. 

Wulff,  Die  Kunst  des  Kindes;  2stün- 
dig. 

Johannes  Wolf,  Lektüre  mittelalter- 
licher Musiktheoretiker;   l'/sstündig. 
Bonn:  Bombe,  Die  Aufgaben  der  Bau- 
kunst, Bildhauerkunst  und  Malerei; 
2stündig. 

Giemen,  Das  Technische  in  Malerei 
und  Plastik;  1  stündig. 

Dy  rof  f ,  Dante  und  seine  Weltanschau- 
ung; Istündig. 

Schiedermair,  Orundzüge  der  Har- 
monielehre; Istündig. 
Breslau:  Kühnemann,  Goethes  Faust 
als  Ausdruck  seiner  Weltanschauung; 
2stündig. 

Schneider,  Musikalische   Satzlehre ; 
Istündig. 
Erlangen :  S  c  h  m  i  d  t ,  Theorie  der  Musik  ; 

2stündig. 
Frankfurt:  Cornelius,   Kunstwissen- 
schaftliche Übungen  (Einführung  in 
das  Studium  des  menschlichen  Kör- 
pers) mit  Dr.  Fück;  2stündig. 

Müller,    Museumskunde;    2stündig. 
Freiburg  i.  Br.:  Paufler,  Literarisch- 
ästhetische Übungen  an  Lafontaines 
Fabeln;  2stündig. 
Gießen:  Kinkel,  Ästhetik;   Istündig. 

Strecker,  Die  Weltanschauungen 
unserer  großen  Dichter  von  Schiller 
bis  zur  Gegenwart;  Istündig. 


Rauch,  Kunstwissenschaftliches  Semi- 
nar: Lionardos  trattato  della  pittura 
und  Klingers  »Malerei  und  Dichtung- . 

Kalbfleisch,  Aristoteles'  Poetik ; 
2stündig. 

Kalbfleisch,  Seminar  für  klassische 
Philologie:  Horaz'  ars  poetica.-  • 

Trautmann,  Übungen  in  Elemenlar- 
theorie  und  Harmonielehre  für  An- 
fänger; Istündig. 
Göttingen:  Reitzenstein,  Horaz'  ars 
poetica;  2stündig. 

Weißenfels,  Ausgewählte  Kapitel 
der  Poetik;  Istündig. 

Weißenfels,  Seminar:  Lessings  Hani- 
burgische  Dramaturgie;  2stündig. 
Greifswald:  Zingel,  Musiktheorie  für 
Anfänger:  Harmonielehre;  Istün- 
dig. 
Halle:  Ziehen,  Grundlagen  der  Ästhe- 
tik; Istündig. 

Ziehen,  Experimentell-psychologische 
Übungen  zur  Ästhetik;  2stündig. 

W  a  e  t  z  o  I  d  t ,  Geschichte  der  deut- 
.schen  Kunstgeschichtsschreibung ; 
Istündig. 
Heidelberg:  Wolfrum,  Harmonie- 
lehre; 2stündig. 
Jena:  Nohl,  Einführung  in  die  Ge- 
schichte der  Ästhetik;  Istündig. 

Dinger,  Fr.  Schillers  Welt-  und 
Kunstanschauung;  Istündig. 

Dinger,  Dramaturgisches  Privatsemi- 
nar: Schillers  Dramen  und  drama- 
tische Fragmente;  2stündig. 

Stein,  Die  musikalischen  Formen  in 
ihrer  geschichtlichen  Entwicklung; 
2stündig. 


J 


VORLESUNGEN  AN  UNIVERSITÄTEN  DEUTSCHER  SPRACHE.         1  {  } 


Kiel :  D  e  u  ß  e  ii ,  Psychologie  und  System 
der  Philosophie  (3.  Teil:  Ästhetik); 
4stündig. 

Deußen,  Über  Goethes  philosophi- 
sche Gedichte;  1  stündig. 

Wolff,  Poetik,  Rhetorik,  Stilistik  und 
Metrik;  3stündig. 

Königsberg:  Fiebach,  Elementar- 
theorie der  Musik;  2stündig. 

Leipzig:  Volkelt,  Schiller  als  Philo- 
soph; 1  stündig. 

Volkelt,  Ästhetik  der  Komik  und  des 
Humors;  Istündig. 

Schmarsow,  Kunstwissenschaft  und 
Kulturphilosophie  in  ihrem  gegen- 
seitigen Verhältnis;  Istündig. 

Schmarsow,  Ästhetik  der  Malerei; 
4stündig. 

Prüfer,  Richard  Wagner  im  Zusam- 
menhang mit  der  Kunst  und  Welt- 
anschauung des  18.  und  19.  Jahrhun- 
derts; 2stündig. 

Prüfer,  Musikwissenschaftliche  Übun- 
gen: Ausgewählte  Kapitel  aus  Scho- 
penhauers Hauptwerk  »Die  Welt  als 
Wille  und  Vorstellung«,  zur  Hundert- 
jahrfeier seiner  Entstehung  (1818); 
Wagners  Schrift  »Beethoven«  und 
P.  Deußen  »Die  Elemente  der  Meta- 
physik«. 

Marburg:   Hamann,   Ästhetik;  2stün- 

dig. 
Jenner,  Harmonielehre  für  Anfänger 

und  Fortgeschrittene;  je  Istündig. 
MUnclien:  Crusius,  Formenlehre  der 

antiken  Dichtung  (Metrik  und  Poetik); 

4stündig. 
Wölfflin,  Übungen:  Methodik  der 

Autorschaftsbestimmung;  2stündig. 
Sa  ndb  erger.  Musiktheoretische  Kurse 

(gemeinsam     mit    Hofkapellmeister 

Prill);  2stündig. 
Kutscher,    Allgemeine    Theaterge- 
schichte   von    der    Renaissance    bis 

zur    Gegenwart;     mit    Lichtbildern;  i 

2stündig. 
Kutscher,   Übungen  in  praktischer  i 

Theaterkritik    nach    dem    Spielplan 

unserer  Bühnen;  2stündig. 


Strich,   Übungen  zum  Problem  der 
Form  in  der  Dichtung  (Fortsetzung) ; 
1  '/sstündig. 
MOnster:  Braun,  Die  Anschauung  voir 
Welt   und  Leben   in  der  modernen 
Kunst  (von   Ibsen  bis  zu  den   Ex- 
pressionisten) ;  2stündig. 
Schwering,  Naturalismus,  Symbolis- 
mus und  Heimatkunst;  2stündig. 
Schwering,  Stilistik;  Istündig. 
Vorlesungen   über  Zeitungswesen: 

darunter: 
Plenge,  Die  Presse  im  Oesellschafts- 

leben  der  Gegenwart; 
Schwering,  Presse  und  Literatur; 
Hoff  mann,    Presse    und    Wissen- 
schaft; 
Ehrenberg,   Presse   und   bildende 
Kunst. 
Rostock:    Utitz,    Das    Schaffen    des 

Künstlers;  2stündig. 
Strasburg:  Schultz,  Wesen  und  Ziele 
deutscher  Dichtung  der  Gegenwart ; 
Istündig. 
Tübingen:  Spitta,   Kritische  Vorträge 
über  Goethes  Faust;  2stündig. 
von  Lange,  Die  Ästhetik  der  Gegen- 
wart; 2stündig. 
Watzinger,   Probleme  der  Form   in 

der  antiken  Plastik;  Istündig. 
Volbach,   Das    Kunstwerk   Richard 
Wagners  und  der  deutsche  Gedanke ; 
Istündig. 
Volbach,    Harmonielehre;    Istündig. 
Volbach,  Die  Kunst  der  Sprache  mit 
praktischen  Übungen;  Istündig. 
Wörzburg:    Marbe,    Experimentelle 
Übungen    zur    Einführung    in    die 
Psychologie,  Pädagogik  und  Ästhetik 
(gemeinsam  mit  Professor  Peters); 
Sstündig. 
Marbe,   Anleitung  zu    wissenschaft- 
lichen   (auch     pädagogischen     und 
ästhetischen  Arbeiten);  48stündig. 
Peters,   Experimentelle  Übungen  zur 
Einführung  in  die  Psychologie,  Päd- 
agogik  und  Ästhetik;   mit  Professor 
Marbe;  Sstündig. 
Knapp,   Vom    Impressionismus   zum 
Kubismus;  2stündig. 


112         VORLESUNGEN  AN  UNIVERSITÄTEN  DEUTSCHER  SPRACHE. 


11. 


Czernowitz: 

Grazt  Mesk,  Aristoteles  Poetik,  2stün- 

dig. 
Innsbruck: 
Prag:  Riet  seh.  Die  Tonsprache  beim 

deutschen  Lied;  1  ständig. 
Daninger,  iWusikästhetik;   Istündig. 

1 

Basel:  Stroux,  Rhetorik  der  Griechen 

und  Römer;  4stündig. 
Bern :  H  ä  b  e  r  1  i  n ,   Einführung  in  die 

Kulturpsychologie      (Religion      und 

Kunst);  Istündig. 
K  u  r  t  h ,    JVlusikalische    Formenlehre ; 

Istündig. 


Schneider,  Einführung  in  die  Grund- 
begriffe der  Musiktheorie;  3stün- 
dig. 
Wien:  Strzygowski,  Bildende  Kunst 
und  weltliche  Macht,  2stündig. 
Adler,  Musikalische  Stilperioden ; 
Istündig. 


HL 


K  u  r  t  h ,    Übungen    in    musikalischer 
Stilkritik;  Istündig. 
Zürich:  Eleutheropulos,  Kunst  und 
Künstler;  2stündig. 

Ehrenfcld,  Deutsche  Stilistik;  Istün- 
dig. 


1 


11^ 


IV. 

Erkenntnis  und  Poesie. 

Von 

Theodor  A.  Meyer. 

Die  Poesie  ist  eine  geistige  Kunst,  ihr  Darstellungsmittel,  die  Sprache, 
ein  geistiges  Mittel,  und  deshalb  hat  in  ihr  auch  das  Geistigste,  was 
im  Haupt  des  Menschen  entspringt,  Kenntnisse  und  Wahrheiten  aller 
Art,  eine  breite  Stätte.  Man  sagt  zwar,  die  Poesie  bewege  sich  wie 
alle  Kunst  im  Konkreten  und  Anschaulichen,  im  Individuellen  und 
Sinnlich-Gegebenen,  die  Erkenntnis  aber  sei  abstrakt,  unsinnlich,  allge- 
mein, sie  könne  deshalb  in  die  Poesie  nur  eingehen,  soweit  sie  sich 
aus  dem  Abstrakten  und  Übersinnlichen  ins  Sinnliche  und  Anschau- 
liche umsetzen  lasse;  indes  straft  jedes  Blatt  einer  größeren  Dichtung 
oder  jeder  Sammlung  von  Gedichten  diese  Behauptung  Lügen.  Epos, 
Roman  und  Drama  sind  seit  den  ältesten  Zeiten  voll  von  allgemeinen 
Gedanken,  von  Erörterungen  über  alle  Fragen  des  Lebens,  von  Be- 
obachtungen über  Menschen  und  Seelenleben,  von  Sentenzen  über  Gott 
und  Welt.  Der  Lyriker  spricht  seine  Weltanschauung,  seine  religiösen, 
sittlichen  und  künstlerischen  Grundsätze  in  Hymnen  und  Liedern  aus. 
Er  läßt  in  Sprüchen  und  Gnomen  das  Licht  seiner  Erkenntnis  auf- 
leuchten. Aber  mögen  diese  dichterischen  Erkenntnisse  mitunter  wohl 
auch  in  sinnliche  Bilder  gekleidet  sein,  das  macht  noch  lange  nicht, 
daß  dadurch  die  in  ihnen  enthaltene  Wahrheit  konkret  und  sinnlich 
wird,  und  zahlreiche  Wahrheiten  verschmähen  den  Reiz  des  sinnlichen 
Bildes,  ohne  darum  des  poetischen  Wertes  bar  zu  sein.  Solange  die 
Wahrheiten  in  der  Form  allgemeiner  Gedanken  ausgesprochen  werden, 
lassen  sie  sich  überhaupt  nicht  versinnlichen;  das  widerstreitet  ihrem 
Wesen  und  Begriff. 

Die  viel  angeführten  Schillersentenzen,  »Was  ist  die  Mehrheit,  Mehr- 
heit ist  der  Unsinn,  Verstand  ist  stets  bei  wenigen  nur  gewesen« 
und  »Der  brave  Mann  denkt  an  sich  selbst  zuletzt <  sind  im  Mangel 
jeglicher  sinnlicher  Färbung  der  Worte  nicht  allzu  verschieden  von 
den  wissenschaftlichen  Erkenntnissen:  »Zwei  mal  zwei  ist  vier«  und 
»Die  Römer  sind  das  größte  Eroberungsvolk  der  alten  Geschichte«. 
Und  doch  sind  die  beiden  letzten  Sätze  bare  Prosa,  die  jede  Möglich- 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  S 


114  THEODOR  A.  MEYER. 


keit  der  poetischen  Auffassung  ausschließt,  während  die  beiden  ersten 
sogar  Volipoesie  sind,  falls  man  sie  in  dem  Zusammenhang  betrachtet, 
in  dem  sie  von  Schiller  gebracht  sind.  Was  begründet  den  Unter- 
schied? Die  beiden  Prosasätze  haben  nichts  als  ihren  Erkenntnisinhalt, 
sie  sprechen  eine  wissenschaftliche  Wahrheit  aus  und  wollen  nach 
dieser  gewürdigt  werden,  die  beiden  Schillersentenzen  tragen  neben 
dem  Erkenntnisinhalt  noch  einen  Lebensinhalt  in  sich  und  an  diesem 
hängt  ihre  ästhetische  Bedeutung. 

Den  Satz  über  den  Unsinn  der  Mehrheit  schleudert  Sapieha  dem 
polnischen  Reichstag  in  dem  drängenden  Augenblick  entgegen,  da  dieser 
fast  einstimmig  den  Krieg  mit  Rußland  zugunsten  des  Demetrius  be- 
schließt. Diesem  Beschluß  will  er  entgegentreten  und  er  tut  es  mit 
dem  Gedanken  vom  Unsinn  der  Mehrheit.  Dieser  Gedanke  erwächst 
ihm  unmittelbar  aus  der  Lage,  in  der  er  sich  befindet.  Er  wird  ihm 
durch  die  Gefahr  der  Situation  eingegeben  und  steht  im  Dienst  seines 
WoUens.  Er  verleiht  ihm  den  Mut  zu  handeln,  wie  er  handelt,  und 
sich  mit  der  überwiegenden  Mehrheit  des  Reichstags  in  Widerspruch 
zu  setzen.  Sapieha  fühlt  sich  auf  Grund  seiner  Erkenntnis  im  Recht, 
der  Mehrheit  zu  trotzen,  er  fühlt  seinen  Widerstand  als  vernünftig  und 
möchte  auch  die  andern  vom  Recht  und  der  Vernunft  seiner  Stellung- 
nahme überzeugen.  So  wird  ihm  der  Gedanke  zum  Kampfmittel  gegen 
die  Mehrheit,  mit  der  er  ringt;  daneben  charakterisiert  er  ihn  als  einen 
Mann  von  starkem  aristokratischem  Selbstgefühl.  Dasselbe  Verhältnis 
nehmen  wir  beim  Ausspruch  Teils  wahr;  auch  sein  Wort  entspringt 
aus  der  Situation,  motiviert  die  Bitte  Teils  an  Ruodi,  den  Baumgartner 
über  den  sturmgepeitschten  See  zu  setzen  und  ist  zugleich  der  Aus- 
druck seiner  eigenen  hochherzigen  aufopferungsfähigen  Hilfsbereit- 
schaft. 

Daneben  hat  der  zweite  Satz  noch  eines  vor  dem  ersten  voraus, 
was  man  nicht  übersehen  darf.  Der  Gedanke  vom  Unsinn  der  Mehr- 
heit hat  in  sich  selbst  nichts  Ästhetisches.  Er  wird  lebendig  erst  als 
Ausspruch  einer  Persönlichkeit,  deren  Willen  und  Charakter  er  sichtbar 
macht.  Dagegen  trägt  der  Gedanke:  der  brave  Mann  denkt  an  sich 
selbst  zuletzt,  ein  Ästhetisches  schon  in  sich  selbst.  Er  birgt  es  in 
der  Tatsache,  von  der  er  berichtet.  Er  redet  von  der  Kraft  des 
Menschen,  die  Selbstsucht  im  Dienst  des  Nächsten  zu  überwinden 
und  diese  Kraft  wird  als  erhaben,  also  als  ästhetisch  empfunden.  Zu 
der  Lebendigkeit,  die  er  gewinnt,  sofern  er  als  Ausspruch  einer  Per- 
sönlichkeit betrachtet  wird,  kommt  also  die  weitere  hinzu,  daß  er  eine 
Aussage  enthält  über  eine  Lebensbetätigung,  die  als  erhaben  in  sich 
selbst  ästhetisch  ist.  Indes  wird  das  Fehlen  des  ästhetischen  Eigen- 
werts im  ersten  Satz  nicht  als  Mangel  empfunden,  beide  Gedanken 


ERKENNTNIS  UND  POESIE. 


115 


I 


sind  von  höchster  Lebendigkeit;  sie  sind  lebendig  in  ihrem  Heraus- 
wachsen aus  einer  drängenden  Situation,  lebendig  als  Motive  des 
Willens,  als  zweckmäßig  gewählte  Mittel  des  Handelns  und  lebendig 
als  Offenbarungen  des  Ckarakters  und  des  Gefühls  der  beiden  Per- 
sonen, und  der  eine  von  ihnen  redet  dazu  noch  von  einer  Erhabenheit, 
zu  der  sich  der  Wille  des  Braven  erhebt.  Sie  sind  Lebensprodukte 
und  Lebensbekundungen,  und  diese  Lebendigkeit  ist  es,  was  sie  vor 
den  beiden  wissenschaftlichen  Sätzen  voraushaben;  diesen  fehlt  alles 
Persönliche,  sie  verraten  uns  nichts  von  der  Situation  oder  der  Indivi- 
dualität dessen,  der  sie  gebildet,  sie  reden  nicht  von  lebendig  sich 
betätigenden  Kräften,  sie  sind  darum  reine  Prosa;  denn  Poesie  oder 
wenigstens  einen  Anhauch  von  Poesie  gewahren  wir  immer  nur  da,  wo 
ein  eigenartiges  Leben  an  Gedanken  oder  Erscheinungen  sichtbar  wird. 

Ein  Schimmer  von  Poesie  glänzt  auch  schon  da  auf,  wo  wir  einen 
Gedanken  auch  nur  vor  uns  entstehen  und  aus  seinen  Voraussetzungen 
und  Gründen  erwachsen  sehen,  auch  wenn  er  im  übrigen  ganz  ohne 
Leben  ist  und  nichts  zu  sein  beansprucht  als  kalte,  wissenschaftliche 
Erkenntnis.  Der  Reiz  von  Lessings  wissenschaftlicher  Prosa  rührt  neben 
anderem  auch  daher,  daß  er  uns  so  oft  nicht  fertige  Ergebnisse  seines 
Denkens  vorlegt,  sondern  uns  einen  Blick  tun  läßt  in  den  Prozeß,  in 
dem  seine  Denkerphantasie  den  Gedanken  erzeugt.  Indem  wir  es 
miterleben,  wie  der  Gedanke  in  ihm  aufsteigt,  werden  wir  von  der 
Kraft  des  beweglichen  Geistes  berührt,  der  sich  in  seinem  Denken 
betätigt.  Mitten  in  der  an  sich  kalten,  toten  Wissenschaftlichkeit  seiner 
Untersuchungen  berührt  uns  ein  Hauch  seiner  Persönlichkeit;  das  er- 
wärmt selbst  die  kalten  Schemen  seiner  wissenschaftlichen  Gedanken 
mit  einem  leichten  Anflug  von  Leben. 

Bis  zur  vollen  Lebendigkeit  und  mithin  auch  zur  vollen  Poesie 
gelangt  man  aber  mit  dem  Werden  und  Entstehenlassen  des  Gedankens 
nicht;  erst  wenn  er  als  Lebensoffenbarung  empfunden  wird,  vor  allem, 
wenn  uns  aus  ihm  ein  Bild  persönlichen  Seins  entgegenstrahlt,  erhebt 
er  sich  in  die  Höhe  der  eigentlichen  Poesie;  denn  ästhetisch  ist,  was 
nichts  als  Bild  sein  will,  Bild  einer  Lebensbetätigung  oder  eines  Lebens- 
zustandes oder  Bild  einer  Persönlichkeit,  eines  Charakters.  Die  Viel- 
seitigkeit aller  der  möglichen  Lebensinhalte,  die  der  Gedanke  in  sich 
bergen  kann,  ist  ungeheuer  und  nicht  leicht  zu  erschöpfen.  Was  vermag 
nicht  die  Erkenntnis  an  Gefühlen  zu  erzeugen  und  an  Seelenzuständen 
und  Charaktereigenschaften  auszudrücken!  Sie  erfüllt  die  Seele  mit 
Freude  und  Schmerz,  mit  Begeisterung  und  Erhebung,  mit  Mut  und 
Kraft,  mit  Trost  und  Ergebenheit,  mit  Stolz  und  Trotz,  mit  Wehmut 
und  Rührung.  Aus  ihr  vermag  fromme  Gottergebenheit  und  freier 
Weltsinn,  geistige  Vornehmheit  und  ideale  Erhebung  über  die  Welt, 


116  THEODOR  A.  MEYER. 


der  hohe  Adel  einer  edlen,  sittlichen  Natur,  warme  Vaterlandsliebe  und 
glühender  Freiheitssinn  zu  sprechen.  Sie  verrät  bald  Selbstgefühl,  Keck- 
heit und  Übermut,  bald  Bescheidenheit  und  Demut,  sie  legt  Zeugnis 
ab  von  tiefem  Welterfassen,  überlegener  Weisheit  und  Besonnenheit, 
von  Reife  oder  jugendlicher  Keckheit,  von  Strenge  und  Milde  des  Ur- 
teils; sie  bekundet  sichere,  psychologische  Beobachtung  und  feinen, 
ästhetischen  Sinn;  sie  kennzeichnet  ihren  Schöpfer  als  einen  Mann  von 
erhabenem  oder  anmutigem,  sinnigem  oder  schalkhaftem  Denken 
als  eine  Persönlichkeit  von  sprühendem  Humor,  von  scharfer  oder 
launiger  Satire.  Jeder  neue  Gedanke  charakterisiert  den,  der  ihn  ge- 
dacht hat,  in  anderer,  immer  neuer  Weise,  und  offenbart  andere,  lebendige 
Seiten  seines  Fühlens,  seiner  Gesinnung,  seines  seelischen  und  geistigen 
Charakters. 

Es  ist  der  Irrtum  einer  verkehrten  ästhetischen  Theorie,  zu  meinen, 
das  Gefühl  sei  in  der  Poesie  der  einzig  wertvolle  ästhetische  Inhalt 
und  Epigramme  und  Gnomen  werden  poetisch  wertvoll  durch  einen 
Funken  von  Gefühl,  der  auch  in  diesen  halb  didaktischen  Gattungen 
noch  aufsprühe.  Allerdings  ist  in  der  Gedankenpoesie  das  Gefühl 
vielfach  mitbeteiligt  und  hebt,  wo  es  den  Gedanken  stärker  durchglüht, 
am  sichersten  in  die  poetische  Sphäre  empor.  Gefühle  für  den  Wert 
einer  Wahrheit,  einer  religiösen,  sittlichen  oder  politischen  Erkenntnis 
spielen  in  ihr  eine  hervorragende  Rolle.  Aber  weder  verleiht  das  Ge- 
fühl ausschließlich  die  poetischen  Rechte,  noch  sind  die  Gefühle  gegen- 
über anderen  Kräften  des  Seelenlebens  immer  im  Übergewicht.  Warum 
sollte  sich  auch  die  dichterische  Persönlichkeit  in  ihrer  poetischen  Selbst- 
darstellung auf  die  Offenbarung  ihres  Fühlens  allein  einschränken? 
Auch  die  Eigentümlichkeiten  unseres  Intellekts,  die  doch  nicht  gefühliger 
Natur  sind,  wie  Tiefe  oder  Sinnigkeit  des  Denkens,  gereifte  Welt- 
erfahrung, Klugheit  und  Sicherheit  der  Beobachtung,  glückliche  Kombi- 
nationsgabe, das  Blitzen  und  Sprühen  des  Gedankens  und  die  nicht- 
gefühligen  Seiten  des  Willens,  wie  Energie  oder  Sanftmütigkeit  des 
Wollens,  Vornehmheit  oder  Verschlagenheit  der  Gesinnung  sind  der 
poetischen  Wirkung  sicher. 

Welches  Gefühl  vermöchte  man  in  dem  hübschen  Spruch  Goethes 
zu  entdecken: 

Tausend  Fliegen  hatt'  ich  am  Abend  erschlagen. 
Doch  weckte  mich  eine  beim  frühesten  Tagen. 

Ich  kann  nicht  einmal  den  Ausdruck  eines  leisen  Unbehagens  in 
Goethes  Worten  finden,  wohl  aber  freut  es  uns,  einer  Persönlichkeit  zu 
begegnen,  der  eine  sinnige  Beobachtungsgabe,  kluge  Welterfahrung, 
glückliche  Bildhaftigkeit  und  Leichtigkeit  und  Grazie  in  Denken  und 
Sprache  eigen  ist.    In  Schillers  berühmtem  Epigramm: 


t 

I 


ERKENNTNIS  UND  POESIE.  117 

Weil  ein  Vers  dir  gelingt  in  einer  gebildeten  Sprache, 

Die  für  dich  dichtet  und  denkt,  glaubst  du  schon  Dichter  zu  sein? 

wird  man  wohl  einen  ieiciiten  Anflug  von  Verachtung  und  Spott  gegen- 
über den  sekundären  Geistern  erkennen,  die  sich  für  Dichter  ausgeben, 
während  doch  nur  die  Sprache  für  sie  dichtet.  Aber  was  an  dem 
Epigramm  eigentlich  entzückt,  ist  der  klare  Einblick  eines  feinfühligen 
Beobachters  in  die  Schwäche  des  Halbdichters  und  die  knappe,  glück- 
liche, echt  epigrammatische  Formulierung  des  Gedankens.  Viele  Epi- 
gramme gefallen  als  Geistesblitze,  die  aufleuchten  und  im  Aufleuchten 
erhellen,  und  warum  sollte  das  Blitzen  des  Geistes,  das  Licht  verbreitet, 
nicht  schön  sein;  eignet  doch  jeglicher  Kraft  der  Seele  und  des  Geistes 
Schönheit,  weil  sie  als  Lebensfülle  empfunden  wird.  Deshalb  zeichnet 
sich  Tiefe  des  Erkennens  durch  besondere  Schönheit  aus.  Sie  be- 
zaubert durch  die  Erhabenheit  der  geistigen  Kraft,  die  sich  in  ihr  be- 
kundet; umgekehrt  mißfällt  Trivialität  und  Gewöhnlichkeit  des  Denkens 
auch  ästhetisch,  weil  die  Ärmlichkeit  der  Denkkraft,  die  sie  verrät,  un- 
schön ist,  wie  jeder  Mangel  an  Kraft,  wie  jede  Lebensschwäche. 

Erkenntnis  wird  teils  um  ihrer  selbst  willen  gesucht,  teils  wegen 
ihrer  den  Willen  bestimmenden  Kraft,  wegen  ihrer  Einwirkung  auf 
unsere  Gesinnung,  wir  nehmen  an  ihr  bald  ein  rein  intellektuelles,  bald 
ein  praktisches  Interesse.  Beide  Arten  des  Interesses  sind  außer- 
ästhetisch und  von  dem  Wahrheitswert  des  Gedankens  abhängig.  Der 
Intellekt  hat  es  allein  mit  der  Frage  nach  der  Wahrheit  des  Gedankens 
zu  tun.  Wir  fühlen  uns  befriedigt,  von  jedem  Gedanken,  der  uns  als 
wahr  einleuchtet  oder  wenigstens  unsere  Erkenntnis  der  Wahrheit 
fördert.  Unsere  Gesinnung  kann  nur  durch  Grundsätze  und  Erkennt- 
nisse geweckt  und  gestärkt  werden,  von  deren  Wahrheit  wir  überzeugt 
sind.  Die  ästhetische  Betrachtung  dagegen  geht  allein  auf  den  Lebens- 
inhalt des  Gedankens.  Bei  ihr  handelt  es  sich  nicht  um  seine  Wahr- 
heit oder  höchstens  indirekt  um  sie,  sondern  um  das  Leben,  das  der 
Gedanke  in  sich  trägt  oder  das  er  als  Äußerung  einer  Persönlichkeit  be- 
kundet. Die  Würdigung  des  Gedankens  nach  dem  Wahrheitswert  und 
nach  dem  Lebenswert  geht  also  nach  verschiedenen  Richtungen,  und 
da  der  poetische  Gedanke  beides  in  sich  birgt,  einen  Erkenntnisinhalt 
und  einen  Lebensinhalt,  so  erhebt  sich  die  Frage,  wie  die  beiden 
Wertungsweisen  sich  zueinander  verhalten,  ob  die  erste  die  Voraus- 
setzung der  zweiten  ist  oder  nicht,  ob  sie  sich  also  gegenseitig  fördern 
oder  hemmen. 

Die  Antwort  erlaubt  kein  rundes  Ja  oder  Nein.  Zunächst  wird 
man  die  Erfahrung  machen,  daß  stärkeres  intellektuelles  oder  praktisches 
Interesse  die  ästhetische  Auffassung  in  den  Hintergrund  schiebt,  sie 
erschwert  und  sie  bisweilen   selbst  für  den  Augenblick  ausschaltet. 


118  THEODOR  A.  MEYER^ 


Die  ästhetische  Auffassung  muß  es  büßen,  wenn  sich  der  Intelleict 
durch  eine  Dichtungsstelle  angeregt  oder  der  Wille  geweckt  und  ge- 
kräftigt fühlt.  Jeder  Roman,  der  sich  tiefer  auf  philosophische,  religiöse, 
ästhetische  oder  politische  Fragen  einläßt,  mag  das  bestätigen.  Sobald 
uns  irgend  ein  Gedanke  eine  geistige  Bereicherung  bereitet,  oder  unsere 
Gesinnung  befeuert,  fällt  es  schwer,  seine  Beziehung  auf  Situation  oder 
redende  Persönlichkeit  festzuhalten  und  zu  empfinden,  was  der  Ge- 
danke in  der  Situation  bedeutet  und  welchen  Ertrag  er  für  den  Charakter, 
das  Fühlen  und  Wollen  des  Redenden  abwirft.  Ich  ertappe  mich  oft 
dabei,  daß  ich  ganze  Gespräche,  die  mich  nach  ihrer  Erkenntnisseite 
fesseln  oder  meinen  Willen  ins  Spiel  ziehen,  gelesen  habe,  ohne  über- 
haupt oder  ohne  schärfer  bemerkt  zu  haben,  was  sie  für  das  Seelen- 
leben der  redenden  Figuren  besagen  wollen.  Das  intellektuelle  oder 
praktische  Interesse  ist  allzu  lebhaft  geweckt  und  deshalb  ausschließ- 
h'ch  oder  fast  ausschließlich  tätig.  Zweifellos  besteht  also  eine  Spannung 
des  intellektuellen  und  des  praktischen  gegen  das  ästhetische  Interesse. 

Der  ästhetischen  Betrachtung  sind  keine  Grenzen  gezogen.  Sie 
ist  nicht  auf  das  Künstlerische  allein  beschränkt,  sie  kann  überall  da 
geübt  werden,  wo  persönliches  Leben  sichtbar  wird,  selbst  wenn  sich 
dieses  Leben  in  ganz  unkünstlerischer  Form  darbietet.  Je  mehr  religiöse 
und  philosophische  Erkenntnisse  und  allerlei  sonstige  Lebensweisheit 
nicht  aus  dem  Verstand  allein  geboren  sind,  sondern  durch  Erlebnis, 
Gemütsverfassung  und  Charakter  des  Denkers  bedingt  erscheinen,  desto 
mehr  sind  sie,  auch  wo  sie  in  ein  rein  wissenschaftliches  Gewand 
gehüllt  sind,  der  ästhetischen  Betrachtung  zugänglich.  Schopenhauers 
Philosophie  trägt  ausschließlich  wissenschaftliches  Gepräge,  sie  will 
sich  vor  dem  Verstand  rechtfertigen  und  in  streng  logischer  Anordnung 
Satz  um  Satz  beweisen  und  eines  aus  dem  andern  ableiten.  Gleichwohl 
stammt  sie  so  tief  aus  Schopenhauers  persönlichem  Sein,  sie  fließt  so 
unmittelbar  aus  seiner  Seele,  die  verekelt  an  dem  wilden  Begehren  des 
Willens  und  an  der  Nichtigkeit  seiner  Befriedigung  Ruhe  und  Frieden 
im  Abschwören  des  Begehrens  sucht,  daß  sie  auch  als  Ausdruck  per- 
sönlichen Lebens  angeschaut  und  genossen  werden  kann.  Trotz  ihrer 
ganz  wissenschaftlichen  Fassung  zeigt  sich  in  ihr  ein  scharf  geprägtes 
Bild  einer  lebensvollen  Persönlichkeit. 

Mit  Nietzsches  Philosophie  steht  es  nicht  anders,  sie  fließt  ganz 
aus  der  Sehnsucht  eines  Kranken,  vielfach  Gehemmten,  der  aus  Krank- 
heit nach  Gesundheit,  aus  gehemmtem  Leben  nach  ungehemmtem 
leidenschaftlich  verlangt,  und  dieser  persönliche  Untergrund  seines  Phi- 
losophierens schaut  aus  allen  seinen  philosophischen  Lehren  hervor  und 
setzt  den  ästhetischen  Kopf  instand,  sie  als  Ausdruck  einer  machtvollen, 
lebendigen  Persönlichkeit  zu  werten. 


I 


II 


I 


ERKENNTNIS  UND  POESIE.  HQ 

'  Um  aber  in  dieser  Weise  ästhetisch  ihrer  froh  werden  zu  können, 
bedarf  es  keiner  Entscheidung  über  den  Wahrheitswert  ihrer  Lehren 
oder  auch  nur  eines  Achtens  auf  das  Fördernde,  was  sie  für  die  Er- 
kenntnis haben.  Handelt  es  sich  doch  nicht  um  die  Frage,  ob  ihre 
Lehre  richtig  ist  oder  Keime  des  Richtigen  enthält,  sondern  ob  sie  aus 
einer  mächtigen  Persönlichkeit  und  aus  einem  starken,  tiefen  Erleben 
der  Welt  kommt.  Die  intellektuelle  Beurteilung  ist  dabei  nur  insoweit 
aufgerufen,  als  sie  im  Verein  mit  unserem  Lebensverständnis  zu  be- 
sagen vermag,  daß  eine  solche  Weltbetrachtung  denkbar  ist  bei  einer 
tiefen  Natur,  daß  eine  so  beschaffene  Natur  zu  einer  solchen  Welt- 
betrachtung gelangen  muß  und  daß  diese  also  aus  solchem  Mund  ver- 
ständlich und  begreiflich  ist.  Nur  ein  Fanatiker  verbohrt  sich  in  die 
Einseitigkeit,  zu  meinen,  alle  Lebensauffassungen,  die  sich  nicht  mit 
der  seinigen  decken,  seien  Ausgeburten  eines  oberflächlichen  Denkens 
und  eines  dürftigen  Erlebens.  Daher  denn  auch  die  ästhetische  Natur 
die  beiden  Philosophen  mit  der  gleichen  Feinschmeckerei  zu  genießen 
vermag,  obwohl  sie  philosophisch  Antipoden  voneinander  sind  und 
es  schlechthin  ausgeschlossen  ist,  beiden  zugleich  Wahrheit  zuzu- 
erkennen. Weil  für  die  ästhetische  Auffassung  philosophischer  Ge- 
danken die  intellektuelle  Entscheidung  entbehrt  werden  kann,  deshalb 
flüchten  sich  mit  Vorliebe  in  diese  Auffassung  alle  diejenigen,  die  sich 
aus  Bequemlichkeit  um  die  Wahrheitsfrage  gerne  drücken  möchten. 
Die  ästhetische  Auffassung  philosophisch-religiöser  Theorien  ist  das 
Kennzeichen  einer  skeptischen  Zeit,  der  es  an  Mut  fehlt,  zu  den  höchsten 
Fragen  des  Lebens  Stellung  zu  nehmen.  Sie  widerspricht  dem 
Zweck  der  Philosophie  und  der  Absicht  des  Philosophen.  Der 
Philosoph  will  Zustimmung  zur  Wahrheit  seiner  Gedanken  oder  er 
will  wenigstens  mit  seiner  Lehre  Bausteine  zur  Bildung  der  Wahrheit 
liefern.  Der  ästhetische  Genießer  dagegen  läßt  sich  mit  dem  Inhalt 
einer  Philosophie  nur  soweit  ein,  als  sie  ihm  das  Bild  einer  tief  im 
Leben  und  seiner  Gegensätze  wurzelnden  Persönlichkeit  zu  liefern  ver- 
mag; mit  dem  ästhetischen  Genuß  kauft  er  sich  die  Mühe  der  Wahr- 
heitsforschung ab. 

Aber  diese  am  unrechten  Ort  geübte  ästhetische  Betrachtung  ist 
charakteristisch  für  die  Natur  der  ästhetischen  Betrachtung  überhaupt 
Der  intellektuelle  und  der  ästhetische  Mensch  unterscheiden  sich  da 
in  einem  wesentlichen  Punkt.  Dem  Intellektuellen  ist  nur  wertvoll, 
was  seine  Erkenntnis  fördert,  ihm  ist  es  um  Wahrheit,  um  nichts  als 
Wahrheit  zu  tun,  und  er  lehnt  ab,  was  ihr  widerspricht  oder  sie  nicht 
fördert.  Der  Ästhetische  ist  liberal.  Er  freut  sich  an  der  Verschieden- 
heit der  Auffassungen ;  er  genießt  die  Mannigfaltigkeit  der  Standpunkte 
als  ebensoviel  Zeugnisse  für  die  Fülle  der  Möglichkeiten,  sich  der 


120  THEODOR  A.  MEYER. 


Welt  im  Erleben  und  in  der  theoretischen  Deutung  des  Erlebnisses 
zu  bemächtigen  und  sieht  im  Philosophen  lediglich  die  typische  Per- 
sönlichkeit, in  Schopenhauer  den  Typus  des  grämlichen  Lebensver- 
neiners,  in  Nietzsche  den  des  trunkenen  Lebensbejahers.  In  der  eigent- 
lichen Philosophie  ist  diese  Betrachtungsweise  ein  ärmliches  Surrogat 
für  die  Auffassung,  auf  die  die  Philosophie  angelegt  ist,  für  die  Auf- 
fassung unter  dem  Gesichtspunkt  der  Wahrheit.  Auf  dem  eigentlich 
ästhetischen  Gebiet,  im  Reich  der  Poesie  liegt  die  Sache  anders,  da 
entspricht  sie  zumeist  der  Natur  der  Sache.  Den  Ansichten,  die  von 
den  Dichterfiguren  geäußert  werden,  stehen  wir  gewöhnlich  nicht  anders 
gegenüber  als  unter  Ausscheidung  der  Wahrheitsfrage.  Wir  haben 
keinen  Grund,  zu  den  von  ihnen  ausgesprochenen  Überzeugungen  Stel- 
lung zu  nehmen.  Wir  wissen,  diese  Ansichten  sind  Mittel  der  Lebens- 
schilderung, sie  wollen  nicht  als  Erkenntnisse  genommen  sein. 

Man  kann  es  vollständig  dahingestellt  sein  lassen,  ob  die  Behaup- 
tung Sapiehas  vom  Unsinn  der  Mehrheit  sich  an  den  Tatsachen  der 
Weltgeschichte  bestätigt  oder  nicht.  Sie  gibt  auch  ohne  das  alles  ab, 
was  in  ihr  an  Leben  beschlossen  liegt.  Was  der  Intellekt  zum  Verständ- 
nis der  Stelle  zu  leisten  hat,  ist  nur,  daß  er  sich  in  den  Dienst  unserer 
Lebenserfahrung  begibt  und  geführt  von  ihr  urteilt,  daß  ein  Mann  in 
solcher  Lebenslage  und  von  solchem  Charakter  die  Dinge  so  ansehen 
kann;  der  Intellekt  braucht  nicht  selbständig  tätig  zu  sein,  sondern 
nur  als  Hilfskraft  für  das  ästhetische  Verständnis.  In  dem  Gedicht 
Rastlose  Liebe  sucht  Goethe  der  schmerzlichen  Überseligkeit  der  Liebe 
zu  entrinnen,  aber  er  vermag  es  nicht  und  er  bescheidet  sich  bei  dem 
Gedanken,  »Krone  des  Lebens,  Glück  ohne  Ruh,  Liebe,  bist  du«.  Wer 
möchte  so  prosaisch  sein  sich  die  Frage  vorzulegen,  ob  dieses  Urteil 
vor  dem  das  Ganze  des  Lebens  überblickenden  Verstand  recht  behält 
Genug,  daß  es  aus  der  Lage  des  lyrischen  Subjekts  restlos  verständ- 
lich ist  und  seine  Seelenverfassung  mit  voller  Klarheit  vor  Augen  führt, 
den  Verzicht  auf  die  Flucht  vor  der  Liebe  und  das  Sichgefangengeben 
in  ihr  im  Gedanken,  daß  auch  eine  durch  ihre  eigene  Überfülle  quälende 
Liebe  Glück  und  Krone  des  Lebens  ist.  Solche  Worte  beanspruchen 
nicht  die  Zustimmung  zu  ihrer  objektiven  Wahrheit,  sondern  nur  die 
Anerkennung  ihrer  subjektiven  Berechtigung.  Sie  wollen  ganz  Lebens- 
ausdruck sein,  ohne  konkurrierenden  intellektuellen  Wert.  Hört  man 
die  Verse  des  Harfnerliedes: 

Ihr  führt  ins  Leben  uns  hinein, 
Ihr  laßt  den  Armen  schuldig  werden, 
Dann  überlaßt  ihr  ihn  der  Pein, 
Denn  alle  Schuld  rächt  sich  auf  Erden, 

SO  wird  sich  die  Mehrzahl  der  Hörer  nicht  abmühen,  mit  sich  darüber 


I 


ERKENNTNIS  UND  POESIE.  121 

ins  reine  zu  kommen,  ob  diese  tragische  Weifauffassung  der  Weisheit 
letzter  Schluß  ist;  handelt  es  sich  doch  um  die  psychologische,  nicht 
die  philosophische  Wahrheit,  um  das  Recht,  nicht  einer  Erkenntnis, 
sondern  einer  Stimmung,  in  die  der  Mensch  durch  erschütternde  Er- 
fahrungen sich  gegenüber  dem  Leben  gedrängt  sieht.  Auch  wäre  es 
abgeschmackt,  wenn  man  die  Grundsätze  des  Goetheschen  Prometheus 
als  Blasphemien  ablehnte  und  über  sie  in  religiöse  Entrüstung  geraten 
würde.  Die  Wahrheitsfrage  wird  von  ihnen  nicht  gestellt,  auch  wollen 
sie  unsere  Gesinnung  nicht  beeinflussen,  allzu  deutlich  ist  ihnen  der 
Stempel  der  Selbstdarstellung  einer  der  Welt  und  den  sie  beherr- 
schenden Mächten  titanenhaft  trotzenden  Persönlichkeit  aufgeprägt. 

Wer  Schopenhauers  oder  Nietzsches  Philosophie  rein  ästhetisch 
genießt,  der  tut  es  im  Widerspruch  zu  der  Form  ihrer  Darstellung, 
die  auf  intellektuelle  Würdigung  angelegt  ist,  die  dem  Verstand  be- 
weisen, nicht  aber  ein  Persönlichkeitsbild  schaffen  möchte.  Wo  die 
ästhetische  Auffassung  berechtigt  sein  soll,  da  muß  sie  durch  die  Form 
der  Darstellung  verlangt  sein  und  da  ist  erstes  Erfordernis,  daß  die 
Erkenntnis  in  einer  Fassung  gegeben  ist,  die  rein  und  allein  bedingt 
ist  durch  die  Absicht  der  Lebensdarstellung.  Wir  müssen  unter  dem 
Eindruck  stehen,  daß  die  seelischen  Kräfte  in  der  Persönlichkeit  so 
drängend  waren,  daß  sie  sich  äußern  mußten,  daß  also  nicht  die  Ab- 
sicht der  Belehrung  die  Worte  des  Dichters  hervorgerufen  hat,  sondern 
das  Bedürfnis  der  Entladung.  Alles  muß  also  an  ihr  ausgeschieden 
sein,  was  nicht  der  Lebensdarstellung  dient,  sie  muß  als  nichts  er- 
scheinen, denn  als  Entäußerung  des  Lebens  in  die  Form  der  Er- 
kenntnis. Wo  ist  eine  solche  Darstellung  am  ehesten  sichergestellt? 
Doch  wohl  da,  wo  der  Gedanke  aus  Situation  und  Charakter  erwächst 
und  in  der  Situation  beschlossen  bleibt.  Da  ist  der  unmittelbare  Zwang 
wirksam,  sie  als  Auswirkung  der  das  Gemüt  erfüllenden  Situation  und 
des  Charakters  zu  verstehen,  der  in  die  Situation  gestellt  ist,  sie  also 
als  Entladung  des  Lebens  In  Erkenntnis  aufzufassen,  wie  sich  an  anderen 
Stellen  das  Leben  in  die  sinnliche  Geste  oder  in  Reflexionen  über  die 
in  der  Situation  liegenden  Verhältnisse,  in  Entschlüsse  oder  in  Taten 
entäußert.  Dann  wird  durch  den  Zusammenhang  deutlich  gemacht, 
daß  die  Erkenntnis  nicht  für  den  Intellekt,  sondern  für  das  Lebens- 
verständnis bestimmt  ist.  Sapiehas  Wort  kommt  aus  einer  drängenden 
Situation,  es  entstammt  den  Zwecken  und  Absichten  des  Sapieha,  es 
will  also  nicht  beurteilt  sein  nach  seinem  Wahrheitswert.  Goethes 
Bekenntnis  von  der  Liebe  als  der  Krone  des  Lebens,  ist  Abschluß,  ist 
letztes  Glied  in  einem  Seelenprozeß.  Ob  der,  der  nicht  in  einer  solchen 
Lage  ist,  auch  so  urteilt,  liegt  jenseits  dessen,  was  das  Gedicht  will. 
Im  Harfnerlied  und  im  Prometheus  entspringt  der  Gedanke  nicht  aus. 


122  THEODOR  A.  MEYER. 


einer  konkreten,  fest'umrissenen  Situation,  und  doch  fühlt  man  auch 
hier  die  zeitliche  Bedingtheit  des  Gedankens  durch.  Das  Bekenntnis 
des  Harfners  von  der  Tragik  des  Schicksalslaufs  bekommt  den  Stempel 
des  aus  dem  Moment  Geborenen  durch  den  Anfang:  »Wer  nie  sein 
Brot  mit  Tränen  aß«  usw.  Seine  schwermütige  Reflexion  stammt  aus 
einem  Augenblick,  wo  ihm  der  dunkle  Gang  seines  Lebens  besonders 
schwer  auf  der  Seele  liegt.  Über  dem  ganzen  Prometheus  schwebt 
der  Eindruck,  daß  Prometheus  nicht  eine  bleibende,  sich  ihrer  allge- 
meinen dauernden  Gültigkeit  bewußte  Gesinnung  ausspricht,  sondern 
daß  er  aus  dem  Augenblick  eines  mächtig  geschwellten  Selbstgefühls 
heraus  redet,  und  diesen  Eindruck  bestätigt  der  Schluß  des  Gedichts 
mit  den  Worten:  »Hier  sitze  ich,  forme  Menschen  nach  meinem  Bild, 
ein  Geschlecht,  das  mir  gleich  sei«.  Goethes  Beherzigung  (»Feiger  Ge- 
danken bängliches  Schwanken  c)  kann  als  zeitloser  Ausdruck  eines 
kecken  Lebensmutes  gefaßt  werden;  aber  wieviel  lebendiger  wird  das 
kleine  Gedicht,  wenn  man  es  sich,  was  es  nahelegt,  aus  einer  Situation 
gesprochen  denkt,  in  der  der  Dichter  sich  aus  weiblichem  Zagen  und 
bänglichem  Klagen  aufrafft  zum  Trotz  gegen  sein  Elend.  Während  es 
in  der  zeitlosen  Auffassung  als  Mahnung  zum  Lebensmute  erscheint 
und  einen  leichten  Anflug  von  Lehrhaftigkeit  erhält,  wird  es  beim  Ver- 
ständnis aus  einer  vorausgesetzten  Situation  heraus  zur  reinen  Lyrik, 
zum  Bild  eines  Seelenvorgangs,  ohne  praktische  Abzweckung. 

Selbst  ganze  Lebensanschauungen  werden  reiner  Lebensausdruck, 
sobald  wir  ihre  Entstehung  aus  Situation  und  Charakter  der  sie  be- 
kennenden Personen  miterleben.  Nirgends  tritt  das  großartiger  zutage 
als  an  Wagners  Tristan  und  Isolde  und  an  Gerhard  Hauptmanns  Ketzer 
von  Soana.  Die  aussichtslose  Liebe  Tristans  und  Isoldens  weckt  in 
dem  Liebespaar  eine  unüberwindliche  Sehnsucht  nach  dem  Tode,  der 
sie  aus  einem  unerträglich  gewordenen  Leben  befreien  soll.  Mit  der 
ganzen  Glut  ihrer  unbezwinglichen  Leidenschaft  sehnen  sie  sich  nach 
der  Nacht  des  Todes,  die  ihnen  allein  volle  Vereinigung  verheißt.  Da 
die  beiden  so  geartet  sind,  daß  Liebe  einzig  ihre  Seelen  füllt  und  die 
Welt  ausmacht,  in  der  sie  allein  leben,  so  wird  ihnen  die  Abneigung 
gegen  das  Licht  und  die  Sehnsucht  nach  der  Nacht  des  Todes  zu  dem 
einzigen  Maßstab,  an  dem  sie  das  Sein  bemessen.  Nur  im  Tod  ver- 
mögen sie  die  Vollendung  ihrer  Liebe  zu  erkennen,  sie  sehen  in  der 
Todesnacht  das  wahre  Sein,  während  ihnen  im  Licht  des  Tages  nichts 
vergönnt  ist  als  eine  trügerische,  aller  Werte  bare  Scheinexistenz.  So 
wachsen  ihnen  Liebe  und  Todessehnsucht  mit  Notwendigkeit  zur  Welt- 
anschauung aus  und  solange  wir  im  Bann  ihrer  Liebesgefühle  sind, 
sind  wir  auch  im  Bann  der  Liebesnacht,  in  der  für  sie  allein  alle  wahren 
Werte  des  Seins  beschlossen  liegen,  gleichviel  ob  wir  diese  Anschauung 


ERKENNTNIS  UND  POESIE.  123 

teilen  oder  nicht;  denn  sie  entwickelt  sich  bei  ihnen  organisch  aus 
Liebe  und  Lage  und  ist  deshalb  auch  in  erster  Linie  Zeugnis  für  ihren 
Seelenzustand,  Zeugnis  für  die  Übergewalt  einer  weltverachtenden  Liebe. 
Im  Ketzer  von  Soana  erleben  wir  es  mit,  wie  die  ekstatische  Welt- 
verneinung und  seelische  Liebesmystik  des  katholischen  Priesters  Fran- 
cesco unter  dem  Zwang  seiner  Naturanlage,  einer  berückenden  Leiden- 
schaft und  einer  erhabenen,  in  aller  Lebensfülle  prangenden  Natur  in 
eine  ebenso  ekstatische  Weltbejahung,  in  jubelnde,  sinnlich-orgiastische 
Alliebe  umschlägt.  Auch  da  nimmt  uns  die  Notwendigkeit  dieser  Ent- 
wicklung gefangen.  Die  Weltanschauung  der  orgiastischen  Lebens- 
bejahung wird  auch  uns  zum  Erlebnis  und  die  Frage,  wie  wir  uns  als 
intellektuelle  Wesen  zu  ihr  stellen,  tritt  kaum  an  uns  heran.  Wir  sind 
poetisch  in  ihr  gefangen,  solange  uns  der  Zauber  der  Dichtung  umfängt. 

Also:  das  Hervorgehen  des  Gedankens  aus  Situation  und  Charakter 
schafft  unbedingt  den  Zwang  zur  ästhetischen  Auffassung  und  ge- 
währleistet die  rein  poetische  Beschaffenheit  des  Gedankens.  Aber 
nicht  immer  ist  der  Dichter  in  der  Lage,  nicht  immer  ist  er  gewillt, 
die  Erkenntnis  aus  Situation  und  Charakter  herzuleiten.  In  der  Natur 
der  Erkenntnis  liegt  vielmehr  das  Dauernde  als  das  Vorübergehende, 
die  Gültigkeit  für  alle  Zeiten  als  die  Gültigkeit  für  eine  Situation  allein. 
Der  Dichter  hat  das  Bedürfnis,  den  dauernden  Wert,  den  er  im  Ge- 
danken beschlossen  glaubt,  die  immer  wiederkehrende  Wirkung,  die 
er  aufs  Gemüt  ausübt,  die  immer  gleiche  Kraft,  mit  der  sich  in  ihm 
die  Persönlichkeit  des  ihn  Denkenden  und  Gestaltenden  darstellt,  zur 
Geltung  zu  bringen.  Auch  verzichtet  kein  Dichter  auf  das  Recht,  Er- 
kenntnisse, von  deren  Wahrheit  er  durchdrungen  ist,  die  die  tragende 
Kraft  seiner  Gesinnung  geworden  sind,  auszusprechen.  Der  Dichter 
möchte  eben  mit  Hilfe  der  Erkenntnis  bald  Bilder  von  Gemütszuständen 
und  Gestalten  schaffen,  bald  durch  sie  den  Geist  bereichern  und  den 
Willen  festigen.  Er  macht  mit  Absicht  den  Schritt  aus  der  reinen 
Poesie  heraus,  wenn  es  ihm  darum  zu  tun  ist,  religiöse,  sittliche,  künst- 
lerische und  politische  Ansichten  und  Lebenserfahrungen  aller  Art  an 
den  Mann  zu  bringen  und  gibt  dieser  Halbpoesie  nur  so  viel  von  Ge- 
müts- und  Persönlichkeitswerten  mit,  daß  die  poetische  Form  gerecht- 
fertigt ist.  Das  Poetische  muß  sich  auf  die  zweite  Stelle  zurückziehen; 
kein  Dichter,  der  nicht  auch  die  halbpoetische  Gattung  der  Gnome 
und  des  Epigramms  gepflegt  hätte  oder  im  Roman  dem  Lehrhaften 
eine  breite  Stelle  gegönnt  hätte,  wenn  es  nur  zu  gleicher  Zeit  be- 
zeichnend ist  für  die  Charaktere  oder  für  die  geistige  Atmosphäre,  von 
der  die  Figuren  des  Romans  umfangen  sind. 

Gibt  der  Dichter  Erkenntnisse,  losgelöst  von  einer  individuellen 
Situation,  so  ist  er  vielmehr  auf  die  Verwendung  von  poetischen  Mitteln 


124  THEODOR  A.  MEYER. 


angewiesen,  als  wenn  die  Erkenntnis  im  Rahmen  und  im  Zwang  einer 
drängenden  Situation  auftaucht.  »Das  Leben,  das  hat  seine  Erneuerung«, 
sagt  Rebel<ka  in  Ibsens  Rosmershoim  zu  Rosmer,  als  dieser  infolge 
der  erschütternden  Geständnisse  Rebekkas  am  Leben  verzweifelt.  Dieser 
Satz  von  vollständig  prosaischem  Zuschnitt  ist  in  der  Situation,  in  der 
er  ausgesprochen  wird,  Vollpoesie.  Er  berichtet  uns  von  der  bangen 
Sorge  der  Rebekka  um  Rosmers  Seelenzustand,  er  berichtet  von  ihrem 
Willen,  Rosmer  aufzurichten  und  seine  Gedanken  von  Beatens  Tod 
abzulenken,  von  ihrer  Hoffnung  auf  das  Erwachen  eines  neuen  Lebens 
in  ihm,  und  zugleich  zündet  der  Gedanke  in  Rosmers  Seele:  er  könnte 
weiterleben,  erwidert  er,  wenn  er  den  Glauben  an  Rebekka  wieder- 
gewänne. Es  fehlt  also  dem  Gedanken  auch  nicht  an  wirkender  Kraft. 
Aber  was  wäre  der  Gedanke  ohne  die  Situation,  in  der  er  uns  ent- 
gegentritt? Nichts  weiter  als  nackte  Prosa  und  wie  müßte  er  umge- 
staltet werden,  um  auch  nur  einen  Schimmer  von  Poesie  zu  erhalten? 
Es  müßte  ihm  erst  die  poetische  Farbe  gegeben  werden,  durch  die 
Mittel,  die  der  Poesie  für  solche  Zwecke  zur  Verfügung  stehen.  Poetische 
Farbe  aber  gewinnt  der  Gedanke  vor  allem  durch  die  metrische  Form. 
Sie  besagt,  daß  der  Dichter  aus  erregter  Seele  spricht,  aus  einer  Seele, 
der  die  Selbstoffenbarung  Bedürfnis  ist.  Zur  metrischen  Form  kommt 
dann  die  sprachliche  hinzu,  die  Gewähltheit  des  Ausdrucks,  die  Um- 
setzung des  Abstrakten  in  das  unmittelbarer  Gegebene,  die  Verwendung 
empfindungsmächtiger  Wörter  und  Bilder,  die  Fassung  der  Erkenntnis 
als  Selbstaufmunterung,  als  Anrede,  als  Mahnung,  als  Warnung,  als 
wohlmeinender  Rat.  All  das  bezeugt  uns,  daß  der  bildende  Geist  am 
Werk  ist  und  daß  die  Erkenntnis  dem  Dichter  nicht  reine  Verstandes- 
sache ist.  Es  besteht  kein  Zweifel,  daß  auch  auf  diesem  Weg  Ge- 
dichte entstehen  können,  die  nicht  als  Belehrung  oder  als  Weckrufe 
zu  einer  bestimmten  Gesinnung,  sondern  ganz  rein  als  Bilder  von 
Seelenzuständen  und  Persönlichkeiten  empfunden  und  mithin  rein  äs- 
thetisch hingenommen  werden.  Das  wird  in  erster  Linie  vom  Dichter 
und  von  der  fühlbaren  Absicht  abhängen,  die  er  mit  dem  Gedicht  hat. 
Merkt  man  es  seinen  Versen  an,  daß  er  nichts  im  Auge  hat  als  ein 
Lebensbild  zu  entwerfen,  so  folgt  ihm  der  unbefangene  Hörer  willig. 
Aber  auch  hier  werden  den  Eindruck  der  reinen  Poesie  Erkennt- 
nisse am  ehesten  hervorrufen,  die  entweder  so  allgemein  anerkannt 
sind,  die  so  selbstverständlich  sind,  daß  sie  kein  intellektuelles  Interesse 
in  Anspruch  zu  nehmen  vermögen  oder  die  so  ausgesprochen  sub- 
jektives Gepräge  tragen,  daß  sie  unmöglich  als  objektive  Gültigkeit 
beanspruchende  Wahrheiten  gefaßt  werden  können.  Der  Gedanke,  daß 
der  Tod  nichts  Lebendes  verschont,  vermag  unsern  Verstand  nicht  zu 
reizen,  um  so  freier  werden  wir,  den  Schmerz  rein  ästhetisch  zu  werten, 


I 


II 


II 


ERKENNTNIS  UND  POESIE.  125 

mit  dem  diese  allen  geläufige,  allen  selbstverständliche  Erkenntnis  das 
Herz  des  Dichters  bedrückt.  Aus  Schillers  herrlicher  Nänie  ist  jede 
Spur  des  Lehrhaften  getilgt.  Sie  stellt  uns  das  Bild  einer  Seele  vor 
Augen,  die  sich  krümmt  unter  dem  Schmerz  über  den  unerbittlichen 
Tod  des  Schönen  und  sich  über  diesen  Schmerz  erhebt  in  dem  Ge- 
danken an  die  Klage  aller  Edlen,  die  dem  Untergang  des  Schönen  folgt. 
Hölderlins  Schicksalslied  macht,  obwohl  es  sich  ganz  in  allgemeinen 
Gedanken,  in  Gedanken  über  die  Götter  und  über  den  Menschen  be- 
wegt, auch  nicht  einmal  den  Eindruck  der  Gedankenlyrik,  so  ganz  herr- 
liches Stimmungsbild  ist  es,  und  zwar  deshalb,  weil  keiner  seiner  Ge- 
danken objektive  Gültigkeit  beansprucht.  Der  Gedanke  von  der  seligen 
Fülle  und  Harmonie  des  Götterlebens  ist  ein  Sehnsuchtstraum  des  vom 
Geschick  umgeworfenen  Menschen  und  was  als  das  bejammernswerte 
Los  des  Menschen  hingestellt  wird,  »von  Stufe  zu  Stufe  jahrelang  ins 
Ungewisse  hinabzusinken«,  ist  die  Klage  eines  vom  Geschick  Zer- 
tretenden, nicht  die  Erkenntnis  eines  Denkers. 

Es  ist  oben  bemerkt,  daß  die  Philosophie  der  Todesnacht  in  Tristan 
und  Isolde  und  die  Weltanschauung  der  orgiastischen  Lebenslust  im 
Ketzer  von  Soana  aus  der  Situation  erwachsen  und  deshalb  ins  Voll- 
poetische erhoben  seien.  Doch  waltet  zwischen  beiden  ein  beachtens- 
werter Unterschied.  Die  Philosophie  in  Tristan  ist  mit  einer  Betonung 
vorgetragen,  die  sie  über  die  subjektive  Überzeugung  der  handelnden 
Personen  hinaushebt  ins  allgemein  Gültige.  Die  Weisheit  des  Ketzers 
von  Soana  bleibt  dagegen  ohne  solche  Betonung.  Man  kann  sich  auch 
nicht  gut  denken,  daß  Gerhart  Hauptmann  sich  unbedingt  hinter  die 
Weisheit  seines  Helden  stellt.  Auf  diese  Weise  erhält  sie  den  Charakter 
eines  trunkenen  Hymnus  auf  die  seelische  Lebensfülle  des  natürlichen 
Lebens,  der  das  Gefühl  des  Lesers  aufruft,  mit  einzuklingen  in  diesen 
Lobgesang.  Der  mitgerissene  Leser  steht  unter  dem  Bann  der  Echt- 
heit des  Gefühls.  Er  begreift,  daß  man  so  denken  kann,  aber  er  fühlt 
sich  nicht  herausgefordert,  anzuerkennen,  daß  man  so  denken  muß. 
Deshalb  ist  auch  der  Vorwurf,  den  man  gegen  Gerhart  Hauptmann 
ausgesprochen  hat,  er  suche  in  einer  Zeit  der  schweren  Bedrängnis 
des  deutschen  Volks  es  zu  gewinnen  für  eine  Weltanschauung  des 
tatenlosen  Versinkens  ins  vegetative  Leben  der  Natur,  unberechtigt  und 
sinnlos. 

Im  Sinn  der  poetischen  Auffassung  wirkt  es  dann,  wenn  der  Ge- 
danke in  sich  selbst  ästhetischen  Charakter  hat.  Stellt  uns  der  Dichter 
die  Mächte,  die  nach  seiner  Überzeugung  Natur  und  Menschenleben 
beherrschen,  als  lebendige  Kräfte  dar,  deren  Leben  er  als  erhaben  oder 
anmutig  empfindet  oder  fühlt  er  die  Gesinnung,  die  er  verkündet,  in 
ihrer  Erhabenheit  und  Schönheit,  so  leitet  er  damit  selbst  zur  ästhefi- 


126  THEODOR  A.  MEYER. 


sehen  Betrachtung  seiner  Gedanken  an.  Er  macht  sie  zum  Objekt  des 
ästhetischen  Genusses  und  schiebt  sie  damit  aus  der  Sphäre  des  in- 
tellektuellen in  die  des  ästhetischen  Interesses.  In  vorbildlicher  Weise 
ist  das  in  Goethes  hochgestimmter  Hymne  »Das  Göttliche«  geschehen. 
Goethe  stellt  uns  zuerst  die  Natur  als  eine  Macht  dar,  die  in  ihrer 
gefühllosen  Gleichgültigkeit  gegen  Gut  und  Böse,  gegen  Menschen- 
wohl und  Menschenwehe  über  alle  Menschenmaßstäbe  erhaben  ist  und 
läßt  uns  dann  die  Fähigkeit  des  Menschen,  das  Unmögliche  zu  ver- 
mögen, zu  unterscheiden  und  zu  wählen  und  zu  richten,  als  ein  Er- 
habenes empfinden,  das  die  Erhabenheit  der  nicht  unterscheidenden 
Natur  überbietet  und  das  Göttliche  am  Menschen  ausmacht. 

Denselben  Charakter  zeigt  die  Gedankenlyrik  Schillers.  Schiller 
berauscht  sich  an  der  Erhabenheit  der  Wahrheiten  und  der  Gesinnungen, 
die  er  verkündet.  Er  sucht  die  Leser  hineinzuziehen  in  den  Rausch 
des  Erhabenheitsgefühls,  den  er  in  seinen  Versen  ausströmt.  Durch 
solche  Dichtungen  ist  der  Leser  nicht  so  sehr  aufgerufen  zur  theoreti- 
schen oder  sittlichen  Billigung  der  verkündeten  Wahrheiten,  als  aufge- 
fordert, diese  Begeisterung  mitzuempfinden  als  ein  Stück  eines  ebenso 
echt  menschlichen  Fühlens,  wie  es  etwa  die  Trauer  um  die  verlorene 
Geliebte  ist. 

In  solchen  Gedichten  wird  also  der  Eindruck  der  Vollpoesie,  der 
beabsichtigt  ist,  auch  erreicht.  Andere  Erzeugnisse  der  Lyrik  dagegen 
tragen  es  offen  zur  Schau,  daß  sie  eintreten  wollen  für  Wahrheiten, 
die  dem  Dichter  am  Herzen  liegen  und  daß  sie  die  Leser  für  diese 
gewinnen  wollen.  Sie  beanspruchen  nicht  mehr  als  Halbpoesie  zu 
sein,  wenn  sie  auch  in  der  Wärme  und  in  der  Großzügigkeit,  mit  der 
die  Gedanken  vorgetragen  werden,  noch  poetische  Elemente  genug 
haben,  um  nicht  zur  langweiligen  nüchternen  Lehrprosa  herunterzu- 
sinken. Schillers  Gedicht  »An  Goethe,  da  er  den  Mahomed  von  Voltaire 
auf  die  Bühne  brachte«,  sei  für  diese  Art  von  Lehrhaftigkeit  als  kenn- 
zeichnendes Beispiel  genannt.  Bei  der  Mehrzahl  der  Epigramme  und 
Gnomen  vollends  verspürt  man  es,  daß  der  Reiz,  der  den  Dichter  zur 
Aussprache  seiner  Gedanken  getrieben,  im  Wahrheitswert  liegt,  den  er 
ihnen  zumißt,  deshalb  wird  bei  der  Lektüre  die  Erkenntnisfreude  und 
die  Gesinnungswirkung  an  erste  Stelle  treten  und  der  ästhetische  Genuß 
an  der  in  der  Erkenntnis  und  Gesinnung  sich  offenbarenden  Persön- 
lichkeit nur  als  Begleiterscheinung  mitspielen. 

Durchgängig  hat  sich  ergeben,  daß  die  ästhetische  Auffassung 
des  Gedankens  überall  da  besonders  sichergestellt  ist,  wo  der  Wahr- 
heitswert des  Gedankens  nicht  ins  Gewicht  fällt.  Aber  erledigt  ist 
damit  die  Frage  vom  Verhältnis  zwischen  Wahrheitswert  und  Lebens- 
wert des  Gedankens  nicht.   Das  geht  schon  aus  dem  Gesagten  hervor. 


I 


ERKENNTNIS  UND  POESIE.  127 

Wir  haben  gesehen,  daß  der  Tiefe  des  Gedani<ens  eine  besondere  äs- 
thetische Bedeutung  zukommt.  Nun  ist  wohl  der  Eindruck  der  Tiefe 
nicht  unbedingt  gebunden  an  das  Urteil  über  die  Wahrheit  des  Ge- 
dankens. Das  Verhalten  so  vieler  ästhetischer  Naturen  zur  Philosophie 
eines  Schopenhauers  oder  Nietzsches  hat  uns  das  gezeigt.  Aber  muß 
uns  nicht  eine  Persönlichkeit  tiefer  erscheinen,  die  zu  den  letzten  Er- 
kenntnissen vorgedrungen  und  die  innersten  Gründe  des  Seins  auf- 
gedeckt zu  haben  scheint,  als  eine  solche,  von  der  wir  nur  urteilen, 
daß  ihre  Auffassung,  ob  zwar  die  Wahrheit  derselben  zweifelhaft  sein 
mag,  doch  aus  einer  tief  im  Leben  wurzelnden,  mächtigen  Seele  kommt? 
Dem,  der  im  Tristan  Wagners  das  Mysterium  des  Seins  gelöst  sieht, 
muß  dieses  Werk  als  die  Offenbarung  eines  unsäglich  hohen  Geistes 
scheinen,  ganz  anders  als  dem,  der  ohne  zur  Wahrheitsfrage  Stellung 
zu  nehmen,  darin  nichts  genießt  als  die  großzügige,  berauschende 
Philosophie  der  hoffnungslosen  Liebe.  Das  Miteinklingen  in  die  Be- 
geisterung des  Dichters  für  die  erhabenen  Wahrheiten  und  Gesinnungen, 
die  ihm  die  Seele  schwellen,  ist  auch  dann  möglich,  wenn  wir  seine 
Überzeugungen  nicht  voll  zu  teilen  vermögen.  Wir  können  uns  von 
ihm  hineinreißen  lassen  in  seine  Begeisterung,  falls  wir  ihr  nur  mensch- 
liche Größe  und  Berechtigung  zuzuerkennen  vermögen.  Aber  er- 
leichtert wird  uns  das  Mitfühlen,  wenn  seine  Überzeugung  unsere 
Zustimmung  erlangt,  und  unmöglich  wird  es  uns  gemacht,  wenn  wir 
sie  ablehnen  als  hohlen  Phrasenschwulst. 

Nicht  anders  steht  es  mit  dem  eigentlichen  Ideengehalt  von  Dramen 
und  Romanen.  Man  kann  zur  rücksichtslosen  Wahrheitsbegeisterung, 
die  Ibsen  zu  seiner  Gesellschaftskritik  in  den  Stützen  der  Gesellschaft 
und  den  Gespenstern  treibt,  in  verschiedenster  Weise  Stellung  nehmen. 
Man  kann  ihre  Berechtigung  dahingestellt  sein  lassen  und  sich  an  ihr 
freuen  als  an  dem  Ausfluß  eines  hohen,  seinem  Ideal  bedingungslos 
hingegebenen  Geistes.  Aber  ist  das  nicht  ein  schwächliches  Verhalten, 
so  schwächlich  als  der  rein  ästhetische  Genuß  eines  philosophischen 
Systems?  Fordert  Ibsen  nicht  selbst  die  Stellungnahme  zur  Frage  der 
bedingungslosen  Wahrhaftigkeit  heraus,  die  er  vertritt?  Nimmt  man 
aber  Stellung,  so  ist  es  für  den  ästhetischen  Wert  von  Ibsens  Dramen 
nicht  gleichgültig,  ob  sie  zustimmend  oder  ablehnend  ausfällt.  Der  Zu- 
stimmende wird  in  diesen  Dramen  eine  Persönlichkeit  am  Werk  sehen, 
die  mit  scharfem  Blick  die  Gesellschaftsschäden  durchschaut  und  tapferen 
Sinns  das  heilende  Messer  legt  an  eiternde  Geschwüre.  Der  Ablehnende 
wird  der  Überzeugungstreue  und  der  sittlichen  Tapferkeit  Ibsens  die 
Schönheit  nicht  absprechen,  aber  sie  wird  ihm  beeinträchtigt  werden 
durch  den  Eindruck,  daß  ein  einseitiger  Wahrheitsfanatismus  dem 
Dichter  den  Blick  für  die  Bedingtheiten  der  Gesellschaft  und  der  in 


128  THEODOR  A.  MEYER. 


ihr  wirksamen  Kräfte  getrübt  hat.  Das  Urteil  über  die  Wahrheit  ge- 
winnt eben  sofort  Bedeutung  für  die  ästhetische  Wertung.  In  jenem 
Ibsen  waltet  eine  viel  höhere  Kraft  der  Oeistigkeit  als  in  diesem  und 
mit  der  höheren  Kraft  auch  die  höhere  Schönheit;  denn  Kraft  ist 
Schönheit. 

In  der  lehrhaften  Dichtung  hängt  der  ästhetische  Wert  vollends 
an  der  Wahrheitsfrage.  Ein  guter  Teil  des  ästhetischen  Reizes  beruht 
in  ihr  auf  dem  sicheren  Erfassen  der  Wirklichkeit,  auf  dem  klaren  Blick 
und  dem  treffenden  Urteil  des  Dichters  gegenüber  den  Erscheinungen 
des  Lebens  und  der  Kunst.  Der  ästhetische  Wert  von  Schillers  Epi- 
gramm über  die  Halbdichter  und  die  in  ihnen  dichtende  Sprache  fällt 
für  den  fast  ganz  dahin,  der  Schillers  Urteil  die  Berechtigung  abspricht. 
Verkennung  der  Wirklichkeit  bekundet  eine  geistige  Schwäche,  die  wie 
alle  Lebensschwäche  unschön  ist. 

Es  ergibt  sich  also  die  Tatsache,  daß  ästhetische  Werte  vorhanden 
sind,  die  nicht  unter  Ausschaltung  der  Wahrheitsfrage  zu  erfassen  sind, 
sondern   nur   nach   ihrer  Lösung.    Gleichwohl  bleibt  es  dabei,   daß 
wenigstens  zunächst  das  intellektuelle  und  praktische  Interesse,  das 
wir  an  den  Ideen  des  Dichters  nehmen,  die  ästhetische  Auffassung  in 
den  Hintergrund  schiebt.    Bei  Dichtungen,  die  vom  Dichter  lehrhaft 
gemeint  sind,  ist  das   ohne  Bedenken,  da  entspricht  es  der  Absicht 
des  Dichters.    Anders  bei  den  Werken  hoher  Kunst,  die  über  die  Linie 
der  Bildhaftigkeit  nirgends  hinausgehen.    Man  kommt  über  einen  eigen- 
tümlichen Zirkel   nicht  hinaus;    die   Anerkennung  der  Wahrheit  von 
Gedanken  und  Grundsätzen  steigert  den  ästhetischen  Genuß  und  doch 
drängt  sie  zunächst   einmal   über  das  Ästhetische  hinaus.    Wem  ein 
Dichtungswerk  die  Lösung  tiefer  Lebensfragen  bringt,  wer  sich  von 
ihm  in  seinem  Gewissen  gepackt  und  in  seiner  Gesinnung  bestärkt 
fühlt,  der  sieht  sich   im  ersten  Augenblick  wenigstens  von  der  rein 
ästhetischen  Betrachtung  abgezogen.   Die  ästhetische  Auffassung  bleibt 
nur  rein  und  unverfälscht,  wenn  der  Intellekt  über  die  Rolle  einer  be- 
scheidenen Hilfskraft  nicht  hinauswächst  und  die  praktische  Wirkung 
ausgeschaltet  wird.    Aber  was  hindert  daran,  daß  nicht  nach  der  Über- 
wältigung des  Bewußtseins  durch  außerästhetische  Gesichtspunkte  die 
ästhetische  Einstellung  wiederkehrt  und  schließlich  das  Feld  behauptet? 
und  nur  darauf  kommt  es  an.    Wem  Tristan  oder  Parsifal  zum  ersten- 
mal die  Pforten  einer  höheren  Weisheit  entriegelt,  den  wird  der  Hell- 
blick der  philosophischen   Betrachtung  oder  die  Kraft  der  religiösen 
Erbauung  mit  solcher  Gewalt  treffen,  daß  die  ästhetische  Betrachtung 
darüber   zu    kurz   kommt  und  verkümmert.    Aber  wenn  er  sich  all- 
mählich an  die  Wahrheit,  die  er  hier  enthüllt  sich  entgegentreten  sieht, 
gewöhnt  hat,  dann  wird  er  mehr  und  mehr  sich  imstande  fühlen,  auch 


I 


ERKENNTNIS  UND  POESIE. 


129 


die  geniale  Kraft  der  Persönlichkeit  zu  empfinden  und  zu  genießen, 
die  mit  solcher  Tiefe  das  innerste  Wesen  der  Welt  erschaut  und  ge- 
staltet hat.  Dann  wird  das  Intellektuelle  zurücktreten  und  die  Diener- 
rolle einnehmen,  die  ihm  für  den  ästhetischen  Genuß  allein  zukommt. 
Es  wird  nur  noch  Gradmesser  sein  für  die  Lebenshöhe  einer  Persön- 
lichkeit, die  einen  solchen  Tiefblick  der  Erkenntnis  getan  hat. 

Und  ähnlich  wird  es  auch  bei  den  vielen  Beobachtungen  aus  Leben 
und  Kunst  sein,  denen  wir  allenthalben  in  den  großen  Werken  der 
Dichtkunst  begegnen.  Im  ersten  Augenblick  überrascht  der  Gedanken- 
inhalt, sobald  aber  die  Überraschung  geschwunden  ist,  wird  der  Blick 
frei  für  die  Persönlichkeit,  die  aus  ihnen  aufleuchtet,  und  die  Freude 
an  der  Wahrheit  der  Beobachtung  wird  übertönt  von  der  Freude  an 
der  Geisteskraft  der  Persönlichkeit,  von  der  die  Sicherheit  ihrer  Wirk- 
lichkeitsbeobachtung Zeugnis  ablegt.  Die  Befriedigung  über  die  Wahr- 
heit des  Gesagten  wandelt  sich  in  das  Wohlgefallen  an  der  (geistigen) 
Schönheit  des  Redenden.  Das  aber  ist  das  eigentliche  Charakteristikum 
der  Erkenntnis  in  der  Poesie:  sie  erreicht  ihren  ästhetischen  Höhe- 
punkt, wo  der  Dichter  zum  vates,  zum  Seher  wird.  Aber  eben  damit 
droht  sie  die  Grenze  des  Ästhetischen  zu  überschreiten,  und  nur  eine 
energische  Konzentration  des  Blicks  auf  die  Lebenshöhe  der  Persön- 
lichkeit, die  sich  in  der  Erkenntnis  bekundet,  vermag  den  Leser  wieder 
zurückzurufen  zur  bildhaften  Betrachtung,  die  das  Wesen  des  Ästheti- 
schen ausmacht. 


Zcitichr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV. 


V. 

Zur  Methodik 
der  musikalischen  Geschichtschreibung. 

Von 

Hans  Joachim  Moser. 

Die  Musikhistoriker  (wie  die  Kunstwissenschaftler  wohl  überhaupt) 
folgen  heute  überwiegend  der  Anschauungs-,  Forschungs-  und  Dar- 
stellungsweise der  modernen  Naturwissenschaft,  d.  h.  sie  suchen  den 
noch  täglich  stark  wachsenden  Erfahrungsstoff  bis  in  die  feinsten  Ver- 
äderungen  auf  ein  umfassendes  Bestimmungssystem  zu  verteilen  und 
dieses  unter  dem  allbeherrschenden  Gesichtspunkt  des  Entwicklungs- 
gedankens zu  begreifen.  Also  gewissermaßen  eine  Arbeitsweise  teils 
nach  Linne,  teils  nach  Darwin.  So  vorzüglich  die  Übertragung 
beider  Methoden  auf  unsere  Disziplin  an  sich  paßt,  so  birgt  sie  doch 
in  ihrer  heute  fast  ausschließlichen  Anwendung  Gefahren,  auf  die  im 
folgenden  aufmerksam  gemacht  werden  soll.  Dabei  wird  sich  hoffent- 
lich genug  positiver  Gewinn  ergeben,  um  auch  gelegentliche  Kritik  zu 
entschuldigen  und  zu  weiterer  Arbeit  anzuregen. 

Die  übliche  Rubrizierungstechnik  zeitigt  meines  Erachtens  vor  allem 
zweierlei  bedenkliche  Begleiterscheinungen.  Einmal  bleibt  man  leicht 
beim  Beschreiben  des  äußerlichen  Tatbestandes,  der  Registrierung  for- 
maler Dinge  stehen,  statt  mit  der  Feinfühligkeit  des  Ästhetikers  bis  ins 
Lebensmark  des  zu  behandelnden  Kunstwerks  vorzudringen.  Für  diese 
seelischen  Unterscheidungen  ist  eben  in  solchem,  rein  morphologisch 
gedachten  Schema  schwer  Platz  zu  finden  ').  So  wird  leicht  als  Selbst- 
zweck angesehen,  was  immer  nur  Vorarbeit  zu  dem  eigentlichen  Ziel 
sein  sollte:  dem  Begreifen  des  Kunstwerks  als  Lebensäußerung,  ja  als 
Seelenträger.  Der  zweite  mögliche  Nachteil,  dem  manchmal  gerade 
besonders  fleißige,  stoffreiche  Arbeiten  anheimfallen,  liegt  darin,  daß 
vorwiegend  unterschieden,  getrennt,  auseinanderseziert  wird,  statt  lieber 
im  Einzelfall  vor  allem  das  Allgemeine,  Gemeinsame,  Einende  aufzu- 
zeigen, dessen  Nachweis  in  weit  höherem  Maße  bereichern  und  unter- 
richten  würde.    So  steht  man   schließlich  verwirrt  vor  einer  schwer 


')  Mit  Recht  spricht  Geoffroy  de  St.  Hilaire  vom  >bloß  Akzessorischen«  der  Form. 


I 

I 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.      131 

Übersehbaren,  fast  amorphen  Anhäufung  ungefähr  gleichgeordneter 
Zellen,  statt  sich  in  einem  hochgegliederten  Organismus  rasch  zurecht 
zu  finden,  wo  Wichtiges  wichtig.  Nebensächliches  nebensächlich  heißen 
darf.  Diese  Verkennung  des  Wissenschaftszweckes  wurzelt  gleicher- 
maßen in  dem  heutigen  Drang,  überall  Individuen  anzuerkennen,  auch 
dort,  wo  es  sich  meist  bloß  um  Typenvertreter  handelt,  in  dem  bienen- 
mäßigen Ehrgeiz  nach  Vollständigkeit  und  in  dem  Mangel  an  archi- 
tektonischer Kraft  zu  vereinfachender  Ideenbildung.  Statt  der  geschil- 
derten, naturkundlichen  Diagnostik  brauchen  wir  einen  tüchtigen  Zu- 
schuß vom  Tiefschauen  jenes  Goethe,  der  es  als  seine  Hauptaufgabe 
bezeichnete,  in  den  Dingen  das  Bindende,  Bleibende  zu  erkennen,  oder 
wie  Plato  sagt,  die  Dinge  zu  Einheiten  zusammenzuschauen. 

Der  musikgeschichtliche  Darwinismus  ist  dem  übertriebenen  Linn6- 
ismus  im  Prinzip  insofern  nahe  verwandt,  als  er  an  die  Stelle  eines 
schier  unendlichen  Nebeneinanders  ein  fast  endloses  Nacheinander 
setzt.  Mit  Maßen  gehandhabt,  ist  er  an  sich  selbstverständlich  ebenso 
berechtigt  wie  die  erstgenannte  Methode.  Aber  wie  es  im  Begriff  aller 
»Geschichte«  liegt  ^),  verführt  er  unschwer  dazu,  selbst  unbezweifelbares 
»Sein«  in  »Werden«  aufzulösen  und  dem  Auge  damit  die  letzten  Fest- 
punkte zu  rauben,  an  denen  sich  noch  das  Zeitmaß  der  geistigen 
Bewegungen  ablesen  läßt.  Diese  Gefahr  scheint  mir  neuerdings  beson- 
ders in  Sachen  der  Tonpsychologie  zu  drohen,  wo  z.  B.  ungefähr  alle 
zu  historischer  Zeit  in  der  europäischen  Musikgeschichte  auftretenden 
musiktheoretischen  Verschiedenheiten  gern  als  geschichtliche  Wand- 
lungen im  Empfinden  ein  und  derselben,  in  sich  ziemlich  gleichartigen 
Gesamtrasse  aufgefaßt  werden.  Weit  eher  dürfte  es  sich  um  ein 
bleibendes  Nebeneinander  mehrerer  fast  unwandelbarer  psychologischer 
Völkeranlagen  handeln,  deren  jede  nur  zu  anderer  Zeit  in  den  Vorder- 
grund der  musikalischen  Ereignisse  gezogen  worden  ist.  Und  das 
bedeutet  doch  etwas  fundamental  Anderes!  Wenn  mir  kürzlich  ein 
Tonpsychologe  allen  Ernstes  versicherte,  die  von  ihm  experimentell 
festgestellte  Vorliebe  der  Japaner  für  Sekundenzusammenklänge  stelle 
ein  »früheres  Entwicklungssfadium  des  Konsonanzhörens«  dar,  so  ist 
das  doch  eine  seltsame  Ausgeburt  der  ewigen  Evolutionsidee;  — 
beziehe  ich  mein  Mehl  nacheinander  von  verschiedenen  Mühlen,  so 
kann  ich  doch  nicht  seine  wechselnde  Beschaffenheit  auf  eine  »Ent- 
wicklung« der  Mühlengattung  zurückführen,  sondern  höchstens  auf  die 
Verschiedenartigkeit  der  einzelnen  Mühlen  untereinander!  Psycholo- 
gische Funktionen  wandeln  sich  nicht  so  rasch  wie  zeitgeschichtliche 


')  Goethe  sagt  mit  Recht,  allzuvieles  Fragen  nach  den  Ursachen   sei  gefähr- 
lich, man  solle  sich  lieber  an  die  Erscheinungen  als  gegebene  Tatsachen  halten. 


132  HANS  JOACHIM  MOSER. 


Moden,  die  europäische  Musikgeschichte  in  ihrer  größten  Vereinfachung 
ist  nicht  so  sehr  die  Entwicklungsgeschichte  des  Harmonieempfindens, 
als  vielmehr  der  Kampf  einer  von  vornherein  horizontal  und  einer 
a  priori  vertikal  hörenden  Rasse  um  die  Hegemonie.  Wenn  allmählich 
der  Sieg  sich  immer  mehr  auf  die  Seite  der  letzteren  Musikauffassung 
unter  teilweiser  Aufsaugung  der  Gegenpartei  geneigt  hat,  so  zeigt  sich 
das  Bild  einer  Entwicklung  höchstens  in  der  von  beiden  derweil  durch- 
gearbeiteten Materie  *).  Auch  hier  wäre  es  von  erheblichem  Vorteil, 
wollte  man  weniger  betonen,  was  die  Zeiten  unterscheidet,  sie  zu 
Epochen  auseinandertrennt,  sondern  wenn  man  auch  dasjenige  scharf 
beleuchtete,  was  durchgängig,  über  die  Wandlungen  der  Jahrhunderte 
hinweg,  Gemeinbesitz  der  Tonsprachen  geblieben  ist  und  bleiben  mußte, 
weil  es  im  unwandelbaren  Untergrund  der  seelischen  Anlagen  ver- 
ankert lag. 

Dies  gesuchte  Gemeinsame  nach  verschiedenster  Blickrichtung 
finden  wir  in  dem,  was  man  als  »Stil«  bezeichnet.  Doch  hüte  man 
sich,  den  Begriff  so  obenhin  zu  verstehen,  als  beträfe  er  bloß  die  leicht 
greifbaren  Äußerlichkeiten,  Schnörkel,  Manieren  bestimmter  Zeiten  und 
Gegenden.  Wird  man  auch  nie  den  eigentlichen  Kern  und  Inhalt  als 
»Stil«  miteinbegreifen  dürfen,  so  umfaßt  er  doch  gegenüber  dem  Einzel- 
fall die  gesamte  Haltung,  Prägung,  Äußerungsart  einer  künstlerisch- 
schöpferischen Stelle  und  bildet  damit  einen  integrierenden  Bestandteil 
ihres  Wesens.  Daß  übrigens  Form  und  Inhalt  hier  wie  in  aller  Kunst 
sich  gegenseitig  auf  das  Engste  durchdringen,  sich  also  nicht  streng 
scheiden  lassen,  werden  wir  noch  mehrfach  bestätigt  sehen  ^). 

Je  nachdem  nun  als  die  genannte  schöpferische  Instanz  ein  Volks- 
tum, ein  Zeitalter,  eine  Persönlichkeit  oder  eine  Werkgattung  betrachtet 
wird,  legen  sich  gleich  feinen  Staubteilchen  vier  Stilarten  distanzierend 
über  den  Kern  des  Kunstwerks,  den  rein  zu  erschauen  das  Ziel  aller 
kunstwissenschaftlichen  Bemühung  sein  muß:  Volksstil,  Zeitstil, 
Persönlichkeitsstil  und  Werkstil.  Die  Betrachtung  dieser  an- 
scheinend ziemlich  elementaren  Begriffe  in  ihrem  gegenseitigen  Ver- 
hältnis wird  unsere  volle  Aufmerksamkeit  beanspruchen,  da  sie  uns 
helfen  soll,  das  einzelne  Kunstwerk  vierfach  mit  den  erwünschten 
großen  Gemeinsamkeiten  zu  verklammern. 

Der  musikalische  V  o  1  k  s  s  t  i  1  (auch  zum  R  a  s  s  e  n  s  t  i  1  erweiterbar) 
begreift  in  sich  das  allen  Volksgenossen  (ziemlich  gleichgültig  welcher 


')  Vgl.  auch  die  bedeutsame  Auseinandersetzung  von  Curt  Sachs  (Archiv  für 
Musikwissenschaft  I,  S.  5),  wie  man  das  Problem  des  Streichbogens  aus  einer  ethno- 
logischen zu  einer  chronologischen  Angelegenheit  verzerrt  hat. 

2)  Schiller  erklärt  es  einmal  geradezu  als  die  Aufgabe  des  Künstlers,  Inhalt 
In  Form  umzuwandeln. 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.     133 


Zeit)  gemeinsame,  sie  von  den  Angehörigen  eines  fremden  Volkstums 
scheidende  tonl<ünstIerische  Empfinden,  ihre  besondere  Anlage,  Musik 
zu  hören  und  zu  gestalten.  Die  verschiedenen  Volksstile  bedeuten  ein 
räumliches  Nebeneinander  paralleler  Fasern,  das  quer  zum  Ablauf  der 
Zeiten  geht. 

Der  musikalische  Zeifstil  wiederum  umfaßt  die  für  alle  Ange- 
hörigen einer  gewissen  Epoche  fast  ohne  völkische  Begrenzung  charak- 
teristischen Eigenheiten  der  Ausdrucksgebung,  des  Musikverständnisses. 
Das  Nacheinander  der  verschiedenen  Zeitstile  kreuzt  rechtwinklig  die 
Stränge  der  musikalischen  Nationalbegabungen.  Veranschaulichen  wir 
uns  diesen  Sachverhalt  mit  Hilfe  eines  ebenen  Koordinatennetzes,  in 
dessen  Achsenkreuz  wir  selber  als  Deutsche  des  beginnenden  20.  Jahr- 
hunderts stehen  (siehe  folgende  Seite). 

In  den  verschiedenen  Koordinatenschnittpunkten  oder  -Vierecken 
stehen  die  schöpferischen  Einzelpersönlichkeiten  je  nach  der  Zeit  und 
dem  Volkstum,  denen  sie  angehören.  Selbstverständlich  sind  sie  nicht 
restlos  als  deren  einfache  Produkte  in  zwei  Multiplikanden  zerlegbar  — 
die  Persönlichkeit  ist,  so  stark  Raum  und  Zeit  sie  auch  beeinflussen 
mögen,  etwas  in  sich  absolut  Neues,  Einzigartiges,  Unteilbares.  Wir 
sind  jedoch  gezwungen,  sie  unter  den  Anschauungsformen  von  Raum 
und  Zeit  zu  sehen,  sie  also  in  diesen  auch  gehörig  einzuordnen,  mit 
denen  sie  bis  in  die  inneren  Bezirke  ihres  Wesens  hinein  vielfältig 
verzahnt  und  verwachsen  ist. 

Man  verlange  übrigens  von  obigem  Koordinatennetz  nicht  mehr 
als  es  leisten  kann.  Die  wirklichen  Gefühlsabstände  zwischen  uns 
und  den  dort  verzeichneten  Meistern  könnte  es  nur  in  dem  Fall  liefern, 
daß  es  gelänge,  die  einzelnen  Nationen  genau  nach  dem  Grad  ihrer 
Gefühlsverwandtschaft  mit  uns  auf  der  Abszissenachse  einzutragen, 
und  daß  die  zeitstilistischen  Unterschiede  von  Jahrhundert  zu  Jahr- 
hundert zurück  immer  gleichblieben.  Beides  ist  nicht  der  Fall.  Oben- 
drein vermag  die  geniale  Persönlichkeit  alle  Abstände,  die  Zeit-  und 
Volksstile  schaffen,  regelwidrig  zu  überspringen.  Die  Schöpferkraft 
eines  Shakespeare,  Isaac,  Lionardo  tritt  uns  oft  erstaunlich  »modern« 
gegenüber,  und  auch  der  hochbegnadete,  reproduzierende  Interpret 
vermag  entsprechend  in  entgegengesetzter  Richtung  fernstliegende 
Denkmäler  intuitiv  sich  nahe  zu  bringen.  Unsere  Figur  sollte  nur 
ungefähr  andeuten,  welch  verschieden  mächtige  Schichten  zeitlicher  und 
völkischer  Stilabstände  wir  durchdringen  müssen,  um  der  historischen 
oder  landfremden  Schöpferpersönlichkeit  unmittelbar  gegenübertreten, 
sie  naiv  genießen  zu  können. 

Streng  genommen  ist  ja  nur  der  Autor  selbst  das  ideale  Publi- 
kum; wie  Schumann  an  Mendelssohn   schreibt  (12.  November  1845): 


134 


HANS  JOACHIM  MOSER. 


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ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.      135 

»So  wie  der  Komponist  kennt  und  versteht  doch  niemand  sein  Werk.« 
Aber  jeder  Kunstgenuß  müßte  einzig  auf  den  Schöpfer  beschränkt 
bleiben,  wenn  uns  nicht  das  Phänomen  der  Einfühlung  gestattete,  auch 
noch  den  nicht  völlig  konformen,  bloß  ähnlichen  Empfindungsorganis- 
mus zu  verstehen.  Diese  Einfühlung  wird  zu  einer  Gefühlsumstellung 
von  erheblichen  Ausmaßen,  wenn  die  Objekte  des  Kunstgenusses  (und 
Genießender  muß  auch  der  Kunstgelehrte  über  alles  Wissen  hinaus 
stets  bleiben!)  durch  starke  stilistische  Schranken  von  uns  abrücken. 
Hier  ergeben  sich  schließlich  auch  Grenzen  der  Umstellungsfähigkeit; 
ein  Bild  wird  uns  am  besten  zur  Veranschaulichung  helfen. 

Der  fremde  Volks-  und  Zeitstil  gleicht  einer  leicht  gefärbten  Fenster- 
scheibe, durch  die  man  in  einen  Garten  schaut.  Solange  man  dabei 
durch  weißes  Glas  zu  blicken  glaubt,  müssen  die  Tönungen  der  Land- 
schaft stutzig  machen.  Erkennt  man  jedoch  als  Ursache  die  Färbung 
des  Glases,  so  zieht  man  sogleich  instinktiv  die  aus  diesem  Umstand 
entspringenden  besonderen  Wirkungen  ab  und  kann  sich  recht  wohl 
eine  Vorstellung  vom  wahren  Eindruck  des  Gartens  jenseits  des  bunten 
Glases  machen  i).  Geht  die  Einbildungskraft  eines  Kunstgenießers  nicht 
weiter,  kann  sie  über  die  platte  Feststellung  des  realen  Sinneneindrucks 
nicht  hinaus,  so  lasse  er  getrost  die  Hände  von  der  Beschäftigung  mit 
historischen  und  landfremden  Künstlerpersönlichkeiten;  er  würde  ihnen 
nur  die  eigene  Beschränktheit  in  die  Schuhe  schieben.  Versteigt  sich 
jedoch  die  Färbung  der  bunten  Scheibe  bis  ins  Giftgrüne,  ins  Knall- 
rote, tritt  womöglich  noch  ein  verzerrender  Schliff  hinzu,  so  wird  alle 
Anschmiegsamkeit  der  Vorstellungsgabe  nicht  mehr  gestatten,  unter 
Ausschaltung  des  störenden  Mediums  das  dahinterliegende  Bild  im 
wahren  Licht  und  wahrer  Form  zu  sehen.  Ohne  Gleichnis  gesprochen: 
einem  derartig  abstrusen  Zeit-  oder  Volksstil  gegenüber  versagt,  allem 
Wissen  unbeschadet,  die  aufbauende  Kraft  der  Phantasie,  und  wir 
dürfen  als  Kunstästhetiker  getrost  resignieren. 

Wie  eng  in  naiveren  Zeiten  die  Grenzen  der  Oefühlsdehnbarkeit 
sind,  beweisen  z.B.  verhängnisvoll  die  lange  wörtlich  geglaubten 
Worte  des  Tinctoris,  erst  seit  etwa  fünfzig  Jahren  (also  rund  seit  1450) 
komponiere  man  genießbare  Musik;  für  die  ästhetische  Hartmäuligkeit 
eines  ganzen  Volkstums  könnte  man  das  vielfache  Unverständnis 
der  römischen  Zeugen  für  die  Musikalität  der  Germanen  nennen,  für 
die  Unbiegsamkeit  der  Einzelpersönlichkeit  etwa  Tschaikowskis  Be- 
hauptung,   Brahms    hätte   keine    Melodie,    Hugo  Wolfs   Verständnis- 

')  Bedeutsam  ist  das  Geständnis  Hugo  Riemanns  (Folkloristische  Tonalitäts- 
studien  I,  S.  VI),  er  habe  sich  schließlich  in  die  fremde  Pentatonik  so  hineingedacht, 
daß  ihm  jetzt  gelegentliche  Verstöße  gegen  deren  Geist  in  keltischen  Denkmälern 
bereits  als  solche  gefühlsmäßig  auffielen. 


136  HANS  JOACHIM  MOSER. 


losigkeit  für  Brahms,  dessen  Blindheit  für  Brückner  usw.  Andere 
Personen  (z.  B.  Liszt),  Völker  (z.  B.  die  Juden),  Zeiten  (Romantik)  sind 
wieder  durch  eine  erstaunliche  Weite  der  ästhetischen  Umstellungs- 
und  Einfühlungsgabe  ausgezeichnet. 

Der  Begriff  des  Persönlichkeitsstils  ist  an  sich  leicht  zu  fassen 
—  er  betrifft  die  Charakteristika  der  künstlerischen  Handschrift,  sozu- 
sagen die  Physiologie  der  einzelnen  Künstlerschaft,  die  jenseits  von 
räumlichen  und  zeitlichen  Gemeinsamkeiten  alle  Äußerungen  der  schöpfe- 
rischen Monade  als  zu  dieser  gehörig  erkennen  läßt.  Wenn  man  ein 
unbekanntes  Tonwerk,  gleichgültig  welcher  Gattung  und  welchen 
Inhalts,  erstmals  hört  und  nach  wenigen  Takten  unwillkürlich  sagt: 
»Das  ist  Bach,  das  ist  Schubert,  das  ist  Brahms«,  so  empfindet  man 
eben  deutlich  den  betreffenden  Persönlichkeitsstil,  der  zwar  während 
eines  langen  Schöpferlebens  erst  allmählich  zum  vollen  Durchbruch 
gelangen  kann  —  man  denke  an  Wagner  — ,  an  sich  aber  eigent- 
lichen Veränderungen  nur  in  geringem  Maß  zu  unterliegen  pflegt. 
Denn  was  man  als  Jugend-,  Reife-  und  Altersstil  eines  Meisters  zu 
unterscheiden  pflegt,  geht  zum  guten  Teil  besser  auf  Rechnung  der 
wechselnden  Zeitstile;  man  denke  an  Schein,  dessen  Schaffen  halb 
noch  dem  polyphonen,  halb  schon  dem  Oeneralbaßzeitalter  angehört, 
denke  an  Beethoven,  dessen  Lebenszeit  vom  galanten  Zeitalter  über 
Directoire  und  Empire  bis  in  die  Hochromantik  reicht.  Wie  die  physio- 
logischen Anlagen  des  Schaffenden  seinen  persönlichen  Stil  bis  ins 
einzelne  beeinflussen  können,  ist  ja  aus  der  Malerei  bekannt  —  man 
erinnere  sich  der  Theorien,  die  Orecos  Perspektive,  Rembrandts  Kolorit 
auf  die  besondere  Beschaffenheit  ihrer  Augen  zurückführen,  man  halte 
sich  an  das  Wort  des  jungen  Joachim  zum  jungen  Brahms  ^)  (Heidel- 
berg, Juni  1856):  »Dein  Ohr  ist  so  an  rauhe  Harmonie  gewöhnt,  von 
so  polyphoner  Textur,  daß  du  selten  die  Stimmen  im  gegenseitigen 
Zusammenstoß  allein  erwägst  —  weil  sich  bei  dir  gleich  das  Gehörige, 
Ergänzende  dazugesellt.« 

Sicher  spiegeln  sich  diese  verschiedenen  persönlichen  Hörstile 
besonders  stark  in  der  Instrumentationstechnik  der  einzelnen  Meister, 
wenn  auch  dabei  die  Zeitstile  ein  Wort  mitgesprochen  haben  '-).  Klingt 
uns  z.  B.  das  Orchesterkolorit  eines  Brahms  im  Vergleich  zum  Weber- 
schen  oder  Wagnerschen  oft  fahl,  herb,  säuerlich,  so  ist  das  (von 
jugendlichen   Ungeschicklichkeiten   natürlich  abgesehen)   kein  Mangel 


■)  Briefwechsel  zwischen  Brahms  und  Joachim,  herausgegeb.  von  Andr.  Moser 
(Deutsche  Brahmsgesellschaft,  1908,  2.  Bde.). 

ä)  Welche  Barbarei  bedeutet  daher  das  Unterfangen,  Beethovens  Symphonien 
für  modernes  Orchester  uminstrumenliert  herauszugeben!  Man  denke  sich  Raffaels 
Qemälde  von  Lovis  Corinth  »auf  modern«  neugemalt! 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.     137 

an  Können,  wie  vielleicht  teilweise  bei  R.  Schumanns  Tüpfeltechnik, 
sondern  ein  Merkmal  seines  spezifischen  Oehörssinnes,  das  wir  als 
Kennzeichen  seines  persönlichen  Dunstkreises  ohne  Kritik  hinzunehmen 
haben  '). 

Sehr  verschieden  hat  sich  der  Persönlichkeitsstil  jeweils  zum 
Zeitstil  und  Volksstil  verhalten;  hier  machen  sich  die  Probleme  des 
Individualismus  und  der  Originalität  geltend.  Im  allgemeinen  tritt  der 
Persönlichkeitsstil  erst  dann  in  unser  Bewußtsein,  wenn  er  sich  zu 
Zeit-  und  Volksstil  in  Gegensatz  stellt.  Gelegentlich  kann  er  einen 
ganzen  Zeit-  oder  Volksstil  sogar  in  sich  aufsaugen:  sprechen  wir  vom 
Bach-,  vom  Mozartstii,  so  fassen  wir  gleich  die  meisten  Zeit- 
genossen des  betreffenden  Meisters  mit  ein;  wir  reden  von  Bizetstil 
und  meinen  »spanisch«,  von  Griegkolorit  und  meinen  »skandinavisch«. 
Je  größer  der  zeitliche  und  völkische  Abstand  zwischen  uns  und 
der  stilistischen  Persönlichkeit  wird,  desto  mehr  verschwindet  der  in 
Wahrheit  vielleicht  stark  ausgeprägte  Unterschied  zwischen  ihr  und 
ihrem  zeitlichem  bzw.  nationalen  Stilhintergrund  für  unser  Auge;  das 
ist  allgemeines  perspektivisches  Gesetz.  Vergleicht  man  heute  z.  B.  die 
Opern  Glucks  und  Piccinis,  so  ist  ihr  gemeinsamer  Zeitstil  für  uns 
so  hervorstechend,  daß  die  Differenz  der  Persönlichkeitsstile  (ihre  ab- 
weichenden Theorien  waren  ja  nur  letzter  Ausfluß  dieser  Verschie- 
denheiten) kaum  mehr  merklich  ist  und  wir  uns  erstaunt  fragen,  worüber 
sich  die  Pariser  vor  150  Jahren  eigentlich  in  den  Haaren  gelegen 
haben.  Im  übrigen  ist  es  durchaus  nicht,  wie  heute  so  gern  behauptet 
und  gefordert  wird,  ein  Hauptmerkmal  wahrer  Begabung,  daß  die 
schaffende  Persönlichkeit  sich  durch  Eigenart  des  Stils  möglichst  weit- 
ab von  Zeit-  und  Volksgenossenschaft  stellen  solle. 

Die  exzentrische  Originalität  des  Persönlichkeitsduktus  ist  als 
natürlich  erwachsenes  Phänomen  nur  gewissen  Zeit-  und  Volksstilen 
eigen  gewesen,  z.  B.  der  italienischen  Spätrenaissance,  der  deutschen 
Romantik,  während  andere  Epochen,  die  man  mit  Recht  als  klassische 
bezeichnet '),  einen  Persönlichkeitsstil  gezeitigt  haben,  der  seine  Vollen- 
dung gerade  in  der  Ausprägung  des  Allgemeingültigen,  die  Kulturwelt 

')  So  hat  es  mich  stets  geärgert,  wenn  selbst  ein  Freund  des  Meisters, 
E.  Rudorff,  behauptete,  die  Haydnvariationen  seien  eins  der  schlechtest  instrumen- 
tierten Stüci(e,  die  er  kenne.  Ein  anderes  ist  es,  wenn  Brahms  nach  Anhörung 
eines  neuen  Orchesterweri«es  auf  den  Rat  sachverständiger  Freunde  noch  mancherlei 
an  der  Instrumentation  änderte:  das  reale  Klangbild  widersprach  denn  eben  dem 
vorgestellten,  und  praktische  Erwägungen  (Verdeckung  eines  Soloinstruments  usw.) 

nachten  sich  geltend.    In   seinen  Fassungen  von   letzter  Hand   jedoch   haben  wir 

^bedingt  den  Willen  des  Meisters  zu  ehren. 

')  Vgl.  meinen  Aufsatz  »Die  Romantik   und   ihr  Widerspiel«   im  »Roten  Tag« 

v4n  1.  August  1916. 


138  HANS  JOACHIM  MOSER. 


Einigenden ,  gesehen  hat ').  Freilich  haben  die  bildenden  Künste  es 
leichter,  derartig  überzeitliche,  übervölkische,  überpersönliche  Mensch- 
heitswerte zu  stabilieren,  als  die  Kunst  der  Töne.  Denn  Malerei  und 
Plastik  finden,  sie  seien  so  expressionistisch  gerichtet  wie  sie  wollen, 
einen  kommensurablen  Festpunkt  für  alle  Völker,  Zeiten  und  Indivi- 
dualitäten in  dem  Vorbild  einer  außermenschlich  existierenden  Natur  — 
die  Musik  jedoch  bildet  mittels  eines  nur  innermenschlich  erdachten 
Materials  reiner  Töne  einzig  innermenschliche  Natur  (Affekte)  nach, 
kann  also  weiteste  Gültigkeit  nur  haben,  soweit  ihr  Material  und  ihr 
Ideal  noch  in  ungefähr  gleicher  Bedeutung  verstanden  wird,  d.  h.  nur 
innerhalb  enger  Rassengrenzen.  So  wird  schon  von  Natur  der  Stil 
schöpferischer  Musikpersönlichkeiten  dem  Individualismus,  der  Origi- 
nalität besonders  stark  zuneigen.  Trotzdem  ist  es  kein  Tadel,  son- 
dern nur  die  einsichtsvolle  Feststellung  eines  Tatbestandes,  wenn 
Brahms  einmal  im  Hinblick  auf  die  Wiener  Klassiker  ungefähr  sagt*): 
»Wenn  man  solche  Partitur  mittendrin  aufschlägt,  kann  man  manch- 
mal ein  Dutzend  Seiten  lang  im  Zweifel  sein,  ob  sie  von  Haydn  oder 
Mozart  oder  Beethoven  ist.«  Oder  wenn  Schumann  (31.  Mai  184Q)  an 
Liszt  schreibt:  ». . .  Alle  verschiedenen  Kunstepochen  haben  dasselbe 
aufzuweisen,  und  Bach,  Händel,  Gluck,  später  Mozart,  Haydn,  Beet- 
hoven sehen  sich  an  hundert  Stellen  zum  Verwechseln  ähnlich  (doch 
nehme  ich  die  letzten  Werke  Beethovens  aus,  obgleich  sie  wieder  auf 
Bach  deuten).    Ganz  original  ist  keiner.« 

Ob,  wieweit  und  in  welcher  Beziehung  eine  Persönlichkeit  zu 
ihrer  räumlichen  und  zeitlichen  Konstellation  in  Übereinstimmung  oder 
Widerspruch  steht,  macht  eben  bereits  einen  Teil  ihres  Persönlichkeits- 
stils aus.  Haydn  z.  B.  war  als  Gesamterscheinung  gewiß  ein  genialer, 
echt  produktiver  Geist,  aber  Originalität  der  stilistischen  Haltung  einem 
Mozart,  Wanhall,  Dittersdorf,  Kozeluch  gegenüber  wird  man  ihm  nur 
in  begrenztem  Maße  zubilligen  können  —  wie  wäre  es  sonst  möglich, 


')  Vgl.  Goethe  an  Mannlich  (6.  August  1804):  »Die  besten  Meister,  in  ihren 
glücklichsten  Augenblicken,  nähern  sich  der  höchsten  Kunst,  wo  die  Individualität 
verschwindet  und  das,  was  durchaus  recht  ist,  hervorgebracht  wird.c  Wie  er  1795 
auch  einmal  an  Schiller  schreibt:  daß  ihre  Arbeiten  verwechselt  würden,  sei  ihm 
sehr  recht,  denn  es  beweise,  daß  sie  beide  über  die  persönliche  »Manier«  zum 
»allgemein  Outen«  fortzuschreiten  im  Begriff  ständen.  Vgl.  auch  »Wilhelm  Meisters 
Wanderjahre«  2.  Buch,  8.  Kap.  (Chamberlain,  Goethe  S.  654):  »Das  Halbvermögen 
wünscht  an  die  Stelle  des  gottgegebenen  Ganzen  seine  beschränkte  Besonderhei* 
zu  setzen  unter  dem  Vorwand  einer  unbezwinglichen  Originalität  und  Selbständig» 
keit,  wogegen  gerade  das  Genie,  das  angeborene  Talent  den  willigsten  Gehorsan 
leistet.«  Goethe  betrachtet  den  »Respekt  vor  dem,  was  man  konventionell  nennm 
könnte,«  als  ein  Symptom  echt  genialer  Anlage. 

')  Die  Fundstelle  ist  mir  leider  nicht  zur  Hand. 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.      139 

daß  ein  so  hoher  Prozentsatz  untergeschobener  Werke  ihm  jetzt*) 
erst  und  fast  nur  aus  Gründen  des  Handschriftenbefundes,  nicht  der 
Stiiistii<,  aberkannt  werden  muß?  Umgekehrt  gibt  mancher  herzlich  un- 
bedeutende Kauz  sich  durch  seine  stilistische  Schrullenhaftigkeit  gerade- 
zu penetrant  kund. 

Endlich  der  Werkstil,  dessen  Linien  sich  mit  denen  des  Per- 
sönlichkeitsstils ähnlich  einschlagartig  verflechten,  wie  diejenigen  von 
Volks-  und  Zeitstil  untereinander.  Leicht  dürfte  man  statt  dessen  auch 
von  Oattungsstil  sprechen,  wenn  dieser  Name  nicht  zu  einseitig  die 
formale  Seite  betonte,  die  allerdings  hier  wie  bei  den  anderen  Stilen  die 
überwiegende  ist.  In  gewissem  Sinne  darf  man  den  Werkstil  ebenso 
eine  schöpferische  Instanz  (nicht  nur  eine  »geschaffene«)  nennen, 
wie  Volks-,  Zeit-  und  Persönlichkeitsstil,  da  die  durch  ihn  erhobenen, 
eigenwilligen  Forderungen  nicht  bloß  negativ  der  phantasievollen  Erfin- 
dung entgegentreten,  sondern  diese  auch  höchst  produktiv  fördern 
und  anregen  können.  Schreibt  jemand  ein  Violinkonzert,  eine  komische 
Oper,  so  sitzen  diese  Gattungen  sozusagen  wie  gestaltgewordene 
Freunde  mit  am  Schreibtisch  und  helfen  dem  Meister  bei  seinem  Werk. 
Der  Werkstil  umfaßt  in  erster  Linie  die  musikalischen  Gattungstypen 
(man  spricht  von  Opern-,  Kammermusik-,  Lied-,  Symphonie-,  Oratorien- 
stil) und  stellt  damit  zum  Teil  eine  ähnliche  Spezialisierung  des  Zeit- 
stils dar,  wie  der  Persönlichkeitsstil  eine  solche  des  Volksstils.  Denn 
wenn  die  meisten  Gattungen  musikalischer  Werke  innerhalb  Europas 
fast  keine  völkischen  Grenzen  kennen,  so  unterliegen  sie  der  Begren- 
zung durch  die  Zeitläufte  in  umso  stärkerem  Maße.  Man  betrachte 
z.  B.  die  Geschichte  des  Liedes  als  Gesamterscheinung  —  an  der 
Schwelle  der  Epochen  wird  sie  jedesmal  zur  Geschichte  einer  neuen 
Gattung,  des  monodischen,  des  chorischen,  des  Klavier-Liedes.  Oder 
man  denke  an  das  Oratorium,  das  vor  dem  Wirken  der  Philippiner 
Mitte  des  16.  Jahrhunderts  keinen  ähnlichen  Vorgänger  kennt  und  im 
heutigen  Chorwerk  mit  Orchester  schon  einen  durchaus  wesens- 
ungleichen Nachfolger  gefunden  hat. 

Zum  Werkstil  dürfte  auch  der  Stil  der  verschiedenen  Besetzungen 
zu  rechnen  sein,  als  die  akustischen  Besonderheiten  des  Solo-, 
Ensemble-  und  Orchesterstils,  die  auf  die  Gestaltung  des  Gedanken- 
inhalts, auf  die  dynamischen  und  großrhythmischen  Ausmaße,  das 
Kolorit  usw.  von  erheblichem  Einfluß  sind  und  wieder  jedesmal  eine 
verbindende  Brücke  zu  entsprechenden  Werken  anderer  Persönlichkeiten, 
Zeiten,   Völker  schlagen.    In  engem  Zusammenhange  hiermit  stehen 


')  Man  vgl.  z.  B.  den  Symphoniekatalog  der  neuen  kritischen  Gesamtausgabe 
von  Haydns  Werken. 


140  HANS  JOACHIM  MOSER. 


die  stilistischen  Bestimmungen,  die  aus  dem  Wesen  des  ausführenden 
Organs  hervorgehen  —  die  Unterschiede  zwischen  dem  Voi<alstii  und 
dem  Instrumentaistii  in  ihren  verschiedenen  Unterarten  nach  Stimm- 
und  Instrumentengattungen,  sowie  in  ihrer  mannigfaltigen  Vermischung. 
Wenn  Brahms  z.B.  eine  Klarinettensonate  schreibt,  so  formen  sich 
aus  seiner  Kenntnis  und  instinktiven  Durchschauung  dieses  Instru- 
mentencharakters gewisse  stilistische  Eigenheiten  quer  zum  allgemeinen 
Duktus  seiner  persönlichen  Handschrift,  die  man  nirgends  in  seinem 
Horntrio,  seinen  Klavierkonzerten,  seinen  Violinsonaten,  wohl  aber 
in  der  Klarinettenliteratur  Mozarts,  Webers,  Spohrs,  Schumanns,  Regers 
wiederfinden  wird. 

Endlich  beobachten  wir  im  Schaffen  mancher  Meister  noch  inner- 
halb einer  einzelnen  Gattung  bedeutsame  Stildifferenzen.  Nimmt  man 
sich  z.  B.  Wagner  vor  und  isoliert  von  seinem  Gesamtoeuvre  die 
Chor-  und  Orchesterwerke,  so  findet  man  innerhalb  seiner  musik- 
dramatischen Produktion  während  weniger  Jahrzehnte  mehrere  aus- 
geprägte Stile  nebeneinander:  einen  Lohengrin-,  Tristan-,  Meistersinger-, 
Parsifalstil.  Man  vergegenwärtige  sich  als  Beleg  jene  Stelle  aus  dem 
dritten  Aufzug  der  »Meistersinger«,  wo  Hans  Sachs  von  König  Marke 
spricht:  welch  fremde,  schwüle  Welt  scheint  da  mit  den  chromatischen 
Tristanklängen  plötzlich  in  die  kraftstrotzende,  taghelle  Diatonik  der 
Meistersingermusik  herein!  Oder  man  erinnere  sich  des  Figarozitats 
bei  Don  Giovannis  letztem  Gastmahl  —  das  sind  nicht  bloß  thematische, 
sondern  weit  mehr  stilistische  Szenenwechsel.  Ähnliche  Unterschiede 
der  Werkstile  beobachtet  man  bei  eingehenderer  Vertrautheit  auch 
zwischen  Bachs  Matthäus-  und  Johannispassion,  zwischen  Glucks 
Orpheus,  Alceste  und  Iphigenie,  zwischen  Beethovens  einzelnen  Sym- 
phonien. Selbstverständlich  sind  das  Dinge,  die  nur  innerhalb  der 
Spannweite  einer  sehr  umfassenden  Persönlichkeit  Raum  finden  können. 
Man  nähert  sich  hier  der  Zone,  wo  Stilistik  überhaupt  ihre  Grenzen 
findet,  weil  sie  sich  in  lauter  Einzelfälle  auflöst.  Zudem  macht  hier 
bereits  der  inhaltliche  Vorwurf'  von  innen  her  sein  Formgesetz  weit 
stärker  geltend,  als  es  von  außen  her  aller  Stilzwang  vermöchte. 

Wollen  wir  versuchen,  Persönlichkeits-  und  Werkstil  mit  Zeit-  und 
Volksstil  verbunden  zu  graphischer  Darstellung  zu  bringen,  so  müssen 
wir  von  den  Koordinaten  der  Ebene  zu  denen  des  Raumes  übergehen ; 
es  bereitet  sogar  Schwierigkeit,  alle  vier  Kategorien  bloß  in  den  drei 
Dimensionen  des  Körperlichen  unterzubringen.  Zugleich  ergibt  sich 
die  Nötigung,  gegenüber  der  »Produktion«  als  Zusammenfassung  der 
einzelnen  Werkstile  die  kritische  Tätigkeit  des  Geschichtsschreibers 
durch  die  dazwischen  geschobenen  Schichten  der  »Reproduktion«, 
des  »ästhetischen  Genusses«  und  der  »objektiven  Sachschilderung«  in 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.      141 


eine  besondere  Ebene  zu  verlegen,  um  den  wahren  Abstand  zwi- 
schen den  Stilen  beider  Tätigkeiten  einigermaßen  zur  Anschauung  zu 
bringen.  Um  die  Deutiichl<eit  zu  erhöhen,  werde  in  nachstehender 
Figur  nur  ein  Icleiner  Ausschnitt  aus  dem  Räume  gegeben:  aus  den 
Koordinatenebenen  des  Zeitstils  greifen  wir  die  Jahre  1700,  1800  und 
IQOO  heraus,  aus  denen  des  Volksstils  die  Deutschen,  Franzosen  und 
Italiener,  von  den  in  diesem  Raumteil  stehenden  Personen  sei  Beet- 


laoo 


hoven  im  Schnittpunkt  des  deutschen  Nationalstils  mit  dem  Zeitstil 
von  1800  betrachtet.  Insofern  seine  Schaffenszeit  von  etwa  1790  bis 
1827  reicht  und  sowohl  von  französischem  wie  von  italienischem  Volks- 
stil einiges  in  sich  aufgenommen  hat,  dürfte  man  statt  der  hier  gewählten 
linearen  Vereinfachung  eine  Säulengestalt  für  ihn  ansetzen,  die  nun 
schichtweise  von  den  Ebenen  der  einzelnen  Werkstiie  geschnitten  wird. 
Dort  schneiden  nun  die  wagerechten  Koordinatenfelder  des  virtuosen 
Konzertstils,  des  Ouvertüren-,  Symphonie-,  Lied-,  Kirchenmusik-,  Ora- 
torien-, Opern-  und  Kammermusikstils  die  Einzelfälle  der  Beethoven- 


142  HANS  JOACHIM  MOSER. 


sehen  Ouvertüren,  seiner  neun  Symphonien,  der  Geliertschen  Lieder, 
der  Missa  solemnis,  des  Christus  am  Ölberg,  des  Fidelio,  der  sechzehn 
Streichquartette  und  der  Kiaviersonaten  heraus. 

Wieder  muß  hierbei  daran  erinnert  werden,  daß  die  Einzeiwerke 
nicht  restlos  Ergebnisse  dieser  sich  in  ihnen  schneidenden  Stile  sind, 
sondern  durch  diese  nur  ihre  Stellung  im  Erscheinungsraum  erhalten, 
und  daß  es  nicht  möglich  ist,  für  den  in  der  Figur  noch  speziell 
hervorgehobenen  Abstand  zwischen  dem  Kritiker  und  etwa  dem  »Fide- 
lio« ein  wirkliches  Streckenmaß  zu  geben.  Dazu  müßte,  die  früheren 
Prämissen  aus  der  Ebene  wieder  vorausgesetzt,  auch  noch  die  persön- 
liche Distanz  zwischen  der  Persönlichkeit  des  Betrachters  und  den 
einzelnen  Werkstilen  graduell  bestimmbar  sein.  In  der  Tat  spielt  dieser 
Abstand  eine  Rolle,  denn  für  den  ästhetischen  Genuß  ist  es  ebenso 
wichtig  wie  bei  der  Durchdringung  der  zeit-,  volks-  und  persönlich- 
keitsstilistischen Trennungsschichten,  ob  und  wieweit  der  kritische 
Betrachter  den  einzelnen  Gattungs-  usw.  Stilen  (etwa  durch  eigenes 
Schaffen)  in  persönlichem  Vertrauensverhältnis  oder  grundsätzlicher 
Fremdheit  gegenübersteht.  Auch  hier  ist  vom  idealen  Kunstwissen- 
schaftler größte  Umstellungsfähigkeit  zu  verlangen,  auch  hier  kann  eine 
einzelne  geniale  Leistung  über  die  fremdartigsten  Werkstile  hinweg 
unmittelbar  verwandt  auf  uns  wirken.  Man  denke  etwa  an  den  uns 
heute  absolut  gleichgültigen  Werkstil  der  instrumentalen  Estampiden 
des  Mittelalters,  an  den  fremden  Zeitstil  der  Troubadourepoche  und  an 
den  fremden  Volksstil  der  Proven^alen  —  darum  wirkt  das  Liedchen 
»Kalenda  maya«  des  uns  sonst  kaum  etwas  bedeutenden  Reimbault  de 
Vaqueiras  (Ende  des  12.  Jahrhunderts)  auf  uns  trotzdem  jung  und  morgen- 
schön wie  Werners  Heidenröslein,  denn  es  ist  von  klassischer  Allge- 
meingültigkeit über  Zeit-,  Volks-,  Persönlichkeits-  und  Werkstil  hinweg. 

Betrachtet  man  ein  einzelnes  Werk  als  der  Reihe  nach  in  die  vier 
Verklammerungen  der  geschilderten  Stilarten  verhaftet,  so  ergibt  sich 
zugleich  eine  wertvolle,  vielfach  neuartige  Disposition  für  die  Analyse  — 
eine  Art  von  musikwissenschaftlicher  »Chri«,  freilich  ohne  den  öden 
Schematismus  einer  solchen.    Zum  Exempel: 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.      143 


Euryanthe. 


Volksstil 

Das  speziell  Deutsche 
an  dem  Werk. 


Zeitstilistisch: 

Das  speziell  Roman- 
tische an  dem  Werk. 


Werkstilistik: 
Das   spezifisch    E  u  r  y  a  n- 
then hafte   als  Schattie- 
rung der  rom.-heroischen 
Operngattung. 

Persönlichkeits- 
stilistisch: 
Das   speziell  Web  er- 
sehe an  dem  Werk. 


Man  kann  die  vier  behandelten  Stilkategorien  auch  als  eine  induk- 
tive Reihe  betrachten,  die  vom  Allgemeinen  zum  immer  Spezielleren 
fortschreitet.  Dann  ergeben  sich  Volks-  und  Zeitstil  als  die  weiteren, 
Persönlichkeits-  und  Werkstil  als  die  engeren  Begriffe.  Volks-  und 
Persönlichkeitsstil  beruhen  mehr  auf  eingeborener  Naturanlage,  Zeit-  und 
Werkstil  mehr  auf  Konvention ;  die  ersten  beiden  sind  mehr  von  innen 
heraus  entstanden,  die  beiden  letzten  durch  mancherlei  kulturgeschicht- 
liche Einflüsse  von  außen  her  zustandegekommen.  Selbstverständlich 
werden  im  künstlerischen  Schaffen  Natur  oder  Konvention  niemals  rein 
für  sich  allein  auftreten,  stets  wird  eine  Mischung  beider  vorliegen, 
wie  sie  sich  überhaupt  gegenseitig  bedingen  und  ineinander  übergehen. 
Eine  von  beiden  Komponenten  wird  nur  jeweils  überwiegen;  in  wel- 
chem Verhältnis  man  aber  die  Mischung  beider  annehmen  will,  kommt 
letzten  Endes  auf  die  persönliche  Stellung  jedes  einzelnen  zum  Problem 
der  Willensfreiheit  an  —  das  ist  nicht  mehr  Erkenntnis-,  sondern  Ge- 
fühls-, Temperaments-,  Glaubenssache.    Hier  das  Schema: 


144 


HANS  JOACHIM  MOSER. 


Überwiegend  Naturanlage 


Überwiegend  Konvention 


Persönlichkeits- 
~^  Stil 

Im  Bewußtsein  des  Dgl.    bei    zeitge-  Dgl.  bei  gefühls-    Dgl.  bei  gefühls- 

Betrachters    ausge-         nössischen  verwandten  verwandten 

schaltet  bei  volks-  Werken    oder   Per-  Persönlich-          Werkgattungen. 

genössischen           sönlichkeiten.  keiten. 
Werken    oder   Per- 
sönlichkeiten. 

Mustert  man  als  Abschluß  unserer  Betrachtungen  die  wichtigsten 
musikgeschichtiichen  Veröffentlichungen  des  letzten  halben  Jahrhun- 
derts unter  den  behandelten  Gesichtspunkten,  so  ergibt  sich  etwa 
folgende  Bestandaufnahme:  zahlreich  und  vortrefflich  sind  die  Gat- 
tungsgeschichten vorhanden,  die  dem  Wesen  des  Werkstils  unter 
dem  weiteren  Gesichtspunkt  des  Zeitstils  nachgehen,  die  Persönlich- 
keitsstile dabei  nur  kreuzen  können  und  die  Volksstile  meist  achtlos 
beiseite  lassen.  Ebenso  sind  wir  gut  mit  Biographien  versorgt, 
welche  die  Persönlichkeitsstile  im  Rahmen  des  Zeitstils  untersuchen, 
dabei  ihrerseits  die  Werkstile  rechtwinklig  schneiden  und  ebenfalls 
dem  Volksstil  nur  ausnahmsweise  Beachtung  schenken.  Des  weiteren 
besitzen  wir  allgemeine  Musikgeschichten  oder  Teile  von  sol- 
chen, die  den  Höhepunkten  des  musikalischen  Schaffens,  längs  der 
Zeitstile,  quer  durch  die  Volks-  und  Werkstile  nachgehen,  also  in 
unserem  dreidimensionalen  Koordinatensystem  komplizierten  räumlichen 
Kurven  folgen,  die  sich  bald  flächig,  ja  körperlich  erweitern,  bald  in 
mehrere  Stränge  teilen,  unter  Umständen  sogar  auf  eine  Strecke  hin 
lückenhaft  aussetzen  können,  wenn  für  gewisse  Zeiten,  Völker,  Gat- 
tungen keine  Persönlichkeiten  bzw.  Werke  vom  gewünschten,  der 
Darstellungsart  genügenden  Rang  vorliegen  sollten. 

Was  uns  dagegen  so  gut  wie  ganz  fehlt,  sind  einmal  rein  zeit- 
stilistische Schnitte  (in  unserer  Figur  also  in  frontaler  Ebene, 
quer  durch  die  Flächen  der  Volks-  und  Werkstile),  d.  h.  Darstellungen, 
die,  ohne  auf  das  entwicklungsgeschichtliche  Werden  der  nationalen 
und  Gattungsbesonderheiten  einzugehen,  etwa  mit  den  Augen  eines 
Burney,  eines  Reichardt  die  Musikwelt  Mitteleuropas  zum  Beispiel  im 
Jahre  1440,  1520,  1660  oder  1735  nach  der  sozialen,  der  produktiven, 
der  ausübenden,  der  theoretisierenden  Seite  vor  uns  aufbauen  würden. 
Zustandsschilderungen  also,  die  in  dieser  freiwillig  zweidimensionalen 
Beschränkung  die  bestehenden  Verhältnisse  und  Leistungsgrade  umso 


ZUR  METHODIK  DER  MUSIKALISCHEN  GESCHICHTSCHREIBUNG.      145 

plastischer  darstellen  könnten,  was  zweifellos  bedeutsame  neue  Ge- 
sichtspunkte und  Erkenntnisse  gewährleisten  würde.  Freilich  verlangt 
eine  solche  Aufgabe  ein  hohes  Maß  von  anschauender  Vorstellungs- 
gabe 1). 

Ein  zweites,  ebenso  wichtiges  Desiderat  wären  Schnitte  längs 
der  einzelnen  Nationalstile,  also  Geschichten  etwa  der  deutschen, 
der  französischen,  italienischen,  holländischen,  spanischen,  slawischen 
Musik.  Diese  dürften  nun  aber  nicht  als  bloße  Ausschnitte  aus  allge- 
meinen Musikgeschichten  oder  Erweiterungen  der  bereits  zahlreich  vor- 
handenen musikalischen  Stadt-  und  Landschaftsgeschichten  in  der  bis- 
herigen Weise  alle  in  dem  betreffenden  Gebiet  geschaffenen  oder  auf- 
geführten Werke  behandeln.  Sondern  sie  müßten  die  plastische  Heraus- 
arbeitung des  einzelnen  Nationalstils,  also  den  völkischen  Gesichts- 
punkt, stets  zum  Leitgedanken  der  Darstellung  machen;  freilich  hätten 
sich  die  betreffenden  Geschichtsschreiber  vor  der  leicht  drohenden 
Gefahr  des  künstlerischen  Chauvinismus  zu  hüten.  Letzten  Endes  müßte 
aus  einer  Reihe  solcher  Werke  das  Material  für  eine  »vergleichende 
Geschichte  der  musikalischen  Kulturvölker«  herausspringen.  Hierzu 
ist  aber  noch  so  gut  wie  nichts  vorgearbeitet.  Ich  selbst  versuche  zur- 
zeit, durch  eine  auf  zwei  Bände  berechnete  »Geschichte  der  deutschen 
Musik«  mein  geringes  Teil  zur  allmählichen  Ausfüllung  dieser  Lücke 
beizutragen. 

Vielleicht  fühlen  einzelne  Fachgenossen  sich  durch  die  vorstehenden 
Ausführungen  angeregt,  mit  weiteren  musikalischen  Zeit-  oder  Volks- 
geschichten zur  Organisation  der  erforderlichen  Arbeitsleistung  mit- 
zuhelfen. 


')  Ein  derartiger,  freilich  halb  belletristischer  Versuch,  auf  Deutschland  be- 
schränkt, wird  gegenwärtig  von  mir  unter  dem  Titel  »Meister  Urians  musikalische 
Denkwürdigkeiten«  vorbereitet. 


Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  KunstwissenscluJt.   XIV.  10 


VI. 

Heinrich  Theodor  Rötschers  Theorie 
der  Schauspielkunst. 

Von 
Robert  Klein. 

Heinrich  Theodor  Rötscher  wurde  am  20.  September  1802  zu 
Mittenwalde  im  Brandenburgischen  geboren.  Er  besuchte  das  König- 
h'che  Gymnasium  zu  Berlin  und  ließ  sich  1821  an  der  Berliner  Uni- 
versität einschreiben,  wo  er  besonders  Boeckh  und  Hegel  hörte.  Zwei 
Semester  studierte  er  in  Leipzig.  Er  promovierte  im  August  1825  mit 
einem  philologisch-philosophischen  Werk  über  Aristophanes.  Die  Fort- 
setzung dieses  Buches  diente  ihm  als  Habilitationsschrift.  Vom  Sommer 
1826  bis  Februar  1830  hielt  er  Vorlesungen  an  der  Universität  in  Berlin, 
dann  wurde  er  Professor  am  Gymnasium  in  Bromberg,  wo  er  15  Jahre 
tätig  war.  1845  folgte  er  einem  Ruf  als  Theaterkritiker  an  die  Haude- 
und  Spenersche  Zeitung  nach  Berlin  und  schrieb  für  dieses  Blatt  bis 
1863  die  Theaterbesprechungen.  Ein  Schlaganfall  setzte  dann  seinem 
weiteren  regelmäßigen  Wirken  ein  Ende.    Er  starb  am  8.  April  1871. 

Rötscher  gehörte  zur  Gruppe  jener  Gelehrten,  in  denen  das  Be- 
dürfnis lebendig  war,  entgegen  dem  Subjektivismus  romantischer  Kritik 
objektive  Maßstäbe  an  das  Kunstwerk  heranzutragen.  Diese  Bewegung 
entstand  etwa  um  1828  und  hatte  besonders  Gans,  Rosenkranz  und 
Hotho  zu  ihren  Vertretern.  Aus  ihr  heraus  erwuchsen  die  Jahrbücher 
für  wissenschaftliche  Kritik,  zu  deren  eifrigen  Mitarbeitern  Rötscher 
zählt.  Das  damals  besonders  ausgeprägte  Streben  nach  Systematik 
läßt  es  verständlich  erscheinen,  daß  auch  der  Vorwurf  der  Schauspiel- 
kunst als  Gegenstand  geordneter  und  philosophischer  Darstellung  lockte, 
und  so  ließ  Rötscher,  Theaterfreund  von  frühester  Jugend  auf  und 
aufgewachsen  im  theaterhungrigen  Berlin  in  der  Zeit  von  1841  bis  1846, 
ein  dreibändiges  Werk  erscheinen  über  die  Kunst  der  dramatischen 
Darstellung.  Das  Buch  war  nicht  als  Lehrbuch  der  künstlerischen 
Technik  gedacht,  sondern  es  war  Selbstzweck.  Es  zeichnet  sich  durch 
umfassende  Disposition  und  wirkliches  Kunstverständnis  aus.  Es  ist 
in  der  dialektischen  Methode  geschrieben  und  weist  alle  Vorzüge 
und  Nachteile  dieser  Darstellungsform  auf.    Es  bringt  Wahrheiten,  die 


HEINRICH  THEODOR  RUTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     147 

uns  heute  als  Gemeinplätze  geläufig  sind,  in  so  geistvollem  Zusammen- 
hang, daß  sie  uns  neu  und  eigenartig  erscheinen,  aber  es  ermüdet  auch 
durch  die  schleppende  Dreiteilung  und  ewige  Wiederholung  dialektischer 
Formalistik.  Es  ist  immerhin  das  umfassendste  und  theoretisch  grund- 
legende Buch  über  die  Schauspielkunst  geblieben.  Anregungen  konnte 
Rötscher  besonders  aus  Engels  Ideen  zu  einer  Mimik  empfangen,  ebenso 
von  Tieck,  Schlegel  und  aus  gelegentlichen  Bemerkungen  Solgers. 

Bedeutender  als  in  diesem  Buch  ist  Rötscher  in  seinen  Abhand- 
lungen über  die  Kunst  der  Einzelanalyse,  in  denen  er  sich  zur  Auf- 
gabe macht,  zu  zeigen,  inwiefern  die  Idee  eines  Kunstwerkes  sich  zur 
Form  entläßt.  Nichts  ist  irrtümlicher,  als  die  vorerwähnte  Schule  von 
Rosenkranz,  Gans,  Hotho  usw.  die  Inhaltsästhetiker  zu  nennen.  Rötschers 
ganzes  Bestreben  besteht  darin,  aus  dem  Formalen  das  ästhetische  Ver- 
gnügen zu  erklären.  Die  Freude  an  der  Kunst  wird  zurückgeführt 
auf  die  Übereinstimmung  von  Inhalt  und  Form,  und  in  der  Aufzeigung 
dieser  Architektur  ist  Rötscher  wirklich  Meister.  Wenn  Hebbel  schreibt. 
Rötscher  stehe  darin  einzig  da,  und  wenn  Bamberger  meint,  er  habe 
Genie  zur  Kritik,  so  ist  das  nicht  übertrieben.  Die  Abhandlungen  über 
Hamlet,  Romeo  und  Julia,  die  Wahlverwandtschaften  usw.  ließt  man 
auch  heute  noch  mit  größtem  Genuß  und  reichem  Gewinn.  Angeregt 
war  Rötscher  zur  Einzelanalyse  von  Solger.  Der  Ausbau  und  die  Ver- 
vollkommnung der  »Dekomposition«  ist  durchaus  sein  Verdienst.  — 
Im  Philosophischen  kommt  Rötscher  von  Hegel  her,  den  er  rückhaltslos 
verehrt  und  von  dessen  Unfehlbarkeit  er  überzeugt  ist.  Selbst  im 
Stilistischen  läßt  sich  eine  starke  Abhängigkeit  Rötschers  von  Hegel 
wahrnehmen.  Einen  Beweis  hierfür  liefert  wohl  schon  die  folgende 
Darstellung,  in  der  ich,  um  ein  möglichst  objektives  Bild  zu  geben, 
zumeist  Rötscher  selbst  zu  Wort  kommen  lasse. 

Zum  Schluß  der  Betrachtung  habe  ich  noch  die  Gesichtspunkte 
von  Rötschers  praktischer  Kritik  zusammengestellt  i). 

')  Eine  systematische  Zusammenstellung  der  ästhetischen  Qrundansichten  Röt^ 
Sehers  wird  demnächst  im  Archiv  für  Philosophie  erscheinen. 

Nachstehend  sind  die  Hauptwerke  Rötschers  aufgeführt.  Einfachheitshalber 
habe  ich  im  Text  stets  die  in  der  letzten  Spalte  gewählte  Abkürzung  zitiert. 

Aristophanes   und  sein   Zeitalter 1827  I 

Abhandlungen  zur  Philosophie  der  Kunst.     .     1837,38,40,42,47      II:A.B.C.D.E. 

Über  Byrons  Manfred 1844  III 

Die  Kunst  der  dramatischen  Darstellung    .    .     1841,44,46  IV:A.  B.  C 

Seydeimanns  Leben  und  Wirken 1845  V 

Jahrbücher  für  dramatische  Kunst 1847,48,49  VI :  A.  B.  C. 

Kritiken  und  dramaturgische  Abhandlungen    .     1859  VII 

Shakespeare 1864  VIII 

Dramaturgische  Blätter 1865  •  IX:  1,  2,  3,  4 

Dramaturgische  und  ästhetische  Abhandlungen     1867  X 


■(48  ROBERT  KLEIN. 


I.  Die  Schauspielkunst 

a)  Allgemeiner  Teil. 

a)  Der  Schauspieler  im  Verhältnis  zum  Publikum,  zum  Dilettanten  und 

zur  Kritik. 

Die  Kunst  der  dramatischen  Darstellung  hat  die  künstlerische  Ver- 
wirklichung des  Dramas  zu  ihrem  Zweck.  Die  Schauspielkunst  übt 
Wirkungen  aus,  welche  an  Stärke  und  Erschütterungen  die  aller  anderen 
Künste  hinter  sich  zurücklassen. 

Das  Material  unserer  Kunst  ist  die  ganze  Persönlichkeit  des 
Menschen.  Diese  zufällige  Individualität  muß  zum  Instrument  für  die 
Kunst  geformt  und  gebildet  werden.  In  dieser  Verstellung  und  Mas- 
kierung, sowie  in  dem  Auftreten  vor  einer  schaulustigen  Menge  liegt 
auch  der  Grund  der  Verachtung  für  den  Schauspieler.  Diese  irrtüm- 
liche Mißachtung  besteht  in  der  Verkennung  der  Tatsachen,  daß  der 
Mime  sich  nicht  zu  einem  endlichen,  vielmehr  zu  einem  idealen  Zwecke 
verstellt.  Wenn  die  Menge  schaulustig  ist,  dann  ist  der  Vorwurf  ihr 
zu  machen,  nicht  dem  Künstler.  Da  nun  jeder  Mensch  von  Haus  aus 
reden  kann  und  auch  die  Gebärde  hat,  und  da  ferner  die  Schauspiel- 
kunst, die  ihre  Entstehung  dem  Nachahmungstriebe  verdankt,  an- 
scheinend keine  besonderen  Schwierigkeiten  bietet,  so  macht  sich  be- 
sonders in  ihr  der  Dilettantismus  breit.  Gerade  weil  hier  die  empfangene 
Wirkung  so  überaus  stark  ist,  möchte  man  gleich  reproduzieren  ^).  Ist 
ja  doch  dies  das  Wesen  des  Dilettantismus,  daß  er  fast  niemals  sich 
in  den  vollen  Besitz  der  Technik  seiner  Kunst  setzt.  Der  Dilettant 
wird  sich  vorzugsweise  in  der  Ausübung  derjenigen  Künste  heimisch 
fühlen,  in  denen  er  ohne  große  Anstrengung  schon  etwas  erreichen 
kann  und  Erfolge  zu  erringen  vermag.  Die  schwierigsten  Teile  der 
Technik  wird  er  vernachlässigen,  weil  sie  ihm  den  Genuß  erschweren. 
Denn  der  Dilettant  will  in  der  Kunst  sich  selbst  zum  Genuß  bringen, 
während  der  Künstler  in  der  Ausübung  seiner  Kunst  sich  befriedigt. 
Daher  sich  der  Dilettant  auf  die  Einzelheiten  beschränken  wird,  die 
ihm  gerade  zusagen,  die  Totalität  aber  außer  acht  läßt.    Ihm  ist  die 


Entwicklung  dramatischer  Charaktere     .    .    .     1869  XI 

Theater  und  dramatische  Poesie.    Aufsatz  im 

Staatslexikon  von  Rotteck  und  Weicker     .     1843  St.  L. 

Aufsätze  in  den  Jahrbüchern  für  wissenschaft- 
liche Kritik 1827—1844 

Kritiken  in  der  Haude-  und  Spenerschen  Zeitung   1845 — 1863. 
■)  IV:  A:  3-12. 


HEINRICH  THEODER  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     ]49 


Kunst  slets  nur  Mittel  für  seine  Erholung  und  zu  seinem  Vergnügen. 
Es  ist  natürlich,  daß  der  Dilettantismus  sich  in  denjenigen  Künsten 
besonders  hervortut,  in  denen,  bei  einer  selbst  nur  mäßigen  Technik, 
schon  eine  Befriedigung  der  Eitelkeit  möglich  ist,  so  in  der  Musik, 
der  lyrischen  Poesie  und  der  Schauspielkunst.  Während  es  dem  wirk- 
lichen Künstler  vor  allem  um  die  Wahrheit  zu  tun  ist,  welche  er,  wäre 
sie  auch  bitter,  vernehmen  will,  geizt  der  Dilettant  vor  allem  nach  Lob 
und  sieht  in  der  Entziehung  desselben  nur  Neid  und  Mißgunst.  Dem 
wirklichen  Künstler  sind  seine  Schöpfungen  Notwendigkeiten,  dem 
Dilettanten  seine  Produktionen  mehr  Zufälligkeiten,  die  auch  ebenso 
hätten  unterbleiben  können.  Der  Künstler  duldet  für  seine  Kunst  und 
verliert  niemals  den  Mut,  für  sie  zu  wirken,  der  Dilettant  wird  durch 
Schwierigkeiten  nur  abgeschreckt  und  resigniert  zuletzt.  Der  tiefere 
Grund  hierfür  liegt  darin,  »daß  der  wahre  Künstler  ein  Geschöpf  von 
Gottes  Gnaden  ist,  der  Dilettant  aber  sich  niemals  zur  vollen  Gött- 
lichkeit aufschwingt<  *). 

Schließlich  ist  noch  zu  sagen,  daß  der  Dilettant,  um  sich  ein  ge- 
wisses Relief  zu  geben,  und  sich  dem  Künstler  gleichzustellen,  auch 
in  seinen  Urteilen  über  die  Leistungen  anderer  strenger  sein  wird  als 
der  Künstler,  denn  ihm  fehlt  vor  allem  die  Keuschheit  des  Künstlers 
und  die  Demut  vor  der  Idee. 

Dem  wahren  Schauspieler  tut  also,  wie  jedem  anderen  Künstler, 
vor  allem  eine  systematische  Vorbildung  not.  Jede  Kunst,  wie  wir 
wissen,  ist  eine  Durchdringung  des  Allgemeinen  und  Individuellen; 
die  Schauspielkunst  eine  Durchdringung  der  Schönheit  und  Wahrheit. 
Treten  diese  beiden  Elemente  gesondert  auf,  so  ist  dies  der  Kunstleistung 
nachteilig.  Es  folgt  daraus  eine  dreifache  Stellung  des  Schauspielers 
zum  dramatischen  Charakter: 

1.  Darstellung  und  Vollendung  des  dramatischen  Charakters 
decken  sich. 

2.  Wo  die  ideale  Seite  überwiegt,  läßt  der  Schauspieler  nach 
dem  Individuellen  gravitieren  und  ergänzt. 

3.  Je  mehr  hingegen  ein  Charakter  nach  der  Seite  der  Naturwahr- 
heit gravitiert,  desto  mehr  hat  der  darstellende  Künstler  ihm  Idealität 
zu  verleihen. 

Zu  erwähnen  wäre  noch  der  skizzierte  Charakter,  für  den  z.  B. 
Oranien  und  Alba  im  Egmont  genannt  werden  können.  Hier  muß 
der  Schauspieler  auf  die  ganze  Ausführung  besondere  Sorgfalt  ver- 
legen, um  uns  ebenfalls  das  Bild  eines  in  sich  fertigen  und  runden 
Menschen  zu  liefern«), 

')  X:57{f. 
')  IV:D:55. 


150  ROBERT  KLEIN. 


Was  das  tatsächliche  Alter  des  Mimen  betrifft,  so  ist  Haupt- 
forderung, daß  er  uns  die  Illusion  des  Darzustellenden  verschafft. 
Wenn  er  nur,  wo  er  jung  zu  sein  hat,  jugendlich  aussieht,  so  ist 
gleichgültig,  wie  alt  er  in  Wahrheit  ist.  Dies  gilt  auch  bei  den  Fran- 
zosen, während  der  Deutsche  verkehrterweise  Natur  mit  Kunst  ver- 
wechselt. 

Wenn  der  wahre  Künstler,  der  oft  von  der  Mitwelt  mißverstanden 
wird,  auf  die  Anerkennung  der  Nachwelt  hoffen  kann,  so  ist  dem 
Schauspieler  dieser  Trost  versagt;  er  ist  ganz  an  die  Gegenwart 
gewiesen.  Bei  ihm  ersetzt  gewissermaßen  die  Intensität  des  augen- 
blicklichen Siegs  über  das  Gemüt  die  ihm  fehlende  Extensität  in  der 
Zeit.  Daraus  erklärt  und  rechtfertigt  sich  auch  der  Beifall;  verdammens- 
würdig  ist  die  Gunstbuhlerei. 

Soweit  das  Verhältnis  des  Schauspielers  zum  Publikum.  Einen 
kurzen  Blick  wollen  wir  werfen  auf  seine  Beziehungen  zur  Kritik.  Zwar 
ist  die  Theaterkritik  heruntergekommen  und  der  Schauspieler  hört  nicht 
auf  sie;  sie  muß  aber  gehoben  werden.  Es  ist  der  Instinkt  des  Künstlers, 
beim  Kritiker  ein  entwickelteres  Bewußtsein,  eine  tiefere  Einsicht 
in  die  Geheimnisse  seiner  Kunst  vorauszusetzen,  welche  bei  dem  mit 
einer  gewissen  Naturnotwendigkeit  Schaffenden  nie  in  so  zusammen- 
hängender Weise  lebendig  sein  kann.  Der  Künstler  will  also  an  dem 
wahren  Kritiker  sein  natürliches  Korrektiv  haben.  Er  ist  für  ihn  der 
lebendige  Kanon  ^). 

ß)  Die  Bildung  des  wahren  Schauspielers. 

Die  äußeren  Vorbedingungen  für  den  Schauspieler  sind  ein  wohl- 
gestalteter Körper  und  ein  normales  Gesicht.  Ein  mißgebildeter  Körper 
könnte  höchstens  in  Ausnahmefällen  zu  komischer  Wirkung  Ver- 
wendung finden.  Ein  niedrig-sinnliches  Gesicht  ist  eine  fast  unüber- 
windbare  Schranke,  während  umgekehrt  von  der  Natur  dem  Darsteller 
außerordentliche  Vorteile  verliehen  sein  können.  Leider  bleibt  gerade, 
wo  sie  sich  einfinden,  der  Geist  häufig  aus.  Hinderlich  ferner  sind 
der  gemeine  Ton  und  der  Dialekt;  des  letzteren  bedient  sich  der  Lokal- 
komiker. Auch  hier  kann  zum  Vorteil  des  Schauspielers  die  Natur 
ihm  ein  schönes  Organ  mitgegeben  haben,  das  aber  auch  der  Bildung 
bedarf. 

Die  Entwicklungsstufe  nun  des  darstellenden  Künstlers  ist  natür- 
lich ganz  verschieden  und  stellt  sich  ihm  mehr  oder  weniger  bewußt 
dar.  Der  Wissenschaft  ist  dies  gleich.  Sie  erkennt  die  durch  den 
Begriff  mit  Notwendigkeit  gesetzten  Stufen. 


')  IV:A:  18—49. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     151 


1.  Der  Standpunkt  der  unmittelbaren  Empfindung.  Der  Darsteller 
wird  in  seiner  Empfindung  durch  einen  dichterischen  Charakter  be- 
rührt. Dabei  bleibt  er  stehen.  Nicht  er  hat  den  Affekt,  sondern  der 
Affekt  hat  ihn.  Er  steigert  lediglich  seine  Empfindungen,  und  da  er 
sich  nur  stellenweise  begeistern  kann,  so  vermag  er  nicht,  einen 
Charakter  zu  schaffen.  Der  Schauspieler  ist  hier  Lyriker,  mehr  Dekla- 
mator als  Darsteller,  und  er  bleibt  im  abstrakt  Allgemeinen ').  Romeo, 
Mortimer,  Don  Carlos,  alle  sind  sie  einander  gleich.  Frauen  stehen 
zwar  ihrer  Organisation  nach  dem  Empfinden,  überhaupt  dem  Instinkt- 
lichen näher.  Auch  werden  sie  von  Übertreibungen  durch  angeborenen 
Takt  zurückgehalten.  Trotzdem  erweist  sich  auch  hier  dieser  Stand- 
punkt der  unmittelbaren  Empfindung  als  unzulänglich.  Beharrt  ein 
Schauspieler  auf  dieser  Stufe,  so  geht  es  ihm  später,  wenn  die  jugend- 
liche Begeisterung  verflogen  ist,  schlecht.  Bestenfalls  wird  er  Routinier. 
Mechanismus  tritt  an  Stelle  des  Organismus. 

2.  Der  Standpunkt  der  Reflexion.  Hier  erst  befindet  sich  der  Dar- 
steller auf  dem  Boden  der  Kunst.  Er  will  nicht  sich  geben,  sondern 
einen  Charakter.  Er  betrachtet  sich  objektiv,  und  er  lernt  die  Technik. 
Allerdings  droht  hier  die  Gefahr,  daß  er  auf  der  Stufe  des  Denkens 
mit  seiner  Gestaltung  stehen  bleibt  und  sie  nicht  zur  Phantasiegestalt 
aufhebt.  Etwas  Absichtliches  bewundern  wir;  das  Denken  ist  be- 
friedigt, aber  nicht  das  Empfinden ^).  Wir  sprechen  vom  verständigen 
Schauspieler;  dieser  ist  wie  ein  korrekter  Übersetzer^).  Vom  ver- 
ständigen Schauspieler  unterscheidet  sich  der  geniale  Darsteller. 

3.  Der  Standpunkt  des  künstlerischen  Schaffens  und  die  ver- 
schiedenen Richtungen  desselben.  Hier  durchdringt  sich  Wahrheit 
und  Schönheit  zugleich;  es  ist  die  höhere  Eintracht  der  beiden  ersten 
Stufen,  es  ist  die  zur  Natur  zurückgekehrte  Kunst  und  die  zur  Kunst 
erhobene  Natur.  Der  Künstler  muß  sich  der  Begeisterung  hingeben 
und  doch  dabei  besonnen  sein.  Auf  dieser  höchsten  Stufe  unter- 
scheiden wir  wiederum  zwei  Arten  der  Darstellungsform.  Einmal  solche 
Künstler,  die  besonders  eine  intuitive  Anschauung  haben;  oft  ist  der 
Wirkungskreis  beschränkt  auf  dämonische  und  komisch-phantastische 
Charaktere.  Repräsentanten  dafür  sind:  Fleck  und  Ludwig  Devrient. 
Bei  Frauen  herrscht  auch  auf  dieser  Stufe  die  Empfindung  vor,  ohne 
daß  sie  sich  des  ganzen  Umfangs  ihrer  Vermittlung  zwischen  Empfin- 
dung und  Reflexion  bewußt  sind.  Eine  zweite  Klasse  genialer  Schau- 
spieler kommt  mehr  von  der  Reflexion  her,  häufig  aus  dem  Grund, 
weil  die  Mittel  von  Haus  aus  nicht  übermäßig  sind.    Wie  die  ersten 

■)  IV:  A:4g-60.     I1:E:189. 
^)  IV:  A:  60  ff. 
»)  IV:B:51. 


152  ROBERT  KLEIN. 


in  ihrer  Darstellung  mehr  nach  der  Idealität  neigen,  so  kommen  die 
zweiten  leicht  durch  die  Fülle  des  Details  dazu,  die  Wahrheit  der 
Natur  über  die  Realität  zu  setzen.    So  Iffland  und  Seydelmann. 

Am  hervorragendsten  erfüllten  die  Forderungen  der  Schauspiel- 
kunst wohl  Oarrick  und  Schröder.  Man  kann  sagen;  bei  diesen  genialen 
Darstellern  spielt  der  Instinkt  die  gleiche  Rolle,  wie  sie  der  genialen  Kon- 
zeption beim  Dichter  zukommt').  Jeder  wahrhaft  große  Künstler 
ist  originell.  Die  Darstellungsweise  nämlich  ein  und  und  derselben 
Rolle  kann  verschieden  sein.  Jeder  bildet  den  Charakter  trotz  aller 
Objektivität  von  seinem  Standpunkt  aus  und  hebt  neue  Beziehungen 
hervor.  Die  Naturmittel  und  die  geistige  Verwandtschaft,  die  der 
Künstler  jeweils  an  die  Rolle  heranbringt,  entscheiden  über  die  Dar- 
stellungsweise. Wenn  nun  der  originelle  Schauspieler  auch  nicht  genial 
sein  muß,  so  ist  er  immer  doch  interessant,  während  wir  langweilig 
einen  Darsteller  nennen,  dessen  Auffassung  uns  gar  keine  neuen  Seiten 
zeigt,  der  auf  der  gewohnten  Heerstraße  marschiert^). 

Von  der  Originalität  unterscheidet  sich  die  Manier.  In  ihr  drängt 
sich  die  Persönlichkeit  des  Darstellers  hervor;  wir  werden  an  den 
Unterschied  des  Darstellers  und  des  Dargestellten  gemahnt.  Auf  ihrem 
höchsten  Gipfel  ist  die  Manier  Virtuosentum.  Der  ist  ein  Virtuose, 
der  nur  sich  selbst  und  nicht  die  Sache  will,  der,  statt  sich  zum  Mittel 
der  Kunst  zu  machen,  die  Kunst  sich  zum  Mittel  macht.  Jeder  große 
Virtuose  war  ursprünglich  zu  einem  wahren  Künstler  veranlagt.  Er 
ist  ausgeartet.  Der  Virtuose  ist  eine  ganz  moderne  Erscheinung  und 
bedient  sich  der  Reklame  in  jeder  Form').  .; 

b)  Besonderer  Teil. 

o)  Die  Tonbildung. 
Der  Schauspieler  muß  dialektfrei  sprechen,  weil  man  sonst  an  seine 
Persönlichkeit  erinnert  wird.  Die  Vokale  und  die  Diphthonge  müssen 
rein  ausgesprochen  werden,  um  nicht  gemein  oder  komisch  zu  wirken. 
Der  Vokal  ist  der  Träger  der  Empfindung,  der  Konsonant  der  Re- 
präsentant der  Reflexion.  Der  Laut  hat  eine  symbolische  Bedeutsam- 
keit, die  durchscheinen  muß.  Der  Ton  muß  moduliert  werden,  und 
es  unterscheidet  den  Künstler  vom  Laien,  daß  ersterer  die  Modulation 
des  Tones  völlig  beherrscht.  Näher  unterscheiden  wir  erstens  Höhe 
und  Tiefe.  Nie  darf  man  den  Eindruck  haben,  daß  im  Ton  das  Äußerste 
gegeben  ist. 


')  IX:2:54. 

»)  X: 53-55. 

»)  VlI:241-246  und  IV:B:94, 101. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     153 

Zweitens:  das  Portament  ist  die  Fälligkeit  getragener  Betonung. 
Gleichwohl  darf  der  Ton  bei  Anwendung  des  Portaments  (Iphigenie, 
Natürliche  Tochter)  nicht  schleppend  und  monoton  werden,  was  na- 
mentlich von  ungebührender  Betonung  der  Nebensilben  herrührt.  Gräß- 
lich ist  das  Tremolieren. 

Vom  Portament,  das  seinen  Träger  am  Vokal  hat,  unterscheidet 
sich  die  Volubilität,  deren  Träger  vornehmlich  der  Konsonant  ist. 
Die  Volubilität  ist  die  Fähigkeit,  rasch  zu  reden,  und  findet  besonders 
im  Konversationston  ihre  Anwendung. 

Drittens  ist  noch  zu  beachten  Stärke  und  Schwäche  des  Tones. 
Weiter  das  Atemholen.  Es  darf  bei  der  Darstellung  nicht  hörbar 
werden,  weil  man  an  die  physische  Organisation  des  Schauspielers 
erinnert  wird'). 

Fortschreitend  zur  Betonung  der  Worte  haben  wir  zu  differenzieren 
zwischen  dem  logischen  und  dem  symbolischen  Akzent.  Der 
logische  Akzent  betrifft  die  verschiedenen  Verknüpfungen  und  Ab- 
hängigkeiten der  Sätze  untereinander,  Einschiebungen,  die  Paren- 
these usw.  Der  symbolische  Akzent  versucht  das  Wesen  der  Dinge 
zu  versinnlichen.  Er  will  uns  gleichsam  durch  den  Ton  die  An- 
schauung der  Dinge  vergegenwärtigen.  Die  Worte,  verbunden,  ergeben 
den  Rhythmus.  Der  Rhythmus  der  Prosa  ist  die  Periode.  Der 
Rhythmus  der  Poesie  darf  nicht  forciert  werden.  Da  der  Rhythmus 
abhängt  von  den  jeweiligen  Situationen,  so  wird  er  beispielsweise  im 
Lustspiel  nicht  so  sehr  betont  wie  im  Schauspiel,  und  auch  hier,  inner- 
halb des  Dramas,  gibt  es  Unterschiede,  über  die  aber  keine  abstrakte 
Regel,  sondern  nur  der  künstlerische  Takt  zu  entscheiden  vermag. 
Orest  muß  den  Vers  gewichtiger  behandeln  als  Pylades.  Da  gerade 
durch  Verse  und  insbesondere  durch  Reime  die  Deklamation  sehr  be- 
günstigt wird,  so  hat  man  hier  doppelt  vorsichtig  zu  sein.  Nichts 
nämlich  ist  unkünstlerischer  als  ein  Darsteller,  der  mit  seinem  Organ 
kokettiert. 

Die  echte  Charakterdarstellung  fragt  vor  allem  nach  der  Wahrheit, 
und  ordnet  diesem  Ziel  selbst  die  Schönheit  unter'"^). 

Weiter  ist  zu  berücksichtigen  das  Tempo,  wobei  man  die  drei 
Momente  der  Allgemeinheit,  Besonderheit  und  Einzelheit  zu  erwägen  hat. 

Erstens:  die  Tragödie  fordert  ein  langsameres  Tempo  als  die  Ko- 
mödie; die  spanische  Tragödie  wieder  muß  rascher  gesprochen  werden 
als  die  Shakespeares.  Das  Tempo  individualisiert  sich  zweitens  nach 
dem  Charakter  der  besonderen  Figuren.   Drittens  endlich  ist  das  Tempo 


')  IV:  B:  105—158. 
')  X  :  56  und  63. 


154  ROBERT  KLEIN. 


bedingt  durch  die  Stimmungsmomente  eines  und  desselben  Charakters, 
wobei  wir  besonders  an  Affekt  und  Reflexion  denken.  Tritt  der  Affekt  bild- 
lich objektiviert  auf,  so  verlangsamt  sich  naturgemäß  das  Tempo.  Unter- 
brochen wird  das  Tempo  durch  Pausen,  deren  wir  drei  unterscheiden: 

1.  Die  grammatische  Pause.  Der  Verstand  allein  hat  sie  ge- 
schaffen, der  Verstand  kann  sie  daher  auch  allein  kontrollieren.  Während 
man  dieser  Pause  noch  gar  keine  künstlerische  Bedeutung  beimessen 
kann,   so  darf  man  sie  wohl   der  rhetorischen  Pause  zuerkennen. 

2.  Die  rhetorischen  Pausen  sind  wesentlich  vorbereitend.  Sie  werden 
daher  in  der  Regel  da  eintreten,  wo  sich  eine  Reflexion  oder  ein  Ge- 
danke als  Ergebnis  einer  vorausgegangenen  Erzählung  darstellt.  Hier 
macht  die  rhetorische  Pause  die  Zuhörer  aufmerksam  und  kündet  den 
nachfolgenden  Gedanken  an.  Endlich  die  ethische  Pause,  die  bei 
plötzlichem  Schicksalswechsel  sich  einstellt.  Sie  drückt  uns  das  Ringen 
des  erschütterten  Gemütes  aus,  das  Wort  zu  finden;  sie  ist  recht  eigent- 
lich dazu  bestimmt,  uns  die  Arbeit  des  Gemütes  desjenigen,  der  vor 
Erschütterung  gleichsam   sprachlos  geworden  ist,  zu  versinnlichen  ^). 

Wir  gehen  über  zum  epischen,  lyrischen  und  dramatischen 
Vortrag. 

Epischer  und  lyrischer  Vortrag  sind  Vorstudium  zum  dramatischen. 
Der  epische  Vortrag  vollzieht  sich  ohne  Selbstentäußerung;  der  Vor- 
tragende ist  immer  Rhapsode,  Erzähler:  er  verleugnet  nie  seine  Indi- 
vidualität. Im  Vortrag  ist  zu  unterscheiden  das  antike  und  das  ro- 
mantische Epos.  Das  erstere,  objektiviertere,  fordert  große,  sinnliche 
Ruhe  im  Ton.  Im  romantischen  Epos  herrscht  Innerlichkeit  und  Glut 
der  Empfindung. 

Beim  lyrischen  Vortrag  verschmilzt  das  Ich  des  Vortragenden 
mit  dem  des  Gedichts. 

Der  Fortgang  vom  epischen  und  lyrischen  Vortrag  zum  dramafi- 
schen ist  ein  qualitativer  Sprung.  Er  verlangt  nämlich  die  Selbst- 
entäußerung. Es  ist  ferner  des  epischen  Vortrags  innerhalb  des  Dramas 
zu  gedenken,  welcher  in  der  Form  der  Berichte  und  Erzählungen  er- 
scheint. Der  Darsteller  muß  erwägen,  wo  und  unter  welchen  Verhält- 
nissen er  erzählt.  Er  wird  anders  reden  vor  dem  König,  als  vor  seinen 
Freunden.  Auch  muß  er  in  Betracht  ziehen,  inwieweit  er  selbst  an 
dem  Inhalt  der  Erzählung  beteiligt  ist.  Ferner  darf  der  Schauspieler 
nicht  so  reden,  daß  man  die  Empfindung  hat,  es  stehe  schon  zu  Anfang 
alles  fertig  vor  seiner  Seele.  So  muß  man  beispielsweise  der  Erzählung 
Nathans  anmerken,  daß  sie  improvisiert  ist^). 


')  X  :  64  f . 

»)  IX,  2,  58  und  IV,  A,  159-220. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     155 

ß)  Die  körperliche  Beredsamkeit. 

Der  Körper  muß  in  seiner  Erscheinung  den  Charakter  der  Seele 
an  sich  tragen.  Die  ganz  unwillkürlichen  Gebärden,  wie  Erröten,  Er- 
blassen usw.  fallen  außerhalb  der  Schauspielkunst,  dagegen  gehört  in 
ihr  Gebiet  die  Gebärde,  welche  Ausdruck  ist  eines  bestimmten,  vor- 
bedachten Zwecks.  Beim  Schauspieler  muß  die  Gebärde  bedeutsam 
und  charakteristisch  sein.  Sie  wird  bedingt  durch  den  jeweiligen 
Charakter.  Wie  man  das  machen  muß,  läßt  sich  nicht  lehren;  es  bleibt 
dem  künstlerischen  Instinkt  überlassen.  Den  Ausdruck  der  Anmut 
wird  man  darstellen  als  das  Gleichgewicht  des  Sittlichen  und  Er- 
zieherischen. Besonders  die  Frau  wird  ihn  sich  zu  eigen  machen 
müssen.  Die  edle  Gebärde  gibt  uns  den  Eindruck  eines  sittlichen, 
selbstbewußten  Charakters.  Dieser  Adel  der  Bewegung  charakterisiert 
vornehmlich  Männer. 

In  der  Gebärde  ist  des  weiteren  zu  beobachten  die  andeutende 
und  die  malende  Gebärde,  letztere  besonders  in  unteren  Ständen  ge- 
bräuchlich. Das  Spiel  der  Gebärde  wirkt  stetig  fort;  nie  setzt  es  aus. 
Kein  Affekt  darf  in  der  Gebärde  unvorbereitet  auftreten.  Zusammen- 
gesetzte Affekte,  z.  B.  Wehmut,  als  die  Mischung  aus  Schmerz  und 
Lust,  müssen  sich  einheitlich  abspiegeln '). 

Wir  gehen  nun  über  zur  Betrachtung  von  Gebärde  und  Wort  in 
ihrer  Durchdringung. 

7)  Gebärde  und  Wort  in  ihrer  Durchdringung. 

Hier  bedenken  wir  zunächst  die  Lebensalter,  das  Temperament 
und  die  Nationalität. 

Wo  die  Handlungen  sich  wesentlich  aus  dem  Lebensalter  erklären 
und  ergeben,  da  muß  das  Alter  auch  in  der  Darstellung  betont  werden. 
Das  Temperament  kommt  für  das  Drama  wenig  in  Betracht.  Also 
spielt  es  auch  in  der  Darstellung  eine  untergeordnete  Rolle.  Wo  das 
Pathos  auf  einer  bestimmten  Volksindividualität  beruht,  oder  wo  das 
Allgemeinmenschliche  zurücktritt  hinter  nationaler  Eigentümlichkeit,  da 
muß  auch  der  Schauspieler  die  Nationalität  deutlich  machen.  Dies  ist 
besonders  im  spanischen  Drama  notwendig.  Im  Lustspiel  kann  sich 
zwecks  komischer  Wirkung  der  spezifisch  nationale  Charakter  viel 
stärker  hervortun  als  im  Trauerspiel. 

Was  die  Darstellung  der  »anthropologischen«  Zustände  der  emp- 
findenden Seele  anbelangt,  so  ist  für  den  Schauspieler  folgendes  zu 
erwähnen :  Soll  das  Traumleben  auf  der  Bühne  erscheinen,  so  gibt  es 
zwei  Möglichkeiten.    Entweder  liegt  der  Darsteller  wirklich  im  Traum, 

')  IV:A:221-265. 


156  ROBERT  KLEIN. 


dann  muß  in  der  Sprache,  die  zum  Teil  des  logischen  Akzents  er- 
mangeln soll,  dadurch  das  Ausschalten  des  bewußten  Willens  ausge- 
drückt werden.  Oder  der  Traum  wird  erinnert,  dann  muß  etwas 
Dunkles,  fast  Geisterhaftes  in  der  Stimme  sein,  wie  bei  Wallenstein 
oder  dem  Herzog  von  Clarence.  In  der  Ahnung  muß  die  umdüsterte 
Stimmung  zu  ihrem  Recht  kommen,  wie  auch  die  Vision,  bei  der 
namentlich  die  Darstellung  ihres  Werdens  schwierig  ist,  einen  geister- 
haften Grundton  zeigen  soll.  Für  die  Wiedergabe  des  Wahnsinns  kann 
gar  nichts  gelernt  werden;  hier  ist  alles  Intuition. 

Der  Todesarten  gibt  es  mehrere  auf  der  Bühne,  wobei  uns  der 
Schauspieler  stets  den  in  irgendeiner  Form  siegenden  Geist  kenntlich 
zu  machen  hat.  Man  kann  an  Altersschwäche  sterben  wie  Götz,  oder 
durch  Selbstmord  wie  Romeo,  Gräfin  Terzky,  Emilia,  Othello,  oder 
durch  fremde  Hand  wie  Hamlet  •). 

Wir  wenden  uns  zu  den  psychologischen  Zuständen  des  prakti- 
schen Geistes.  Die  Schadenfreude  hat  etwas  Satanisches,  und  darf 
das  in  der  Versinnlichung  nicht  verleugnen.  Gegenüber  Hochgestellten 
muß  Achtung,  auch  in  den  Gefühlsäußerungen,  gewahrt  werden. 
Demgegenüber  steht  die  Kunst  der  Repräsentation.  Die  ganze 
Majestät  Cäsars  muß  uns  aus  seiner  Haltung  entgegenleuchten.  Die 
Verachtung  darf  nicht  mit  Leidenschaft  dargestellt  werden,  wie  der 
Haß.  Das  Gehaßte  ist  in  meiner  Vorstellung  eine  Macht,  die  ich  zu 
vernichten  trachte,  während  das  Verachtete  ein  in  meinem  Bewußtsein 
bereits  Vernichtetes  ist.  Die  Heuchelei  muß  sich  bei  aller  an- 
scheinenden Wahrheit  doch  zeitweilig  durch  einen  Blick,  einen  Laut 
als  Lüge  offenbaren.  Plump  darf  sie  aber  nie  sein,  damit  uns  die 
Getäuschten  nicht  als  Idioten  erscheinen. 

Die  Liebe  muß  mit  Feuer  gespielt  werden,  weil  man  im  geliebten 
Objekt  die  ganze  Welt  vereint  sieht.  Der  Groll  ist  der  lang  zurück- 
gehaltene Haß.  Er  muß  wie  eine  Eruption  wirken.  Dahin  auch  ge- 
hört der  Zorn,  der  komische  sowohl  als  der  großartige  Zorn'). 

Alle  diese  Momente  vereinigen  sich  zur  Charakterdarstellung. 

S)  Die  Charakterdarstellung. 
Den  Beginn  im  Schaffensprozeß  der  Charakterdarstellung  macht 
die  Auffassung  (Totalanschauung)  des  Charakters.  Die  ideale  Auf- 
fassung eines  Charakters  besteht  in  der  Fähigkeit,  eine  Individualität 
als  Repräsentanten  einer  Idee  anzuschauen  und  festzuhalten.  Auch  im 
Negativen,  so  beispielsweise  bei  Richard  III.,  Jago,  ist  noch  das  Positive 
zu  gestalten. 


')  lV:A:265-307. 
'')  IV :  A :  307— 342. 


HEINRICH  THEODOR  RUTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     I57 

Das  Maß  der  Kraft,  das  innerlich  Angeschaute  zur  sinnlichen 
Realität  zu  entäußern,  ist  der  Gradmesser  des  schauspielerischen  Genies. 
Die  Charaktermaske  hat  nicht,  wie  das  Gesicht  der  Wirklichkeit 
zufällig  zu  sein,  sondern  bedeutungsvoll.  Um  die  historische  Maske 
der  jeweils  darzustellenden  Person  braucht  sich  der  Künstler  nicht 
sonderlich  zu  kümmern;  wenn  uns  nur  der  Charakter  der  dich- 
terischen Gestalt  gleich  entgegenleuchtet. 

Die  Art  und  Weise,  wie  das  römische  Gewand  getragen  werden 
muß,  die  geschickte  Handhabung  griechischer  Tracht,  läßt  sich  nicht 
erlernen,  sondern  kann  nur  Eingebung  der  Phantasie  sein.  Jedenfalls 
soll  die  Drapierung  stets  Mittel  bleiben  und  nicht  Zweck  werden.  Die 
Kleidung  kann  einen  symbolischen  Sinn  haben,  auch  muß  die 
Haltung  charakteristisch  sein. 

Jeder  Charakter  hat  einen  Grundton,  den  er  beibehalten  muß. 
Maske,  Kostüm,  Haltung  und  Grundton  stellen  ein  festes  Bild  des 
Charakters  vor  uns  hin.  Nun  muß  er  sich  entwickeln,  was  in  der 
Durchführung  geschieht.  In  ihr  müssen  besonders  die  Übergänge,  die 
Wendepunkte,  betont  werden. 

Nicht  vernachlässigen  darf  man  das  stumme  Spiel.  Hier  gedenken 
wir  des  Zuhörens,  das  sich  vom  Ausdruck  der  Gleichgühigkeit  bis 
zur  fieberhaften  Aufregung  des  Gemüts  erstreckt  ^). 

Neben  dem  Grundton  ist  zu  berücksichtigen  der  ethische  Ak- 
zent. Er  offenbart  den  individuellen  Gemütsausdruck  des  Charakters. 
Der  Grundton  erscheint  wie  die  Architektur,  aus  dem  sich  der  ethische 
Akzent  in  mannigfachen  Gruppen  abhebt.  Ob  das  Parzenlied  aus 
Goethes  Iphigenie,  losgelöst  vom  Drama,  allein  vorgetragen  wird,  oder 
von  Iphigenie  im  Schauspiel,  dies  ist  ein  großer  Unterschied:  im  ersten 
Fall  bleibt  der  ethische  Akzent  weg. 

So  haben  wir  nach  allen  Seiten  hin  die  Leistung  und  Aufgaben 
des  Schauspielers  erörtert,  und  es  bleibt  nur  zu  betonen,  daß  er  sich 
nie  als  Selbstzweck,  sondern  stets  als  im  Dienste  des  Ganzen  und 
der  Kunst  stehend  zu  betrachten  hat.  Es  kommt  wesentlich  auf  das 
Ensemble  an. 

s)  Die  Staatsschule. 

Wie  wir  nun  hier  das  Wesen  und  die  Hauptmomente  der  Schau- 
spielkunst geschildert  haben,  so  bildet  diese  Darstellung  die  Grundlage 
für  den  Unterricht  in  einer  Schule,  die  zur  systematischen  Bildung  der 
Schauspieler  errichtet  werden  muß.  Der  Staat  selbst  hat  die  Ver- 
pflichtung, diese  Kunst  mündig  zu  sprechen,  indem  er  ihre  Bildung 

')  X:66. 


158  ROBERT  KLEIN. 


nicht  mehr  der  bloßen  Willkür  überläßt,  sondern  für  einen  systemati- 
schen Unterricht  sorgt '). 

Das  Bedürfnis  einer  Schauspielschule  erklärt  sich  aus  der  gesell- 
schaftlich veränderten  Stellung  der  Schauspieler.  Sie  sind  jetzt  frei 
geworden,  aber  mit  diesem  Fortschritt  ist  auch  die  alles  ergreifende 
Reflexion  in  sie  eingedrungen.  »Was  sie  in  gesellschaftlicher  Be- 
ziehung, von  dem  Standpunkt  der  Zivilisation  aus  betrachtet,  gewonnen 
haben,  haben  sie  auf  der  anderen  Seite  an  künstlerischer  Anregung 
und  Freiheit  der  Empfindung  eingebüßt«  ^). 

Man  muß  daher  aus  ihrer  Schwäche  eine  Stärke  ziehen  und  sie 
gründlich  bilden.  Neben  dem  Einzelunterricht  nach  den  vorhin  er- 
örterten Prinzipien  ist  vor  allem  auf  die  Erziehung  zum  Ensemble  zu 
sehen.  An  der  Spitze  der  Schule  steht  der  Direktor,  ein  gebildeter 
Mann,  der  den  wissenschaftlichen  Unterricht  erteilt,  kein  Schauspieler, 
da  dieser  selten  didaktische  Talente  und  Übung  hat.  Es  sollen  ungefähr 
zwanzig  Schüler  aufgenommen  werden ;  der  Staat  hat  einen  jährlichen 
Zuschuß  von  4000 — 5000  Talern  zu  geben  ■'). 

Wir  betrachten  nun  noch  die  Umwelt,  in  der  der  Schauspieler 
seine  Kunst  zur  Darstellung  bringt:  die  Inszenierung  und  die  Bühne. 

c)  Die  Inszenierung. 

a)  Die  Leseprobe  und  der  Dramaturg. 
Der  Dramaturg  hat  Leseproben  abzuhalten.    Er  muß  zuerst  das 
ganze  Werk  vorlesen  und  hat  dann  das  Verhältnis  der  Rollen  zur  Idee 
des  Ganzen  zu  entwickeln^). 

ß)  Der  Regisseur. 
Der  wahrhaft  gute  Regisseur  ist  selten.  Seine  Aufgabe  ist,  das 
dramatische  Werk  aus  dem  Gebiete  der  Phantasie  in  die  szenische 
Wirklichkeit  zu  übersetzen.  Um  dies  zu  vermögen,  muß  der  Regisseur 
zunächst  ein  Bild  des  gesamten  Kunstwerks  in  seinem  Geiste  tragen. 
Nur  wenn  er  das  ganze  Werk  gründlich  kennt,  kann  er  ihm  zu  Nutzen 
gereichen,  indem  er  den  Darstellern  künstlerische  Winke  gibt.  Ein 
Regisseur,  der  sich  darauf  beschränkt,  den  Darstellern  zu  sagen,  ob 
sie  von  links  oder  von  rechts  kommen,  ist  durchaus  unfähig.  Er  darf 
auch  nicht  zum  Schulmeister  herabsinken,  indem  er  auf  kleinlichen 
Dingen  herumreitet.    Hat  er  die  wahre  Kenntnis  des  Werkes,  so  wird 


')  I1:D:1X. 

'-)  II  :E:  132  f.  und  VI :  B  :  I. 

»)  VI :  B  :  XII. 

*)  IV  :A. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     15g 


er  die  Schauspieler  überzeugen.  Er  wird  ihnen  zeigen,  daß  er  in  das 
Ganze  des  Weri<s  tiefer  eingedrungen  ist  als  sie,  die  Darsteller  der 
einzelnen  Rollen;  er  wird  nicht  nötig  haben,  durch  ein  Machtwort,  seine 
Autorität  und  seine  Stellung  wirken  zu  wollen,  sondern  er  wird  das 
Ensemble  überzeugen,  daß  alle  seine  Anordnungen  der  in  der  Natur 
der  Sache  liegenden  Notwendigkeit  entspringen. 

Wollte  man  dies  die  theoretische  Aufgabe  des  Regisseurs  nennen, 
so  ist  noch  zu  sagen,  daß  er  in  der  Praxis  ein  durchaus  sittlicher  Mann 
zu  sein  hat,  dem  es  nur  um  die  Verwirklichung  künstlerischer  Interessen 
zu  tun  ist,  und  dem  vor  dieser  Rücksicht  alle  anderen  weichen  müssen. 
Sein  Handeln  muß  ganz  frei  sein  von  allen  nur  persönlichen  Motiven  '). 

1f)  Szenerie  und  Kostüme. 

Sobald  irgend  ein  Teil  des  Dramas  durch  die  Pracht  der  dekora- 
tiven Inszenierung  einen  ganz  unverhältnismäßigen  Anteil  erweckt,  so 
ist  dies  ein  Übel  und  ein  Nachteil  für  das  Dichtwerk  selbst,  denn  es 
wird  stets  dadurch  das  Mittel  zum  Zweck  verkehrt.  Die  Inszenierung 
eines  klassischen  Werks  kann  nie  einen  anderen  Sinn  haben  als  den, 
die  Illusion  der  Poesie  zu  fördern;  sie  darf  nie  für  sich  selbständig 
wirken  wollen.  Zuletzt  bleibt  die  Inszenierung  eben  doch  Beiwerk. 
Die  Devise  sei:  »würdig,  aber  nicht  prächtig,  anständig  und  poetisch, 
aber  nicht  luxuriös«  -). 

Ebenso  darf  das  Kostüm  nie  Zweck  werden,  sondern  hat  immer 
Mittel  zu  bleiben.  Eine  gewisse  Symbolik  kann  bei  Wahl  der  Farben 
hinsichtlich  der  Kostüme  künstlerisch  verwendet  werden.  Genaue  und 
pedantische  Strenge  im  historischen  Drama  ist  lächerlich.  Man  hat 
mit  Geschmack  auf  eine  malerische  Tracht  zu  sehen.  So  könnte  Emilia 
Galotti  gut  in  der  Tracht  der  heutigen  Zeit  (1841)  gespielt  werden"). 

d)  Bühnenleiter  und  Publikum. 

Das  Drama  gelangt  zur  Aufführung  vor  dem  Publikum.  Das  Ur- 
teil des  Publikums  ist  nicht  maßgebend  für  den  Wert  des  Stückes. 
Oft  findet  eine  Mache  Beifall,  und  das  wahre  Kunstwerk  wird  ver- 
kannt. Das  Publikum  ist  eine  vielköpfige  Masse,  ohne  sonderliches 
Urteil  und  ohne  große  Gedanken.  Jedoch  es  kann  erzogen,  sein  Ge- 
schmack geläutert  werden.  Man  muß  das  Zutrauen  haben,  daß  der 
Sinn  für  das  Gute  und  Vortreffliche  nicht  erstorben  ist,  daß  er  nur 
erweckt  werden  muß.    Es  ist  ziemlich  leicht,  den  Geschmack  zu  ver- 


')  X :  16-19. 
»)  X:13ft. 
«)  IV:A:369. 


160  ROBERT  KLEIN. 


derben,  aber  schwer,  ihn  zu  einer  künstlerischen  Höhe  zu  steigern. 
Man  muß  trachten,  eine  imposante  Majorität  im  Publikum  zu  erziehen, 
die  den  guten  Geschmack  vertritt  und  das  Unwürdige  verwirft ').  Diese 
Erziehung  des  Publikums  hat  der  Bühnenvorstand  zu  besorgen,  ebenso 
wie  die  Kritik  dazu  beisteuert.  Es  ist  dies  eine  hohe  Aufgabe,  denn 
die  Wirkung  der  Bühne  auf  das  Publikum  darf  nicht  unterschätzt 
werden.  Der  Vorstand  hat  in  erster  Linie  die  künstlerischen  Interessen 
zu  wahren,  und  darf  den  Forderungen  des  Publikums  nur  dann  nach- 
geben, wenn  sie  sich  mit  jenen  decken.  Hat  irgend  eine  Novität  an 
einer  anderen  Bühne  Erfolg,  ist  sie  aber  nach  der  Ansicht  des  Bühnen- 
leiters künstlerisch  minderwertig,  so  ist  es  sogar  seine  Pflicht,  sich  der 
Aufführung  mit  allen  Kräften  zu  widersetzen.  Umgekehrt  hat  er  sich 
da  für  ein  Werk  zu  verwenden,  wo  er  wirklich  kraftvolles  Talent  er- 
kennt. Freilich  ist  dazu  nötig,  daß  der  Bühnenvorstand  ein  Mann  von 
wahrhaft  feinem,  ästhetischem  Bewußtsein  ist.  Neben  den  Novitäten 
muß  er  für  ein  klassisches  Stammrepertoire  sorgen,  das  als  Orundbau 
der  Bühne  betrachtet  werden  muß.  Wahrhaft  schöpferisch  kann  er 
sich  zeigen  in  der  Besetzung  der  Stücke.  Die  richtige  Verwendung 
der  ihm  zur  Verfügung  stehenden  Kräfte  ist  eine  Kunst '^). 

e)  Das  Nationaltheater. 
»Das  Theater  ist  ein  großer  Faktor  in  dem  Welt-  und  Völkerleben, 
ein  mächtiges  Element  für  die  Kultur  der  Massen,  und  in  seiner  höchsten 
Bedeutung  ein  großes,  sittliches  Institut«  ^).  Das  Theater  hat  einen 
außerordentlichen  Einfluß  auf  das  Volk.  Aber  der  Staat  ist  sich  dessen 
offenbar  noch  nicht  bewußt  geworden.  Das  Theater  erscheint  heute 
»als  ein  zur  Belustigung  und  Ergötzung  vom  Staate  zugelassenes  In- 
stitut; oder,  wie  die  Hoftheater,  zur  Erheiterung  eines  mehr  oder  minder 
kunstsinnigen  Fürsten  von  demselben  unterstützt«  *).  Ja,  in  gewisser 
Rücksicht  ist  das  Theater  ganz  willkommen,  indem  der  Sinn  nämlich, 
durch  den  augenblicklichen  Genuß,  den  es  der  Menge  bietet,  oft  von 
den  ernsten  Fragen  der  Gegenwart  abgezogen  und  verflüchtigt  wird, 
»selbst  ein  unschätzbares  Mittel,  finstere  Wolken  von  der  Stirn  des 
Volkes  zu  verscheuchen,  und  düstere,  schwere  Träume  der  Freiheit 
hinwegzugaukeln«.  Das  Theater  soll  aber  aus  dem  Dienst  des  Fürsten 
als  Privatperson  in  den  Dienst  des  Staats,  der  der  freie,  vernünftige 
Organismus  ist,  übergehen,  und  es  soll  an  der  Verwirklichung  des 
großen  Zwecks   echter  Humanität  mitarbeiten.    Für  die  Zukunft  des 


')  IX:  2:  56. 

2)  X  :  8  ff. 

3)  St.  L. :  395  und  II :  E  :  54. 
*)  St.  L.:  397. 


HEINRICH  THEODOR  RUTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     161 

deutschen  Dramas  ist  das  Beste  zu  hoffen.  »Es  wird  einer  nationalen 
Entwici<lung  entgegenreifen.  Aus  demselben  Geist,  aus  dem  Deutsch- 
land sich  seiner  politischen  Trägheit  entreißen  wird,  werden  auch  die 
Dichter  auferstehen.« 

Das  Theater,  hörten  wir  oben,  soll  nicht  das  bringen,  was  die 
Menge  etwa  begehrt,  sondern  was  sie  begehren  sollte.  Aber  dies  ist 
nur  zu  erreichen,  wenn  die  Bühne  sich  auf  ihre  eigenen  Füße  stellen 
darf,  und  sich  der  Nation  gegenüber  für  die  Verwaltung  der  idealen 
Güter  verantwortlich  fühlt.  Die  Bedingung  dazu  ist,  daß  das  Theater 
auch  nach  oben,  d.  h.  von  den  unmittelbaren  Einflüssen  des  Hofes 
unabhängig  wird.  Die  Leitung  der  Bühne  soll  nicht  mehr  Hofcharge 
sein;  sie  soll  direkt  unter  das  Ministerium  des  Kultus,  gleich  der 
Akademie  der  Künste,  gestellt  werden.  Blickt  man  auf  die  Entwicklung 
des  Theaters,  so  steht  der  Gewinn  des  Nationaltheaters  zu  hoffen.  Aus 
dem  Wandertheater  wurde  das  seßhafte  Hoftheater.  Aber  wie  die 
Schauspieler  frei  geworden  sind,  so  muß  auch  das  Hoftheater  frei  werden. 
»Wie  das  Hoftheater  der  absoluten  Monarchie,  so  entspricht  das  National- 
theater dem  freien  Staat«  ^). 


II.  Die  Einzelanalyse. 

a)  Einleitung. 

Alle  diese  hier  geschilderten  Forderungen,  die  im  Grunde  sämt- 
lich »aus  dem  Wesen  der  Idee  resultieren«,  sind  nun  in  Gemeinschaft 
mit  andern  Orts  dargestellten  theoretischen  Forderungen  bei  der  Beur- 
teilung eines  Kunstwerks  in  Anwendung  zu  bringen.  Dabei  kommt 
es  der  Philosophie  der  Kunst  darauf  an,  die  Begeisterung,  mit  welcher 
edle  Naturen  und  dichterisch  empfindende  Gemüter  im  Genuß  der  Kunst- 
werke schwelgen,  zu  rechtfertigen  und  als  des  freien  Geistes  würdig 
ins  Bewußtsein  zu  heben.  Aus  dieser  Tätigkeit  wird  ein  großer  Ge- 
winn hervorgehen,  nämlich  nicht  nur  ein  direkter,  indem  das  jeweils 
vorliegende  Kunstwerk  erklärt  wird,  sondern  auch  ein  indirekter,  indem 
die  hier  gewonnenen  Gesetze  sich  auch  auf  andere  Werke  der  Kunst 
projizieren.  Hier  wollen  wir  nun  näher  darauf  eingehen,  was  das 
Wesen  der  Einzelanalyse  ist. 

»Sie  soll  die  großen  Kunstwerke  in  ihrer  inneren  Vernünftigkeit, 
ihrer  Einheit  von  Gedanken  und  Darstellung  begreifen«  -). 

Zunächst  muß  man  den  Gedanken  des  Ganzen  ausfindig  machen. 
Es   ist    uns   zuvörderst    bei    jedem    Kunstwerk    um   die   Auffassung 

')  St.  L. :  395-407. 
')  II:A:1V. 
Zeitschr.  {.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  11 


162  ROBERT  KLEIN. 


der  Idee  und  ihrer  Momente  zu  tun.  Daraus  wird  sich  die  Art  der 
Gestaltung  und  der  ganzen  Komposition  als  eine  aus  der  Idee  er- 
wachsende schöne  Organisation  ergeben.  Ein  Kunstwerk  ist  in  sich 
umso  vollendeter,  je  mehr  sich  die  ursprüngliche  Konzeption  desselben, 
wenn  man  sie  von  ihrer  Gestaltung  für  einen  Augenblick  ablöst,  auf 
einfache,  aus  der  Natur  des  Grundgedankens  mit  Notwendig- 
keit folgende  Begriffsbestimmungen  zurückführen  läßt.  Je  weniger 
zufällige  Züge  sich  in  einem  Werke  befinden,  desto  vollendeter  ist  es  '). 

Um  nun  zunächst  den  Gedanken  des  Ganzen,  die  Idee  ausfindig 
zu  machen,  wird  vorerst  die  Form  des  Kunstwerks  zerbrochen.  Der 
Bau  wird  dekomponiert.  Es  erhebt  sich  nämlich  die  Frage,  »warum 
die  dichtende  Phantasie  gerade  in  dieser  Form  sich  entäußert  hat, 
warum  sie  gerade  diese  und  keine  andere  Gestalt  angenommen  hat«. 
Da  muß  man  das  Allgemeine  der  konkreten  Idee  in  ihrer  Besonderung 
nachweisen,  und  die  von  der  dichtenden  Phantasie  erzeugte  Gestaltung 
derselben  als  in  sich  vernünftig  begreifen  und  auf  diesem  Weg  das 
ganze  Kunstwerk  dem  Gedanken  unterwerfen  ^).  Diese  Untersuchung 
eines  Werkes  stellt  sich  in  vier  Phasen  dar. 

Zuerst  handelt  es  sich  um  die  Entwicklung  der  Idee.  Hier  wird, 
sozusagen  metaphysisch,  der  Gedanke  in  seiner  Notwendigkeit  verfolgt 
und  entwickelt.  Sodann  wird  zweitens  die  Komposition  des  Kunst- 
werkes betrachtet.  »Die  Komposition  eines  großen  Kunstwerks  ent- 
wickeln heißt:  das,  was  der  Künstler  cjurch  die  intellektuelle  Anschauung 
aus  seiner  Genialität  hervorgebracht  hat,  als  in  sich  vernünftig  organi- 
siert nachweisen,  mithin  der  oft  unbewußt  wirkenden  und  schaffenden 
Macht  der  göttlichen  Vernunft  im  dichtenden  Genius  nachgehen  und 
sie  allseits  ins  Bewußtsein  fassen.«  In  diesem  Abschnitt  werden  die 
Personen  als  Träger  des  Gedankens  nachgewiesen.  Es  wird  gezeigt, 
warum  dies  gerade  da  steht  und  jenes  gerade  dort,  die  Personen 
werden  in  ihrer  gegenseitigen  Proportion  abgeschätzt. 

Drittens  wird  die  dramatische  Entfaltung  des  Werkes  dargestellt. 
Dies  heißt  »die  Komposition  eines  Dramas  in  seiner  Gliederung  über- 
schauen«. Die  Tragödie  wird  aktweise  durchgegangen,  die  Not- 
wendigkeit der  Entwicklung  und  die  Logik  der  Aktschlüsse  aufge- 
zeigt. Endlich  muß  man  viertens  die  Charaktere  schildern,  womit 
man  ihre  besondere  Beziehung  zur  Kunst  der  dramatischen  Darstellung 
verbinden  kann.  Dieser  letzte  Abschnitt  beschäftigt  sich  vorwiegend 
mit  dem  psychologischen  Werdegang  der  einzelnen  Personen  und  gibt 
Winke  für  die  Darstellung-). 


■)  II:D:3f. 

2)  II :  A  :  18-22. 

■)  II:D:l-97  und  109-182. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     163 

b)  Einwände  und  Ausschaltungen. 
Gegen  diese  Methode  der  Untersuchung  nun,  sagt  Rötscher,  könnten 
vielleicht  folgende  Einwände  erhoben  werden : 

1.  Der  Standpunkt  der  subjektiven  Empfindung. 
Es  wird  der  unaussprechliche  Zauber  jeder  Dichtung  gestört,  die 
eigentliche  Wurzel  des  Ganzen  wird  sich  doch  immer  dem  Gedanken 
entziehen;  man  stellt  sich  daher  auf  die  subjektive  Empfindung  ein 
und  benutzt  sie  als  Maßstab.  Die  Folge  dieser  Beurteilung  nach  dem 
Empfinden  ist  grundloses  Entzücken  und  Tadeln.  Dieser  Standpunkt 
bedient  sich  abstrakter,  fertig  zum  Kunstwerk  hinzugebrachter  Vor- 
stellungen, welche  die  Gründe  für  das  steilenweise  Lob,  wie  für  den 
Tadel  abgeben.  Hieraus  rühren  mancherlei  Mißverständnisse  her,  wie 
die  Ablehnung  Antonios  im  Tasso,  die  Verdammung  der  Wahlverwandt- 
schaften usw.  Die  Quelle  dieser  falschen  Beurteilung  sitzt  in  dem  »ab- 
strakten Verstand,  der  das  der  individuellen  Empfindung  unmittelbar 
Zusagende  zu  rechtfertigen  unternimmt  und  auf  diese  Weise  sich  nur 
mehr  und  mehr  von  der  Erkenntnis  der  Totalität  entfernt« '). 

2.  Die  psychologische  Methode. 

Eine  zweite  Betrachtungsweise  macht  sich  die  lebendige  Indivi- 
dualität überhaupt  in  ihrem  ganzen  Lebensprozeß  zum  Gegenstand 
ihres  Anschauens  und  Forschens.  Zur  Erkenntnis  des  ganzen  Kunst- 
werks reicht  jedoch  auch  diese  Methode  nicht.  Sie  wurde  von  Tieck, 
A.  W.  Schlegel  ausgeübt.  Es  fehlt  hier  jedoch  die  Einsicht  in  den 
inneren  Zusammenhang  der  einzelnen  Individualitäten  untereinander. 
Sie  kann  nicht  >die  absolute  Bestimmung  des  Einzelnen  zum  Ganzen 
aufdecken;  schließt  auch  der  psychologische  Standpunkt  die  innere 
Welt  des  Individuums  auf,  so  findet  er  doch  nicht  den  Ring,  wodurch 
dieselbe  mit  den  übrigen  Welten  zusammenhängt,  und  durch  welche 
sie  wieder  das  Gesetz  ihrer  Bewegung  empfängt«.  Die  psychologische 
Methode  kann  daher  nur  als  Moment  in  der  wissenschaftlichen  Be- 
mächtigung des  Kunstwerks  bezeichnet  werden  ^). 

3.  Die  philosophische  Methode. 
Philosophisches   Denken    und   künstlerische  Tätigkeit    haben  die 

absolute  Einheit  und  Durchdringung  der  Entgegengesetzten  zu  ihrem 
Ziel.  Denken  und  Dichten  sind  Strahlen  ein  und  derselben  Sonne. 
Dem  Einwand,  ob  sich  der  Dichter  denn  das,  was  der  philosophische 
Interpret  entwickelt,  wirklich  bei  seinem  Werk  gedacht  habe,  wird  mit 


•)  II:A:30-4'2. 
■)  II:A:43-47. 


164  ROBERT  KLEIN. 


der  Antwort  begegnet,  daß  die  Phantasie  sich  stets  zur  konkreten  Ge- 
stalt und  zum  angeschauten  Bild  entäußert.  Eben  die  Form,  die  der 
Dichter  halb  unbewußt  fand  und  gestaltete,  bringt  der  geistesverwandte 
Philosoph  ins  Bewußtsein.  Der  Gedanke  findet  sich  im  Kunstwerk 
wieder,  weil  er  dort  seine  Wesenheit  und  seinen  ganzen  Prozeß  der 
Vermittlung  Entgegengesetzter  verkörpert  anschaut,  weil  er  dort  das 
Unendliche,  welches  sich  selbst  Bestimmtheit  und  Grenze  setzt,  versinn- 
iicht  sieht.  Der  Denker  übernimmt  die  Aufgabe,  die  »verkörperte  Idee 
in  den  verklärenden  Leib  seiner  Gedanken  zu  metamorphosieren«.  Erst 
auf  diesem  Standpunkt  kann  von  einer  wahrhaften  Kritik  die  Rede  sein^). 

c)  Die  wahre  Methode. 

Der  Kritiker  muß  die  Kenntnis  der  Idee  haben,  woraus  die  Kenntnis 
der  Kunstgattungen  resultiert,  und  womit  er  das  Einzelobjekt  mißt 
nach  den  Forderungen  der  Gattung.  Was  wir  vorher  ausführten,  war 
im  Grund  nichts  anderes,  als  eine  nähere  Erklärung  der  Idee,  die  wir 
ja  kennen  mußten,  um  mit  ihren  Maßstäben  uns  vertraut  zu  machen. 
Es  ist  eine  weitere  Aufgabe  dieser  echten  Methode,  das  rein  Zeitliche 
von  dem  wahrhaft  Allgemeinen  und  Gehaltvollen  zu  scheiden.  Man 
könnte  geradezu  das  Gesetz  aufstellen:  die  Qualität  (der  Wert)  eines 
Kunstwerks  ist  direkt  proportional  der  Quantität  seines  allgemeinen 
(zeitlosen)  Gehalts. 

Es  ergibt  sich  nun  ein  dreifaches  Verhältnis  dieser  Kritik  zum 
Kunstwerk. 

Erstens :  Werke,  die  ganz  auf  die  Zeit  gestellt  sind  und  nichts  von 
der  zeitlosen  Idee  enthalten,  werden  negiert  und  verdammt 

Zweitens:  Im  zweiten  Stadium  muß  die  Kritik  das  Positive  im 
Negativen  herausheben.  Hierher  gehören  Werke,  die  wesentlich  mit 
der  Idee  und  ihrer  absoluten  Forderung  zusammenhängen,  die  aber 
doch  auch  negative,  teils  einer  bestimmten  Zeit  angehörende,  teils  aus 
der  Schranke  des  einzelnen  Subjekts  stammende  Seiten  darbieten.  Die 
Kritik  wird  ferner  das  Kunstwerk  als  Moment  der  historischen  Ent- 
wicklung begreifen.  »Die  absolute  Kritik  erscheint  als  die  Dialektik 
des  weltgeschichtlichen  Fortschritts.«  »Ein  höherer  Gesichtspunkt  kann 
niemals  gedacht  und  aufgefunden  werden,  als  der  angedeutete,  indem 
er  das  einzelne  Werk,  sozusagen  sab  specle  aeterni  betrachtet.«  »Die 
Kritik  überläßt  hier  die  Nachweisung  der  negativen  Seiten  der  ob- 
jektivsten Macht,  der  geschichtlichen  Entwicklung,  und  verzichtet  so 
ganz  auf  ihr  subjektives  Tun  und  Betrachten,  da  sie  nur  das,  was  sich 
im  Verlaufe   ergeben  hat,   ergreift   und  innerlich  verknüpft«  ^).    Man 


')  II :  A :  48—58. 
')  11  :A:  59-66. 


HEINRICH  THEOCOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     165 

könnte,  sagt  Rötscher,  ihm  hier  einwenden,  jedes  Drama  sei  ja  ein 
geschichtliches  Entwicl<iungsmoment,  und  als  solches  doch  wohl  not- 
wendig, und  also  auch  anzuerkennen?  Dem  ist  aber  nicht  so.  Es 
kommt  wesentlich  darauf  an,  daß  die  Forderungen  der  Zeit  durch  das 
Kunstwerk  befriedigt  werden,  daß  es  die  Kunst  gefördert  und  weiter- 
gebracht hat. 

Die  Kunstwerke  aber,  die  hinter  ihrer  Zeit  zurückgeblieben  sind, 
werden  eben  vom  Kunstkritiker,  der  ja  die  Kenntnis  der  Zeitgeschichte 
und  ihrer  Forderungen  hat,  abgewiesen. 

Wird  also  auch  dieser  Einwand  von  Rötscher  beseitigt,  so  glaube 
ich,  abweichend  von  der  bisher  beobachteten  Regel,  lediglich  eine  Dar- 
stellung der  ästhetischen  Ansichten  Rötschers  zu  geben,  hier  meiner- 
seits einen  Einwand  erheben  zu  müssen;  dies  geschieht  nicht,  um 
eine  Kritik  des  Systems  zu  üben,  was  gar  nicht  zur  Aufgabe  gehört; 
nur  um  eine  Antwort  Rötschers  vorzubereiten,  die  bei  ihm  nicht  an 
der  gehörigen  Stelle  steht  und  nicht  klar  genug  herausgearbeitet  ist. 
Wenn  er  nämlich  seine  Art  der  Kritik  für  die  höchste  erklärt,  und 
wenn  er  ihren  Triumph  namentlich  darin  sieht,  daß  sich  alles  im  Kunst- 
werk aus  sich  selbst  erklärt,  so  muß  man  doch  fragen,  was  das  denn 
eigentlich  heißt? 

Es  werden  ja  doch  auch  nur  Normen  aus  dem  Kunstwerk  heraus- 
gelesen, die  man  herauslesen  will,  und  es  wäre  schließlich  keine 
Kunst  mehr,  Kunstkritiker  zu  sein,  wenn  man  alles  aus  dem  Kunstwerk 
zu  seiner  Erklärung  von  selber  herauslesen  könnte.  Es  wird  eben  die 
Kenntnis  der  Idee  doch  vorausgesetzt,  und  ihr  werden  die  Normen 
entnommen.  Diese  Tat,  die  spezielle  Struktur  eines  Kunstwerks  auf- 
zuzeigen, muß  als  schöpferische  Leistung  des  Kritikers  betrachtet 
werden;  nicht  jeder  sogar,  der  die  Kenntnis  der  Idee  hat,  könnte  da- 
nach die  innere  Logik  eines  Kunstwerks  nachweisen.  Dies  hat  Rötscher 
gefühlt,  und  daher  kommt  es  —  und  deshalb  wollte  ich  es  hier  heraus- 
heben—,  daß  er  überall  betont,  Kunstverstand  gehöre  notwendig 
zu  diesem  Geschäft.  Darauf  muß  ausdrücklich  aufmerksam  gemacht 
werden,  daß  Rötscher  überall  das  Künstlerische  in  der  Kritik  hervor- 
hebt. Dichterischer  Sinn,  heißt  es  (II:A:16),  ist  zu  aller  Kunst- 
beschäftigung unerläßliche  Bedingung,  oder  (VI :  B  :  203),  >in  der  Kunst- 
betrachtung reicht  nun  einmal  nicht  die  Dialektik  aus,  es  gehört  dazu 
durchaus  die  künstlerische,  auf  Wahlverwandtschaft  beruhende  An- 
schauung, welche  ein  Kunstwerk  durchlebt  und  es  darum  auch  durch 
den  Gedanken  wiedergebären  kann«.  Ebenso  11:A:72,  ferner 
IV  :  A  :  47  usw.  usw. 

Drittens:  Endlich  bieten  sich  der  kritischen  Betrachtung  Kunst- 
werke dar,  die  sich  als  ewige  Offenbarungen  der  göttlichen  Ideen  kund- 


166  ROBERT  KLEIN. 


geben.  Hier  erscheint  die  Kritii<  als  die  schlechthin  anerkennende  und 
ihre  Anerkennung  rechtfertigende  Kunst.  Diesen  Werken  gegenüber 
verwandelt  die  Kritik  ihre  vergleichende  Tätigkeit  in  begreifende  Ein- 
sicht.   Hier  waltet  demutsvolle  Hingebung  an  das  Werk  ^). 

So  sehen  wir,  wie  Rötscher  die  Idee  als  Maßstab  der  Kritik  auf- 
faßt, als  einen  Maßstab,  der  mit  künstlerischem  Takt  bei  Beurteilung 
des  Kunstwerkes  in  Anwendung  gebracht  werden  muß.  Wir  schilderten 
näher  das  Wesen  dieses  Maßstabes,  die  Entfaltung  der  Idee. 

Nachdem  wir  so  das  dargestellt  haben,  was  man  theoretische  Kritik 
nennen  könnte,  wenden  wir  uns  zur  praktischen  Kritik,  der  Anwendung 
dieser  Formen  auf  das  einzelne  Kunstwerk.  Schließlich  ist  der  beste 
Kritiker  die  Zeit,  und  nichts  könnte  ein  vorzüglicherer  Prüfstein  für 
die  Güte  einer  Kritik  sein,  als  wenn  wir  auch  heute  noch  die  Urteile 
billigen,  die  sie  vor  siebzig  Jahren  gefällt  hat. 


III.  Die  Kritik. 

Die  Kritik,  die  auf  der  geschilderten  Grundlage  ruht,  nennt  sich 
wissenschaftliche  Kritik.  Denn  die  Erforschung  und  Kenntnis 
der  Idee,  welche  ihre  Grundlage  ist,  gehört  der  Wissenschaft  an.  Jede 
andere  Kritik  ist  Raisonnement  auf  gut  Glück.  Diese  Kritik  aber  hat 
den  allein  richtigen  Maßstab.  Ihre  Aufgabe  hat  sie  gelöst,  wenn  sie 
die  Vernünftigkeit  im  Bau  des  Kunstwerks  nachgewiesen,  und  somit 
den  Grund  unseres  Wohlgefallens  uns  erklärt  hat.  Hüten  muß  sie 
sich  dabei  allerdings  »vor  der  Sucht,  zu  konstruieren,  die  so  leicht  die 
Kunstbetrachtung  lächerlich  macht«  ^).  Mathematisch  können  wir  frei- 
lich im  Kunstwerk  nichts  beweisen,  wie  im  Grunde  gar  keine  künst- 
lerische Anschauung,  denn  es  gibt  in  aller  Poesie  einen  Punkt,  der 
über  alle  Reflexion  hinausragt  und  nur  für  die  dichtende  Anschauung 
selbst  wirkt  ^). 

Eine  ungebildete  Empfindung  ist  unfähig,  ein  Werk  des  Geistes 
in  sich  aufzunehmen.  »Es  gibt  in  aller  Kunstbetrachtung  einen  Punkt, 
wo  dieselbe  geradezu  apodiktisch  werden  muß,  wo  nämlich  das  Be- 
weisen der  Vernunft  und  Notwendigkeit  einer  Komposition  aufhört. 
Die  Kritik  kann  nachweisen,  inwiefern  die  von  einem  Dichter  aufge- 
faßte Idee  poetisch  oder  nicht  poetisch  ist,  ob  sie  dem  Kreise  der  Poesie 
angehört,  dem  sie  der  Dichter  zugeteilt  hat,  d.  h.  also:  ob  sie  lyrisch, 
episch  oder  dramatisch  ist;  die  Kritik  kann  nachweisen,  inwiefern  der 


■)  I1:A:69— 72. 

«)  VI :  B  :  204. 

')  VII :  95  und  II :  E  :  36. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     167 

Bau  des  Ganzen  dieser  Grundidee  entspricht,  das  Einzelne  sich  dem 
Ganzen  einordnet,  inwiefern  namentlich  in  einem  Drama  jede  Gestalt 
für  sich  ihr  eigentümliches  Lebensprinzip  darsteiU.  Die  Kritik  l<ann 
hier  das  zarteste  Nervengefiecht  auffassen,  l<ann  die  geheimsten  Ab- 
sichten des  Dichters  zur  Anschauung  bringen  und  die  geringsten 
Lebensstörungen  nachweisen.  Aber  sie  kann  die  letzten  Spitzen  des 
individuellen  Lebens  nicht  in  ihrer  Notwendigkeit  beweisen,  sie  kann 
hier  nur  an  das  künstlerische  Bewußtsein  appellieren.  Will  jemand 
es  unternehmen,  einem  anderen  die  Notwendigkeit  der  Sprech-  und 
Denkweise  irgendeiner  Shakespeareschen  Figur  nachzuweisen?«  i). 

Wenn  Rötscher,  wie  wir  im  vorhergehenden  Abschnitt  hörten,  sagt, 
es  gäbe  eine  Gruppe  vollendeter  Kunstwerke,  denen  gegenüber  das 
Geschäft  des  Kritikers  anbetende  Erklärung  und  demutsvolle  Hingabe 
sei,  so  muß  man  fragen,  wie  man  denn  wisse,  welche  Werke  zu  dieser 
Gruppe  gehören?  Ist  der  Weg  so,  daß  ein  Werk,  das,  mit  dem  Maßstab 
der  Idee  gemessen,  diesem  vollauf  genügt,  dann  jener  Gruppe  zuge- 
rechnet wird?  Wie  vertrüge  sich  damit  der  Satz,  der  sich  bei  Rötscher 
findet:  »Bei  Shakespeare  muß  man  eindringen,  von  der  Voraussetzung 
seiner  Größe  ausgehend«  ^). 

Wer  setzte  die  Größe?  Hier  ist  offenbar  ein  dunkler  Punkt,  der 
nur  dann  ein  wenig  geklärt  werden  könnte,  wenn  auch  seine  Be- 
gründung in  das  Reich  jener  dichterischen  Anschauung  verwiesen  wird, 
die  als  zur  Kritik  nötig  bezeichnet  wurde. 

Die  hier  geschilderte  Aufgabe  der  Kritik  betrifft  die  Einzelanalyse. 
Praktisch  hat  sie  Rötscher  an  zahlreichen  Werken  ausgeübt,  am  aus- 
führlichsten an  Lear,  Romeo  und  Julia,  Kaufmann  von  Venedig,  Wahl- 
verwandtschaften, Faust  11. 

Die  Kritik  soll  ferner,  von  der  Beurteilung  des  Kunstwerks  abge- 
sehen, den  Geschmack  der  Massen  läutern,  ohne  dabei  allerdings  ihre 
Tiefe  einzubüßen.  Gerade  im  Übergang  der  Wissenschaft  zum  Leben, 
den  zu  befördern  die  eigentliche  Aufgabe  der  Zeit  ist  (1845),  werden 
Auswüchse  gezeitigt.  Unlautere  Elemente  mischen  sich  unter  die  Kritik 
des  Dramas  und  verflachen  und  verseichen  sie.  Ihnen  gegenüber 
muß  die  wissenschaftliche  Kritik  ihre  Würde  stets  bewahren.  Sie  ist 
ruhig,  vornehm  und  leidenschaftslos.  Auch  aus  den  Andeutungen,  auf 
welche  sie  sich  —  namentlich  in  den  politischen  Zeitschriften  —  zu 
beschränken  hat,  soll  noch  die  Wurzel  der  Erkenntnis  hindurchscheinen. 
Das  Zutrauen  der  Darsteller  und  Dichter  soll  sie  gewinnen,  ohne  sich 
ihnen  schmeichelnd  zu  nähern,  indem  sie  vielmehr  den  Gedanken  eine 


')  VI:B:151. 
')  VIII:  5. 


168  ROBERT  KLEIN. 


solche  sittliche  Würde  einhaucht,  daß  sie  auch  die  gerichteten  Personen 
noch  zur  Achtung  vor  der  Macht  der  Idee  zwingt.  Wenn  sich  gleich 
neben  diesen  Satz,  in  dem  Achtung  der  Idee  gefordert  wird,  in  der  Ab- 
handlung, die  Rötscher  über  die  Kritik  schrieb,  die  Forderung  findet: 
die  Kritik  hat  keinen  fertigen  Maßstab  an  die  Erscheinung  zu  legen 
und  sie  in  das  Prokrustesbett  eines  abstrakten  Begriffs  zu  zwängen, 
so  können  wir  ihn  vor  dem  Vorwurf  der  Unklarheit  oder  Phrase  nur 
dadurch  retten,  daß  wir  das  Wort  abstrakt,  wie  es  im  Hegeischen  Sinn 
verstanden  wurde,  dreimal  unterstreichen. 

In  täglicher  Ausübung  der  praktischen  Kritik  nun  fällt  eine  Menge 
von  theoretischen  Äußerungen,  die  man  unmöglich  alle  aufzählen  kann. 
Es  sind  vor  allem  kritische  Bemerkungen  über  die  Schauspieler,  deren 
hier  zu  gedenken  wäre.  Die  Werke  selbst  werden  stets  an  der  Idee 
gemessen. 

a)  Kritik  der  Schauspieler. 

Beachtenswert  scheint  mir  die  stete  Betonung  Rötschers,  er  werte 
die  Künstler  nach  der  Höhe  ihres  Rufes.  So  heißt  es:  »Die  Künstlerin 
scheint  uns  durch  das  Maß  ihrer  inneren  und  äußeren  Begabung  von 
der  vollendeten  Versinnlichung  einer  Gestalt,  wie  die  der  Julia,  getrennt 
zu  sein  —  wie  sich  von  selbst  versteht,  die  Leistung  des  Fräulein 
Seebach  nach  dem  höchsten  Maßstab  gemessen,  welchen  die  Künst- 
lerin nach  ihrem  Ruf  für  sich  beanspruchen  darf«  ^).  Ein  andermal  er- 
klärt er  direkt:  Die  Aufgabe  der  Kritik  wächst  mit  der  Größe  des  künst- 
lerischen Rufs,  über  welchen  dieselbe  zu  Gericht  sitzt  -). 

Stets  wird  die  Darstellung  zum  Schluß  der  Kritik  erwähnt.  Häufig 
wird  auf  den  Ton,  auf  die  Deklamation,  auf  das  Tempo  der  Darsteller 
näher  eingegangen.  Gelegentlich  wird  das  Prinzip  ausgesprochen,  nie- 
mals über  einen  Künstler  nach  einer  ersten  Rolle  ein  definitives  Urteil 
abzugeben  ^).  Scharf  wird  getadelt,  wo  ein  Schauspieler  sich  aus  dem 
Ensemble  hervordrängt.  Hier  fallen  Ausdrücke  wie:  Virtuose,  Komö- 
diantenkünste usw.  Stets  wird  bedacht,  was  des  Stückes  und  was  des 
Schauspielers  ist.  Rolle  und  Darsteller  werden  streng  getrennt,  und 
es  wird  darnach  gefragt,  ob  der  Darsteller  hinter  der  Rolle  zurückblieb 
oder  ob  er  mehr  aus  ihr  machte  als  sie  vom  Dichter  aus  ist.  So  heißt 
es:  Die  Rachel  »ergänzt,  überflügelt  den  Dichter«  *). 

Wie  Rötscher  auf  die  Darstellung  einen  direkten  Einfluß  hatte, 
dafür  will  ich  für  viele  nur  eip  Beispiel  geben:  am  26.  Mai  1846  forderte 
er   den  Schauspieler  Franz,  der  den  Geist  in  Hamlet  gab,  auf,  nicht 


')  VII :  97  f. 

•)  II:E:174. 

»)  Sp.-Ztg. :  27.  April  1860. 

')  VII :  S.  3. 


HEINRICH  THEODOR  RÖTSCHERS  THEORIE  DER  SCHAUSPIELKUNST.     169 

mit  geisterhafter,  hohler  Stimme  zu  sprechen,  sondern  mit  Würde. 
Am  31.  Oktober  1846  kann  er  zu  seiner  Freude  feststellen,  daß  Franz 
seinem  Rat  gefolgt  ist '). 

b)  Kritik  der  Inszenierung. 

Gleich  der  Beurteilung  des  Schauspielers  werden  auch  hier  die 
im  theoretischen  Teil  aufgestellten  Forderungen  in  Anwendung  ge- 
bracht. Es  ist  oft  vom  Tempo  im  ganzen  die  Rede,  oft  vom  Ton, 
auf  den  das  Ganze  gestimmt  war,  wobei  dann  untersucht  wird,  ob  er 
zu  schnell,  zu  langsam  oder  adäquat  war.  1I:E:134  verlangt  er  für 
Othello  einen  großartigen  Stil. 

Einmal  heißt  es:  »Die  Länge  der  Zwischenakte,  die  wohl  durch 
den  Umzug  der  Sabine  nötig  sein  mochte,  tut  bei  solchen,  auf  ein 
rasches  Ineinandergreifen  berechneten  Stücken  der  Wirkung  immer  Ein- 
trag. Vielleicht  ließen  sich  die  Pausen  zum  Vorteil  des  Ganzen  doch 
noch  etwas  kürzen«  -).  Auch  in  II :  E  :  14  wird  darauf  hingewiesen,  daß 
der  Szenenwechsel  die  Illusion  stört.  Ein  andermal  wird  allzu  große 
Dunkelheit,  die  auf  der  Bühne  herrschte,  getadelt  ^).  Auch  für  das 
äußere  Bild  ist  Rötscher  sehr  empfänglich.  Gelegentlich  der  Neu- 
einstudierung des  Hamlet  bemerkt  er  tadelnd:  »Fortinbras  im  Hamlet 
erscheint  als  höherer  Polizeibeamter,  um  den  Tatbestand  der  Leichen 
zu  konstatieren« ''). 

Für  die  direkte  Wirkung  Rötschers  auf  die  Inszenierung  der  Ber- 
liner Bühne  will  ich  zwei  Belege  anführen.  VII:  184  schreibt  er:  »Zu 
rühmen  haben  wir  noch  an  der  neuen  Inszenierung  des  Schauspiels 
durch  Herrn  Düringer,  daß  die  Einrichtungen  in  den  Schlachtszenen 
so  getroffen  waren,  daß  dabei  vorzugsweise  die  Phantasie  des  Zu- 
schauers angeregt  wurde.  Dadurch,  daß  diese  Kämpfe  mehr  nur  an- 
gedeutet, als  wirklich  vor  unseren  Augen  ausgeführt  wurden,  daß  man 
also  auf  eine  sinnliche  Illusion  derselben  verzichtete,  enthob  man  sie 
zugleich  der  Lächerlichkeit,  der  sie  zum  Opfer  fallen  müssen.  Wir  haben 
stets  bei  diesen  Massenkämpfen  auf  die  Erhebung  derselben  in  das 
Reich  der  Phantasie  gedrungen«,  und 

VII:  188  f.:  »Ferner  erinnern  wir  an  die  große  Szene  zwischen 
Hamlet  und  der  Mutter,  wo  endlich,  worauf  wir  immer  bestanden 
haben,  die  kleinlichen  Medaillenbilder  den  lebensgroßen  Bildern,  wie 
sie  Shakespeare  offenbar  fordert,  gewichen  sind.« 


')  II:E:151. 

»)  Sp.-Ztg.:  6.  Juli  1846. 

')  Sp.-Ztg.:  21.  Februar  1860. 

*)  VII :  187. 


170  ROBERT  KLEIN. 


c)  Kritik  des  Publikums. 
Schließlich  wollen  wir  noch  betrachten,  wie  Rötschers  Kritik  sich 
zum  Publikum  stellte.  Es  fehlt  nicht  an  solchen  Stellen,  wo  er  mit 
Genugtuung  konstatiert,  daß  sein  Urteil  mit  dem  des  Publikums  zu- 
sammenfalle, nicht  an  Hinweisen,  das  Publikum  werde  ihm  hoffent- 
lich zustimmen.  Doch  da,  wo  er  anderer  Meinung  war,  konnte  er  ihr 
auch  kräftig  Ausdruck  verleihen,  wofür  folgende  Stelle  zeugen  möge: 
»Der  wilde  Hervorruf  des  Herrn  Hendrichs,  dem  der  zweite  Pistolen- 
schuß des  Hervorrufs  des  Herrn  Hoppe  gleich  nach  dem  ersten  Akt, 
ohne  allen  vernünftigen  Grund,  folgte,  beweist,  daß  wir  auf  dem  aller- 
besten Wege  sind,  im  Theater  den  Beifall  der  Parteien  und  Koterien 
gegen  den  freien  Beifall  des  gebildeten  Sinns  einzutauschen.  Die  Kritik 
hat  das  Recht  und  die  Pflicht,  solche  Ungemessenheit  als  das  zu  be- 
zeichnen, was  sie  ist !  Hoffentlich  haben  die  Künstler,  welche  solchen 
Beifall  erfahren,  Freiheit  genug,  dadurch  mißtrauisch  gegen  sich  selbst 
zu  werden  i).« 


Es  heißt  allerdings,  die  Psyche  des  Schauspielers  von  einem  allzu 
idealen  Standpunkt  betrachten,  wollte  man  ernsthaft  glauben,  es  gäbe 
irgend  eine  Form  des  Beifalls,  die  ihm  nicht  wohltue. 

Aber  das  Beispiel  ist  bezeichnend  für  die  hohe  und  edle  Auf- 
fassung, mit  der  Rötscher  alle  künstlerischen  Fragen  anpackte.  Es 
haftet  ihm  stets  etwas  Philosophisches  an,  und  wie  es  nicht  leicht  ist, 
aus  seinen  Schauspielkritiken  das  für  die  einzelnen  Künstler  Charak- 
teristische herauszulesen,  so  kann  auch  der  Einzelanalyse  der  Vorwurf 
einer  gewissen  Unlebendigkeit  nicht  erspart  bleiben.  Sie  zeigt  wohl 
vorzüglich  die  Architektur  eines  Kunstwerks,  aber  es  fehlt  ihr  an 
Differenzierungsmitteln,  an  Handhaben,  mittels  derer  sie  die  Wesens- 
verschiedenheit Goethes  von  Shakespeare  beispielshalber  darlegen  könnte. 
Hier  hat  sie  ihre  Grenzen. 

Immerhin  hat  in  ihrem  Rahmen  Rötscher  so  viel  Wertvolles  geleistet, 
daß  man  ihn  neben  Bulthaupt  ruhig  den  größten  Dramaturgen  des 
IQ.  Jahrhunderts  nennen  kann. 


')  Sp.  Ztg.  10.  Juli  1846  und  vgl.  auch  II:E:98. 


Bemerkungen. 


Rhythmus  in  menschlichen  Raumgebilden. 

Von 

August  Schmarsow. 

Oskar  Walzel  hat  unter  dem  Titel  »Wechselseitige  Erhellung  der  Künste«  ver- 
sucht, einen  Beitrag  zur  Würdigung  kunstgeschichtlicher  Begriffe  zu  liefern ').  Er 
berichtet  an  erster  Steile  über  meine  seit  langen  Jahren  geübte  und  so  auch  auf 
Schüler  übertragene  Methode,  die  Innenräume  mittelalterlicher  Bauwerke,  besonders 
der  Kirchen  des  Abendlandes,  auf  ihre  rhythmischejQliederung  zu  untersuchen  und 
dadurch  zum  Verständnis  des  schöpferischen  Wesens  der  Architektur  wie  zur  Er- 
klärung des  ästhetischen  Erlebnisses  in  solchen  Raumgestaltungen  hinzuwirken.  Leider 
muß  ich,  erst  spät  auf  das  Büchlein  aufmerksam  gemacht,  sogleich  anfangs  erkennen, 
wie  fern  dem  Literarhistoriker  diese  anschaulichen  Dinge  liegen,  nach  denen  er  gierig 
greift.  Und  dabei  laufen  ihm  Verwechslungen  und  Irrtümer  an  so  ausschlaggeben- 
den Stellen  unter,  daß  ich  Einspruch  dagegen  erhebe,  solches  Zeug  überhaupt 
unter  meinem  Namen  zu  verbreiten. 

Da  steht  zu  lesen:  »Schmarsow  scheidet  drei  Oestaltungsprinzipien :  Propor- 
tionalität, Symmetrie  und  Rhythmus.«  iVlit  Verlaub:  dies  tat  Gottfried  Semper,  der 
große  Architekt,  dessen  Lehre  ich  psychologisch  weiterzubilden  gestrebt  habe.  Falsch 
ist  auch  der  Zusatz:  »in  ausdrücklicher  Wendung  gegen  Riegi«.  Doch  das  ist 
kaum  von  Belang  im  Vergleich  mit  dem  folgenden  Wortlaut:  »Der  Proportionalität 
weist  er  die  erste  Dimension  zu,  die  Breite  (sie!),  der  Symmetrie  die  zweite, 
die  Länge  (!),  —  dem  Rhythmus  die  dritte,  die  Tiefe.«  Uns  andern  ist  die 
erste  Dimension  die  Höhe,  die  zweite  die  Breite.  Wenn  jedoch  auch  Walzel  die 
Tiefe  als  dritte  Dimension  anerkennt,  so  ist  ihm  die  Länge  wohl  in  die  vierte  Dimen- 
sion geraten.  Daß  aber  nicht  etwa  ein  Druck-  oder  Schreibfehler  vorliegt,  über 
den  der  Verfasser  des  Vortrags  auch  bei  der  Korrektur  hinweg  gelesen  hätte,  ohne 
sich  etwas  dabei  zu  denken,  das  bezeugt  drei  Seiten  weiter  die  gleich  lustige  An- 
gabe: »S.  billigt  transitorische  Bewegung  doch  auch  der  ersten  Dimension  zu,  der 
von  ihm  die  Symmetrie  zugewiesen  wird,  und  der  zweiten,  in  der  er  Proportionalität 
ansiedelt.«  SolHe  mich  danach  nicht  schon  der  Setzer  für  einen  unverbesserlichen 
Rekruten  gehalten  haben,  der  mit  derselben  Hartnäckigkeit  auch  Rechts  und  Links 
verwechseln  werde?  Aber  es  ist  Walzel  allein,  der  sich  so  etwas  leistet.  Und  ob- 
wohl er  nun  weiß,  daß  ich  die  Möglichkeit  sukzessiver  Auffassung  auch  in  der 
ersten  und  zweiten  Dimension  ausdrücklich  anerkannt  habe,  dichtet  er  mir  die  neue 
Behauptung  an,  ich  nehme  den  Rhythmus  ausschließlich  für  die  dritte  Dimension 
In  Anspruch,  nur  Bewegung  nach  der  Tiefe  erfülle  nach  meiner  Ansicht  die  strengen 
Bedingungen   dieses  Gestaltungsprinzips!     Er  selbst   erwähnt  meine   Bezeichnung 


')  Philosophische   Vorträge,   veröffentlicht  von   der  Kantgesellschaft   Nr.   15, 
Berlin  1917. 


172  BEMERKUNGEN. 


der  Höhe  als  »Wachstumsachse«,  die  ich  im  Anschluß  an  O.  Semper  stets  dort  an- 
wende, wo  es  sich  um  den  Aufstieg  von  unten  nach  oben  handelt,  d.  h.  nicht  um  das 
Höhenlot,  das  von  oben  auf  die  Basis  gefällt,  also  dem  Gesetz  der  Schwere,  des  Falles 
gemäß  aufgefaßt  wird.  Er  weiß,  daß  ich  in  der  zweiten  Dimension  dagegen  mit  Sem- 
per die  Symmetrie  walten  lasse,  in  der  wir  das  Prinzip  des  ruhigen  Ebenmaßes,  des 
Gleichgewichts  im  Stillstand  erkennen;  aber  er  weiß  auch,  daß  ich  hier,  im  Unterschied 
von  Semper  oder  in  experimentell-psychologischer  Ergänzung,  die  transitorische  Auf- 
fassung bei  Anwendung  des  Mittellotes  auf  die  Wagrechte  vor  uns  hervorgehoben 
habe,  d.  h.  die  Abmessung  von  dem  Schnittpunkt  in  der  Mitte  nach  beiden  Enden 
oder  umgekehrt  von  dem  Endpunkt  links  und  rechts  nach  der  Mitte  zurück.  Dies 
sukzessive  Verfahren  habe  ich  im  Unterschied  von  dem  simultanen,  dem  Festhalten 
der  Symmetrie,  mit  Entfaltung  oder  Diremtion  bezeichnet,  der  wieder  Responsion 
oder  Zusammentritt  von  außen  nach  innen  gegenübersteht.  Nehmen  wir  als  Objekt, 
auf  das  wir  diese  Möglichkeiten  übertragen,  etwa  die  eine  Wand  eines  Zimmers  an, 
so  stellen  wir  uns  dabei  ihrer  Mitte  gegenüber  auf  und  verharren  auf  diesem  Stand- 
punkt. Sowie  wir  aber  die  beiden  Hälften  nicht  allein  mit  dem  Augenmaß  als 
gleich  hinnehmen,  sondern  wirklich  nachmessen  wollen,  so  ergibt  sich,  wie  jeder 
weiß,  eine  neue  Möglichkeit,  ja  die  Notwendigkeit,  unser  Verhalten  abzuändern, 
Entweder  treten  wir  an  die  Wand  heran,  beginnen  an  einem  Ende  und  messen  sie, 
daran  entlang  schreitend,  bis  ans  andere  Ende  durch,  d.  h.  wir  geben  unseren  festen 
Standpunkt  auf,  vertauschen  ihn  mit  dem  verschiebbaren  —  an  der  Wand,  an  dem 
Tisch,  an  der  Bank  vorbei  — ,  und  das  Objekt  bleibt  immer  seitlich  von  uns  stehen. 
Oder,  wir  vollführen  diesen  Wechsel,  wenn  wir  nicht  selbst  in  Ortsbewegung  über- 
gehen wollen,  doch  wenigstens  mit  unserem  Augenpaar,  setzen  links  mit  dem  Fixier- 
punkt ein  und  verfolgen  die  gerade  Linie  durch,  ihrer  ganzen  Ausdehnung  entlang. 
Dies  ist  der  Vorgang,  durch  den  sich  die  Breite  in  die  Länge  verwandelt.  Am 
selben  Objekt  die  nämliche  Dimension?  fragt  Walzel,  und  denkt,  ich  spiele  nur  mut- 
willig mit  den  Wörtern  unserer  Muttersprache.  Nein,  ich  weiß,  daß  sie  nicht  nur 
für  uns  dichtet,  sondern  auch  für  uns  denkt;  es  gilt  nur  zu  erwerben,  was  wir  in 
ihr  ererben.  Die  Länge  ist,  sowie  wir  sie  in  transitorischer  Bewegung  vollziehen, 
nicht  die  zweite  Dimension,  sondern  sie  ist  die  dritte  Dimension  geworden,  die 
Richtungsachse  unserer  Bewegung  durch  den  Raum.  Machen  wir  die 
Probe  nur  in  einem  Zimmer,  wo  wir  Breite  und  Länge  ohne  Mühe  unterscheiden, 
also  einem  mit  rechteckigem  Grundriß,  wo  die  beiden  kleinen  Seiten  den  beiden 
größeren  klar  gegenüberstehen.  Wir  nennen  jene  die  kurzen  oder  die  Schmalseiten, 
diese,  eben  die  längeren,  die  Langseiten.  Und  zwischen  diesen  überlegenen  Parallelen 
entlang  geht  die  Hauptachse  des  Zimmers,  das  wir  deshalb  als  oblong  bezeichnen, 
gegenüber  solchen  Formen,  in  denen  die  Größe  der  Seiten  voneinander  nicht  so 
merklich  abweicht.  Nun  mache  man  doch  die  Gegenprobe  mit  einem  quadratischen 
Grundriß:  wo  ist  da  die  Länge,  wo  die  Breite?  Oder  mit  einem  kreisrunden,  wo 
ist  da  die  Tiefe  unter  all  den  gleichen  Durchmessern,  nach  denen  wir  die  Breite 
bestimmen?  Ist  sie  im  letzteren  Falle  nicht  vielmehr  zuerst  ein  Radius,  nein  jeder, 
den  wir  von  dem  Zentrum  aus,  in  das  wir  uns  selbst  versetzen,  gegen  die  peripherische 
Umfassungsmauer  zu,  als  Ortsbewegung  oder  als  Blickrichtung  erproben?  —  und  im 
Quadrat:  ist  die  Tiefe  der  kürzeste  Weg  gegen  die  Mitte  einer  Wand,  oder  der  längste 
in  der  Diagonale  gegen  jede  der  Ecken  zu?  Es  sind  keine  sophistischen  Klügeleien, 
sondern  ganz  konkrete  Fälle  des  Raumeriebens,  um  die  es  sich  handelt.  Wer  aber 
die  drei  Dimensionen  noch  nicht  unterscheiden  kann,  der  vermag  auch  hier  aller- 
dings nicht  deutlich  zu  erfassen  und  festzuhalten,  welche  Verschiedenheiten  der 
Auseinandersetzung  des  menschlichen  Subjekts  mit  seinem  umgebenden  Raum  sich 


BEMERKUNGEN.  173 

dabei  ergeben.  Es  gibt  Büchermenschen,  die  solche  anschaulichen  Dinge,  auch 
mustergültig  in  sprachliche  Form  gebracht,  überhaupt  nicht  lesen  können,  sondern 
immer  darüber  hinwegträumen.  Es  gibt  gewiegte  Literaten,  denen  solche  Kost  sehr 
bald  zuviel  wird,  die  sich  deshalb  darüber  ärgern.  So  wollen  auch  wir  lieber  ver- 
suchen, nicht  alles,  was  zusammengehört,  hier  auf  einmal  zu  erledigen,  sondern  zum 
Teil  auf  andere  Gelegenheit  versparen.  Aber  im  Anschluß  an  das  kreisrunde  Ge- 
mach, das  uns  als  letztes  Beispiel  diente,  sei  hier  noch  die  Frage  nach  der  ersten 
Dimension  berührt.  Es  ist  die  Höhe,  die  das  menschliche  Subjekt  immer  als  eigene 
Vertikalachse  mit  sich  herumträgt,  das  Wahrzeichen  seiner  aufrechten  Haltung, 
seines  Vorzugsrechtes,  so  daß  von  dieser  Hauptachse  unseres  Koordinatensystems 
ausgegangen  wird,  und  daß  wir  sie  deshalb  die  erste  nennen.  Suchen  wir  nun 
unsere  eigene  Höhe  einmal  über  sich  selbst  hinaus  mit  dem  Blick  zu  verfolgen, 
also  als  Bewegungsrichtung  in  der  Verlängerung  durchzuhalten,  so  wird  uns  auch 
diese  Dimension  zur  dritten,  die  vor  uns  liegt,  wie  wir  vorher  die  Breite  sich  in 
die  Länge  verwandeln  sahen.  Wer  daran  zweifelt,  schaue  nur  zum  gestirnten  Himmel 
empor,  oder  suche  sich  über  die  Entfernung  des  Mondes  da  droben  Rechenschaft  zu 
geben,  indem  er  von  sich  aus  mit  dem  Blick  in  die  Weite  hinaufdringt.  Und  diese 
Verwandlung  der  Höhe  in  die  Tiefe  da  draußen  kommt  daher,  daß  unsere  eigene 
Ortsbewegung  sich  gewohnheitsmäßig  immer  nach  vorwärts  vollzieht,  gerade  vor 
uns  hin.  Wir  gehen  nicht  seitwärts  wie  die  Taschenkrebse,  noch  aufwärts  wie  die 
Luftbewohner.  Und  die  Richtung,  die  wir  einschlagen,  um  sie  geradeswegs  durch- 
zuhalten, erhält  durch  den  Willensimpuls  die  sicher  fühlbare  Vorherrschaft,  die  sich 
ebenso  auf  die  anderen  Dimensionen  überträgt,  sowie  wir  unser  Ich  als  vorwärts- 
dringend, zielstrebig  gerichtet,  hantierend  oder  irgendwie  sonst  agierend  hineinlegen, 
also  auch  wenn  wir  nur  sehen  statt  zu  gehen.  Das  können  wir  uns  schlagend  durch 
ein  Experiment  zum  Bewußtsein  bringen:  treten  wir  in  einen  hohen,  zylindrisch  auf- 
steigenden Turm  ohne  Fenster  und  ohne  Geschoßteilung  wie  ohne  Dach,  so  daß  durch 
den  Zinnenkranz  nur  der  Luftraum  des  Himmels  hereinschaut;  dann  gibt  es  für 
unser  Augenpaar,  je  enger  die  Umfassungsmauern  uns  umschließen,  keine  Ge- 
legenheit seine  Sehweite  zu  betätigen  und  seinen  Drang  nach  solcher  Kraftübung 
zu  befriedigen,  als  allein  nach  der  Höhe;  die  erste  Dimension  gewinnt  vollständig 
die  Bedeutung  der  Richtungsachse,  die  Hegemonie  über  die  beiden  wagrechten, 
von  denen  die  vor  uns  liegende  Tiefe  sonst  überall  den  Ton  anzugeben  pflegt.  Wie 
hier  die  Blickbahn  nach  oben  die  einzig  ausführbare  Bewegung  in  die  Weite  gewährt, 
so  bleibt  auch  für  jede  Erdenflucht  der  Sehnsucht  eben  die  Höhe  der  einzige  Aus- 
weg, und  ihr  Gegenteil,  die  unterirdischen  Räume,  die  sich  zu  unseren  Füßen  öffnen 
mögen,  oder  als  Unterwelt  nur  in  unserer  Phantasie  existieren,  erhalten  den  richtigen 
Namen,  die  Tiefe,  doch  auch  in  einem  ganz  anderen  Sinne  als  die  Tiefe  des  irdischen 
Schauplatzes  vor  uns,  in  den  wir  uns  endlich  durch  die  Tür  hinausretten,  durch  die 
wir  hereingekommen  waren.  Wie  lange  hat  der  griechische  Gegensatz  des  aviu  und 
•xätu)  die  ganze  menschliche  Weltanschauung  bestimmt.  Aber  auch  in  unserer  sinn- 
lich-wahrnehmbaren Umwelt  und  Außenwelt  bekommen  die  drei  Ausdehnungen 
einen  mannigfaltigen  Sinn,  je  nach  der  Beziehung  zu  uns.  Und  für  die  Architektur 
als  künstlerische  Schöpfung  habe  ich  schon  1896  in  einer  kleinen  Schrift  »über  den 
Wert  der  Dimensionen  im  menschlichen  Raumgebilde«  darüber  Auskunft  zu  geben 
und  dafür  psychologisches  Verständnis  zu  wecken  gesucht  (Berichte  der  Sächsischen 
Gesellschaft  der  Wissenschaften,  phil.-hist.  Klasse,  48,  1).  Daß  solche  Erträgnisse 
anschaulichen  Denkens  nicht  immer  leicht  auszudrücken  sind,  auch  wenn  man  seine 
Muttersprache  so  handhabt,  wie  ich,  das  wissen  die  besten  Meister  genau.  Aber, 
wenn  man  bei  mir  von  einer  »Schule^  spricht  und  »kraftvolle  Durchführung  unab- 


174  BEMERKUNGEN. 


hängiger  Arbeitsmöglichkeiten«  anerkennt,  wie  WaJzel  (S.  11),  so  wird  man  sich 
doch  selber  sagen,  daß  solche  Wirksamkeit  als  Lehrer  garnicht  denkbar  ist,  es  sei 
denn  —  man  habe  das  Zeug  dazu.  Als  solcher  will  ich  denn,  nach  achtunddreißig- 
jähriger  Tätigkeit  an  deutschen  Universitäten,  auch  die  Bedenken  des  literarischen 
Kritikers  geduldig  prüfen  und  für  den  Leserkreis  dieser  Zeitschrift  willig  aufnehmen, 
was  er  uns  etwa  zu  bieten  weiß  '). 

Vergleiche  ich  nun  die  Zitate  aus  Schiller,  Schlegel  und  Herbart,  die  vor  uns 
aufgereiht  werden,  so  finde  ich  mit  Erstaunen,  wie  willkürlich  sie  herausgerissen, 
ja  wie  hastig  sie  abgebissen  sind,  so  daß  Wertvollstes,  das  sich  unmittelbar  daneben 
anbot,  beiseite  gelassen  und  so  zur  wirklichen  Klärung  der  Fragen  garnicht  vor- 
gedrungen ward.  Ernst  Meumann  aber,  den  Walzel  bald  beiseite  schiebt,  wo  wir 
uns  geflissentlich  mit  ihm  verständigen  wollen,  bald  umgekehrt  gegen  mich  ausspielt, 
wo  der  Psychologe  die  Sache  zweifellos  besser  verstand  als  der  Literaturforscher, 
hat  seinerzeit  auch  zu  meinen  Schülern  gehört  und  sich  später  noch  dazu  bekannt, 
wie  er  das  Hauptprinzip  seiner  eigenen  Ästhetik,  das  Ausgehen  vom  künstlerischen 
Schaffen  selbst,  von  mir  übernommen.  Es  ist  ein  ehrliches  Ringen  der  Geister,  in 
dem  ich  noch  mit  meinem  letzten  Buch  »Kompositionsgesetze  in  der  Kunst  des 
Mittelalters«  über  die  früher  erreichten  Grundlagen  hinausgegangen  bin,  zur  Er- 
gänzung und  Vertiefung  meiner  damaligen  Lehre.  Wir  wollten  es  alle  nicht  be- 
quemer nehmen,  wie  Walzel  es  uns  empfiehlt;  und  hatten  nicht  gegen  Philosophen, 
sondern  gegen  rückständige  Architekten  und  oberflächliche  Rationalisten  zu  kämpfen, 
denen  die  psychologische  Betrachtungsweise  ebenso  fremd  oder  gar  verhaßt  ist,  wie 
die  ästhetische.  Ich  brauche  nur  an  die  Aufnahme  zu  erinnern,  die  meine  Leipziger 
Antrittsrede  über  das  Wesen  der  architektonischen  Schöpfung  am  8.  November  1893 
bei  diesen  Herren  der  Tageskritik  gefunden  hat:  eine  Schande  für  sie  selber! 

»Seh  il  1  er  nannte  in  einem  Briefe  an  Wilhelm  Schlegel ■<  —  wird  uns  erzählt  —  »vom 
10.  Dezember  17Q5  den  Rhythmus:  das  Beharrliche  im  Wechsel.  Man 
könnte  behaupten,  daß  in  dieser  ganz  allgemeinen  und  doch  schlagenden  Begriffs- 
umschreibung kein  Bezug  auf  ein  zeitliches  Nacheinander  walte  (?).  Schiller  meinte  es 
anders;  er  nennt  gleichzeitig  den  Rhythmus:  das  Zeitmaß  in  seinen  Bewe- 
gungen.« (Ich  will  nicht  beanstanden,  ob  dies  letztere  den  Sinn  genau  wiedergibt.) 
»Wilhelm  Schlegel  nahm  die  Begriffsbestimmung  auf.<:  (Ist  das  eine  solche, 
und  keine  bloße  Wortumschreibung?)  »Er  verwertete  sie  in  seinen  Berliner  Vor- 
lesungen 1801/2  (S.  242  ff.);  auch  er  gebraucht  hier  den  Ausdruck  Zeitmaß.«  Da- 
mit bricht  Walzel  seine,  uns  wenigstens  noch  wenig  befriedigende  Ernte  ab,  ob- 
gleich dort  gerade  eine  wirkliche  Definition  geboten  wird.  Warum?  »Den  Rhyth- 
mus, erklärt  Schlegel,  könne  man  definieren:  als  eine  solche  Anordnung  des  Zeit- 
erfüllenden, worin  bemerkbare  Verhältnisse  stattfinden.  Es  gehört  also  zum  Rhythmus 
zweierlei:  ein  gemeinschaftliches  Zeitmaß  für  die  ganze  Reihe  von  Sukzessionen, 
und  Abwechslung  in  der  Dauer  der  einzelnen.  Wo  eins  von  beiden  Stücken  fehlt, 
ist  noch  kein  Rhythmus  vorhanden.  Im  letzten  Falle,  bei  Sukzessionen  von  in- 
kommensurabel verschiedener  Dauer,  die  ohne  Regel  aufeinander  folgen,  leuchtet 
es  von  selbst  ein.  Aber  auch  das  erste.  Maß  ohne  Wechsel,  —  z.  B.  in  gleichen 
Zwischenräumen  wiederholte  Glockenschläge  — ,  sind  nur  die  Grundlage  des  Rhyth- 
mus, noch  nicht  der  Rhythmus  selbst.«  Das  war  doch  wirklich  ein  Ertrag,  der  uns 
fördert;  doch  ersichtlich  beziehen  sich  beide  Dichter  zunächst  auf  Hörbares,  als  ihnen 
auf  dem  Gebiet  der  Wortkunst  oder  der  Musik  Vertrautes.    Indessen  Schlegel  findet 


')  Im  vorhinein  darf  ich  auf  meinen  Aufsatz  »Raumgestaltung  als  Wesen  der 
architektonischen  Schöpfung«  Bd.  IX  dieser  Zeitschrift  191 4,  verweisen. 


BEMERKUNGEN.  175 


es  doch  notwendig,  hervorzuheben,  daß  die  Fähigkeit,  den  Rhythmus  wahrzunehmen, 
unleugbar  an  unsere  Organisation  gebunden  sei;  wir  sind  »dabei  auf  solche  Grade 
der  Geschwindigkeit  und  Langsamkeit  eingeschränkt,  die  mit  dem  fühlbaren  Takt 
der  Bewegungen  in  unserem  Körper  in  einem  nahen  Verhältnis  stehen«.  Und  erst 
nach  dieser  Rücksichtnahme  auf  die  organischen  Bewegungen,  des  Atems,  des  Herz- 
schlags usw.  (sogar  bei  Tieren)  folgt  das  letzte  Ergebnis:  »Eine  rhythmische  Reihe 
drückt  also  zuvörderst  das  äußere  sinnliche  Leben  aus;  das  Zeitmaß  ist  der  Puls- 
schlag desselben,  der  Wechsel  die  freie  Bewegung.  Dann  aber  verknüpft  das  durch- 
gehende, sich  gleichbleibende  Zeitmaß  die  Sukzessionen  zur  Einheit,  es  ist  das  Be- 
harrliche im  Wechsel.«  Damit  sind  wir  wieder  bei  Schillers  Ausdruck  angelangt; 
aber  es  ist  das  Zeitmaß,  nicht  der  Rhythmus,  das  Schlegel  damit  belegt.  Und  es 
fehh  tatsächlich  noch  etwas,  das  er  selbst  im  Früheren  vorbereitet  hat.  Er  setzt 
auch  noch  ein  Anhängsel  hinzu ;  »wenn  vom  Hörbaren  die  Rede  ist,  gleichsam  das 
Bewußtsein  der  Tonfolge«.  Was  heißt  das?  Entweder  die  Erinnerung  an  die  ge- 
hörte oder  die  Erwartung  der  bevorstehenden  Tonfolge,  oder  gar  beides:  also  das 
Bewußtsein  der  Regel  und  die  Antizipation  ihrer  Erfüllung  im  weiteren  Ablauf.  Da 
steckt  in  der  Tat  die  Hauptsache.  Sowie  wir  von  der  objektiven  Beschreibung  des 
Rhythmus  auf  den  Standpunkt  des  schöpferischen  (oder  genießenden)  Subjekts  über- 
treten, offenbart  sich  erst  das  Geheimnis  des  Zusammenhangs  mit  unserer  menschlichen 
Organisation  auf  der  einen  und  mit  unserem  Willensimpuls  auf  der  anderen  Seite. 
Der  Rhythmus  ist  die  selbstgewählte  Regel,  das  immer  wiederholte  Maß,  nun  aber 
der  freien  Bewegungen,  die  wir  uns  vorschreiben.  Er  ist  das  Gesetz,  das  wir 
in  unseren  Willen  aufgenommen  haben,  wenn  wir  Rhythmisches  hervor- 
bringen, und  erst  auf  Grund  dieses  seelischen  Aktes  erwächst  das  Gefühl  der  Frei- 
heit unseres  Tuns.  Die  Wahl  vollzieht  sich  im  Einklang  mit  unserer  Organisations- 
anlage, gleichwie  die  Reizmittel  durch  sie  bedingt  sind,  nach  Maßgabe  unseres  Tem- 
peraments, aber  nicht  des  ganz  absonderlichen,  einseitig  individuellen,  sondern  des 
einigermaßen  gemeinsamen  Erbes,  des  Einzelmenschen  freilich,  aber  doch  als  sozialen 
Wesens.  Und  diese  Übereinstimmung  mit  sich  selbst  gewährt  die  Genugtuung  der 
stetigen  Erfüllung,  die  wir  als  durchgehende  Regel  walten  lassen,  durch  alle  mög- 
lichen Variationen  hin,  bis  in  Ausnahmen  noch  überwindbaren  Widerspruchs.  Ein 
Gesetz  aber,  das  unserer  menschlichen  Natur  entspricht,  und  nicht  nur  uns  allein, 
sondern  auch  Unseresgleichen  gemäß  ist,  bewirkt  weiter  das  willige  Entgegenkommen 
des  Verständnisses  unserer  Mitmenschen,  bedingt  die  hinreißende  Gewalt  und  An- 
steckungskraft eines  glücklich  gefundenen  Rhythmus,  also  die  sozialisierende  Energie, 
die  er  in  gewissem  Umkreis  unfehlbar  ausübt.  Erst  diese  genetische  Erklärung 
der  Innervation,  als  des  wesentlichen  Bindeglieds,  und  der  Einströmung  des  Willens- 
impulses, in  Form  eines  rhythmischen  Motivs,  ergibt  das  Entscheidende,  das  auch 
über  das  Hörbare  hinaus,  für  das  Sichtbare  und  für  alle  Körperbewegungen  über- 
haupt gilt.  Wollten  wir  mit  Schiller  den  Rhythmus  das  Beharrliche  im  Wechsel 
nennen,  so  müßten  wir  darunter  die  selbsterwählte  Regel  der  spontanen  Bewegungen 
verstehen,  die  einerseits  über  das  zugrunde  gelegte  Zeitmaß  in  seiner  konventionellen 
Gleichteilung  hinausgeht,  anderseits  aber,  durch  alle  Variationen  und  Modifikationen 
sonst  hindurch,  immer  erkennbar  wiederholt  wird. 

Meint  Walzel  nach  seinem  unvollständigen  Zitat,  diese  klassischen  Zeugen 
»hätten  kaum  in  der  bloßen  Tatsache  einer  Reihe  gleich  großer,  gleich  weit  von 
einander  abstehender  Säulen  die  Bedingungen  des  Rhythmus  erfüllt  gesehen«,  so 
ist  einmal  diese  Beschreibung  des  objektiven  Bestandes  in  einer  Basilika  schon  un- 
zulänglich, weil  z.B.  die  Bogenverbindung  über  ihnen  hin  nicht  erwähnt  wird; 
anderseits  aber  bin  ich  überzeugt,  mit  Schlegel  wäre  auf  Grund  der  »Organisation« 


176  BEMERKUNGEN. 


des  Menschen  und  des  nahen  Verhältnisses  der  Reizmittel  zum  fühlbaren  Takt 
der  Bewegungen  in  unserem  Körper  wohl  eine  Verständigung  erreichbar,  wo  auch 
wii  das  Hörbare  ganz  ausschalten,  von  dem  die  Dichter  wie  die  Musiker  gern  allein 
reden.  Walzel  selbst  wendet  mir  ein :  »Wohl  wechselt  auch  da  beharrlich  die  Säule 
mit  dem  Zwischenraum,  der  sie  von  ihrer  nächsten  Nachbarin  trennt.  Aber  ein  zeit- 
liches Nacheinander  kommt  in  die  Säulenreihe  nur  durch  das  betrachtende  Auge, 
das  von  Säule  zu  Säule  weitergeht.«  ja,  wer  von  uns  hat  denn  behauptet,  die 
Säulenreihe  in  der  Basilika  bewege  sich  tatsächlich  selber  im  rhythmischen  Schwünge?— 
oder  sie  habe  über  Nacht  etwa  einen  Reigen  vollführt,  der  am  Tage  dann  noch 
nachzittere  und  uns  in  sich  hineinziehe?  Doch,  Scherz  beiseite:  hier  ist  wieder, 
wie  so  oft  in  der  Ästhetik,  allein  das  empfangende  Subjekt  berücksichtigt,  nicht,  wie 
ich  immer  durchführe,  vom  schöpferischen  Urheber  ausgegangen.  Wer  hat  denn 
die  Säulenreihe  so  hingesetzt,  ihre  Abstände  bestimmt,  die  BewegungsHnie  ihrer  Ar- 
kaden gezeichnet  und  gewollt  ?  Die  Bewegung  des  betrachtenden  Auges  aber  reicht 
auch  beim  Besucher  nicht  aus.  Walzel  hat  von  meiner  Zurückführung  des  Rhyth- 
mus auf  den  Gang  des  Menschen  —  durch  den  Raum  hin  —  gar  keine  Kenntnis 
genommen.  Für  den  rhythmischen  Vollzug  des  Ganzen  ist  die  Ortsbewegung  durch 
die  Wandelbahn  entlang  ganz  unerläßlich,  und  hier  wirken  die  drei  Dimensionen 
ineinandergreifend  zusammen  bei  jedem  Schritt:  die  Höhe  in  den  Säulen  wie  in 
der  Obermauer  und  den  Fenstern  des  Lichtgadens  bis  an  die  Decke,  die  Breite  im 
Schaltraum  und  seinem  Bogen,  dessen  Schwung  schon  ein  Bindeglied  mit  der  ersten 
Dimension  enthält,  in  den  gleichen  Abständen  der  Wandglieder  darüber,  wie  in  der 
Kassettendecke  oder  der  Wölbung.  Blickbewegungen  wirken  nur  deshalb,  mit  ihrem 
Vollzug  im  Nacheinander,  so  unwiderstehlich  auf  unsere  organische  Anlage  zu  rhyth- 
mischer Betätigung  weiter,  weil  in  ihnen  der  Konnex  mit  dem  motorischen  Apparat 
des  ganzen  Körpers  gegeben  liegt,  und  weil  sie  genau  so  als  Ausfluß  unserer 
Willensimpulse,  unserer  lebendigen  Intentionen  gefühlt  werden,  wie  der  Antrieb 
des  Vorwärtsschreitens  in  der  Richtungsachse  des  umschließenden  Raumgebildes. 
Ich  darf  mich  dafür  sogar  auf  das  Bekenntnis  Goethes  berufen,  das  Walzel  selbst 
herbeizieht.  Dieser  anschaulich  Denkende  »verweist  ausdrücklich  auf  die  verwandte 
Wirkung,  die  sich  beim  Auf-  und  Abgehen  im  Petersdom  ergebe«.'  Beim 
Durchwandern  des  Langhauses  und  der  Kreuzarme  von  St.  Peter  hat  Goethe  in 
Rom  das  Raumerlebnis  sozusagen  am  eigenen  Leibe  so  stark  erfahren,  daß  es  so 
lange  noch  nachwirkt. 

Ganz  ähnlich  wie  bei  Schlegel  wird  dann  bei  Herbart  eine  Hauptstelle  unter- 
schlagen, die  notwendig  dazu  gehört.  Was  Walzel  aus  dem  Lehrbuch  der  Ein- 
leitung in  die  Philosophie  herbeiholt,  ist  doch,  wie  er  selbst  sagt,  »etwas  ganz 
Selbstverständliches« :  —  die  Möglichkeit  des  Menschen  zu  simultaner  und  zu  sukzes- 
siver Auffassung.  Nicht  aber,  daß  wir  überhaupt  beide  abwechselnd  anzuwenden 
imstande  sind,  ist  für  unsere  Angelegenheit  von  Belang,  sondern  der  Unterschied 
des  sinnlichen  und  geistigen  Erlebnisses,  der  sich  je  nach  der  Vorherrschaft  der 
einen  oder  der  anderen  ergibt,  ist  das,  worauf  es  für  die  Ästhetik  ankommt.  Und 
damit  hängen  die  weiteren  Fragen  zusammen,  wie  weit  die  Berechtigung  der  einen 
oder  der  anderen,  wie  weit  die  Durchführung  der  räumlichen  oder  der  zeitlichen 
Anschauungsform  in  ihrer  Ausschließlichkeit  gehen  könne  oder  gehen  müsse.  Wer 
sich  so  lange  und  eindringlich  mit  Lessings  Laokoon  beschäftigt  hat  wie  ich  '),  dem 
sind  diese  Auseinandersetzungen  zwischen  den  Künsten  so  geläufig  wie  das  Abece 


')  Meinen  »Erläuterungen  zu  Lessings  Laokoon«,  Leipzig  1Q07  ist  ein  Sachregister 
zu  meinen  kunsttheoretischen  Schriften  beigegeben,  in  dem  alle  wichtigen  Begriffe 


BEMERKUNGEN.  177 


oder  das  Einmaleins.  Weshalb  sollten  wir  das  gerade  aus  Herbart  holen,  dessen 
ästhetische  Winke  in  jenem  Lehrbuch  nicht  einmal  ausreichend  entwickelt  sind?  —  Aber 
weshalb  verschweigt  Walzel  von  dem  wenigen,  das  sie  bieten,  gerade  die  Bemerkung 
über  Symmetrie  und  Rhythmus  samt  näherer  Auskunft,  die  sich  daran  anschließt? 
»Symmetrische  Verhältnisse  finden  sich  bei  gleichen  Zeiteinteilungen  €  [wirklich? 
fragt  heute  gewiß  mancher  Leser  erstaunt,  auch  in  der  Zeit,  und  gar  zuerst  und 
ausschließlich  genannt,  wo  wir  sie  lieber  nur  im  Räume  suchen]  —  »und  beinahe  in 
allem,  was  Rhythmus,  was  Takt  und  Siibenmaß  heißt«.  »Der  Rhythmus  kommt 
nicht  selbständig  vor;  er  verbindet  sich  mit  sichtbaren  Bewegungen,  oder  bei  hör- 
baren Gegenständen  mit  den  Abwechslungen  teils  des  stärkeren  und  schwächeren, 
teils  des  höheren  und  tieferen  Tons  (iVlusiktons  oder  Vokaltons),  teils  eines  mannig- 
faltigen Geräusches  (z.  B.  Konsonanten).«  Lassen  wir  die  Anwendung  auf  das  Hör- 
bare, Tonkunst  und  Wortkunst,  beiseite,  so  scheint  Herbart  beim  Sichtbaren  nur 
an  die  Körperbewegungen,  etwa  im  Tanze,  gedacht  zu  haben.  Aber,  daß  sym- 
metrische Verhältnisse  auch  im  Rhythmus  drinstecken  sollen,  wäre  ein  wertvoller 
Fingerzeig,  zumal  wenn  er  etwa  erklären  soll,  weshalb  dieses  Gestaltungsprinzip  nicht 
selbständig  vorkomme.  Erwartungsvoll  lesen  wir  weiter:  »Der  wichtige  Gegensatz 
des  Oben  und  Unten  bringt  keine  Symmetrie,  wohl  aber  Sukzession  in  die  Auf- 
fassung alles  Architektonischen,  aller  Gestalten,  der  Pflanzen  und  Tiere.«  Merk- 
würdigerweise wird  der  JVlensch  nicht  erwähnt,  und  es  fehlt  die  Auskunft,  was  sich 
denn  statt  der  Symmetrie  vorfinde :  die  Antwort  liegt  gerade  für  uns  Menschen  in 
unserem  aufrechten  Körperbau,  im  Vergleich  des  Oben  und  Unten  mit  unserer 
eigenen  Gestalt,  nach  denen  wir  Pflanzen  und  Tiere  wohl  auch  beurteilen:  die 
Proportion,  —  statt  des  Gleichmaßes  eben  das  Verhältnis  ungleicher  Teile.  Da 
sind  wir  wieder  bei  der  »Wachstumsachse« ;  aber  Herbart  scheint  nur  die  suk- 
zessive Aufnahme  zu  kennen,  oder  vergißt  doch,  daß  nach  solcher  Vergleichung 
asymmetrischer  Abschnitte,  von  unten  nach  oben  oder  umgekehrt,  sowie  das  Ver- 
hältnis befriedigend  gefunden  wird,  auch  die  simultane  Zusammenfassung  zur  Ein- 
heit erfolgt.  Und  dies  feste  stillstehende  Verhältnis  haben  die  Architekten  ja  meistens 
im  Auge,  deren  Lehre  von  harmonischen  Proportionen  sich  bis  zum  Glauben  an  den 
Goldenen  Schnitt  verstieg.  Dann  aber  folgt  bei  Herbart  noch  eine  letzte  Beobachtung 
sogar  psychologischer  Art:  »Ursprünglich  strebt  der  Blick  nach  oben  und  sucht  in 
der  Spitze  oder  im  Gewölbe  die  Vereinigung  des  Angeschauten  zu  erreichen.«  Darin 
läge  ja  eine  Erklärung  für  das  Erstgeburtsrecht  der  aufsteigenden  Sukzession,  und 
das  käme  unserer  Wachstumsachse  zugute.  Bei  der  Spitze  denke  man  etwa  an  die 
eines  Obelisken,  einer  Pyramide,  eines  Glockenturms;  beim  Gewölbe  an  ein  gotisches 
Rippenkreuz  mit  hochsteigenden  Kappen  oder  den  Einblick  in  eine  Kuppel,  ver- 
gleiche damit  jedoch  den  Durchblick  durch  die  Rundöffnung  des  Pantheons  und 
unser  vorher  empfohlenes  Experiment  in  engem  fensterlosem  Turm  ohne  Dach. 
Das  Streben  nach  Vereinigung  des  Angeschauten  ist  eigentlich  wieder  ein  Hinweis 
auf  das  Bedürfnis  nach  simultanem  Einheitsvollzug,  wie  wir  es  beim  Prinzip  der 
Proportionalität  anerkannt  haben.  Herbart  hat  hier  seine  Anregungen  selbst  nicht 
zu  Ende  durchgedacht '). 

Angesichts  dieses  Tatbestandes  bei  dem  Philosophen  und  der  Verwirrung,  die 


mit  den  Stellennachweisen   versehen  sind,  so  daß   sich   der  Leser  bequem  an  der 
Hand  dieses  Hilfsmittels  orientieren  kann. 

')  Übrigens  ist  ja  bekannt,  daß  die  §§98  und  99  wie  Abschnitte  der  folgen- 
den erst  Zusätze  der  vierten  Auflage  von  1837  sind,  also  aus  demselben  Jahre,  in 
dem  Arnold  Ruges  Neue  Vorschule  der  Ästhetik  in  Halle  erschien. 

Zeitsclir.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  12 


1 78  BEMERKUNGEN. 


bei  Walze!  selbst  noch  vorherrscht,  bedeutet  es  doch  wohl  einen  Fortschritt  auch 
über  Gottfried  Sempers  Prolegomena  zu  seinem  Buch  über  den  »Stil  in  den  tek- 
tonischen  und  technischen  Künsten«  hinaus,  wenn  ich  Symmetrie  und  Reihe 
konsequent  voneinander  trenne,  je  nach  der  simultanen  oder  der  sukzessiven  Auf- 
nahme. Behalten  wir  ebenso  der  Proportionalität  das  stillstehende  Verhältnis  der 
Teile  vor,  wie  dem  Rhythmus  die  Lösung  des  festen  Bestandes  in  fließendem 
Vollzug,  so  hätten  wir  auf  beiden  Seiten  zwei  Oestaltungsprinzipien.  Die  einfache 
Reihung  entspricht  dem  durchgehenden  sich  gleichbleibenden  Zeitmaß,  bei  Schlegel, 
also  im  Sichtbaren  der  schlichten  Einteilung,  etwa  eines  Lineals  mit  Zentimetermaß, 
oder  der  Skala  eines  Thermometers,  die  wir  uns  durch  die  gleichmäßigen  Schläge  eines 
Metronoms,  Einschnitt  für  Einschnitt,  entstanden  denken  können.  Sowie  wir  darauf 
durch  eine  auffallende  Farbe  einen  Abschnitt  um  den  anderen  solcher  Maßeinteilung  her- 
vorheben, entsteht  die  alternierende  Reihe.  Und  diese  gehört  bereits  zu  den  rhyth- 
mischen Reihen,  ist  einfachster  Fall  der  Erfüllung  von  Schlegels  doppeltem  Erforder- 
nis für  das  Zustandekommen  des  R.  Die  fortgesetzte  Wiederholung  der  gleichbleibenden 
Alternanz  wird  jedoch  selber  wieder  zur  einförmigen  Regel.  Erst  ein  drittes  Element 
bringt  lebhafte  Abwechslung  durch  Reizkontraste.  Um  so  entschiedener,  wenn  dieser 
neue  Sinneseindruck  die  Kraft  hat,  seine  beiden  Nachbarn  zu  überbieten,  sich  als 
Dominante  aufzuwerfen  zwischen  dem  symmetrischen  Paar  von  Trabanten.  So  ent- 
steht die  gruppierende  Zusammenfassung,  durch  weitere  Subordination  nach  Inten- 
sitätsgraden, durch  Attraktion  und  Repulsion.  Aber  solch  ein  fühlbarer  Stillstand 
wird  im  Fortlauf  der  Reihe,  dem  sich  die  Gruppe  als  größerem  Ganzen  einfügt, 
wieder  aufgehoben;  der  Weitervollzug  der  durchgehenden  Richtung  löst  auch  solchen 
symmetrisch-proportionalen  Komplex  in  den  Rhythmus  auf.  Der  Rhythmus  ist  also 
immer  ein  Prinzip  der  sukzessiven  Auffassungsform,  in  dem  solche  Konzentrations- 
motive um  Anziehungspunkte  nur  wie  retardierende  Momente  noch  wirken  können. 
Die  Funktion  des  Rhythmus  ist  gerade  die  Erlösung  aus  dem  Beharren  in  die  Be- 
wegung des  Lebens.  Dort  das  Gesetz  der  Kristallisation,  hier  die  Freiheit  des 
organischen  Wachstums  und  Wandels,  der  Wechsel  in  den  Bewegungen. 

Walze!  aber  fragt  mich  am  Schlüsse  dieses  Abschnittes:  »Wozu  also  die  um- 
ständlichen Versuche,  den  Rhythmus  nur  für  die  dritte  Dimension  in  Anspruch  zu 
nehmen?«  Ich  kann  ihm  nichts  anderes  antworten,  als  was  überall  bei  mir  zu 
lesen  war.  Man  muß  sich  nur  das  Vorzugsrecht  klar  machen,  das  die  Richtungs- 
achse unserer  Betätigung  immer  unter  den  festliegenden  Koordinaten  genießt. 
Die  dritte  Dimension,  die  von  unserem  eigenen  Mittelpunkt  im  Körper  vorwärts  in 
die  Tiefe  des  Raumes  dringt,  ist  als  gewohnte  Richtung  unserer  Ortsbewegung,  alles 
Hantierens  und  Eingreifens  in  die  Außenwelt  schon  durch  das  Mitspiel  der  Willens- 
intention unseres  Ich  ausgezeichnet.  Der  fühlbare  Impuls  gehört  zum  Erfolg,  zum 
Durchhalten  der  Richtung,  ob  wir  die  gerade  Linie  als  kürzesten  Weg  zwischen 
Ausgangs-  und  Zielpunkt  nehmen,  oder  die  Schlangenlinie,  die  Spiralwindungen,  die 
mannigfaltigsten  Verschlingungen  von  Kurven  aller  Art.  Der  Richtungsverfolg 
verwandelt  schon  die  beiden  Dimensionen  einer  Ebene  in  die  dritte,  die  durch  sie 
mit  ihrem  lebendigen  Zuge  vereinheitlichend  hindurchgeht  und  jede  Konfiguration 
des  Bestandes  in  den  Rhythmus  der  Bewegungen  auflöst').  (Vgl.  diese  Zeit- 
schrift IX,  S.  95,  Anm.) 


')  Neuerdings  hat  auch  E.  R.  Baensch,  Über  die  Wahrnehmung  des  Raumes, 
1911  die  Notwendigkeit  des  Willensimpulses  für  das  Tiefensehen  hervorgehoben, 
aber  den  Konnex  mit  den  Erlebnissen  der  Ortsbewegung  im  Gehen  nicht  genügend 
erfaßt,  geschweige  denn  aufgewiesen. 


BEMERKUNGEN.  179 


I 


Nun  aber  hat  Walzel  es  nicht  allein  für  richtig  erachtet,  sondern  —  was  mir  er- 
staunh'cher  voricommt  —  auch  für  erlaubt  gehalten,  aus  meinem  Buche  »Kom- 
positionsgesetze in  der  Kunst  des  Mittelalters«  einen  ganzen  gesperrt  gedruckten 
Absatz  wörtlich  abzuschreiben  und,  obgleich  er  durchaus  nur  kunstgeschichtlichen 
Inhalts  ist,  meinen  theoretischen  Erörterungen  über  die  Strophe  voranzuschicken, 
so  daß  der  daraus  sich  ergebende  Zusammenhang  nun  gewaltsam  auf  den  Kopf 
gestellt  wird.  Das  geht  denn  doch  durchaus  nicht  an!  Gegen  solch  willkürliches 
Umspringen  mit  meinem  geistigen  Eigentum  muß  ich  um  so  entschiedener  Ver- 
wahrung einlegen,  als  dadurch  meine  Darlegung  zur  kunstwissenschaftlichen  Ter- 
minologie, die  auf  Allgemeingültigkeit  abzielt,  unter  einen  historisch  bedingten  Ge- 
sichtspunkt gerückt  wird,  von  dem  sie  nicht  beeinflußt  sein  darf.  Das  ist  also  auch 
ein  Eingriff  in  das  sinnvoll  methodische  Gefüge  des  Fachmannes.  Die  Anwendung 
der  vorbereiteten  Grundbegriffe  auf  die  konkreten  Beispiele,  d.  h.  die  örtlich  und 
zeitlich  bestimmten  Denkmäler,  soll  erst  im  geschichtlichen  Teil  des  Buches  erfolgen, 
dessen  erster  Halbband  nur  noch  den  Innenraum  des  romanischen  Kirchenbaues 
im  Abendland  enthält,  während  dessen  zweite  Hälfte  erst  den  Innenrauni  der  Gotik 
und  dann  den  ganzen  Außenbau  beider  Stile  bringen  muß.  Das  wird  kein  Sach- 
verständiger anders  erwarten  und  wird  solche  innere  Notwendigkeit  auch  bei  der 
Kritik  respektieren.  Das  ist  hier  nicht  geschehen,  und  der  so  entstellte  Bericht  W.s 
hat  auch  kundige  Leser  in  die  Irre  geführt. 

Der  ganze  Absatz,  den  Walzel  seinen  Hörern  zum  besten  gibt,  hat  mit  dem 
Thema  des  Vortrags  gar  nichts  zu  schaffen :  er  ist  eine  interne  Angelegenheit  für 
meine  Fachgenossen.  Was  soll  diese  »Wiedergabe  der  wichtigsten  Behauptung, 
die  der  Kunsthistoriker  verficht«,  in  einem  Exercitium  logicum  des  Literaturforschers, 
der  sich  mit  kunstgeschichtlichen  Begriffen  bereichern  will?  Der  absichtlich  im  Druck 
hervorgehobene  Passus  steht  bei  mir  ausgerechnet  ganz  am  Schluß  der  Grundlegung: 
wie  ein  Eintrittsportal  für  den  Durchgang  in  die  Welt  individueller  Gestaltungen 
der  Geschichte.  Jeder  Satz  ist  ein  Wegweiser.  Und  der  erste  führt  sogar  abseits, 
nur  kurz  vorher  Berührtes  zusammenfassend,  auf  ein  Gebiet,  dem  in  meinem  Buche 
nicht  weiter  nachgegangen  werden  soll  (S.  2).  »Der  streng  geschlossene  Strophen- 
bau ist  das  entscheidende  IVlerkmal  des  oströniischen  Kirchenbaues,«  nachdem,  wie 
jeder  Kundige  weiß,  auch  im  Orient  ursprünglich  die  Basilikenform  verbreitet  genug 
gewesen  war.  Die  Anwendung  meiner  Methode  auf  das  »Neuland  der  Kunstge- 
schichte«, das  ich  nicht  aus  eigener  Anschauung  kenne,  habe  ich  damit  erklärter- 
maßen den  anderen  Fachgenossen  überlassen,  die  sich  der  Erforschung  jener  Ge- 
biete gewidmet  haben.  Ohne  jeden  Versuch,  ihnen  etwa  meine  Auslegung  des 
schöpferischen  Vorgangs  oder  des  genießenden  Erlebnisses  aufzudrängen,  bleibt  es 
von  vornherein  ihrem  Ermessen  anheimgestellt,  wie  weit  sie  dies  heuristische 
Prinzip  der  rhythmischen  Analyse  verwerten  zu  können  glauben  oder  nicht.  Wie 
kommt  danach  ein  Literaturhistoriker  dazu,  solche  Anwendung  trotzdem  herein- 
zuzerren  und  sie  zur  Diskussion  zu  stellen,  wo  er  vor  Uneingeweihten  spricht?  — 
Mein  nächster  Satz  besagt:  »Die  immer  erneute  Durchführung  der  regelmäßigen 
Reihe  dagegen,  das  Gliederungsprinzip  des  Langhauses  in  seinem  ursprünglichen 
Wesen  als  Wandelbahn,  entschied  den  mannigfaltigen  Entwicklungsgang  der  Rhyth- 
mik des  Abendlandes,  von  den  Anfängen  der  romanischen  Basilika  bis  zur  gotischen 
Kathedrale.«  Das  ist  also  der  Leitfaden  für  den  Gang  durch  den  zuweilen  laby- 
rinthisch verschlungenen  Reichtum  der  auf  uns  gekommenen  Denkmäler  auf  dem 
Boden  der  westeuropäischen  Kultur,  mit  denen  allein  ich  mich  beschäftigen  will, 
weil  ihre  Chronologie  wenigstens  einigermaßen  gesichert,  ihr  Schicksal  im  Lauf  der 
Zeiten  sorgfältiger  durchforscht  ist,  als  es  anderswo  bis  dahin  erreichbar  gewesen. 


180  BEMERKUNGEN. 


Der  Kundige  weiß,  wie  viel  Anläufe  zu  »Konzentrationsmotiven",  nicht  ausgemachten 
Zentralanlagen  allein,  auch  hier  sich  eingestellt  haben.  Davon  braucht  auf  dem 
Wegweiser  nichts  gesagt  zu  werden;  solche  Überraschungen  für  den  Laien  mögen 
der  Führung  durch  die  Bauwerke  selbst  überlassen  bleiben.  Unvorbereitet  wird 
der  Leser  sich  ihnen  nicht  gegenüber  finden,  wenn  er  den  Abschnitt  mit  jenem 
Schlagwort  als  Titel  in  meiner  Grundlegung  einmal  beachtet  hat.  Wenn  also  Walzel 
ein  Bedeniten  darin  findet:  ein  Begriff  der  Verslehre  sei  nur  für  die  erste  Stufe  be- 
nutzt worden,  warum  nicht  gleichfalls  für  die  zweite?  warum  nicht  auch  hier  »ein 
eindeutiger  metrischer  Begriff«  ?  —  so  kann  ich  ihm  nur  antworten,  daß  solch  ein 
historischer  Parallelismus  mit  der  Verskunst  an  dieser  Stelle  noch  gar  nicht  in  meiner 
Absicht  lag ').  Ich  habe  mich  nicht  anheischig  gemacht,  dem  Literaturhistoriker 
oder  dem  Ästhetiker  der  Poesie  Belehrung  darzubieten.  Es  ist  sein  Irrtum,  diese 
Arroganz  bei  mir  vorauszusetzen.  Sein  Wunsch,  der  ihm  eingibt,  überall  Analogien 
zu  suchen,  hat  ihn  zu  solcher  Annahme  verleitet.  Seine  Angabe  (S.  17),  meine 
Studien  wendeten  die  genauen  Bestimmungen  des  Rhythmus,  die  von  der  Verslehre 
herkämen,  auf  die  Erforschung  des  Rhythmus  in  Bauwerken  an,  die  Verslehre 
gewähre  mir  die  Möglichkeit,  Schichten  in  der  Entwicklung  zu  trennen,  ist  eine 
falsche,  und  zwar  in  doppelter  Beziehung.  Einmal  gebe  ich  eine  ganz  andere  und 
vielfach  neue  Begründung  der  Lehre  vom  Rhythmus  überhaupt,  indem  ich  dabei 
auf  den  Gang  des  Menschen  zurückgehe,  und  zweitens  ist  es  nicht  die  Poetik,  die 
mir  die  Freilegung  tiefgreifender  Unterschiede  zwischen  Menschengenerationen  und 
Volkscharakteren  im  Sinne  der  differentiellen  Psychologie  ermöglicht,  sondern  es  ist 
die  Rhythmik  der  Schrittbewegungen,  der  Tastbewegungen,  der  Blickbewegungen 
mit  allem,  was  sich  bewußt  oder  unbewußt  im  künstlerischen  Schaffen  daran  an- 
schließt, d.h.  ein  Tatsachenkomplex,  der  uns  in  den  erhaltenen  Werken  als  Aus- 
fluß der  Ausdrucksbewegungen  noch  heute  nachweisbar  entgegentritt  und  im 
ästhetischen  Erlebnis  durch  alle  Künste  hin  mit  urkundlicher  Treue  sich  offenbart, 
von  der  Ornamentik  angefangen,  deren  Prinzipien  allen  gemeinsam  sind. 

Deshalb  fühle  ich  mich  auch  garnicht  betroffen  durch  den  Tadel,  den  der  hier 
einseitig  auf  Erhellung  der  bildenden  Künste  durch  die  Formen  der  Poetik  erpichte 
Kritiker  gegen  meinen  letzten  Satz  vorbringt.  Dieser  lautet:  »Die  Abkehr' von  dem 
Bewegungsrhythmus  als  treibender  Kraft  der  ganzen  Raumkomposition  (des  mittel- 
alterlichen Kirchengebäudes)  zur  Auflösung  dieses  Gestaltungsprinzips  (d.  h.  des 
Rhythmus),  —  zur  Beruhigung,  zum  Stillstand  der  Schau,  und  damit  zum  Einraum, 
bedeutet  die  Wendung  zur  Renaissance.«;  Diese  Charakteristik  eines  all- 
mählichen Übergangs  durch  die  sogenannte  Spätgotik,  die  wir  in  unserem  Lande 
zutreffend  als  deutsche  »Sondergotik-:  bezeichnen  mögen,  gleichwie  die  italienische 
im  Trecento  so  heißen  darf,  —  dieser  letzte  Wegweiser  deutet  über  das  MittelaUer 
hinaus,  dessen  Kunstgesetzen  meine  Forschung  diesmal  allein  gewidmet  ist.  Des- 
halb wollen  meine  Winke  hier  nur  andeuten,  wie  sich  die  weitere  Entwicklung 
dazu  stellt,  zumal  da  ich  in  anderen  Schriften  ausführlich  genug  davon  gehandelt 
habe.  Walzel  meint  nun  diese  meine  Aussage  über  Gotik  und  Renaissance  dahin  aus- 
legen zu  dürfen,  sie  involviere  den  »Gegensatz  von  Bewegtheit  und  Ruhe«.  Dieser 
Gegensatz  aber  läge  auf  ganz  anderem  Felde,  als  die  gesamte  Lehre  vom  Rhythmus 
der  Baukunst.  »Bewegtheit«  und  »Beruhigung«  seien  Begriffe  seelischen  Verhaltens, 
»rhythmische  und  arhythmische  Bewegung  sind  mathematische  Begriffe«.  Darauf 
muß  ich  erwidern:  mathematische  Begriffe  gehören  überhaupt  nicht  in  die  Ästhetik, 


')  Ich   kann   also  durchaus   nicht  einräumen,  was  O.  Wulff  in  der  Dtsch.  Lit.- 
Zeitg.  1918,  S.  1016,  zugestehen  will,  und  weise  auch  Strzygowskis  Tadel  zurück. 


BEMERKUNGEN.  181 


ebensowenig  wie  die  Abstral<tionen  der  Physik,  oder  die  mechanistischen  Grund- 
hypothesen der  Naturwissenschaft.  Dann  aber  kann  ich  schon  die  vorangeschickte 
Interpretation  nicht  akzeptieren ;  denn  ich  spreche  zunächst  von  objektiven  Er- 
scheinungen im  Bauwerke,  die  wir  in  der  Kunstwissenschaft  mit  jenen  Ausdrücken 
zu  benennen  pflegen,  die  ich  in  aller  Kürze  auch  hier  gebraucht  habe,  wo  ich  mehr 
nicht  vorwegnehmen  wollte.  Mit  dem  letzten  Teil  des  Satzes  setzt  die  Wendung 
zu  den  subjektiven  Faktoren  ein,  deren  Ausdruck  wir  in  der  Formensprache  und 
Raumgestaltung  mit  unseren  vergleichenden  Mitteln  verstehen  lernen:  »zur  Beruhi- 
gung, zum  Stillstand  der  Schau«.  Walzels  Einwand,  von  einem  Stillstand  der  Schau 
könne  angesichts  der  Renaissancebauwerke  (wohlgemerkt,  ich  spreche  von  der  »Wen- 
dung zur  Renaissance«  als  einem  bevorstehenden  Stil,  also  noch  immer  von  spät- 
gotischen oder  sondergotischen  Innenräumen !)  und  dürfe  keine  Rede  sein!!  Wer 
muß  das  wissen,  der  Kunsthistoriker  von  Fach,  —  oder  der  Literaturhistoriker,  der 
damit  seine  Finger  an  unsere  Terminologie  legt,  die  er  selbst  als  überlegen  preist. 
Nun,  dieser  ganze  künstlich  vorbereitete  Einwand  beruht  auf  einem  völligen  Miß- 
verständnis meiner  freilich  zurückhaltenden,  aber  eben  deshalb  sorgfältig  erwogenen 
Worte.  Die  historischen  Symptome,  die  von  der  Raumkomposition  der  gotischen 
Kathedrale  als  eines  großen  dreigliedrigen  Ganzen,  das  durch  den  Richtungsgegen- 
satz zwischen  Chor  und  Langhaus  im  Zusammenstoß  unter  der  Vierung  und  die 
seitliche  Ausladung  der  ebendort  entspringenden  Kreuzarme  zustande  kommt,  all- 
mählich zur  Bevorzugung  des  Einraumes,  etwa  in  einem  Saalbau  gar,  hinüberführen, 
diese  Symptome  der  inneren  Entwicklung  sind  natürlich  nur  einem  Kenner  der 
Architekturgeschichte  geläufig,  der  auch  einigermaßen  mit  der  Kirchengeschichte 
einerseits  und  mit  der  psychologischen  Raumästhetik  vertraut  ist.  Ich  weiß  nicht, 
wie  weit  ich  dies  in  dem  Urteil  bei  Walzel  voraussetzen  darf,  oder  vielmehr  auf 
fremde  Quellen  zurückführen  muß.  Sollte  er  sich  etwa  bei  einem  Vertreter  der  Bau- 
kunst am  Polytechnikum  Rats  erholt  haben,  wie  ich  nach  der  Praemunitio  auf  S.  17 
unten  ')  und  der  Berufung  auf  mathematische  Begriffe  vermuten  möchte,  so  ist  das 
sicher  einer  von  jenen  gewesen,  die  weder  zur  Ästhetik  noch  zur  Psychologie  irgend 
welches  Verhältnis  haben,  sondern  auch  unsere  Philosophen  der  klassischen  Blüte- 
periode bei  jeder  Gelegenheit  zu  verhöhnen  lieben.  Ich  spreche  hier  nicht  zu  solchen 
Kritikern,  sondern  versuche  nur  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  zu  dienen. 

Die  Abkehr  vom  Bewegungsrhythmus  als  der  treibenden  Kraft  in  der  Longi- 
tudinalachse  jener  gotischen  Kirchenbauten  spricht  sich  in  unverkennbaren  Merk- 
malen der  Beruhigung  aller  Verhältnisse  (vgl.  oben  »Proportion«  zu  Herbart),  wie 
im  Zuwachs  des  Materialaufwandes  der  Bauglieder  aus.  Wir  pflegen  auch  vom 
»Tempo«  in  der  Abfolge  dieser  Glieder  zu  reden,  also  von  Verlangsamung  hier, 
wie  bei  der  Hochgotik  von  Beschleunigung.  Stellenweise  begegnet  schon  die  Ein- 
schaltung größerer  Flächen,  breiteren  Wandverschlusses,  schwererer  Massenformen. 
Der  entscheidende  Schritt  aber  geschieht  an  einer  bestimmten  Stelle:  nicht  im  Lang- 
haus, der  ursprünglichen  Wandelbahn  des  gläubigen  Kirchenbesuchers  oder  der 
feieriichen  Prozessionen  an  hohen  Kirchenfesten,  sondern  er  ergibt  sich  erst  am 
Ende  dieser  inneren  Wallfahrtsstraße,  eben  unter  der  Vierung,  angesichts  des  Zieles, 
beim  Einblick  in  das  Presbyterium  mit  dem  Hochaltar  und  auf  die  Kultushand- 
lung der  Geistlichen  an  dessen  Stufen.  Hier  entscheidet  sich  das  wachsende  Über- 
gewicht der  optischen  Eindrücke,  zu  dem  das  gotische  Gesamtkunstwerk  besonders 


')  Schon  S.  13  macht  sich  W.  zum  Sprachrohr  meiner  erklärten  Gegenfüßler 
unter  den  Architekten,  deren  Urteil  über  meine  Schriften  zur  Baukunst  auch  auf 
die  meiner  Schüler  ausgedehnt  wird,  als  läge  da  Ansteckung  vor! 


182  BEMERKUNGEN. 


durch  seinen  farbigen  Idealraum  im  Lichtgaden  die  Augen  und  die  Geister  erzogen 
hat.    Beim  Übergang  von   dem  verschiebbaren  zum  festen  Standpuni<te,   eben  zum 
Stillstand  der  Schau,  die  den  vor  ihr  liegenden  unbetretbaren  Raumteil  nur  optisch 
und   infolge  dessen  als  Bild   auffassen   lernt,   stellt  sich   der  Umschwung  ein,  der 
dann  erst  diese  neue  Errungenschaft  in  der  »Geschichte  des  Sehens«  (wie  Wölfflin 
sagen   würde)   auf   die  anderen   möglichen   Punkte   ruhigen   Verweilens   überträgt. 
Natürlich   bleibt  die   dem   Menschen  freistehende  Alternative  simultaner  oder  suk- 
zessiver Auffassung  der  Raum-   und  Körperformen   bestehen.     Beim  Rückblick   des 
heimgesandten  Kirchgängers  nach  der  Messe,  also  durch  das  Schiff  des  Langhauses 
bis   zum  westlichen   Hauptportal   hin,   mag  z.  B.  noch   lange  bei  dem   motorisch- 
mimischen Typus  die  sukzessive  Auffassung  vorwalten,  während  der  visuell-kontem- 
plative Typus  bereits  zur  Bildschau  des  perspektivischen  Ganzen  gelangt.    Aber  es 
kommt  anderseits    auch   auf  die  Eigenart  eben  dieser  formalen   Gestaltungen   an, 
ob   sie  mehr  den  Anreiz  zur  einen  oder  zur  anderen  Aufnahme  durch  das  Augen- 
paar wie  das  Körpergefühl  überwiegen  läßt.    Da  erzählen  uns  ja  die  quergeiegten 
Rechtecke  des  Rippengewölbes,   die  Jochweiten  in  ihrer  Aufeinanderfolge,  bis  zur 
Rückkehr  zu  quadratischen,  nun  mit  Sternbildungen,  auch  nur  schematisch  gezeich- 
net nebeneinander  gebracht,  schon  eine  ganze  Geschichte  des  Strophenbaues.    Die 
Abkehr  von  dem  Nacheinander  im  rhythmischen  Wechsel  »bedeutet  die  Wendung 
zur  Renaissance«  hinüber.    Das  ist  mittlerweile  eine  anerkannte  Tatsache  der  tiefer 
schürfenden  Kunstgeschichte.    Die  Beobachtungen  differentieller  Psychologie,  die  zu 
solcher  Erkenntnis  führen,  sind  freilich  noch  intimere  Angelegenheiten  eines  engen 
Kreises   von  Fachgenossen,   mit  denen   ich   mich   einig  weiß,   auch  wenn  die  Mei- 
nungen noch  nicht  übereinstimmen.    Solange  die  Verwandlungen  des  Raumgebildes, 
von  denen  hier  die  Rede  ist,  noch  im  Mittelalter  spielen,  gehen  sie  vielleicht  den 
Musikhistoriker  vorerst  noch  näher  an,  noch  unmittelbarer  wenigstens  als  den  Lite- 
rarhistoriker, bei  dem  stets  der  poetische  Vorstellungsinhalt  und  sein  vielseitig  mo- 
tivierter Zusammenhang  als  bunte  Phantasiewelt  sich  einschiebt.    Wenn  man  weiß, 
was  die  Kunstlehre  des  heiligen  Augustin  für  die  ganze  Entwicklung  der  christlichen 
Kunst  im  Abendland  bedeutet,  so  begreift  man,  daß  auch  Architektur  und  Bildkom- 
position immer  von  der  zeitlichen  Anschauungsform  ausgehen,  daß  also  die  i^eihung 
und  der   Rhythmus   zu  den   wirksamsten   Grundbegriffen   für  das   Verständnis  des 
Mittelalters   gehören,  wie  daß   Ornamentik   und   Kleinkunst  aller  Art  oft  besseren 
Aufschluß  über  die  Sinnesart  jener  Zeiten  gewähren,  als  die  sogenannten  Anfänge 
des  monumentalen  Stiles,  in   deren  Fragestellung   schon   ein  Rest  von  Vorurteilen 
klassischer  Archäologie  den  freien  Blick  behindert.   Ich  weiß  auch,  wie  weit  der  Geist 
der  Gotik  noch  in  die  italienische  Renaissance  hineinreicht,  besonders  im  Quattro- 
cento,  und   brauche   nur  an  die   Kompositionsgesetze   der  Reliefs   eines   Lorenzo 
Ghiberti  oder  der  Kirche  Santo  Spirito  von  Filippo  di  Ser  Brunellesco  zu  erinnern, 
um  begreiflich  zu  machen,  was  ich  meine. 

Auch  über  der  Tür  meines  Seminars  steht  so  gut  wie  bei  Pythagoras  einst 
oder  Piaton  geschrieben:  M-riSei;  äYeouixeTpvjxo«  tlzizut,  d.  h.  zu  deutsch:  Wer  keinen 
Raumsinn  im  Leibe  hat,  bleibe  nur  draußen!  Wenn  aber  Walzel  als  Fachmann  der 
Literaturgeschichte  wider  mich  aussagt,  meine  »Begriffsverwirrung«  setze  schon  bei 
der  Erörterung  der  Strophe  ein,  dieser  Begriff  sei  »nicht  zu  voller  Klarheit  heraus- 
gearbeitet«, so  frage  ich,  als  ehemaliger  Germanist  und   Mitschüler  Erich  Schmidts  '), 


')  Vielleicht  interessiert  es  die  Kantgesellschaft,  wenn  ich  mich  daneben  dank- 
bar zur  Philosophie  bekenne,  da  ich  im  Seminar  bei  Ernst  Laas  in  Straßburg 
die  Bekanntschaft  von  Hans  Vaihinger  und    Paul  Natorp   gemacht   habe,  die   sich 


BEMERKUNGEN.  183 


erstaunt  nach  der  Begründung  solchen  Vorwurfs.  Und  was  bekomme  ich  zu  hören? 
»Sichtlich  meint  S.  antil<e  reimlose  Strophen.  Daß  sie  von  neueren  gereimten 
Strophen  sich  tief  und  grundsätzlich  unterscheiden,  brauche  ich  einem  Forscher, 
der  so  fein  eine  antike  Strophe' künstlerisch  zu  erfassen  weiß,  kaum  noch  zu  er- 
läutern«. Freilich  kaum!  Aber  die  Ungewißheit,  wie  weit  ich  in  meiner  Erörterung 
(S.  77—91)  antike  reimlose  Strophen  oder  die  gereimten  des  Mittelalters  im  Abend- 
land meine,  hat  Walzet  nur  wieder  sich  selbst  zu  verdanken,  nachdem  er  jenen 
kunsthistorischen  Orakelspruch  am  Schluß  meiner  Grundlegung  herausriß  und  vor 
die  Behandlung  der  Strophe  stellte,  so  daß,  wie  gesagt,  erst  durch  diesen  Willkürakt 
die  Unterordnung  unter  den  historischen  Gesichtspunkt  verschuldet  ward.  An  seiner 
richtigen  Stelle  muß  der  Begriff  der  Strophe  natürlich  beide  Möglichkeiten  um- 
fassen: ob  reimlos  oder  gereimt,  ob  antik  oder  mittelalterlich,  geschweige  denn 
modern,  gilt  da  noch  gleich  viel,  und  die  tiefgehenden  Unterschiede  bleiben  noch 
außer  Betracht,  je  mehr  es  gilt  das  Gemeinsame  hervorzukehren  und  festzuhalten. 
Und  da  bin  ich  mir  bewußt,  diese  Wesensbestimmung  der  Strophe  gründlicher  und 
abschließender  herausgearbeitet  zu  haben,  als  sie  mir  von  Literarhistorikern  geboten 
ward.  Mir  scheint,  Walzel  hat  sich  überhaupt  nicht  danach  umgesehen,  sondern 
nur,  was  sichtlich  in  die  Augen  sprang,  herausgefischt:  das  einzige. vorgeführte 
Schema.  Nur  als  Beispiel  für  eine  besonders  geschlossene  Einheit,  wie  sie  mir 
später  für  den  Vergleich  mit  dem  Strophenbau  im  Kirchenraum  dienen  soll,  habe 
ich  zur  Demonstration  ad  oculos  die  sogenannte  alkäische  Strophe  gewählt,  ohne 
daß  es  mir  auch  hier  darauf  ankam,  die  ganz  individuelle  Erfindung  dieses  Griechen 
etwa  mit  authentischer  Genauigkeit  festzuhalten.  Über  ihre  ganz  freie  Zurecht- 
machung für  meinen  Zweck  und  ihre  anschauliche  Übertragung  in  räumliche  Ver- 
hältnisse will  ich  an  anderer  Stelle  noch  einmal  ausführlicher  Rechenschaft  geben. 
Auch  da  mußte  ich  mich  für  ein  Schema  der  Disposition  im  Räume  entscheiden. 
Hier  sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  schon  die  paarigen  Glieder  zu  Anfang  nach 
Art  der  »Stollen«  parallel  zu  einander  aufgestellt  worden,  und  daß  die  Schlußzeile 
als  »Abgesang«  bezeichnet  ist;  mithin  war  die  Analogie  zwischen  den  einzelnen 
Bestandteilen  des  antiken  Vorbildes  und  denen  viergliedriger  Gefüge  des  Mittel- 
alters genügend  hervorgehoben,  um  erkennen  zu  lassen,  daß  da  an  beides  zu  denken 
sei.  —  Bleibt  nur  die  strittige  Frage,  wie  dann  die  dritte  Zeile  betrachtet  werden 
müsse.  Sie  muß  jedenfalls  über  die  beiden  ersten  gleichlaufenden  oder  gleichstehen- 
den Glieder  hinausgehen,  also  den  eigentlichen  Körper  des  ganzen  Komplexes  bilden, 
vielleicht  mit  der  letzten  Zeile  zusammen  wie  Rumpf  und  Kopf,  oder  umgekehrt 
wie  Kopf  und  Schweif,  den  Hauptbestandteil  ausmachen.  Dann  ist  entweder  diese 
Mitte  schon  der  eigentliche  Kern,  und  dann  sicher  ein  Aufschwung  zur  Höhe,  oder 
erst  die  vierte  Zeile  gibt  die  letzte  Zuspitzung,  die  Pointe,  zugleich  mit  dem  Ab- 
schluß. Zweifellos  ist  mehr  als  eine  Möglichkeit  vorhanden.  Geflissentlich  aber 
bin  ich  Vergleichen  mit  deutschen  Volksliedformen  (zumal  in  moderner  Nachahmung 
bei  Heinrich  Heine)  wie  mit  Sonetten  und  Canzonen  aus  dem  Wege  gegangen; 
denn  dazu  wird  sich  die  Gelegenheit  später  oft  genug  bieten,  wo  eben  Gebilde 
zeitgenössischer  Metrik  am  Platze  sind.  Auch  Walzel  sieht  ja  ganz  richtig  ein, 
ich  bleibe  »bei  dem  Allgemeinbegriff  Strophe  stehen«.  Wenn  er  das  Warum  nicht 
versteht,  so  verurteilt  er  mit  dieser  zutreffenden  Bezeichnung  meines  Verfahrens 
zugleich  das  seinige,  darüber  abzuurteilen. 

Am  Schluß  holt  er  sich  einen  bescheidenen  Wink,  über  die  Vergleichbarkeit 


vielleicht    noch    erinnern,     welche    damals     unvergleichliche    Schulung    dort    zu 
holen  war. 


184  BEMERKUNGEN. 


solches  viergliedrigen  Baues  mit  dem  rhythmischen  Biidungsgesetz  einer  Palmette, 
aus  der  Anmerkung  unter  dem  Strich  in  den  Haupttext  seines  Vortrags  herauf, 
um  sich  daraus  einen  glänzenden  Abgang  als  Redner  aufzubauschen.  VielleicW 
schaut  er  sich  doch  einmal  meine  »Anfangsgründe  jeder  Ornamentik«  (in  dieser  Zeit- 
schrift V,  2,  3)  an,  um  sich  darauf  zu  besinnen,  ob  nicht  auch  solche  »wechsel- 
seitige Erhellung  der  Künste  wissenschaftlicher  Prüfung  standhält«.  Ich  wundere 
mich,  daß  dieser  Kritiker  keine  Ahnung  davon  zu  haben  scheint,  wie  sehr  die 
Grundgesetze  formaler  Bildungen  allen  Künsten  und  nicht  nur  denen  »höheren 
Ranges«  gemeinsam  sind,  und  daß  sich  oft  nur  der  Maßstab  oder  das  Medium  ver- 
ändert, in  denen  durchgehende  Prinzipien  zur  Erscheinung  kommen  ').  Ein  solcher 
Neuling  auf  mir  heimischem  Boden  findet  den  Mut,  mir  Unklarheit,  ja  einen  ge- 
fährlichen Hang  zu  Verdunkelungen  vorzuwerfen.  Ich  habe  kein  Verlangen  mehr 
nach  seinen  »Erhellungen«  der  bildenden  Künste. 

Das  soll  uns  indessen  nicht  abhalten,  etwas  Besseres  zu  tun,  d.  h.  das  Qe- 
staltungsprinzip  des  Rhythmus  in  den  Raumgebilden  der  Architektur  noch 
etwas  weiter  zu  verfolgen,  als  durch  die  geschichtlichen  Perioden,  die  bisher  schon 
berührt  werden  mußten.  Unter  der  Überschrift  »Die  künstlerische  Bewältigung  des 
Raumes«  hat  soeben  ein  glücklich  erleuchteter  Meister  wie  Fritz  Schumacher  den 
Grundbegriff  des  Rhythmus  in  diesen  Blättern  wieder  aufgenommen  (XIII,  4).  Er 
fordert  zunächst,  in  Randbemerkungen  zu  Wölfflins  Terminologie  von  der  Malerei 
her,  die  Durchfühung  der  Gesichtspunkte  bis  zur  städtebaulichen  Aufgabe. 
Das  bringt  wieder  die  große  Dreiteilung  der  Baukunst  ins  Gedächtnis  zurück,  die 
ich  18Q3  in  meiner  Leipziger  Antrittsrede  aufgestellt  und  für  die  schöpferische  Tätig- 
keit der  Gegenwart  verfochten,  dann  aber  1897  auch  in  Renaissance,  Barock  und 
Rokoko  an  geschichtlichen  Beispielen  konsequent  verfolgt  habe.  Erst  der  Innen- 
raum, denn  die  Architektur  ist  vor  allem  Raumgestalterin ;  dann  der  R  a  u  m  k  ö  r  p  e  r, 
die  plastisch  abgeschlossene  Oesamtform,  die  in  den  allgemeinen,  zunächst  un- 
bezeichneten  Raum,  auf  die  Erdoberfläche  gesetzt  wird;  endlich  die  Auseinander- 
setzung solches  Baukörpers  mit  anderen  in  seiner  Nachbarschaft,  der  weitere 
Zusammenhang  mit  derUmwelt,  in  Straßenzügen  und  Platzanlagen,  draußen 
in  freier  Natur  oder  im  Innern  einer  Stadt,  eines  Dorfes,  einer  Kolonie,  genug  die 
Raumgestaltung  im  großen,  die  wir  unter  dem  Kapitel  »Städtebau«  oder  »Kultur- 
stätten« des  Regnum  hominis  begreifen. 

Daß  Wölfflin  in  seinen  kunstgeschichtlichen  Leitbegriffen  bei  der  architek- 
tonischen Schöpfung  als  Einzelgebilde  stehen  bleibt,  das  (meint  Schumacher  mit 
Recht)  versteht  sich  doch  nicht  etwa  von  selbst.  »Wir  sind  heutzutage  geneigt,  als 
einen  der  wichtigsten  Gesichtspunkte  zu  betrachten,  wie  ein  Werk  der  Baukunst 
sich  in  das  Gefüge  seiner  baulichen  Umgebung  einpaßt,  oder  —  richtiger  gesagt  — 
das  Gefüge  eines  Bautenzusammenhanges  erzeugt.«  Es  sei  erlaubt,  aus  diesen  Aus- 
führungen was  ich  brauche  wörtlich  herauszuheben,  damit  es  hier  den  Abschluß 
bilde. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  eine  Stadtanlage  mittelalterlichen  Charakters,  »die 
durchweg  auch  die  Anlage  der  Frührenaissance  bleibt«,  so  wickelt  sich  die  Wand 
einer  Straße  oder  eines  Platzes  für  den  entlangwandelnden  Betrachter,  künstlerisch 
genommen,  wie  ein  Bildstreifen  ab,  oder,  wie  ich  meinerseits  lieber  sage,  wie  ein 


>)  Da  müssen  notwendig  z.  B.  mit  einem  Dreiblatt  die  Terzine,  mit  einem 
Vierblatt  der  Vierzeiler,  mit  einem  fünfblättrigen  Blumenkelch  der  fünfgliedrige  Kom- 
plex aus  Tektonik  und  Poesie  ebenso  verglichen  werden  wie  mit  der  statuarische« 
Gruppe. 


BEMERKUNGEN.  IgS 


Relieffries.  Denn  die  wohlangelegte  Straße  kommt  »diesem  Prozeß  der  Ab- 
wici<elung  der  Einzeleindrücke«,  d.  h,  wie  ich  hinzufügen  möchte:  dem  Ablesen 
der  Reihenfolge  bei  stetig  verschiebbarem  Standpunkt  gemäß ,  —  »durch  leise 
Krümmungen  und  Biegungen  entgegen.  Ähnlich  ist  es  beim  Platze«,  —  eben, 
wenn  wir  uns  den  Menschen  in  bequemer  Sehweite,  eigentlich  des  Nahsehens,  im 
Entlangschreiten  an  den  abschließenden  Seiten  des  Platzes  hin  vorstellen,  noch 
nicht  in  weiterem  Abstand,  gegenüber  dem  Prospekt  des  Ganzen.  »Noch  ist  der 
Luftraum,  den  die  Gebäude  umschließen,  als  Raum  nicht  empfunden.«  Das  heißt 
in  Schumachers  Sinne  noch  genauer  bezeichnet:  noch  nicht  als  Bildraum,  nicht  als 
optische  Einheit  gefühlt  und  ergriffen.  »Das  negative  Gebilde,  das  die  materiellen 
Körper  mit  ihren  Außenwänden  umschließen,  beginnt  erst  in  der  klassischen  Zeit 
[soll  heißen:  Hochrenaissance]  gefühlt  zu  werden  und  wird  erst  in  der  Periode  des 
Barock  der  Angelpunkt  des  künstlerischen  Empfindens.«  In  dieser  Zeitepoche  erst 
wird  der  neue  »Raumbegriff«  gewonnen,  ein  Raumbegriff,  der  außerhalb  der  einzelnen 
individuellen  Schöpfung  liegt  [d.  h.  über  den  Einzelbau  und  eine  Reihe  oder  Gruppe 
von  solchen  hinausgreift]  —  ein  Begriff,  der  die  einzelne  Leistung,  wenn  man  will, 
unfreier  werden  läßt,  die  Architektur  von  ihren  größten  Gesichtspunkten  gesehen 
aber  erst  völlig  frei  macht.«  Das  ist  vortrefflich  gesagt  und  schlagend  in  seiner 
Bedeutung  für  den  inneren  Umschwung  des  Schaffens  hingestellt.  Es  ist  der  Über- 
gang zu  dem,  was  wir  im  Sinne  iVlichelangelos  die  Komposition  im  Großen  ge- 
nannt haben,  oder  im  Sinne  der  malerisch  gesonnenen  Nachfolger  als  Wirkenszu- 
sammenhang bezeichnen  können. 

»Die  Baukunst  setzt  nicht  mehr  bloß  Massen  in  die  Unendlichkeit  des  Raumes 
und  fängt  in  deren  Innern  einzelne  Stücke  des  Raumes  wie  in  kleinen  Kapseln 
ein,  —  sie  beginnt  die  Unendlichkeit  des  Raumes  selber  bewußt  zu  gestalten.«  Das 
klingt  an  die  Tonart  meines  Schriftchens  über  das  Wesen  der  architektonischen 
Schöpfung  an,  und  könnte,  dorthin  versetzt,  die  Brücke  zwischen  zwei  Abschnitten 
der  oben  erwähnten  Disposition  bilden.  Und  vollends:  man  darf,  »wenn  man  die 
Worte  richtig  auffaßt,  sagen,  daß  aus  einer  zweidimensionalen  Empfindung  erst 
jetzt  eine  dreidimensionale  erwächst«.  Freilich,  wenn  man  die  Worte  recht  ver- 
stehen will !  denn  das  verstanden  die  tonangebenden  Architekten  und  Kritiker  der 
Fachliteratur  um  1893  noch  nicht,  oder  wollten  es  aus  dem  Munde  eines  Univer- 
sitätslehrers nicht  hören.  Sie  hätten,  mit  ihrer  Feindschaft  gegen  alle  Philosophie, 
damals  in  solcher  Formulierung  nur  abstrakte  Phrasen  gefunden,  und  vielleicht  stand 
es  noch  1905  nicht  besser,  als  ich  mit  meinen  Grundbegriffen  der  Kunstwissenschaft 
für  die  Jahrhunderte  des  Übergangs  vom  Altertum  zum  Mittelalter  herauskam. 
Inzwischen  erst  hatte  ich,  in  den  Beiträgen  zur  Ästhetik  der  bildenden  Künste,  zur 
Frage  nach  dem  Malerischen  auch  allerlei  im  Gegensatz  dazu  vom  Arckitektonischen 
und  Plastischen  ausgesprochen,  besonders  aber  in  dem  Buche  über  »Barock  und 
Rokoko«,  das,  wie  gesagt  auch  die  Renaissance  als  Ausgangspunkt  der  Entwicklung 
hereinzieht  und  eine  strenge  Abgrenzung  dieser  Periode  nach  ihrem  Wesen  und 
ihrer  historischen  Stelle  zwischen  Mittelalter  und  neuerer  Zeit  befürwortet.  An  der 
Wirksamkeit  des  noch  plastisch  denkenden  Michelangelo,  als  »Vater  des  Barock«, 
wie  nicht  ich  ihn  getauft  habe,  und  [Ider  gegensätzlich  gerichteten  des  malerisch 
schauenden  Bernini  auf  der  anderen  Seite,  wurden  die  Unterschiede  der  künst- 
lerischen Bewältigung  des  Raumes  dargelegt.  Dort  war  es  der  Außenkörper  von 
St.  Peter,  noch  als  Zentralbau,  hier  die  Kolonnaden  vor  dem  Langhaus  des  Carlo 
Maderna,  die  mit  ihren  Armen  den  Platz  samt  seinen  Springbrunnen  und  demj^Obe- 
lisken  in  der  Mitte  umfangen,  dann  der  Durchbruch  des  Straßenzuges  bis  an  die 
Engelsburg  und  die  Brücke  über  den  Tiber.    Die  Analyse  anderer  Plätze  in  Rom 


186  BEMERKUNGEN. 


schloß  sich  an:  die  oblonge  Navona  vor  St.  Agnese  mit  den  Schmuckstücl<en  in 
der  Hauptachse,  doch  so  ausgerechnet  auf  Breitenschau  angelegt,  daß  der  Besucher 
sich  aus  der  Mittellinie  in  der  Längsrichtung  förmlich  ausgesperrt  findet  und  nur 
in  Querstreifen  zwischen  jenen  Hindernissen  freie  Bewegung  hat;  dann  die  ebenso 
länglich  gestreckte  Piazza  vor  Sta  Maria  in  Campitelli,  oder  der  bühnenhafte  kleine 
Vorplatz  von  St.  Ignazio,  die  Theaterdekoration  der  Fontana  Trevi,  bis  zur  gewal- 
tigen Treppenführung  zur  Kirche  Sta  Trinitä  de'  Monti  hinauf.  Weiterhin  aber  das 
Erbe  des  römischen  Barock  in  Frankreich  und  die  Wandlung  ins  Rokoko  zu  Paris, 
oder  zum  Anschluß  an  unsere  deutschen  Denkmäler,  wie  der  Zwinger  in  Dresden, 
und  so  manchen  Ehrenschauplatz  in  Österreich  '). 

Mir  war  die  Geschichte  der  Architektur  immer  eine  Geschichte  des  Raum- 
gefühls, wie  ich  nach  zehnjähriger  Lehrtätigkeit  an  deutschen  Universitäten  beim 
Antritt  des  Ordinariats  in  Leipzig  bekannte.  Von  der  neuen  »Eroberung  des  Raum- 
gefühls« spricht  nun  auch  Schumacher  als  dem  entscheidenden  Ereignis.  Es  tritt 
ein,  sobald  es  sich  um  künstlerische  Momente  handelt,  die  aus  schöpferischen  Ge- 
staltungen des  Grundrisses  entfließen.  Sei  es,  daß  der  Raum  als  Innenraum,  sei 
«s,  daß  er  im  städtebaulichen  Sinne  als  Außenraum  auftritt,  —  das  Besondere  be- 
steht dann  darin,  daß  der  Betrachter  mitten  darinnen  steht.  Das  ist  der  ausschlag- 
gebende Gesichtspunkt  auch  für  meine  ganze  Erklärung  des  schöpferischen  Vor- 
gangs selbst  gewesen,  bei  dem  der  Raum  wille  des  menschlichen  Subjekts  sozusagen 
von  ihm  ausstrahlt,  oder,  —  anders  ausgedrückt:  in  Zwecktätigkeit  und  Ausdrucks- 
bewegung zugleich  sich  die  Emanation  des  Raumgebildes  vollzieht.  Und  ebenso 
muß  der  genießende  Betrachter,  wenn  er  die  fertige  Raumgestalt  als  Ganzes  an 
sich  erieben  will,  sich  wieder  in  den  Mittelpunkt  stellen  oder  auf  der  Mittelachse 
des  Grundrisses  sich  entlang  bewegen,  sei  es  auch  nur  in  Gedanken.  Ebenso  schließ- 
lich im  Straßenzuge,  in  der  Platzanlage  unter  freiem  Himmel. 

Dann  »klingt  als  künstlerische  Gewalt  das  bewußte  oder  unbewußte  Gefühl 
für  den  Rhythmus,  der  im  gesamten  Organismus  des  Raumes  liegt,  in  ihm  weiter. 
Mag  er  diesen  Rhythmus  nun  gleichzeitig  optisch  verfolgen  können  oder  nicht, 
er  ist  für  ihn  da,  er  lebt  in  ihm  und  ist  aus  jeder  weiteren  Teilwirkung  der  archi- 
tektonischen Schöpfung  nicht  auszuschaUen«.  Wie  das  zugeht,  wo  der  Mensch  nicht 
optisch  aufnimmt,  also  nichts  Sichtbares  erschaut,  das  vermag  doch  wohl  nur 
die  Betätigung  des  eigenen  Organismus  sonst,  im  Gange  und  den  Körperbewegungen 
zu  erklären.  Aber  ich  will  nicht  fragen  ;  ich  erkenne  mit  Freude  und  Genugtuung 
nicht  allein  meine  volle,  überall  verwertete  Überzeugung,  sondern  auch  meine  Aus- 
drucksweise in  ihrer  sprachlichen  Form,  ihrem  rhythmischen  Flusse  wieder.  Ich  bin 
dankbar  für  solch  ein  Bekenntnis,  auch  wo  man  meinen  Namen  nicht  nennt. 

Und  endlich  noch  einmal  die  Gegenüberstellung  der  italienischen  Frührenaissance 
und  des  Barock  in  ihren  prinzipiellen  Unterschieden.  «In  der  Frührenaissance,  wo 
die  Wände  des  Innen-  und  Außenraumes  sich  noch  in  einzelne  [Relief-]  Bilder  zer- 
legen, bleiben  die  rhythmischen  Eindrücke  gedämpft  gegenüber  den  optischen.« 
Was  heißt  das  anders,  denn:  —  Abkehr  von  dem  Bewegungsrhythmus  als  treibender 
Kraft  der  gotischen  Raumkoniposition  ist  schon  da  Voraussetzung,  der  Stillstand 
der  Schau  hat  seine  Früchte  gezeitigt?  —  »Je  mehr  das  Gefühl  für  den  Raum  (als 
Einheit!]  wächst,  und  je  mehr  die  Wand  als  Einzelgebilde  in  den  Hintergrund  tritt, 
wächst  auch  wieder  die  Macht  der  rhythmischen  Kräfte.    Die  große  Tat  des  Barock 


')  Vgl.  zu  dem  hier  Gesagten  auch  A.  E.  Brinkmann,  Die  Baukunst  des  17.  und 
18.  Jahrhunderts,  im  Handbuch  der  Kunstwissenschaft,  der  den  kulturgeschichtlichen 
Zusammenhang  doch  nicht  leugnen  wird  (vgl.  S.  239  u.  326). 


n 


BEMERKUNGEN.  187 


ist  die  volle  Verschmelzung  rhythmischer  und  optischer  Wirkungen!«  —  Deshalb  habe 
ich  immer  von  einem  dynamischen  Vollzuge  solcher  Oesamtanlagen  des  Barock 
gesprochen,  wie  andererseits  von  einem  Wiederaufbegehren  des  Innenlebens  als 
der  treibenden  Kraft  des  Schaffens.  Da  kommen  die  Grundbegriffe  zu  ihrem  Recht, 
die  ich  in  >Barock  und  Rokoko«  schon  1897  beigetragen  hatte,  sogar  im  Anschluß 
an  die  »rhythmische  Travee«  Oeymüllers  bei  Bramante,  und  mit  Hinweis  auf  die 
Musik  als  Quelle  vergleichender  Begriffe,  auf  die  Wirkung  des  »melodischen  Rhyth- 
mus«, statt  mit  der  Harmonie  der  Verhältnisse  im  ruhigen  Stillstand  auszukommen 
<a.  a.  O.  S.  39-42). 

Ich  hoffe,  daß  wir  eigentlichen  Vertreter  der  Kunstwissenschaft  so  auch  zur 
vorurteilsfreien  Verständigung  gelangen  werden.  Schlägt  einmal  diese  Stunde  des 
Einheitsbedürfnisses,  dann  haben  wir  nicht  vergeblich  nach  stetiger  Vertiefung  ge- 
rungen. 


Methodologisches. 

Von 

Gerhart  Rodenwaldt. 

Sind  Wölfflins  »Grundbegriffe«  eine  kunstgeschichtliche,  eine  praktisch-methodo- 
logische oder  eine  philosophische  Untersuchung?  Wären  sie  das  erstere,  so  wäre 
ein  rein  historischer  Titel  angebracht  gewesen.  Im  zweiten  Falle  hätte  die  Über- 
schrift zweckmäßiger  gelautet  »Kunstgeschichtliche  Hilfsbegriffe«.  Wenn  sie  das  dritte 
wären,  hätten  die  Grundbegriffe  vielleicht  richtiger  als  kunstwissenschaftliche  oder 
kunstgeschichtsphilosophische  bezeichnet  werden  müssen.  Im  ersteren  Falle  wären 
sie  eine  kunsthistorische  Interpretation  des  Wesens  des  Barock,  im  anderen  ein  Bei- 
trag zur  praktischen  Methodik  der  kunstgeschichtlichen  Forschung  gewesen,  der  an 
einem  historischen  Musterbeispiel  geeignete  Hilfsmittel  zum  Nachweise  kunstge- 
schichtlicher Entwicklung  und  ihrer  Interpretation  an  die  Hand  gab;  im  letzten  Falle 
wäre  das  kunstgeschichtliche  Beispiel  nur  Material  zum  Beweise  begrifflich  faßbarer 
Gesetze  oder  Parallelerscheinungen  der  kunstgeschichtlichen  Entwicklung  gewesen. 
Die  reichlich  einsetzende  Kritik  hat  bereits  nachgewiesen,  daß  dieses  philosophische 
Ziel  nicht  oder  nur  unvollkommen  erreicht  ist.  Entkleiden  wir  aber  die  Kategorien 
ihrer  philosophischen  Umhüllung,  so  bleibt  ein  Meisterwerk  kunstgeschichtlicher 
Interpretation  übrig,  und  die  Kategorien  werden  zugleich  als  Hilfsbegriffe,  die  je 
nach  Stoff  und  Thema  vereinfacht,  vermehrt  und  variiert  werden  können,  ein  nütz- 
liches pädagogisches  Vorbild  bleiben.  Diese  Auffassung  entspricht  wohl  allerdings 
nicht  der  durch  den  Titel  festgelegten  Absicht  des  Verfassers,  aber  sie  nimmt  dem 
Werk  den  Zwiespalt,  den  die  leicht  entfernbare  philosophische  Hülle  hervorbringt. 

Dazu  muß  der  Begriff  der  Kunstgeschichte  allerdings  etwas  weiter  oder  etwas 
anders  aufgefaßt  werden,  als  es  Wulff  in  seinen  >Grundlinien  und  kritischen  Er- 
örterungen zur  Prinzipienlehre  der  bildenden  Kunst«  tut ').  Auch  dieser  Titel  ist 
nicht  ganz  sinnentsprechend,  insofern  als  es  sich  um  eine  Prinzipienlehre  nicht  der 
bildenden  Kunst,  sondern  der  Wissenschaft  von  der  bildenden  Kunst  handelt.  Auf 
die  Gefahr  hin,  die  klare  Systematik  Wulffs  zu  verwirren  und  die  Fragen  zu  kompli- 
zieren, möchte  ich  auf  einige  methodologische  Parallelfragen  kurz  hinweisen,  die 
vielleicht  bei  so  allgemeinen  grundlegenden  Erörterungen  Beachtung  verdienten. 


188  BEMERKUNGEN. 


Wulff  hebt  (S.  103)  hervor,  daß  die  Grundlegung  einer  phänomenologischen 
Theorie  der  bildenden  Kunst  bereits  von  der  Kunstgeschichte  in  Angriff  genommen 
worden  ist.  Das  ist  eine  historische  Tatsache,  aus  der  jedoch  nicht  ohne  weiteres 
Folgerungen  für  das  begriffliche  Verhältnis  dieser  Wissenschaft  zu  der  geforderten 
neuen  Theorie  gezogen  werden  können.  Denn  es  müßte  richtiger  heißen,  daß  die 
Kunsthistoriker  —  nicht  die  Kunsthistorie  —  sich  dieser  Aufgabe  gewidmet  haben; 
ein  Gelehrter  kann  sehr  verschiedene  Wissenschaften  mit  ganz  verschiedenen  Zweck- 
setzungen in  seiner  Geistesarbeit  vereinigen.  Es  erinnert  dies  an  das  in  dem  Streit 
um  die  Begriffsbildung  von  Historie  und  Philologie  zugunsten  der  Superiorität  der 
Philologie  in  der  Altertumswissenschaft  oder  zugunsten  der  Identität  der  philo- 
logischen und  historischen  Methode')  mitunter  gebrauchte  Argument,  daß  die  Philo- 
logie —  oder  vielmehr  auch  hier  richtiger  die  Philologen  —  tatsächlich  die  alte 
Historie  neben  ihrer  engeren  Aufgabe  betrieben  hat.  Es  können  eben  einzelne  Ver- 
treter einer  Wissenschaft  oder  sogar  unter  ihrem  Einflüsse  die  Gesamtheit  der  Ver- 
treter auf  Gebiete  übergreifen,  deren  Methode  und  Idee  eine  andere  und  mitunter 
sogar  eine  entgegengesetzte  ist ').  Es  muß  danach  zwischen  begrifflicher  Definition 
und  Abgrenzung  einer  Wissenschaft  und  ihrer  geschichtlich  gewordenen  Eigenart 
auf  das  sorgfältigste  unterschieden  werden. 

Jede  Kunst  ist  Objekt  einer  Reihe  von  Wissenschaften;  man  kann  daher  von 
einer  ganzen  Reihe  von  Kunstwissenschaften  sprechen.  Auch  die  Philologie  ist  eine 
solche.  In  ihr  hat  sich  dank  einer  langen,  in  der  Antike  begründeten  Entwicklung 
die  festeste  Methodik  ausgebildet.  Ihr  Ziel  ist  von  Hause  aus  die  Herstellung  und 
Interpretation  der  einzelnen  literarischen  Kunstwerke ;  gemäß  ihrer  neueren  Entwick- 
lung umfaßt  sie  jedoch  auch  die  Literaturgeschichte.  Leider  entsprechen  die  Namen 
der  Wissenschaften  ihrer  geschichtlichen  Entstehung  und  erschweren  dadurch  vielfach 
die  Erkenntnis  begrifflicher  Übereinstimmung  und  Verschiedenheit.  In  dem  Namen 
der  Philologie  ist  nur  die  eine  Seite  dieser  Wissenschaft  enthalten,  allerdings  gerade 
diejenige,  die  sie  von  der  Geschichte  unterscheidet.  Auch  die  Geschichte  erfordert 
die  genaueste  Herstellung  der  Quelle,  aber  diese  Herstellungsarbeit  ist  lediglich  eine 
Vorarbeit,  die  im  Dienste  der  geschichtlichen  Verwertung  des  auf  diese  Weise  her- 
gerichteten Materials  besteht.  Je  feiner  die  Methode  der  geschichtlichen  Vorarbeit 
wurde,  desto  vollständiger  übernahm  sie  die  Methode  der  älteren  Wissenschaft  der 
Philologie.  Soweit  die  Philologie  Literaturgeschichte  ist,  geht  ihre  Methodik  voll- 
kommen der  Historie  parallel.  Die  Quellen,  d.  h.  die  einzelnen  literarischen  Gebilde 
werden,  soweit  es  die  Zwecke  der  geschichtlichen  Forschung  erfordern,  wieder  herge- 
stellt, um  jener  das  Material  zu  liefern.  Aber  mit  dieser  Wiederherstellung  trennen  sich 
die  Wege  der  Literaturgeschichte  und  der  eigentlichen  Philologie.  Für  die  letztere  ist 
die  Herstellung  des  Kunstwerks  nicht  nur  Mittel,  sondern  Selbstzweck;  sie  geht  in  der 
Intensität  und  dem  Umfang  der  Herstellung  über  das  Bedürfnis  der  literaturgeschicht- 
lichen Forschung  hinaus  und  hat  die  Herstellung,  Ergänzung  und  Interpretation  des 
einzelnen  Kunstwerks  als  höchstes  und  letztes  Ziel.  Sie  bedarf  der  Literaturgeschichte 
als  Hilfsmittel  der  Interpretation,  wie  die  Literaturgeschichte  ihrerseits  auf  der  Her- 
stellung und  Interpretation  fußt.  So  vereinigen  sich  unter  dem  geschichtlichen  Namen 
der  Philologie  zwei  verschiedene  wissenschaftliche  Zwecksetzungen,  von  denen  die 
eine  die  spezifisch  philologische,  die  andere  die  spezifisch  historische  Methode  hat. 
Beide  Methoden  sind  jedoch,  um  Rickerts  Terminologie  zu  wählen,  rein  individuali- 
sierend und  haben  mit  generalisierender  Wissenschaft  nichts  zu  tun.  Nur  in  der 
Art  des  Materials  ist  es  begründet,  daß  in  der  klassischen  Philologie  die  eigentlich 
philologische  Arbeit  und  in  dieser  wiederum  die  Herstellung  der  Texte  gegenüber 
der  höheren  Interpretation  und  gegenüber  der  Literaturgeschichte  einen  Verhältnis- 


BEMERKUNGEN.  180 


mäßig  großen  Raum  einnimmt.  Dadurch  mag  es  auch  verschuldet  sein,  daß  in  den 
neueren  Untersuchungen  i<unstwissenschaftlicher  Methodil<  —  mit  Ausnahme  von 
Dessoir  und  Tietze*)  —  die  Philologie  l<aum  beachtet  worden  ist. 

Der  Gegensatz  von  Historie  und  Philologie  —  zur  begrifflichen  Fassung  des 
Gegensatzes  ist  besser  das  Verhältnis  von  Literaturgeschichte  und  Philologie  zu 
wählen,  weil  das  Verhältnis  von  Philologie,  als  Ganzes  genommen,  zur  Historie  sich 
wiederum  dadurch  kompliziert,  daß  die  Ergebnisse  beider  einander  als  Hilfswissen- 
schaften dienen  —  ist  kürzlich  von  W.  W.  Jäger'*)  vorzüglich  dargestellt  worden. 
Aber  es  ist  von  ihm ')  meines  Ermessens  nicht  scharf  genug  definiert  worden,  worin 
letzten  Endes  die  Berechtigung  der  Philologie,  die  Herstellung  und  Interpretation 
ihrer  Objekte  über  die  Materialbeschaffung  für  die  geschichtliche  Verarbeitung  hinaus 
als  Selbstzweck  zu  betrachten,  besteht. 

Dieses  Recht  schöpft  sie  aus  der  Tatsache,  daß  die  von  ihr  behandelten  Werke 
der  Literatur  noch  bestehende  und  wirkende  Kunstwerke  sind ').  Die  Geschichte 
sucht  die  Erkenntnis  der  Gegenwart  aus  der  Vergangenheit.  Alles  historisch  Ge- 
wesene steckt  in  der  Gegenwart,  ist  aber  auch  von  ihr  aufgezehrt.  Allein  die  Werke 
der  Kunst,  mag  es  sich  um  Architektur,  Plastik,  Malerei,  Musik,  Literatur  handeln, 
führen  ein  lebendiges  Dasein  fort,  das  unabhängig  von  ihrer  einstigen  Bedeutung 
als  Glied  der  geschichtlichen  Entwicklung  ist  und  wirkt.  Wie  die  Gesamtheit  der 
Gegenwart  die  Deutung  aus  der  Vergangenheit  verlangt,  so  jedes  einzelne  noch 
bestehende  Kunstwerk.  In  diesem  Gegenwartswerte  jedes  Kunstwerks  ist  diejenige 
wissenschaftliche  Methode  begründet,  die  in  dem  Sondergebiet  der  literarischen 
Kunstwerke  den  historischen  Namen  der  Philologie  führt. 

Geschichte  und  Interpretation,  zwei  geschwisterliche  Figuren  auf  dem  gemein- 
samen Unterbau  der  sogenannten  niederen  philologischen  Kritik,  machen  den  eigent- 
lichen Inhalt  aller  kunstgeschichtlichen  Wissenschaften,  der  Philologie,  der  Archäologie, 
der  Musikgeschichte,  der  Kunstgeschichte  usw.  aus.  Je  nach  der  Art  des  Materials 
nimmt  die  Vorarbeit  der  Herrichtung  für  die  geschichtliche  Bearbeitung  und  für  die 
Interpretation  einen  mehr  oder  minder  großen  Raum  ein.  Bei  der  Literatur  des 
19.  Jahrhunderts  z.  B.  ist  diese  Hilfsarbeit  bei  weitem  einfacher  als  bei  der  griechi- 
schen Literatur;  desto  mehr  werden  Kräfte  für  die  Interpretation  und  historische  Ver- 
arbeitung frei.  Besonders  einleuchtend  ist  der  Unterschied  bei  der  Vergleichung 
der  neueren  Kunstgeschichte  mit  der  Geschichte  der  antiken  Kunst.  Die  neuere 
Kunstgeschichte  fand  ihr  Material  so  gut  erhalten  vor  und  fand  ein  so  vollständiges 
Material  vor,  daß  sie  der  Vorarbeit  der  Wiederherstellung  der  einzelnen  Denkmäler 
entraten  konnte  oder  entraten  zu  können  glaubte;  erst  in  der  letzten  Zeit  hat  mit 
der  wachsenden  Eindringlichkeit  der  Forschung  auch  die  streng  philologische  Methode 
für  die  Herrichtung  der  einzelnen  Denkmäler  ihren  Einzug  in  die  Kunstgeschichte 
gehalten.  So  konnte  die  Kunstgeschichte  sich  der  Erforschung  der  geschichtlichen 
Entwicklung  und  der  Interpretation  der  einzelnen  Kunstwerke  viel  unmittelbarer 
zuwenden,  als  die  Archäologie.  Bei  dieser  klafft  zwischen  der  Entwicklung,  wie  sie 
tatsächlich  erfolgt  ist,  und  den  Ergebnissen  der  Erforschung  der  uns  erhaltenen 
Denkmäler  eine  gewaltige  Kluft;  daher  muß  das  Erhahene  bis  zum  letzten  Tropfen 
ausgepreßt  und  ausgenutzt  werden  und  die  Forschung  auf  Kleines  und  Kleinstes  aus- 
gedehnt werden,  das  eine  mit  reicherem  Material  versehene  Wissenschaft  zunächst 
entbehren  kann.  Dies  Schicksal  teilt  die  Archäologie  mit  der  Philologie,  und  daher 
ist  die  Parallelität  ihrer  Methode  zur  philologischen  Methode  von  jeher  viel  augen- 
fälliger in  Erscheinung  getreten*).  Diese  durch  die  Beschaffenheit  des  Materials 
hervorgerufenen  Verschiebungen  des  Anteils  der  einzelnen  methodischen  Grund- 
handlungen ändert  aber  nichts  an  der  grundsätzlichen  Übereinstimmung  mit  den 


190  BEMERKUNGEN. 


Wissenschaften,  die  sich  mit  der  geschichtlichen  Forschung  der  neueren  Kunst  und 
der  anderen  Künste  beschäftigen.  Irreführend  aber  ist  der  Name  »Kunstgeschichte«, 
wenn  man  ihn  begriffHch  statt  nur  historisch  deutet;  denn  er  betont  nur  die  eine 
Hälfte  der  Aufgabe,  wie  es  im  umgekehrten  Verhältnis  die  Philologie  tut.  Philologie, 
Archäologie,  Kunstgeschichte  sind  drei  konventionelle,  historisch  erklärbare  Namen 
für  Wissenschaften,  die  die  gleiche  Methode  auf  Kunstwerke,  die  beiden  letzteren 
sogar  auf  nur  zeitlich  verschiedenen  Perioden  angehörige  Objekte  der  gleichen  Kunst 
anwenden.  Geschichte  der  Kunstwerke  und  ihre  Interpretation  sind  beide  reine 
Tatsachenforschung;  beide  ergänzen  und  unterstützen  einander.  Daher  werden  in 
der  wissenschaftlichen  Darstellung  beide  vielfach  miteinander  verbunden,  wenn  auch 
der  eine  oder  der  andere  Zweck  in  jeder  Untersuchung  die  Hauptsache  bilden  wird. 
Im  Sinne  dieser,  die  Interpretation  umfassenden  Kunstgeschichte  können  Wölfflins 
»Grundbegriffe«,  wenn  wir  die  philosophische  Deckschicht  entfernen,  auch  als 
methodisch  vorbildlich  angesehen  werden. 

Auf  Seite  122  ff.  teilt  Wulff  die  von  ihm  geforderte  Gesamtwissenschaft  der 
bildenden  Kunst  in  zwei  Hauptrichtungen  ein,  von  denen  die  eine  als  systematische 
Kunstwissenschaft  in  die  Ästhetik,  die  andere  als  Kunstgeschichte  in  die  allgemeine 
Kultur-  und  Geistesgeschichte  einmündet.  In  dieser  Konstruktion  findet  die  philo- 
logische Methode  —  in  ihrem  allgemeinen,  die  Wissenschaften  aller  Künste  um- 
fassenden Sinne  —  keinen  Platz,  während  man  von  einer  so  allgemein  gefaßten 
Definition  verlangen  müßte,  daß  sie  nicht  nur  für  die  Wissenschaft  der  bildenden 
Kunst,  sondern  auch  für  die  der  anderen  Künste  zutrifft.  Die  Interpretation,  die 
die  Erkenntnis  des  einzelnen  künstlerischen  Objektes  als  letztes  Ziel  hat,  steht  zwar 
im  Gegensatz  zu  den  Gesetzeswissenschaften  und  gehört  zu  den  reinen  Tatsachen- 
wissenschaften, geht  aber  nicht  in  den  Begriff  der  allgemeinen  Geschichte  auf.  Denn 
eben  die  Methode  der  Interpretation  ist  nur  auf  künstlerische  Gestaltungen,  aller- 
dings auf  solche  jeder  Art,  anwendbar  und  unterscheidet  eben  die  Philologie  von 
der  Historie. 

Läßt  sich  nun  diese  Kunstgeschichte  mit  der  systematischen  Kunstwissenschaft 
zu  einer  Gesamtwissenschaft  vereinigen  ?  Keine  historische  Wissenschaft  ist  begriff- 
lich von  vornherein  klar  umgrenzt  gewesen,  sondern  alle  sind  sie  Individualitäten, 
die  wiederum  selbst  nur  historisch  erklärbar  sind.  Die  historischen  Wissenschaften 
sind  darin  sehr  anpassungsfähig.  Sie  benutzen  andere  Wissenschaften  als  Hilfs- 
wissenschaften z.  B.  die  Philologie  die  Sprachwissenschaft  oder  auch,  als  höhere 
Interpretation,  die  Ästhetik  und  greifen  andererseits  auch  auf  andere  Gebiete  herüber. 
Als  Beispiel  einer  besonders  komplex  zusammengesetzten  Wissenschaft  nenne  ich 
die  Archäologie.  Als  antike  Kunstgeschichte  ist  sie  klar  umgrenzt  und  nur  aus 
ähnlichen  praktischen  Gesichtspunkten  gegenüber  der  Kunstgeschichte  als  Sonder- 
wissenschaft zu  behandeln,  wie  die  alte  Geschichte  gegenüber  der  Geschichte  der 
neueren  Zeit").  Aber  die  Archäologie  umfaßt  auch  die  Erforschung  aller  sonstigen 
Monumente,  die  außer  der  Literatur  aus  der  Antike  erhalten  sind,  auch  wenn  sie 
nichts  mit  Kunst  zu  tun  haben.  Sie  erforscht  eine  Inschrift,  eine  Ölpresse  oder  ein 
medizinisches  Instrument  mit  der  gleichen  Sorgfalt  wie  eine  Statue  oder  ein  Vasen- 
bild. Sie  dient  damit  der  Philologie,  der  Kulturgeschichte,  der  politischen  Geschichte, 
der  Religionsgeschichte  usw.  als  Hilfswissenschaft  und  verrichtet  die  eigentlich  all 
diesen  Sonderwissenschaften  zufallenden  Arbeiten.  Wenn  Conze  daher  als  Objekt 
der  Archäologie  »alle  in  räumliche  Form  hineingeschaffenen  Menschengedanken« 
bezeichnet  hat,  so  bestimmt  er  damit  allerdings  den  Umfang  des  Materials,  eines 
Materials  jedoch,  für  das  kein  einheitlicher  Begriff  und  keine  einheitliche  Methode 
zu  finden  sind.    Begrifflich  ist  daher  das  Wesen  der  Archäologie  gar  nicht  als  Ein- 


BEMERKUNGEN.  IQl 


heit  zu  fassen '").  Ihre  Zusammengesetztheit  erklärt  sich  einerseits  aus  ihrer  Ge- 
schichte, die  zu  einem  wesentlichen  Teile  von  den  sogenannten  Antiquitäten  aus- 
ging, anderseits  aus  der  Gewinnung  und  Bearbeitung  des  Materials,  d.  h.  aus  der 
Methode  der  wissenschaftlichen  Vorarbeit.  Alle  die  Dinge,  die  die  Archäologie  für 
andere  Wissenschaften  bearbeitet,  werden  im  Zusammenhange  mit  Denkmälern  der 
antiken  Kunst  gefunden  und  können  nur  im  Zusammenhange  mit  ihr  beurteilt  werden. 
So  wenig  die  Archäologie  daher  begrifflich  als  Einheit  und  Besonderheit  erklärbar 
ist,  so  sehr  ist  sie  historisch  und  praktisch  begreiflich  und  gerechtfertigt. 

Wenn  hier  und  auch  bei  anderen  historischen  Kunstwissenschaften  eine  Ver- 
mischung mit  anderen  Gebieten  stattfindet,  so  handelt  es  sich  aber  doch  immer  nur 
um  Verbindung  mit  wesensverwandten  Gebieten,  die  sämtlich  der  Tatsachenforschung 
bzw.  der  individualisierenden  Wissenschaft  angehören.  Nirgends  ist  eine  Kuppelung 
mit  Gesetzeswissenschaften  vorhanden,  denn  die  Gesetze  der  Sprachwissenschaft, 
auf  die  Wulff  mehrfach  verweist,  sind  ganz  anderer  Art,  als  naturwissenschaftliche 
Gesetze").  Das  Verhältnis  zwischen  Ästhetik  und  systematischer  Kunstwissenschaft 
ist  bei  Wulff  nicht  ganz  klar.  Die  systematische  Kunstwissenschaft  wird  zwar  der 
Ästhetik  als  reinen  Gesetzeswissenschaft  gegenübergestellt,  soll  aber  doch  schließlich 
in  die  Ästhetik  einmünden.  Ferner  erhebt  sich  die  Frage,  ob  denn  überhaupt  diese 
systematische  Kunstwissenschaft  in  sich  eine  geschlossene  Einheit  bildet.  So  weit 
sie  auf  die  Gesetzlichkeiten  des  Kunstschaffens  in  ihrer  allgemeinen  psychologischen 
Begründung  hinarbeitet,  besteht  meines  Ermessens  kein  Grund,  sie  von  der  Ästhetik 
und  Allgemeinen  Kunstwissenschaft  —  der  letzteren  in  Dessoirs  Sinne  —  zu  trennen. 
Sie  soll  aber  auch  auf  die  Ableitung  der  Gesetzlichkeiten  der  Kunstentwicklung  hin- 
arbeiten (S.  123),  und  es  ist,  wie  auch  Wulff  zugibt,  diese  Gesetzlichkeit  wiederum 
nicht  mit  der  Gesetzlichkeit  der  Naturgesetze  zu  verwechseln.  Ist  die  Erforschung 
dieser  allgemeinen  Phänomene  der  Kunstentwicklung,  die  unbestreitbar  vorhanden 
sind,  nun  Aufgabe  der  Kunstgeschichte  oder  der  Ästhetik  oder  einer  dritten  Wissen- 
schaft,  die   an  einen  vorhandenen  allgemeinen  Forschungskreis   anzuschließen  ist? 

Es  handelt  sich  hier  um  Phänomene  wiederum  verschiedener  Art,  die  aber  beide 
sich  auf  den  historischen  Verlauf  der  Kunst  beziehen.  Einerseits  sind  es  Begriffe, 
wie  Klassik  oder  Periodizität  der  Entwicklung,  die  sich  mit  der  Frage  der  Wert- 
beurteilung oder  der  Möglichkeit  von  historischen  Gesetzen,  sei  es  auch  nur  in  der 
eingeschränkten  Form  von  Parallelen  und  Analogiebildungen  beschäftigen,  ander- 
seits wissenschaftliche  Hilfsbegriffe  (Fiktionen)  wie  Ortsstil,  Zeitstil,  Kontamination, 
Assimilation  usw.,  die  zur  Methodik  der  Kunstgeschichte  gehören.  Beide  Betrachtungs- 
weisen sind  rein  philosophisch  und  können  unter  dem  gemeinsamen  Namen  einer 
Philosophie  der  Kunstgeschichte  zusammengefaßt  werden.  Der  Unterschied  zwischen 
dem  Kunstwerk  und  dem  rein  historischen  Vorgang,  wie  ihn  Wulff  auf  S.  5  ff.  aus- 
gezeichnet darlegt,  hat  vielleicht  zur  Folge,  daß  die  Philosophie  der  Kunstgeschichte 
in  der  Feststellung  von  Parallelen  und  Allgemeinbegriffen,  nicht  von  Gesetzen,  weiter- 
kommen kann,  wie  die  Philosophie  der  Geschichte.  Aber  der  Unterschied  ist  kein 
wesentlicher,  sondern  nur  ein  gradueller,  und  man  kann  sagen,  daß  die  Kunst- 
geschichtsphilosophie sich  zur  Kunstgeschichte  verhält  wie  die  Geschichtsphilosophie 
zur  Geschichtsforschung''^). 

Man  könnte  danach  drei  Gruppen  von  Kunstwissenschaften  unterscheiden,  Ästhetik 
und  allgemeine  Kunstwissenschaft,  Philosophie  der  Kunstgeschichte  und  Kunst- 
geschichte (einschließlich  der  philologischen  Interpretation).  Diese  Gruppen  gelten 
für  die  Geschichte  aller  Künste.  Sie  sind  einander  nicht  gleichwertig.  Die  erste 
würde  alle  generalisierende,  die  letzte  alle  individualisierende  Wissenschaft  der  Künste 
vereinigen,  während  die  Philosophie  der  Kunstgeschichte  die  philosophische  Selbst- 


192  BEMERKUNGEN. 


besinnung  der  Kunstgeschichte  über  Wesen   und  Formen  ihrer  wissenschaftlichen 
Betrachtungsweise  wäre. 

Ist  es  nun  wünschenswert,  daß  generalisierende  und  individualisierende  Be- 
trachtungsweise durch  Herstellung  eines  gemeinsamen  Oberbegriffs  systematisch  ver- 
einigt werden?") 

Wechselbeziehungen  beider  Wissenschaften  tut  es  keinen  Abbruch,  wenn  sie 
begrifflich  voneinander  getrennt  bleiben.  Beide  Arten  der  Betrachtung  brauchen 
einander  als  Hilfswissenschaft,  die  eine  muß  der  anderen  das  Material  liefern.  Be- 
sonders eng  werden  sich  Philosophie  der  Kunstgeschichte  —  d.  h.  Wulffs  syste- 
matische Kunstwissenschaft  mit  Ausnahme  derjenigen  Teile,  die  der  Ästhetik  und 
allgemeinen  Kunstwissenschaft  zugeteilt  werden  können  —  und  Kunstgeschichte 
berühren,  da  sie  ständig  der  Nachprüfung  durch  die  Gegenseite  bedürfen.  Es  kann 
aber  nur  im  Interesse  der  praktischen  Arbeit  liegen,  wenn  sie  in  jedem  Einzelfalle 
sich  der  Zwecksetzung  in  der  einen  oder  der  anderen  Richtung  voll  bewußt  bleibt. 
Mommsen  hat  in  seinen  Werken  historische  und  juristisch-systematische  Betrachtungs- 
weise streng  voneinander  getrennt'*).  Wulff  (S.  107)  unterschätzt  offenbar  die 
Gefahr  einer  konstruierenden  Geschichtsforschung;  denn  die  Erfahrungen  in  der 
Geschichtswissenschaft'''),  in  der  Religionswissenschaft,  deren  methodologische 
Fragen  in  mancher  Beziehung  den  Prinzipienfragen  auf  dem  Gebiete  der  Kunst- 
wissenschaft verwandt  sind,  und  in  der  Prähistorie  lehren  doch,  wie  verführerisch 
der  mächtige  Einfluß  der  Gesetzeswissenschaften  seine  Schatten  auf  die  Hand- 
habung der  Geschichtswissenschaft  wirft  und  die  erforderliche  Klarheit  ihrer  Ziel- 
setzung trübt '"). 

Der  Wunsch  nach  Betonung  der  methodischen  Gegensätzlichkeit  soll  nicht  aus- 
schließen, daß  die  Gelehrten  einer  Kunstwissenschaft  auch  auf  die  anderen  Kunst- 
wissenschaften übergreifen.  Praktisch  mag  es  richtig  sein,  daß  in  steigendem  Maße 
Kunsthistoriker  sich  mit  Fragen  der  Ästhetik  und  namentlich  der  Philosophie  der 
Kunstgeschichte  beschäftigen  werden,  weil  mit  der  Detaillierung  der  kunstgeschicht- 
lichen Forschung  es  Gelehrten  anderer  Gebiete  immer  schwerer  wird,  das  Material 
zu  übersehen  und  für  ihre  Zwecke  richtig  einzuschätzen.  Für  diese  ist  es  zweifellos 
nötig,  daß  Wulffs  Forderung  nach  Vertiefung  der  Zusammenhänge  mit  der  Psycho- 
logie verfolgt  wird.  Nur  sollte  man  aus  methodischen  Gründen  begrifflich  daran 
festhalten,  daß  in  diesem  Falle  nicht  die  Kunsthistorie  sich  mit  einer  systematischen 
Kunstwissenschaft  zu  einer  neuen  Kunstwissenschaft  vereinigt,  sondern  daß  der 
Kunsthistoriker  dann  eben  Ästhetik  oder  Kunstgeschichtsphilosophie  treibt,  was  sich 
sehr  wohl  miteinander  vereinigen  läßt,  sofern  beide  Zwecke  in  Forschung  und  Dar- 
stellung reinlich  voneinander  getrennt  werden"). 

Ein  begriffliches  System  der  Kunstwissenschaften,  das  man  aufstellen  könnte, 
würde  sich  nicht  mit  dem  historischen  Charakter  und  Umfang  der  einzelnen  Dis- 
ziplinen decken.  Die  historisch  gewordenen  Wissenschaften  sind  letzten  Endes  das 
Werk  der  Gelehrten,  und  so  wird  die  Entwicklung  der  Kunstgeschichte,  ihre  Be- 
schränkung auf  ihr  engeres  Gebiet  oder  ihre  Ausdehnung  auf  andere  Kunstwissen- 
schaften, auch  das  Werk  ihrer  Forscher  sein.  Alle  individualisierenden  Wissen- 
schaften enthalten  generalisierende  Elemente  und  umgekehrt '").  Aber  die  theoretische 
Konstruktion  einer  einheitlichen  Wissenschaft,  die  als  Unterabteilungen  zu  gleichen 
Teilen  zwei  methodisch  in  ihrem  Zwecke  entgegengesetzte  Forschungsweisen  ent- 
hält, erregt  Bedenken,  sowohl  theoretischer  wie  praktischer  Art.  Der  so  glücklich 
eingeleitete  Gedankenaustausch  zwischen  den  verschiedenen  Wissenschaften,  die  sich 
mit  Kunst  befassen,  wird  um  so  fruchtbarer  sein,  je  mehr  sich  jede  Wissenschaft 
ihrer  spezifischen  Eigenart  bewußt  bleibt. 


BEMERKUNGEN.  193 


Anmerkungen. 

')  Vgl.  auch  Wulffs  Bemerkungen  in  Zeitschrift  für  Ästhetik  IX,  1914,  556  ff. 

')  Vgl.  z.  B.  Oercke  in  Qercke-Norden,  Einleitung  in  die  Altertumswissen- 
schaft I,  35. 

')  Vgl.  Bernheim,  Lehrbuch  der  historischen  Methode  5  und  6,  S.  88. 

*)  Dessoir  im  Bericht  des  Kongresses  für  Ästhetik  1914,  S.  52  f.  und  Tietze, 
Die  Methode  der  Kunstgeschichte,  124  ff. 

s)  Neue  Jahrbücher  für  das  klassische  Altertum  und  für  Pädagogik  XIX,  1916, 81  ff. 

')  Wie  von  allen  älteren  Methodikern,  die  die  Erkenntnis  der  Sprache,  unab- 
hängig von  ihrer  Gestaltung  zum  Kunstwerk,  als  Wesen  der  Philologie  bezeichnet 
haben  (vgl.  Bernheim  a.  a.  O.  S.  87  ff.).  Dabei  ist  die  Parallele  der  Kunstgeschichte 
ebenso  übersehen,  wie  von  den  Kunsthistorikern  die  der  Philologie. 

')  Vgl.  Eduard  Meyer,  Zur  Theorie  und  Methodik  der  Geschichte  (Kleine 
Schriften),  S.  56  f.  -  Tietze  a.  a.  O.  S.  125  f. 

")  Vgl.  Bulle,  Handbuch  der  Archäologie,  Heft  1,  S.  15. 

')  Vgl.  hierzu  Ed.  Meyer  a.  a.  O.  S.  65. 

'")  Koepp,  Archäologie  I,  S.  7. 

' ')  Zu  der  Sprachwissenschaft  als  rein  historischen  Wissenschaft  vgl.  Ed.  Meyer 
a.  a.  O.  S.  5;  über  ihr  Verhältnis  zur  Sprachphilosophie  Oercke  a.  a.  O.  S.  109  f. 

'")  Vgl.  Ed.  Meyer,   Geschichte  des  Altertums  I,  V  (Anthropologie),  S.  182  ff. 

")  Vgl.  Tietze  a.a.O.  6  ff. 

■*)  Wilcken,  Archäolog.  Anzeiger  1917,  S.  170. 

"")  Dazu  vgl.  Ed.  Meyers  Polemik  gegen  Lamprechts  Methode  der  Geschichts- 
wissenschaft in  dem  oben  erwähnten  Aufsatz  »Zur  Theorie  und  Methodik  der  Ge- 
schichte«. In  der  Kunstgeschichte  wiederholt  sich  jetzt  der  gleiche  Kampf  um  die 
Methode,  der  in  der  Geschichtswissenschaft  schon  gegen  Lamprecht  entschieden  sein 
dürfte.  Als  Vertreter  der  konstruierenden  Richtung  vgl.  außer  Wulff  z.  B.  A.  Doren, 
Kari  Lamprechts  Geschichtstheorie  und  die  Kunstgeschichte  (Zeitschr.  f.  Ästhetik  XI, 
1916,  353  ff.)  und  R.  Hamann,  Die  Methode  der  Kunstgeschichte  und  die  allgemeine 
Kunstwissenschaft   (Monatshefte  für  Kunstwissenschaft  IX,    1916,  64  ff.). 

'")  Vgl.  die  in  gewisser  Hinsicht  parallelen  Bedenken  Heidrichs  gegen  die 
Problemgeschichte,  Zeitschrift  für  Ästhetik  VIII,  1913,  118  ff. 

")  Vor  allem  muß  dagegen  Einspruch  erhoben  werden,  als  ob  durch  die  syste- 
matische Kunstwissenschaft  die  Kunstgeschichte  gewissermaßen  auf  ein  höheres 
Niveau  gehoben  würde,  eine  Ansicht,  die  mehr  oder  minder  deutlich  auch  bei 
Hamann  und  Wulff  durchschimmert.  Es  kann  auf  Ed.  Meyers  Polemik  gegen  ent- 
sprechende Prätentionen  der  konstruierenden  Geschichtswissenschaft  verwiesen  werden 
(Alte  Geschichte  1,  1»,  185). 

")  Rickert,  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung  235  ff.  und  429  ff. 


Zeilschr.  f.  Ästhetik  ti.  all(t.  Kuiistwissenscliaft.    XIV-  13 


Besprechungen. 


Friedrich  Gundolf,  Goethe.    Berlin,  Georg  Bondi,  1917.   gr.  8».  795  S. 

Blicken  wir  zurück  auf  die  Reihe  von  Vorgängen,  durch  welche  Wert,  Wesen 
und  Bedeutung  der  großen  dichterischen  Persönlichkeiten  erfaßt  und  zu  einer  bil- 
dungsgeschichtlichen Überlieferung  verdichtet  worden  sind,  so  finden  wir  die  frucht- 
baren und  entscheidenden  Aufschlüsse,  soweit  sie  überhaupt  literarische  Form  an- 
genommen haben,  fast  ausschließlich  in  gelegentlichen  Äußerungen  und  Einzel- 
urteilen niedergelegt,  in  Kundgebungen,  die  unter  dem  Eindruck  der  künstlerischen 
und  menschlichen  Totalität,  mit  dem  Blick  auf  das  Ganze  der  schöpferischen  Person, 
den  geschichtlichen  oder  gesetzlichen  Zusammenhang  des  Geisteslebens  entstanden 
sein  mögen,  aber  andern  Ursprungs,  anderer  Anlage  sind  und  andere  Mittel  ge- 
brauchen als  die  auf  dem  Gebiete  der  historischen  Wissenschaften  erwachsenen 
Formen  der  Biographie,  deren  große  Beispiele  mit  diesen  Leitbegriffen  ihre  Aufgabe 
umschrieben  haben.  Zwischen  urteilslosem  Nachreden  und  peinlicher  Beschränkung 
auf  das  Selbsterforschte  bestehen  viele  JVlöglichkeiten  einer  lebendigen  Gesamtüber- 
zeugung von  nationaler  Kunst  und  Art,  sind  verschiedene  Grundlagen  zu  Gemein- 
vorstellungen von  der  persönlichen  Eigentümlichkeit  der  großen  Vertreter  des 
nationalen  und  menschlichen  Geistes  gegeben.  Es  ist  nicht  gleichgültig,  aus  welchen 
Kreisen  heraus  sie  verbreitet  werden  und  welche  Form  sie  annehmen.  Wie  sie 
auch  heute  noch  die  verschiedenen  Schichten  der  Bildung  beherrschen,  sind  sie 
nicht  durchgängig  aus  solidem,  auch  nicht  aus  reichem  JWaterial  erbaut.  Trotzdem 
ist  es  der  Wissenschaft,  der  reichhaltige  und  durch  sorgsam  geprüfte  Methoden  als 
zuverlässig  verbürgte  Stoffmassen  zur  Verfügung  stehen,  bisher  nur  in  recht  be- 
scheidenem Umfang  geglückt,  auf  die  Gestaltung  dieser  Überzeugungen  und  Ideen 
Einfluß  zu  gewinnen.  Ihre  Einwirkung  brachte  es  kaum  dahin,  tatsächliche  Korrek- 
turen durchzusetzen.  Die  deutsche  Bildung  insbesondere  ist  gewohnt,  von  der 
literarhistorischen  Forschung  um  so  weniger  zu  erwarten,  je  höhere  Aufgaben  diese 
sich  stellt. 

Trotz  diesen  Erfahrungen  und  Neigungen  unserer  bildungsgeschichtlichen 
Tradition,  die  allerdings  durch  so  manche  Unzulänglichkeit  dieser  Wissenschaft 
neuen  Anlaß  zu  bestärktem  Verharren  in  dieser  Gesinnung  fand,  deuten  einige  An- 
zeichen auf  einen  Wandel  der  Lage  hin,  und  es  ist  Sache  der  beteiligten  Wissen- 
schaft, diese  Zeichen  zu  deuten. 

Der  Erwartung,  von  einem  in  größeren  Dimensionen  ausgeführten  Bilde  be- 
deutender Persönlichkeiten  nicht  bloß  eine  Zusammenfassung  und  Weiterführung 
tatsächlicher  Feststellungen  und  Erkenntnisse,  sondern  eine  von  Grund  auf  neue 
Auseinandersetzung  mit  den  Erscheinungen  und  eine  frische  Anschauung  zu  er- 
halten, kommt  ein  verhältnismäßig  junges  Bildungsbedürfnis  zu  Hilfe.  Das  Ver- 
langen nach  einem  vertieften  Verständnis  des  produktiven  Menschen,  das  sich  nicht 
mit  der  Rechenschaft  über  die  eigene  Erfahrung  und  ebensowenig  mit  der  rhapso- 
dischen oder  aphoristischen  Mitteilung  noch  so  lebhafter  Eindrücke,  noch  so  weit- 
führender Einfälle   zufriedengibt,    ist   ein  Teil  jener  Kraft,   die   vom  Fragment   und 


BESPRECHUNGEN.  ]95 


der  Skizze  zum  ausgerundeten  Gebilde  strebt.  Es  ist  jünger  als  die  verschiedenen 
Formen  der  Heldenverehrung,  mit  der  es  sich  vereinigen,  aber  auch  widerstreiten 
kann,  erst  recht  jünger  als  das  Bedürfnis  nach  Übersicht  von  höher  gelegenen  Ge- 
sichtspunkten, das  durch  geschichtliche  Zusammenfassungen  größerer  Zeiträume 
oder  durch  systematische  Verarbeitung  befriedigt  zu  werden  pflegt,  schließlich  auch 
jünger  als  die  allgemeine  Erweckung  des  Bewußtseins  vom  Werte  der  Individuah'tät 
und  der  Trieb  zur  Versenkung  in  die  menschliche  Eigenart,  der  heute  noch  so  oft 
als  wichtigstes  Kennzeichen  historischen  Sinnes  gilt.  Es  bedeutet  nicht  Verneinung 
jener  vielfältigen  Reize,  die  dem  Oelegenheitsbekenntnis  und  andern  Zeugnissen 
einer  aus  dem  Augenblick  geborenen  Fühlungnahme  mit  großen  Menschen  und 
Werken  eigen  sind,  und  hat  mit  pedantischen  Forderungen  nach  Vollständigkeit 
nichts  zu  schaffen,  aber  es  setzt  die  Überzeugung  voraus,  daß  Ursprüngiichkeit  der 
Anschauung  und  Konzentration  der  Betrachtung  auch  in  den  großen  Formen  des 
wissenschaftlichen  Schrifttums  nicht  verloren  zu  gehen  brauchen. 

Wenn  die  groß  angelegte  und  durchgeführte  Monographie  für  das  moderne 
Geistesleben  überhaupt  einige  Bedeutung  besitzt,  so  beruht  diese  nicht  einmal  so 
sehr  auf  der  Durchschlagskraft  ihrer  Muster,  wie  wir  sie  von  der  Hand  eines  Justi, 
Dilthey,  Haym,  Erich  Schmidt  besitzen,  —  obwohl  sie  durch  ihren  Inhalt  auf  den 
Stand  der  Kenntnis,  das  konkrete  Urteil  der  Fachgenossen  teils  umwälzend  teils 
grundlegend  gewirkt  und  die  Arbeitsweise  verschiedener  Disziplinen  entscheidend 
beeinflußt  haben  — ,  wie  auf  der  Tatsache,  daß  eine  solche  weit  ausholende  und 
umfassende,  tief  in  den  Stoff  eindringende  und  stets  einen  erhöhten  Überblick 
wahrende  Behandlung  ein  neues,  die  moderne  Bildung  in  ihren  besten  Strebungen 
kennzeichnendes  Gefühl  für  die  Bedeutsamkeit  ihres  Gegenstandes  und  eine  neue 
Auffassung  von  den  Erfordernissen  und  Möglichkeiten,  diesem  gerecht  zu  werden, 
bezeugt. 

Was  für  Lessing,  Winckelmann,  Herder  und  Schleiermacher  erreicht  und  an 
diesen  offenbart  worden  ist,  an  der  Gestalt  zu  vollenden,  die  unser  Jahrhundert 
überschattet  und  erhellt,  auf  die  sich  die  wichtigsten  geistesgeschichtlichen  Dis- 
ziplinen, alle  Versuche  einer  Grundlegung  der  Ästhetik  und  der  übrigen  philoso- 
phischen Wissenschaften  zu  berufen  gewohnt  sind,  erscheint  als  eine  bedeutsame 
Kulturfrage,  wird  als  höchste  Bildungsaufgabe  und  wichtigste  Bewährungsprobe  der 
beteiligten  Wissenschaften  und  des  ganzen  Zeitalters  begriffen. 

Die  Voraussetzungen  für  eine  Darstellung  Goethes,  die  eine  selbständige  allge- 
meine Geltung  sich  verschaffende  Ansicht  seines  Wesens  zu  entwickeln  hat,  haben 
sich  in  unsern  Tagen  gegenüber  früheren  Generationen,  die  vor  die  gleiche  Auf- 
gabe gestellt  waren,  von  Grund  auf  verändert.  Wir  stehen  vor  einem  bereits  ins 
Unübersehbare  vermehrten  authentischen  Material,  dessen  bisherige  Verarbeitung 
das  Verständnis  der  Gesamtpersönlichkeit  mehr  zu  verwirren  als  zu  erhellen  scheint. 
Aber  selbst  wer  über  diese  Schwierigkeiten  —  durch  energische  Ausscheidung 
oder  vollständige  Aneignung  —  Herr  geworden  ist,  hat  noch  nicht  viel  mehr  als  die 
Anfangshindernisse  beseitigt.  So  lange  es  eine  Biographie,  eine  Künstlerpsychologie, 
überhaupt  geschichtliches  Verständnis  gibt,  sind  die  Grundlagen  der  Betrachtung, 
die  Hilfsmittel  der  Erfassung,  die  Anhaltspunkte  der  Motivation,  die  Kategorien 
und  Maßstäbe  mit  größerer  oder  geringerer  Naivität  einem  allgemeinen  Erkenntnis- 
stande entnommen  worden,  den  eine  waiter  ausgreifende  wissenschaftliche  Richtung 
repräsentiert,  ohne  daß  damit  das  Wesentliche  der  individuellen  Beziehung  des 
Darstellers  zum  Gegenstande  gegeben  ist.  In  der  Geschichte  des  Goethebildes  ist 
der  Gegensatz  zwischen  Naivität  und  gebildetem  Bewußtsein,  wie  ihn  Hegel  auf- 
gestellt hat,   öder  in  neuerer  Zeit  die   verschiedenen  Lehren  von   den  Typen  der 


196  BESPRECHUNGEN. 


geistigen  Organisation,  des  Weltverhältnisses,  der  Einstellung  als  Beispiele  anzu- 
führen für  die  Eingliederung  individueller  Beobachtungen  und  Erlebnisse  durch 
anderweitig  bewährte  Erkenntnismittel  in  einen  faßbaren  Zusammenhang  frucht- 
barer Vorstellungen. 

Heute  sind  nun  weit  auseinander  strebende  Richtungen  innerhalb  der  modernen 
Geisteswissenschaften  zu  Fragestellungen  gelangt,  deren  Beantwortung  oder  Fort- 
führung mit  einer  Darstellung  des  größten  deutschen  Lebens  zusammenfällt,  und 
die  auf  der  andern  Seite  dem  Betrachter  Goethes  den  Ausblick  auf  biographische, 
künstlerische,  geschichtsphilosophische,  pädagogische  und  darstellerische  Probleme 
eröffnen.  Sofern  sie  allgemeine  Ergebnisse  zutage  gefördert  haben,  durch  welche 
die  in  der  Geistesgeschichte  wirkenden  Zusammenhänge  und  Bedingungen  klar- 
gestellt werden,  erwächst  daraus  auch  für  den  auf  die  individuelle  Einzigkeit  ein- 
geschworenen Biographen  die  Verpflichtung,  sich  mit  diesen  Fragen  auseinander- 
zusetzen, zum  mindesten  sich  der  Konsequenzen  einer  grundsätzlichen  Ablehnung 
bewußt  zu  werden. 

Unmittelbar  nach  Goethes  Tode  klagte  Wilhelm  v.  Humboldt,  es  sei  ihm  und 
seinem  Kreise  »bloß  dadurch,  daß  er  nicht  mehr  unter  uns  weilt,  etwas  in  unsern 
innersten  Gedanken  und  Empfindungen  und  gerade  in  unserer  erhebendsten  Ver- 
knüpfung genommen«.  Inzwischen  ist  das  geschichtliche  Bild  Goethes  eine  Macht 
geworden,  deren  Wirkung  sich  nicht  in  der  konkreten  Aufnahme  seiner  dichterischen 
und  denkerischen  Produktion  erschöpft,  die  nicht  nur  unser  geistiges  Dasein  be- 
herrscht, sondern  auch  unsere  positive  Auffassung  vom  Gei.stigen  überhaupt  in  einem 
noch  höheren  Grade  von  Innerlichkeit  und  Ausschließlichkeit,  als  beim  Dichterischen 
der  Fall  ist,  geformt  hat. 

Den  Gehalt  dieser  »erhebenden  Verknüpfung«  aussprechen  heißt  nicht  die  Er- 
scheinung Goethes  als  Anlaß  zum  Vorbringen  angesammelter  Beschwerden  miß- 
brauchen und  die  eigene  Kulturkritik  mit  dem  Namen  Goethes  decken.  Aber  so- 
lange die  Gestalt  Goethes  die  bildungsgeschichtliche  Bedeutsamkeit,  die  wir  ihr  zu- 
erkennen, besitzen  wird,  solange  wird  auch  der  Darsteller  dieser  Gestalt  notge- 
drungen zum  Richter  seiner  eigenen  Zeit,  zum  Fortleiter  der  Hauptströme  ihrer 
Geistesarbeit.  Wenn  nicht  mehr  die  Notwendigkeit  gefühlt  werden  wird,  bei  dem 
Aufbau  des  Goethebildes  sich  zu  den  Grundtatsachen  unserer  Bildung  in  ein  zu- 
gleich unmittelbares,  zugleich  kritisches  Verhältnis  zu  setzen,  dann  wird  man  schon 
in  dieser  Tatsache  ein  Symptom  für  eine  gänzlich  veränderte  Stellung  der  Nation 
zu  Goethe  erblicken  dürfen. 

Niemand  wird  behaupten,  daß  die  Anforderungen  an  eine  Darstellung  Goethes, 
wie  sie  sich  aus  der  Erkenntnis  der  geschilderten  Sachlage  ergeben,  aus  dem  Pro- 
blemstande derjenigen  wissenschaftlichen  Disziplin  heraus  entwickelt  werden  können, 
in  deren  Bereich  die  Bearbeitung  des  Hauptteils  von  Goethes  Lebensäußerungen 
fällt.  Die  literaturgeschichtliche  Forschung  ist  nicht  planlos  verfahren.  Sie  hat 
Arbeitsprogramme  aufgestellt  und  teilweise  auch  verwirklicht,  deren  Weite  auch 
den  kleineren  und  kleinlichen  Teilbeiträgen  etwas  von  der  Würde  ersetzte,  die  die 
meisten  an  sich  vermissen  ließen,  und  für  einen  nicht  gerade  übelwollenden 
Beobachter  mußte  es  schon  seit  längerer  Zeit  erkennbar  geworden  sein,  daß  sich 
aus  der  eindringlichen  Arbeit  ganzer  Forschergenerationen  eine  noch  ungestaltete 
Goetheauffassung  herausbildete,  die  sich  über  das  Niveau  der  formulierten  Äuße- 
rungen beträchtlich  erhebt.  Wenn  es  trotz  allen  so  oft  ausgesprochenen  Ver- 
heißungen und  Wünschen  nicht  gelungen  ist,  auf  der  Grundlage  dieser  Forschungen 
und  im  Zusammenhange  mit  den  theoretischen  Interessen,  die  die  Mehrzahl  der 
Literarhistoriker  von  Rang  und  Ruf  beherrschen,  ein  groß  angelegtes,  die  Fülle  der 


-i 


BESPRECHUNGEN,  197 


Einzelerkenntnisse   zu    sprechenden  Linien  verdichtendes,  die  Gesinnung  des  Zeit- 
alters repräsentierendes  Qoetheblld  zu  entwerfen,  so  darf  diese  Tatsache  allein  noch 
nicht  zu  absprechender  BeurteiUing  verführen,    wenn    sie   auch  nicht  bedeutungslos 
für  die  Qesamteinschätzung  ist.    Selbst  innerhalb  der  beteiligten  Kreise  ist  das  ge- 
fühlt und  vielfach   ausgesprochen  worden,  und  in  Verbindung  mit  ähnlichen  auf 
andern  Gebieten  der  Forschung  gemachten  Erfahrungen  ist  hieraus  das  Programm 
einer  synthetischen  Literaturwissenschaft   erwachsen,  die  Forderung  einer  stärkeren 
Durchdringung  des  wissenschaftlichen  Verfahrens  mit  »philosophischem  Geist-,  wo- 
bei auf  der  einen  Seite  weniger   an  die  Forschung  als  an  die  Darstellung  gedacht 
und   anderseits   unterlassen   wurde,   innerhalb   des   Kreisens    und    Kreuzens  philo- 
sophischer Richtungen  eine  bestimmte  und  bewußte  Stellungnahme  zu  umschreiben. 
Aber   nicht   diese   Besinnungen   haben  Epoche   in  der  jüngsten  Geschichte  des 
Goetheverständnisses  gemacht,  sondern  das  fast  gleichzeitige  Erscheinen  der  Bücher 
von    Georg   Simmel    und    H.  St.  Chamberlain.     Beide    suchen    die    Persönlichkeit 
Goethes  in  Bildern  zu  erfassen,  deren  IVIotive   durch   die  großen  geistesgeschicht- 
lichen Begriffe  moderner  Lebensdeutung  bestimmt  sind.    Beide   suchen   das  durch- 
waltende Urphänomen  des  Goethischen  Geistes  und  hinter  diesem  noch  ein  letztes 
Personal-Allgemeines  zu  begreifen.     Beide   haben  eine  starke   innere  Wirkung  aus- 
geübt,  und    beide   verhalten   sich    zu   der  von  der  Literaturgeschichte  ausgehenden 
Goetheforschung  grundsätzlich  ablehnend.    Im    übrigen  erlaubt  die  Verschiedenheit 
in   der  Form    und  Gesinnung   keine   nähere  Zusammenstellung.     Chamberlain  ver- 
fährt dogmatisch  klassifizierend,  Simmel   ist  sich   bewußt,   daß  das  Gesamtbild  von 
Goethes  Individualität    nicht  unmittelbar   ausgedrückt    werden   kann.     Chamberlain 
stellt  Goethe  als  Vorbild  hin,  Simmel    sucht,   auch  wo   er  von  Goethes  Normalität 
spricht,   den  Sinn  dieser   Erscheinung  zu  deuten.    Wissenschaftsgeschichtlich   liegt 
der  Wert  des  Chamberlainschen  Buches  in  der   starken  Betonung  der  naturwissen- 
schaftlichen Erkenntnisleistung  Goethes.     Die  Partien,   in  denen   Goethes  Dichtung 
und  Lebensanschauung,  seine  geschichtliche  Gestalt  und  Wirkung  behandelt  werden, 
fallen  dagegen  ab.   Auf  die  Eigentümlichkeit  des  Gepräges  angesehen,  wirkt  Cham- 
berlains  Grundauffassung   wie   seine   darstellerische  Art,   zumal   gegen  Simmel   ge- 
halten,   uninteressant,   abgesehen    von    seiner   menschlichen    Unerfreulichkeit.     Mit 
Simmel  tritt  die  Anteilnahme  der  deutschen  Philosophie  an  Goethe,  die  eine  reiche 
und    nicht   unrühmliche   Tradition    hat,   in    eine   neue    Phase.    Wenn    Simmel   die 
Existenz  Goethes  zu  begreifen  sucht,  so  weist  er  dieser  ebenso  ihren  Ort  in  seinem 
geistigen    Interessenzusammenhang    an,    wie   er   in    seiner  Aussprache    über  diese 
Operation  tiefer  in  den  Grund  der  letzten  geistigen  Bedeutsamkeiten  hinunterfaßt 
Was  hierbei  zu  Tage  gefördert  wird,    muß  vor  allem  als  Teilerscheinung  innerhalb 
des  Ganzen  der  Simmelschen  Philosophie,  die  ihrerseits  als  eine  würdige  Repräsen- 
tation des  modernen  Geistes  aufzufassen  ist,  gewürdigt  werden.     Sollen  die  inhalt- 
lichen Bestimmungen,  die  hier  vorgetragen  werden,  in  den  Stufengang  der  Goethe- 
erkenntnis eingeordnet  werden,  so   entsteht   leicht  ein   falscher  Eindruck,   der  erst 
berichtigt  werden  kann,  wenn  die  Wirkungen  der  einzelnen,  nicht  als  Hauptergeb- 
nisse formulierbaren  Ausführungen  dieses  Buches  auf  die  Goethekundigen  festzu- 
stellen sind. 

Daß  Simmeis  Goethebuch  für  die  deutsche  Bildung  nicht  den  Brennpunkt  des 
Goetheverständnisses  darstellt,  liegt  zum  Teil  in  denselben  allgemeinen  Ursachen 
begründet,  die  seine  Gesamtphilosophie  trotz  starker  und  vielfältiger  Wirkung  und 
Bedeutung  nicht  zu  einer  beherrschenden  Macht  werden  lassen;  aber  auch  in 
seinem  besonderen  Verfahren.  Simmel  setzt  das  Ganze  des  Goethischen  Lebens 
und  der  Goethischen  Kunst  als  Dasein  und  Erlebnis  voraus  und  sucht  diese  in  die 


198  BESPRECHUNGEN. 


ganze  Weite  der  seelischen  Bewegtheit,  in  die  Höhe  der  Begrifflichiceit,  in  die  Tiefe 
der  weitgeschichtlichen  Gegensätze  einzustellen.  Die  Schranke  solcher  Erörterungen 
scheint  mir  weniger,  wie  Simmel  will,  durch  die  individuelle  Bestimmtheit  jenes 
primären  Erlebnisses  gegeben  zu  sein,  von  dem  die  philosophischen  Weiterführungen 
genährt  werden,  als  vielmehr  in  der  Tatsache  des  Vorausgesetztseins.  Die  Inhalte 
dieses  »Erlebnisses«  sind  mächtig  genug,  um  ihr  Übergewicht  gegen  jede  Weiter- 
führung zu  behaupten,  sie  müssen  jeden  Augenblick  frisch  beschworen  werden 
und  lassen  sich  nicht  »voraussetzen«.  Außerdem  ist  das  Wort  »Erlebnis«,  dessen 
Sinn  auf  einen  Einzelakt  zielt,  im  Grunde  schlecht  geeignet,  das  konkrete  Verhältnis 
des  Betrachters  zu  einer  künstlerischen  und  menschlichen  Totalität  erschöpfend  zu 
bezeichnen. 

Ein  Werk,  das  eine  ständig  erfüllte  Anschauung  von  Goethes  Totalität  bietet, 
ohne  die  unmittelbare  Beziehung  zu  den  besonderen  Lebenszuständen  und  den 
hieraus  geflossenen  dichterischen  und  denkerischen  Einzeläußerungen  vermissen  zu 
lassen,  besitzen  wir  nunmehr  in  Qundolfs  »Goethe«.  Das  Kennzeichnende  dieses 
Buches  ist  die  auf  jeder  Seite  zum  unverblaßten  Ausdruck  kommende  Unmittelbar- 
keit der  Stellungnahme,  bedingt  durch  ein  starkes  Gefühl  des  Dichterischen,  ge- 
hoben durch  eine  lebhafte  Idee  von  Geistigkeit  und  naturhafter  Menschlichkeit,  ge- 
lenkt durch  vertiefte  bildungsgeschichtliche  Erfahrungen.  Der  Verfasser  spricht  als 
Literarhistoriker,  aber  er  sucht  weder  äußerlich  noch  innerlich  engeren  Anschluß 
an  die  literarhistorische  Goetheforschung,  von  deren  Beruf  er  nicht  eben  hoch  denkt. 
Aber  auch  wer  sich  getroffen  fühlt,  wessen  besondere  Interessen  hier  nicht  befriedigt 
werden,  wer  mit  Forderungen  an  das  Buch  herangeht,  die  dieses  entweder  nicht 
befriedigen  will  oder  kann,  oder  wer  von  einem  andern  Standpunkte  aus  kritische 
Vorbehalte  zu  äußern  gezwungen  ist,  wird  das  neue  Buch  Qundolfs  als  ein  geistes- 
geschichtliches Ereignis  bezeichnen  müssen,  wichtig  genug,  um  dieses  dem  gesamten 
Verlauf  der  bisherigen  Goethestudien  gegenüberzustellen,  um  alle  Erwartungen 
wachzurufen,  die  sich  an  die  Darstellung  der  stärksten  geistigen  Wirksamkeit  für 
ein  Kulturbewußtsein  knüpfen,  das  gegen  exemplarische  Persönlichkeiten  nicht 
gleichgültig  ist  und  über  die  Bedeutung  des  Klassischen  ins  klare  zu  konimen 
sucht.  Es  ist  nicht  wahrscheinlich,  daß  nach  Gundolfs  Buch  in  absehbarer  Zeit 
der  Versuch  gewagt  werden  wird,  ein  neues  Qoethebild  aufzustellen.  Schon  heute 
ist  das  Buch  als  ein  geschichtlicher  Machtfaktor  zu  betrachten,  der  nicht  bloß  auf 
die  Goetheauffassung  der  nächsten  Generationen  bestimmend  einwirken  wird.  Da- 
mit ist  auch  für  die  Aussichten,  die  sich  einer  zustimmenden  oder  ablehnenden 
Kritik,  Einwänden  oder  Weiterführungen  eröffnen,  der  Rahmen  abgesteckt.  Auf 
der  andern  Seite  hat  die  heutige  Kritik,  die  sich  ihrer  Aufgabe  bewußt  bleibt,  allen 
Anlaß,  die  eine  Gunst  ihrer  Situation  auszunutzen:  nämlich  Verfahren  und  Erfolg 
mit  demjenigen  Maß  von  natürlich  gegebener  Unbefangenheit  zu  würdigen,  das 
spätere,  unter  der  Wirkung  des  Werkes  aufgewachsene  Beurteiler  sich  erst  durch  um- 
ständliche Methodik  erringen  müssen. 

Gegenüber  einer  Gewohnheit,  die  auch  bei  der  Würdigung  einer  Leistung  des 
künstlerischen  und  geschichtlichen  Verstehens  die  Frage  nach  dem  Grunderlebnis 
des  Verfassers  in  den  Vordergrund  zu  rücken  liebt,  muß  betont  werden,  daß  eine 
solche  Einstellung  teils  auf  das  Selbstverständliche,  teils  auf  das  Unausdrückbare 
trifft,  dagegen  an  Bedingungen,  die  für  das  Zustandekommen  des  Geleisteten 
wesentlich  sind,  vorbeigeht.  Außerdem  gibt  der  Erlebnisbegriff,  wie  wir  ihn  in  der 
literarhistorischen  und  philosophischen  Literatur  angewendet  finden,  dem  Divinato- 
rischen  zu  wenig  Raum  —  aber  ganz  hiervon  abgesehen:  selbst  dem  bekenntnis- 
freudigsten Darsteller  ist  —  bei  einiger  Selbstkritik    —  der  wichtigste  Zweck   nicht 


BESPRECHUNGEN.  199 


die  Kundgabe  seiner  Erlebnisse,  sondern  die  Begründung  einer,  mit  dem  alten 
Schlosser  zu  reden,  »freien  Ansicht«  der  Persöniichi<eit,  der  seine  Darstellung  gilt. 
Mag  er  als  Kritiker  sich  zu  dem  einzelnen  Werk  oder  als  Historiker  zu  einem 
größeren  Zusammenhang  von  Werken  und  andern  Lebensäußerungen  in  Beziehung 
setzen,  die  »freie  Ansicht«  ist  nicht  das  zwangsläufig  sich  einstellende  Resultat  des 
»reinen  Erlebens« ;  sondern  es  kommt  zustande  durch  den  Zutritt  eines  konstruk- 
tiven Elements,  und  meist  ist  es  gerade  dieses,  was  die  neu  begründete  Anschauung 
wertvoll  und  bedeutsam  macht.  Schillers  Oeburtstagsbrief  vom  28.  August  1794,  die 
Fragmente  der  jungen  Romantiker,  Wilhelm  v.  Humboldts  Rezension  des  zweiten 
römischen  Aufenthalts  und  sein  Nachruf  im  18.  Kunstvereinsbericht,  die  gelegent- 
lichen Aussprüche  Hegels  und  Schopenhauers  —  alle  diese  Zeugnisse  einer  starken 
Anschauung  und  eines  tiefen  Erlebens  von  Goethes  Wesen  und  Werk,  die  den 
Grund  zu  unserer  Oemeinüberzeugung  gelegt  haben,  weisen  solche  konstruktiven 
Züge  auf,  Synthesen  des  Erlebnisinhalts  und  der  den  Erlebenden  eigentümlichen 
geistesgeschichtlichen  Tendenzen.  Nicht  bloß  die  von  einem  Systemgedanken  be- 
herrschten Philosophen  von  Hegel  bis  Simmel,  auch  Betrachter  von  der  Art  Viktor 
Hehns  und  Herman  Grimms  haben  ihr  Goetheerlebnis  in  den  Zusammenhang 
ihrer  bildungstheoretischen  Interessen  einzugliedern  gestrebt,  der  eine  als  Kultur- 
historiker der  Formen  des  Menschenlebens,  der  andere  als  Typologe  repräsentativer 
Individualitäten,  und  jene  berühmte  Leistung  Schillers,  die  Goethe  selbst  als  das 
Ziehen  der  Summe  seiner  Existenz  bezeichnet  und  begrüßt  hat,  ist  in  Wirklichkeit 
eine  Einstellung  dieser  Summe  als  Posten  in  Schillers  eigene  Rechnung.  Der  Ein- 
druck, den  Schiller  mit  dieser  Umschreibung  des  Goethischen  Wesens,  dieser  For- 
mulierung von  Goethes  Aufgabe  auf  diesen  und  die  Anschauung  der  Nachwelt  her- 
vorgerufen hat,  beruht  mindestens  ebensosehr  wie  auf  den  objektiv  erfaßten 
Wesenselementen  auf  der  Anregungskraft  der  aus  Schillers  eigenem  Kulturbewußt- 
sein erwachsenen,  die  Bildungsinteressen  mehrerer  Generationen  fesselnden  Ge- 
staltungselemente. 

Wie  Schiller  das  Dasein  Goethes  in  dem  Problem,  »unter  nordischem  Himmel 
ein  Grieche  zu  werden,«  gipfeln  ließ,  wie  für  die  Romantiker  der  »Statthalter  des 
poetischen  Geistes  auf  Erden«,  wie  für  Viktor  Hehn  der  Gestalter  der  Naturformen 
des  Menschenlebens«  eine  übergreifende  Bedeutsamkeit  gewann,  die  das  objektiv 
Erfaßte  in  einen  erleuchtenden  Zusammenhang  setzte,  durch  welche  die  allgemeinen 
Ideen  von  Kunst,  Natur,  Welt  und  Geschichte  neugestaltet  wurden,  so  ist  es  auch 
Gundolf  gelungen,  in  der  Erscheinung  Goethes  einen  bedeutenden  Grundzug  her- 
vortreten zu  lassen,  der  gleichzeitig  den  vielfältigen  Einzelerfahrungen  einen  einheit- 
lichen Sinn  gibt,  eine  menschheitsgeschichtliche  Perspektive  öffnet  und  ein  tieferes 
Bildungsinteresse  unserer  Gegenwart  berührt. 

Es  ist  dies  die  Auffassung  Goethes  als  des  großen  dichterischen  Menschen, 
dem  es  bestimmt  war,  in  einer  undichterischen  Weltepoche  zu  leben,  im  bürger- 
lichen Zeitalter,  während  es  Shakespeare  beschieden  war,  in  einer  Periode  zu 
wirken,  groß,  heroisch,  ritteriich  und  gefähriich  genug,  um  sich  von  der  sittigen 
Bürgerwelt  als  mythischer  Hintergrund  abzuheben. 

In  Shakespeare  sieht  Gundolf  den  letzten  und  einzigen  Dichter,  der  schon  und 
noch  innerhalb  der  modernen  bürgerlichen  Welt  das  heroische  Pathos  gerettet, 
lebendig  und  leibhaft  gezeigt  hatte,  nicht  als  rückblickende  Romantik,  sondern  als 
selbstverständliche  gegenwärtige  Haltung,  nicht  als  pittoreske  Theatergeste,  sondern 
als  unmittelbare  Sprache  des  Herzens.  Wenn  in  Goethe  das  dichterische  Leben 
nicht  als  selbstverständliche  Haltung,  sondern  als  Konflikt  der  fühlenden  Einzel- 
natur mit  einer  versagenden  Gesellschaft  zum  Ausdruck  kommt,  so  ist  dies   nach 


200  BESPRECHUNGEN. 


Gundolfs  Ansicht  nicht  weniger  in  der  geschichtlichen  Lage  als  in  der  individuellen 
Organisation,  für  die  genügend  Selbstzeugnisse  vorliegen,  zu  begründen.  Damit 
wäre  jedoch  nur  eine  Anlage  umschrieben,  wie  sie  zahllosen  modernen  Naturen 
innerhalb  und  außerhalb  des  dichterischen  Lebenskreises  eignet.  Das  Entscheidende 
ist  der  Ausweg,  den  Goethe  gefunden  hat,  und  es  darf  vielleicht  als  stärkste  Leistung 
des  Gundolfschen  Buches  angesehen  werden,  daß  er  die  Größe  des  Opfers,  das 
dieser  Ausweg  bedeutet,  mit  allen  Konsequenzen  zu  begreifen  sucht.  Goethes 
Leben,  das  mit  dem  Anspruch  auf  völlige  Auswirkung  seiner  selbst  um  jeden  Preis 
bis  zum  heroischen  oder  tragischen  Untergang  anhebt,  schließt  mit  dem  Verzicht 
zugunsten  der  begrenzten  aber  menschlich  nutzbaren  Auswirkung. 

Die  Feststellung  dieses  Verzichtes  will  nicht  besagen,  daß  wir  an  Goethes 
Werk  und  Leben  etwas  zu  vermissen  haben,  sondern  nur,  daß  es  seiner 
eigenen  ursprünglichen  Idee  vom  Erreichbaren,  die  einen  Verzicht  ausschloß, 
nicht  genügte. 

Inhaltlich  bestimmt  wrird  dieser  Verzicht  als  Aufgeben  des  jugendlichen  Titanen- 
traumes, als  Anerkennung  der  von  Natur  und  Gesellschaft  gesetzten  Grenzen  zum 
Zwecke  der  Sicherung  und  Rettung  der  persönlichen  Existenz.  Daß  er  die  tiefste, 
den  Gehalt  des  ganzen  Daseins  durchströmende  innere  tragische  Erfahrung  Goethes 
bedeutet,  sucht  Qundolf  an  dem  Abschluß  des  Faust  und  des  Wilhelm  Meister 
klarzulegen  und  an  dem  Verhalten  Goethes  zu  Persönlichkeiten  wie  Napoleon  und 
Byron.  Dem  dämonischen  Kaiser  und  dem  dämonischen  Lord  neidete  Goethe  >mit 
einer  Art  erhabenen  Neides«  die  Freiheit  und  den  Zwang,  die  prometheisch-cäsa- 
rische  Bahn  zu  durchstürmen  bis  zum  heroisch-tragischen  Untergang.  In  ihnen  be- 
grüßte der  Weimaraner  Weltbetrachter,  verwurzelt  in  einer  bürgerlichen  Welt,  die 
er  überragte,  Boten  aus  der  Urheimat  der  Dichtung  jenseits  aller  Bürgerwelt,  die 
ihre  volle  Freiheit  mitten  im  modernen  Dasein  bewahren  durften. 

Diese  Auffassung  von  der  »Entsagung«,  die  das  tatsächlich  Vollbrachte  als 
durch  das  Opfer  noch  größerer  Vollbringungen  dem  Schicksal  abgekauft  ansieht, 
geht  hinaus  ebenso  über  die  harmonisierende  Lehre  Simmeis,  der  die  Resignation 
in  den  positiven  Sinn  des  Goethischen  Lebens  und  dessen  ursprünglich  gesetzlichen 
Plan  hineingehören  läßt,  wie  über  den  Einfall  Chamberlains,  in  einer  nicht  näher 
bestimmten  Steigerung,  die  Goethe  mit  der  Idee  seiner  selbst  vorgenommen  haben 
soll,  dessen  wahre  Größe  zu  bewundern.  Hier  handelt  es  sich  wirklich,  was 
Simmel  bestreitet,  um  eine  vom  Schicksal  aufgedrängte  Verkürzung  der  Lebens- 
expansion, um  einen  dem  Selbst  abgerungenen  Entschluß,  nicht  bis  ans  Ende  zu 
gehen,  und  es  ist  durchaus  nicht  unstatthaft,  wenn  Oundolf  die  Schatten  Shake- 
speares und  Dantes  anruft,  die  in  die  tragische  Hölle  eingedrungen  sind,  auch 
ohne  die  Gewißheit,  wieder  heil  herauszukommen. 

Zu  den  Voraussetzungen  einer  Betrachtung,  die  in  der  Idee  des  Verzichtes  den 
Schlüssel  zum  Verständnis  von  Goethes  dichterischer  und  menschlicher  Entwicklung 
findet,  gehört  —  neben  der  Neigung,  die  Möglichkeit  der  reinen  dichterischen 
Existenz  an  eine  bestimmte  Kulturstufe  zu  binden  —  eine  entschiedene  Stellung- 
nahme für  das  Dionysische  und  gegen  das  Apollinische,  die  sich  der  Diskussion 
entzieht.  Von  ähnlichen  Gesichtspunkten  aus,  auf  Grund  der  gleichen  Empfindungs- 
weise ist  schon  öfter,  bereits  in  den  späteren  Phasen  der  Romantik,  im  Zusammen- 
hang mit  der  jungdeutschen  Bewegung  und  dann  unter  der  unmittelbaren  Einwir- 
kung Nietzsches  der  Versuch  einer  Auseinandersetzung  mit  Goethe  unternommen 
worden,  wobei  die  Dichtung  und  Lebensanschauung  des  jungen  Goethe  ausschließ- 
lich positiv  bewertet,  alles  Spätere  als  Abfall,  Erkalten  oder  Niedergang  empfunden 
wurde.    Gundolf  unterscheidet  sich  von  diesen  Wertungen  trotz  mancher  Ähnlich- 


BESPRECHUNGEN.  201 


keit  des  Ausgangspunktes  und  vieler  Berührungen  in  der  Stellungnahme  doch  von 
Grund  auf  durch  eine  abweichende  Gesamthaltung.  Ihm  liegt  nichts  ferner  als 
die  Gesamterscheinung  herabdrücken  zu  wollen.  Er  bringt  für  die  Wahlverwandt- 
schaften nicht  weniger  Bewunderung  auf  als  für  den  Urmeister.  Wenn  er  nun  dar- 
legt, wie  aus  dem  leidenschaftlich  drängenden,  dämonisch  getriebenen  und  schöpfe- 
risch strebenden  der  durch  Tätigkeit,  Schau,  Forschung  und  Erfahrung  sich  bildende 
Goethe  entsteht  und  zur  Erkenntnis  der  überpersönlichen  Natur-  und  Schicksals- 
gesetze fortgeht,  wenn  er  die  Wandlung  als  Ȁhritt  vom  geistig-sinnlichen  Schauen 
zum  vernünftigen  Begreifen«  bezeichnet,  als  Fortschreiten  vom  Eindruck  zur  Gestalt 
und  von  der  Gestalt  zum  Gesetz,  so  hat  er  kaum  nötig,  sich  dagegen  zu  verwahren, 
den  Ausdruck  Fortschreiten  irgendwie  wertend  gemeint  zu  haben,  besonders  ange- 
sichts der  Tatsache,  daß  damit  die  Entwicklung  einer  Dichternatur  gekennzeichnet 
werden  soll.  Vielmehr  erwächst  aus  diesen  ohne  Emphase  vorgebrachten  Feststel- 
lungen wie  aus  den  ohne  werfende  Absicht  gewählten  charakterisierenden  Bei- 
wörtern doch  der  Eindruck,  daß  eigentlich  nur  der  Lebenszustand  und  der  Schaffens- 
prozeß des  jungen  Goethe  die  Anschauungen,  die  Gundolf  vom  Dichterischen  hat, 
erfüllt,  und  daß  der  Greis  nur  in  vereinzelten,  an  tragische  Selbstzerstörung  grenzen- 
den Momenten  zum  wirklich  dichterischen  Dasein  erglüht. 

Es  bedeutet  immer  eine  Schwierigkeit  für  einen  Biographen,  wenn  sein  Held 
in  späteren  Entwicklungsstadien  keine  Steigerung  derjenigen  Eigenschaften  offen- 
bart, auf  denen  seine  ursprüngliche  Sendung  beruht,  oder  wenn  er  gar  Wandlungen 
anheimfällt,  die  ihm  die  persönliche  Anteilnahme  des  Darstellers  nicht  mehr  be- 
wahren. Gundolfs  Interesse  für  den  reinen  Dichtermenschen  ist  zu  stark,  als  daß 
auch  die  höchsten  restlichen  Lebensmomente  der  praktischen  Weltweisheit,  der 
metaphysischen  Erleuchtung,  der  Überlegenheit  der  Bildung,  ja  die  ganze  vollendete 
JVlenschlichkeit  des  Olympiers  ihn  dafür  entschädigen  könnte,  daß  der  lyrische 
Durchbruch  des  unmittelbaren  Lebens  zur  Sprache  immer  mehr  zurücktritt.  Es 
handelt  sich  um  Schwererwiegendes  als  um  die  allgemeine  Erfahrung,  daß  die 
Kundgebungen  des  Fertigen  weniger  reizen  als  die  Zeugnisse  des  Werdenden,  und 
es  ist  interessant,  von  hier  aus  einen  Blick  auf  Diltheys  Auffassung  zu  werfen,  der 
eine  ähnlich  gegliederte  Entwicklung  statuiert,  aber  diese  ganz  verschieden  be- 
wertet. Dilthey  sieht  in  der  Festigung  der  bürgerlichen  Ordnung  ein  günstiges 
IVloment  für  die  Persönlichkeitsentfaltung,  er  sieht  in  der  Schicht  von  Nachdenken, 
die  sich  immer  breiter  über  die  dichterische  Existenz  lagert,  den  mütterlichen  Boden, 
aus  dem  die  große  Dichtung  erwächst,  er  bezieht  Goethe  in  eine  Epoche  der 
großen  deutschen  Dichtung  ein  und  diese  Epoche  wieder  in  die  große  europäische 
Geistesbewegung,  durch  welche  die  Autonomie  der  menschlichen  Vernunft  begründet 
worden  ist.  Den  Gegensatz  dieser  dichterischen  Entwicklung  zu  der  anderer 
europäischer  Völker,  die  das  Zeitalter  der  Phantasie  erfüllte  und  in  die  Anfänge 
des  wissenschaftlichen  Zeitalters  hineinreicht,  verschweigt  Dilthey  durchaus  nicht, 
aber  er  ist  weit  entfernt,  die  deutsche  Entwicklung  deswegen  auch  in  ihren  rein 
dichterischen  Tendenzen  geringer  zu  bewerten,  wenn  er  auch  hervorhebt,  wieviel 
schwieriger  ihr  Weg  gewesen  ist.  So  kann  er  in  dem  Aufhören  des  Titanismus 
keine  Beeinträchtigung  der  ursprünglichen  Lebensenergien  erblicken.  Für  ihn  ist 
der  greise  Goethe  kein  Verzichtender.  Er  sieht  ihn  leben  im  vollen  Bewußtsein 
seiner  Persönlichkeit,  die  ihres  Wertes  ganz  sicher  geworden  ist,  in  der  Hingabe 
an  breite  Lebenserfahrungen,  die  er  mit  Behagen  genießt,  im  Umgang  mit  den 
großen  Menschen  aller  Zeiten,  eine  Vollendung  im  Wachsen  und  Ausweiten,  nicht 
in  Entsagung  und  durch  Opfer  erkauft.  Dilthey  konnte  auf  der  Grundlage  dieser 
Anschauungen  mit  einer  gewissen  Genugtuung  die  Dichtergabe  als  nur  eine,  wenn 


202  BESPRECHUNGEN. 


auch  höchste  Manifestation  einer  schaffenden  Gewalt  ansehen  und  sich  des  Zu- 
sammenhanges von  Leben,  Bilden  und  Dichten  erfreuen,  dessen  Grund  für  ihn  im 
wissenschaftlichen  Studium  liegt,  dessen  Ergebnis  er  als  Wahrheit,  reine  Natürlich- 
keit, unbefangene  Auslegung  unseres  Daseins  anspricht. 

Es  ist  überflüssig  und  würde  eher  verdunkelnd  als  fördernd  wirken,  wenn  man 
die  Ansicht  Diltheys,  die  als  eine  gesteigerte  Vertretung  der  wissenschaftlichen 
Gemeinüberzeugung  bezeichnet  werden  darf,  oder  die  Gundolfs,  die  einer  von 
bedeutenden  und  sich  ihres  Gegensatzes  zum  antik-romanischen  Wesen  bewußten 
Repräsentanten  des  deutschen  Geistes  angenommenen  Haltung  eine  neue  Wendung 
gibt,  auf  ihre  dokumentarische  Richtigkeit  untersuchen  wollte.  Die  bloße  Gegen- 
überstellung genügt,  Recht  und  Grenzen  der  von  Oundolf  vorgetragenen  Auffassung 
zu  erweisen.  Weiter  wird  aber  hierdurch  klar,  daß  es  sich  für  Gundolf  um  mehr 
handelt  als  bloß  um  die  Lösung  einer  darstellerischen  Aufgabe,  wenn  er  die  aus 
dem  Zusammenströmen  dieser  auch  von  ihm  voll  gewürdigten  gesteigerten 
Lebensmomente  sich  ergebende  und  in  dem  gesonderten  Hervortreten  jedes 
einzelnen  Lebensmomentes  sich  offenbarende  Größe  der  Erscheinung  faßbar  zu 
machen  sucht. 

Das  Hinstreben  zum  Zentrum  der  Goethischen  Persönlichkeit  erfolgt  hier  nicht 
unter  Verzicht  auf  die  Auseinandersetzung  mit  den  einzelnen  Werken.  Vielmehr 
wird  Goethes  Wesen  und  Bildungsgesetz,  seine  geschichtliche  Größe  und  seine 
überzeitliche  Bedeutsamkeit  begriffen  mitten  im  Klarwerden  über  seine  geistigen 
Schöpfungen.  Das  Verstehen  der  dichterischen  Gebilde  steigert  die  Auffassung  der 
schöpferischen  Individualität  und  empfängt  seinerseits  Halt,  Richtung  und  Maßstab 
aus  dieser.  Selbst  in  den  Partien,  wo  ein  Zurücktreten  weniger  der  dichterischen 
Kraft  als  des  dichterischen  Weltverhältnisses  festgestellt  wird,  bleibt  Gleichgewicht 
und  Zusammenhang  zwischen  der  Erfassung  der  konkret  vorliegenden  Produkte 
mit  der  Vergegenwärtigung  des  Seelenzustandes  und  des  Lebensplanes  gewahrt. 
So  fließt  die  Darstellung  Gundolfs  aus  einem  einheitlichen,  sich  ständig  erneuern- 
den Prozeß,  der  etwa  bei  Chamberlain  völlig  erstarrt  und  zerschnitzelt,  bei  Simmel 
in  erlebnishafte  Voraussetzung  und  sinngebende  Fortführung  gespalten  erscheint. 
Diesem  Verfahren  dankt  Gundolf  die  Möglichkeit,  einen  sicheren,  kräftig  betonten 
Standpunkt  jenem  Problem  gegenüber  zu  gewinnen,  in  welchem  sich  die  all- 
gemeinen Grundfragen  des  geschichtlichen  Verständnisses  und  der  künstlerischen 
Auffassung  begegnen  und  verwirren:  der  Frage,  wie  das  Verhältnis,  in  dem 
die  dichterische  Persönlichkeit  und  das  dichterische  Werk  zueinander  stehen,  zu 
fassen  sei. 

Die  Entscheidung  dieser  Frage  ist  letzten  Endes  bestimmend  für  die  Anlage, 
Form  und  den  Inhalt  der  ganzen  Darstellung.  Wer  glaubt,  es  genüge,  einen  mehr 
oder  minder  lebhaften  und  ausgestalteten  Gesamteindruck  der  einzelnen  Werke  mit 
einer  tatsachengetreuen  Verarbeitung  des  urkundlichen  Materials  über  die  empirischen 
Lebensdaten  zusammenzufügen,  der  wird  in  der  absterbenden  Form  der  herkömm- 
lichen Dichterbiographie  befangen  bleiben.  Gundolf  sieht  in  Goethes  Werken  und 
Taten  Symbole  des  Goethischen  Ichs,  während  für  andere  große  Menschen  ihr  Zu- 
stand, ihr  ganzes  Sein  nur  Sinn  hatte  als  Träger  ihrer  Taten  und  Werke.  Mehr  als 
irgend  ein  früherer  Dichter  ist  Goethe  selbst  der  Gegenstand  seiner  Sprachdenkmale, 
weil  er,  sein  Ich  als  Offenbarung  des  göttlichen  Lebens  empfindend,  selbst  die 
Weihe  dessen,  was  in  seinem  Innern  Ereignis  wurde,  gespürt  hat.  Gundolf  ver- 
mag keinen  Wesensunterschied  zwischen  Goethes  Erlebnis  und  Goethes  Produktion 
anzuerkennen.  Leben  und  Werk  sind  ihm  Attribute  einer  Substanz.  Das  Werk  ist 
nicht  Auslösung,  Abbildung,  Eriäuterung  des  Lebens,   sondern  Ausdruck,  Gestalt, 


I 


BESPRECHUNGEN.  203 


Form  dieses  Lebens  selbst,  das  Werk  gehört  mit  allen  übrigen  das  Dasein  und 
Wirken  ausmachenden  Lebensakten  ein  und  derselben  Schicht  an,  ist  nicht  aus 
diesen  abzuleiten.  Was  man  gemeinhin  das  Leben  eines  Künstlers  nennt,  ist 
bereits  von  vornherein  getaucht  in  seine  Kunst,  und  keine  Lebenstatsache  kann  für 
sich  isoliert  betrachtet,  ja  nicht  einmal  wirklich  erkannt  werden. 

Wenn  nun  hiernach  Oundolf  es  als  Aufgabe  des  Literarhistorikers  ansieht, 
jeden  Lebensnioment  Goethes  als  Stufe  von  Goethes  gesamter  Existenz  zu  be- 
trachten und  ihn  als  Ursache,  Stoff  oder  Gehalt  seines  Schaffens  zu  erforschen,  so 
lenkt  er  damit  zurück  in  jenen  Kreis  von  Problemen,  die  wir  als  das  Verhältnis 
von  Erlebnis  und  Dichtung  zu  bezeichnen  gewohnt  sind. 

Schon  Dilthey  hat  in  seinem  wissenschaftsgeschichtlich  so  folgenreichen  Auf- 
satze über  Goethe  und  die  dichterische  Phantasie,  der  die  wichtigste  Formulierung 
seiner  Gedanken  über  diese  Frage  und  damit  zugleich  die  wichtigste  Formulierung 
dieses  Problems  überhaupt  enthält,  das  Verfahren  des  Dichters,  der  ein  persönliches 
Erlebnis  ausspricht,  auf  den  Strukturzusammenhang  zwischen  dem  Eriebnis  und 
dem  Ausdruck  des  Erlebten  begründet.  Dabei  hat  er  sich  gegen  eine  Auslegung 
des  von  ihm  bestimmten  Grundverhältnisses  erklärt,  die  mit  einem  Beobachten  der 
inneren  Vorgänge  und  dem  Darstellen  des  Beobachteten  rechnet.  Tatsächlich  hat 
sich  die  bisherige  Forschung,  die  sich  an  Dilthey  anlehnte,  teils  in  einer  Richtung 
bewegt,  vor  der  dieser  selbst  gewarnl  hatte,  teils  hat  sie  den  fruchtbaren,  wenn 
auch  in  seiner  Tragfähigkeit  überschätzten  Leitbegriff  als  Handswerkszeug  für  gröbere 
Arbeiten  abgenutzt.  Vor  allem  wurde  in  der  Annahme  eines  strengen  Kausalver- 
hältnisses viel  Pedanterie,  viel  Spürsinn  und  wenig  Takt  entwickelt.  Aber  auch  wo 
wirklich  vorwurfsfreie  Leistungen  der  durch  Dilthey  geleiteten  Literaturforschung 
vorliegen,  bietet  der  von  Gundolf  praktisch  vertretene  Standpunkt  ihnen  gegenüber 
darin  etwas  grundsätzlich  Neues,  daß  Oundolf  es  ablehnt,  irgend  einen  Zusammen- 
hang von  Eriebtem  und  dichterisch  Gestaltetem  da  zuzugeben  oder  für  belangreich 
zu  halten,  wo  sich  Analogien  des  Umrisses  zwischen  einer  anekdotischen  Über- 
lieferung und  dem  Gepräge  der  Charaktere,  Schicksale  und  selbst  Episoden  im 
dichterischen  Werke  auffinden  lassen.  Entscheidend  sind  für  ihn  vielmehr  bestimmte 
Modifikationen  der  Färbung,  des  Klimas,  der  Gesinnung,  der  Gesamtauffassung, 
die  sich  als  Ergebnis  eines  bestimmten  Seelenzustandes  deuten  lassen,  den  es 
wiederum  innerhalb  des  Goethischen  Gesamtwesens  einzuordnen  und  abzugrenzen 
gilt.  Dabei  können  die  Voraussetzungen  in  einem  einzelnen  Vorfall  liegen  und  zu 
allgemeinen  Ergebnissen  führen,  wie  der  Hinweis,  daß  Goethes  Schuldbegriff  durch 
ein  Grunderlebnis,  seine  Untreue  an  Friederike,  geformt  worden  ist,  und  daß  der 
Begriff»  der  Schuld,  wenn  wir  ihm  in  Goethes  Werken  begegnen,  mit  jenem 
tragischen  Gefühl  gefärbt  ist,  das  dem  Dichter  aus  der  Trennung  von  Friederike 
erwuchs.  Es  kann  aber  auch  ein  verhältnismäßig  einheitliches  Ergebnis  aus  einer 
Vielheit  von  erlebten  Voraussetzungen  zustande  kommen,  wie  die  Darlegungen 
über  Stimmung,  Raum,  Erlebnisart  und  Gesinnung  als  Entstehungsbedingungen 
der  Wahlverwandtschaften  zeigen.  Schließlich  können  auch  Erlebnisfolge  und  Oe- 
staltungsprozeß,  bald  fortlaufend,  bald  aussetzend,  unterbrochen  und  aufgenommen, 
sich  zu  dem  denkwürdigen  Zusammenhang  von  Lebensstufenfolge  und  Lebens- 
werk erweitern,  wie  er  bei  der  Arbeit  am  Wilhelm  Meister  und  am  Faust  gleichnis- 
haft zutage  tritt. 

Zur  Erfassung  und  Klariegung  solcher  feingewirkter  Fäden  konnte  ein  starrer, 
undifferenzierter  Eriebnisbegriff  nicht  genügen.  Bei  dem  Bestreben,  diesen  Begriff 
durchzubilden,  ist  Oundolf  zu  einer  wichtigen  Unterscheidung  zweier  Erlebnistypen 
gekommen :  dem  Gegensatz  von  Urerlebnis  und  Bildungserlebnis.    Unter  Ureriebnis 


204  BESPRECHUNGEN. 


versteht  Oundolf  Erschütterungen,  denen  der  Mensch  kraft  seiner  inneren  Struktur 
ausgesetzt  ist,  also  vor  allem  aus  dem  Bereich  der  Erotik,  aus  dem  vitalen  Drang 
zur  Ausbreitung,  zur  Hingabe,  zum  Ausströmen  seiner  schöpferischen  Fülle  und 
dem  Willen  zur  Selbstbehauptung  stammende  Ereignisse.  Als  Bildungserlebnis 
werden  die  geistig-geschichtlichen  Einflüsse,  schon  geformte  Anschauungen  aus 
Kunst,  Wissenschaft,  Religion  vorgeführt.  Der  Nachweis,  wie  Goethes  Urerlebnisse, 
wenige  an  der  Zahl,  mit  immer  neuen  Bildungserlebnissen  gekreuzt,  seine  gesamte 
Produktion  bis  ins  hohe  Alter  beherrschen,  umfaßt  eigentlich  alles  Wesentliche, 
was  Oundolf  über  die  Abfolge  der  Ooethischen  Lebenszustände  und  die  Reichweite 
des  Gestaltens  zu  sagen  hat. 

In  der  Zeit  des  Titanismus  empfängt  Goethes  Bildung  Farbe  und  Richtung  von 
den  Urerlebnissen.  Die  großen  heroischen  Entwürfe  erhielten  ihren  Stil  aus  der 
Neuheit  des  Eindruckes,  welchen  der  Zusammenprall  mit  der  Wirklichkeit  auf  eine 
große  Seele  üben  mußte.  Aber  ein  seltsames  Schicksal  hat  die  dramatischen  Kon- 
zeptionen, in  denen  Goethe  sein  titanisches  Urerlebnis  darstellen  wollte,  verwandelt 
oder  verstümmelt  werden  lassen.  Schon  im  Götz  ist  das  Bildungserlebnis  über  das 
Urerlebnis  Herr  geworden.  Die  deutsche  Vergangenheit  sprach  den  Dichter  stoff- 
lich so  sehr  an,  daß  aus  dem  Heroendrama  ein  Milieudrama  geworden  ist.  Je 
mehr  Goethe  in  die  großen  Bildungswelten  hineinwuchs,  deren  Inhalt  die  moderne 
Geistesgeschichte  teils  als  gestaltetes  Vorbild,  teils  als  unmittelbar  die  Gesinnung 
und  Anschauung  ergreifende  Kraft  bestimmt,  um  so  stärker  wird  in  Goethes  Pro- 
duktion und  Dasein  der  Anteil  des  Bildungserlebnisses  im  Gegensatz  zum  Urerlebnis. 
Bereits  in  der  ersten  Weimarer  Zeit  ist  eine  Abwendung  von  der  unbedingten  Aus- 
sprache, wie  sie  die  Grundkonflikte  des  jungen  Genies  erzwungen  hatten,  zu  be- 
merken. Die  italienische  Reise,  von  Oundolf  als  ein  Glied  in  den  Zusammenhang 
der  Bildungserlebnisse  gestellt  und  dadurch  eine  Aufhellung  ihres  funktionellen 
Sinnes  erfahrend,  bewirkt  ein  Anwachsen  dieser  Tendenz,  die  verursacht  ist  durch 
die  ständige  Steigerung  der  Vertrautheit  mit  der  ursprünglich  schrofferes  Zusammen- 
prallen erzeugenden  Umwelt.  Aber  das  typische  Schicksal  Goethes  haben  wir -nun 
darin  zu  erblicken,  daß  in  allen  großen  Krisen  seines  Daseins  auch  weiterhin  ein 
Zusammenwirken,  eine  gegenseitige  Durchdringung  der  äußeren  und  inneren  Fak- 
toren erfolgt.  Ein  starker  Bildungseindruck,  der  bewältigt  werden  soll,  begegnet 
sich  mit  einer  Leidenschaft,  die  eine  entsprechende  Bereitschaft  herstellt.  Die  Frauen- 
gestalten und  Freundescharaktere,  die  in  innere  Beziehung  zu  seiner  je- 
weiligen seelischen  Lage  treten,  geben  der  Masse  seines  Innern  den  Anstoß  zur 
Kristallisation. 

Diese  Gunst  des  Schicksals,  daß  Bildung  und  Leidenschaft,  Lebensstufe  und 
Problemgruppe  sich  immer  wieder  entsprechen,  hat  Goethe  in  den  Stand  gesetzt, 
bei  aller  Mannigfaltigkeit  seiner  Stoffe  immer  nur  aus  demselben  Gehalt  zu  dichten; 
»aus  dem  Verhältnis  seines  momentanen  Selbst  zum  bewegten  All«,  und  hier  böte 
sich  die  Gelegenheit  einer  Auseinandersetzung  mit  jenem  Begriff  des  Gehalts,  der 
schon  so  oft  aus  der  Ästhetik  vertrieben,  immer  wieder  und  gerade  neuerdings  mit 
verstärkter  Macht  sein  Daseinsrecht  behauptet,  unter  dem  Gesichtspunkte  der  Be- 
währung des  eben  dargestellten  Goethischen  Lebensgesetzes. 

Eine  solche  Auseinandersetzung  würde  wichtige  Selbstbekenntnisse  und  allge- 
meine Betrachtungen  Goethes  verwerten  können,  und  noch  dazu  den  besonderen 
Reiz  bieten,  von  dem  Mitgliede  eines  Kreises  zu  stammen,  den  man  so  oft  des 
einseitigen  Formkultes  geziehen,  der  allerdings  den  Wert  der  Form  nach  verschiedenen, 
nicht  bloß  rein  künstlerischen  Richtungen  hin  betont  hat,  und  dessen  nächste,  nach 
außen  am  leichtesten  erkennbare  Wirkung  auf  die  deutsche  Bildung  in  einer  ent- 


BESPRECHUNGEN. 


205 


schiedenen  Opposition  gegen  die  mannigfaltigen  formlösenden  Tendenzen  der  Zeit 
gesellen  werden  i<ann.  Welche  Bedeutung  der  Qelialt  in  Oundolfs  Anschauungen 
innehat,  war  schon  aus  seinem  Buche  über  Shakespeare  und  den  deutschen  Geist 
zu  ersehen,  in  welchem  die  Erfassung  der  Form  nur  als  das  vorbereitende  Stadium 
für  die  Erfassung  des  Gehalts  hingestellt  wird.  Das  Goethebuch  ist  als  Darstellung 
einer  mächtigen  Individualität  von  vornherein  noch  In  viel  höherem  Maße  auf  den 
Gehalt  gerichtet  und  offenbart  zudem  eine  bedeutend  vergrößerte  Breite  der  Be- 
rührung mit  den  Tatsachen  des  Lebens.  Die  Herausarbeitung  des  Gehalts  erfolgt 
nun  allerdings  teilweise  im  Zusammenhang  mit  der  Feststellung,  wie  Urerlebnis 
und  Bildungserlebnis  in  die  Dichtung  eingegangen  sind,  aber  Oundolf  hat  sich 
nicht  auf  eine  prinzipielle  Klarstellung  der  Wertkategorie  des  Gehalts  unter  diesem 
Gesichtspunkte  eingelassen,  vermutlich  weil  er  die  Voraussetzungen  hinreichend 
entwickelt  zu  haben  glaubte.  Daneben  hat  er  aber  die  Wertfrage  auf  einem  andern 
Wege  zu  bestimmen  gesucht,  und  zwar  eigentlich  unter  Absehung  von  allen  erlebnis- 
haften, also  irgendwie  historisch  bestimmbaren  oder  erschließbaren,  der  geschicht- 
lichen Divination  zugänglichen  Zügen,  mit  Hilfe  einer  in  den  Bereich  des  objektiven 
Wertes  hinübergreifenden  Kategorie.  Wenn  wir  dabei  bekennen  müssen,  daß  er 
gerade  hier  über  ein  subjektives  Urteil  nicht  hinausgelangt,  so  soll  das  weder 
gegen  den  Objektivismus  im  allgemeinen  noch  gegen  das  besondere  Verfahren 
Gundolfs  etwas  besagen,  wenigstens  nicht  im  Sinne  eines  Vorwurfes,  kaum  eines 
Einwandes. 

Die  Ableitung  eines  Dichtwerkes  aus  dem  Urerlebnis  enthält  zwar  schon  eine 
Aussage  über  den  dichterischen  Gehalt,  bietet  aber  noch  keine  Präzisierung  der 
Wertfrage.  Das  geschieht  erst,  wenn  Gundolf  der  Goethischen  Dichtung  den 
Charakter  des  »Kosmischen«  zuspricht,  als  sinnlich-geistigen,  von  Sonderzwecken 
und  äußeren  Ansprüchen  unabhängigen  Ausdrucks  autonomen  Lebens,  als  einer 
Einheit  von  Natur,  Seele  und  Schicksal.  Hierin  sieht  Gundolf  den  durchgreifenden 
Unterschied  der  Erscheinung  Goethes,  wie  Shakespeares  und  der  antiken  Dichter 
von  aller  »modernen  europäischen  dekorativ -psychologisch -naturalistisch -roman- 
tischen Literatur  von  Calderon  und  Moliere  bis  zu  Balzac,  Ibsen  und  Dostojewskij«. 
Der  kosmische  Schauer  erhebt  den  Werther  über  das  differenzierte  Seelengemälde, 
die  theatralische  Sendung  über  den  besten  und  reichsten  Bildungsroman  und  das 
bunteste  Gesellschaftsbild,  die  Braut  von  Korinth  über  die  stärksten  Balladen 
Schillers.  Diese  Heraushebung  Goethes  aus  der  gesamten  modernen  Produktion 
korrespondiert  gewiß  sehr  gut  mit  der  Führung  der  allgemeinsten  Umrißiinie  der 
gesamten  Darstellung,  die  sich  auf  dem  Gegensatz  zur  bürgeriichen  Kultur  aufbaut, 
aber  wir  stehen  damit  nicht  mehr  konstruktiven  Elementen  der  Anschauung  gegen- 
über, deren  Kraft  und  Recht  in  der  Bewährung  der  Betrachtungsweise  am  Stoff 
liegt,  sondern  subjektiven  Aussagen  über  Erfahrungen  des  Aufnehmenden,  die  nicht 
weiter  gestaltet  sind  und  deren  Autorität  ausschließlich  in  der  Persönlichkeit  des  Ver- 
fassers begründet  ist.  Damit  ist  ihre  Bedeutung  und  ihre  Wahrheit  noch  nicht 
bestritten;  es  hat  wenig  Sinn,  bei  dieser  Gelegenheit,  wo  es  sich  nicht  um  eine 
Geschichte  der  modernen  Literatur,  sondern  um  die  Geschichte  des  Goetheverständ- 
nisses handelt,  über  eine  allgemeine  Verwahrung  hinaus  Beifall  oder  Widerspruch 
geltend  zu  machen. 

Nicht  ausgesprochen,  aber  als  selbstverständlich  wird  vorausgesetzt,  daß  von 
den  beiden  wichtigen  Substanzen  des  dichterischen  Gebildes  das  Urerlebnis  allein 
eine  Beziehung  auf  das  Kosmische  hat  und  da  auftritt,  wo  der  Rahmen  der  bürger- 
lichen Welt  gesprengt  wird,  während  das  Bildungseriebnis  den  Dichter  nicht  vor 
so  schwere  Entscheidungen  stellt.    Schon  in  der  Benennung  der  Sachverhalte  liegt 


206  BESPRECHUNGEN. 


eine  Wertung,  die  allerdings  anfechtbar  erscheint,  wenn  wir  Shakespeare  und  Homer 
unter  den  Bildungserlebnissen  aufgeführt  sehen.  Die  Frage  drängt  sich  auf,  ob  das 
Eindringen  in  die  Welt  dieser  Dichter  für  Goethe  nicht  Erlebnisse  mit  sich  brachte, 
die  so  tief  seine  Existenz  aufrührten  wie  so  manche  Begegnung,  die  nach  Oundolfs 
Meinung  Anlaß  eines  Urerlebnisses  wurde.  Jedenfalls  scheint  der  von  Qundolf 
konzipierte  Begriff  des  Bildungserlebnisses  auch  für  die  tiefste  geistige  Fühlung- 
nahme nur  eine  sekundäre  Qualität  zuzulassen,  die  der  urtümlichen  Stärke  des  Ver- 
hältnisses Goethes  zu  Homer  und  Shakespeare  nicht  gerecht  wird,  so  wenig  wie 
Kleists  Kanterlebnis  oder  Hölderlins  Berührung  mit  der  griechischen  Qeisteswelt 
dadurch  erschöpfend  charakterisiert  wird.  Streng  genommen  ist  vielleicht  Kleists 
Eindringen  in  die  kritische  Philosophie,  wenn  es  überhaupt  als  Fühlungnahme  mit 
einer  geistig-geschichtlichen  Macht  und  nicht  eher  als  ein  Akt  des  Selbstdenkens 
aufgefaßt  werden  darf,  nicht  ein  Urerlebnis,  sondern  Mittel  oder  Gelegenheit  zu 
einem  solchen  Erlebnis  gewesen ;  aber  Homer  und  Shakespeare  als  geistige 
Wirklichkeiten  treten  nicht  weniger  machtvoll  und  den  ganzen  Menschen  ergreifend 
in  das  Dasein  Goethes  wie  die  lebendige  Umwelt,  und  das  Innewerden  ihrer  Art, 
der  ihnen  zugehörigen  Welt  und  das  Aufnehmen  der  ihrem  Dasein  entströmenden 
Kräfte  ist  als  ein  wenn  auch  anders  gefärbtes  Urerlebnis,  wie  Hölderlins  Erlebnis 
der  griechischen  Tragiker,  wie  die  liebende  oder  feindliche  Begegnung  mit  der 
Kraft  lebendiger  Menschen  anzusehen. 

Die  Abneigung  gegen  den  nachgoethischen  Alexandrinismus  scheint  Gundolf 
dahin  geführt  zu  haben,  dem  Verhältnis  zu  literarisch -geschichtlichen  Persön- 
lichkeiten den  urtümlichen  Charakter  abzusprechen.  Die  entschiedene  Stellung- 
nahme gegen  eine  andere  Richtung  der  modernen  Literatur  ist  vielleicht  der 
Anlaß,  daß  Qundolf  das  Verhältnis  des  Dichters  zum  Stoff  allzusehr  in  den  Hinter- 
grund schiebt  und  diese  Frage  für  belanglos  erklärt,  wogegen  nicht  nur  zahlreiche 
Betrachtungen  Goethes  aus  allen  seinen  Altersstufen  angeführt  werden  könnten, 
sondern  auch  direkte,  auf  bestimmte  Stoffe  und  Vorgänge  seines  Dichtens  bezüg- 
liche Zeugnisse.  Gundolf  wendet  sich  gegen  die  Annahme,  daß  der  junge  Goethe 
gedichtet  habe,  wie  —  nach  des  Verfassers  Ansicht  —  moderne  Dramatiker  und 
Romanschreiber  »Heerschau  halten  über  verschiedene  Probleme  und  Stoffe  und 
dann  das  noch  relativ  Unbehandeltste  davon  behandeln  oder  ihm  eine  neue  Seite 
abzugewinnen  suchen  oder  eine  neue  Mischung  herstellen«.  Gewiß  entsteht  so 
niemals  Dichtung.  Aber  auf  Grund  dieser  Ablehnung  übersieht  Qundolf  bei  der 
Behandlung  der  einzelnen  Werke  die  Möglichkeit  des  naiven  Ergriffenwerdens 
durch  den  Reiz  oder  die  Gewalt  des  Stoffes,  oder  er  wertet  dieses  Ergriffensein  so 
gering,  daß  es  ihm  niemals  als  Beruhigungspunkt  des  Verstehens  dienen  kann, 
oder  er  findet  sich  damit  durch  eine  Unterordnung  unter  den  Begriff  des  Bildungs- 
erlebnisses ab.  Der  Stoff  hat  für  ihn  ausschließlich  Bedeutung  als  Symbol  der 
Grundkonflikte  des  Dichters,  und  es  gilt  ihm,  den  Punkt  auszuspüren,  der  für  das 
Erlebnis  ein  vollkommenes  Gleichnis  ist.  Daher  kommt  es  ihm  bei  der  Betrachtung 
der  Werke  so  sehr  darauf  an,  den  Charakter  der  Beichte,  des  Selbstgerichts,  der 
Selbstdarstellung,  die  Projektion  aus  des  Dichters  eigenen  Stimmungen  aufzuzeigen, 
daß  der  Nachweis  der  Einschmelzung  des  Ich  oft  mit  dem  Erweis  der  dichterischen 
Relevanz  zusammenfällt.  Der  Rest  des  Gestalteten  wird  als  »konkretes  Gestell« 
abgetan.  Nur  gelegentlich  der  Sendung  wird  auf  die  agierenden  Gestalten  näher 
eingegangen,  weil  dies  das  einzige  Werk  sei,  in  dem  die  Charaktere  sich  gegen- 
über dem  Bekenntnisgehalt  verselbständigt  hätten  und  die  Menschenbeobachtung 
schöpferisch  geworden  wäre.  Weder  beim  Werther  noch  beim  Faust,  den  Wahl- 
verwandtschaften und  Wanderjahren,   nicht  einmal   beim  Götz,   Egmont,    Hermann 


BESPRECHUNGEN.  207 


und  Dorothea  gibt  üundolf  eine  primäre  Freude  am  Bilden  menschlicher  Gestalten 
zu.  Wieweit  bei  der  Darstellung  dichterischer  Charaktere  Beobachtung  mitwirkt, 
wieweit  künstlerische  Werte  auf  sie  zurückzuführen  sind,  und  welchen  Wert  der 
Dichter  selbst  auf  diese  Beobachtung  legt,  hat  indessen  nichts  mit  der  Frage  zu 
tun,  ob  diese  Gestalten  eine  Existenz  führen,  die  von  dem  Bezüge  auf  das  Erlebnis 
des  Dichters  abgelöst  ist.  Eine  solche  Existenz,  die  nicht  mehr  ein  Gleichnis  für 
die  Konflikte  der  dichterischen  Persönlichkeit  ist  und  auch  kaum  erschöpft  wird 
durch  die  Auffassung  symbolischer  Repräsentation  von  Zeitaltern,  Nationalcharak- 
teren oder  Menschheitstypen,  haben  die  Rastignac,  Dombey,  Raskolnikoff,  Löfborg, 
Solneß,  wie  Hamlet  und  Don  Quichotte,  und  Werther,  Dorothea,  die  Gestalten  der 
Wahlverwandtschaften,  von  denen  des  Faust  zu  schweigen,  nicht  minder  als  Wilhelm 
und  Philine. 

Wie  der  Dichter  bei  der  Bewältigung  von  Urerlebnis  und  Bildungserlebnis  zu 
verschiedenen  Stoffen  greift,  den  einen  bevorzugt,  von  dem  andern  abläßt,  ist  ein 
Problem,  das  in  den  weiten  Kreis  der  Fragen  hineingreift,  die  sich  an  den  Frag- 
mentenreichtum des  Goethischen  Schaffens  knüpfen.  Gundolf  glaubt  als  ein  Gesetz 
des  Ausleseprozesses  annehmen  zu  dürfen,  daß,  je  stärker  und  nachhaltiger  ein 
Urerlebnis  sei,  um  so  mehr  Bildungselemente  das  ihm  gemäßeste  Symbol  an  sich 
ziehe.  Gleichsam  als  ein  stärkerer  Magnet  oder  als  ein  Baum  von  stärkerem  Wachs- 
tum entzieht  er  den  geplanten  Motiven,  worin  ein  minder  kräftiges  Urerlebnis  sich 
ausdrücken  möchte,  die  Bildungssubstanzen,  so  daß  sie  verkümmern.  So  hat  die 
Iphigenie  der  Nausikaa  Saft  und  Luft  entzogen.  Noch  öfter  zeigt  es  sich,  daß  das 
Bildungserlebnis,  das  Milieu,  die  Atmosphäre,  das  aus  dem  Bereich  der  Bildung 
entnommene  Motiv  nicht  ergiebig  genug  war,  um  der  ganzen  Stärke  des  Urerleb- 
nisses  zu  genügen  und  zum  Symbol  auszureichen.  So  haben  Faust  oder  Götz  den 
minder  adäquaten  Sinnbildern  des  Titanismus,  Prometheus,  Mahomet,  Cäsar  Blut 
und  Luft  entzogen,  so  ist  Elpenor  neben  Tasso  und  Iphigenie  verkümmert.  Wenn 
auch  hier  nicht  immer  klar  zwischen  gestalteten  und  ungestalteten  Stoffen  geschieden 
wird  und  zuweilen  ex  eventu  prophezeit  wird,  so  kann  der  fruchtbare  Kern  dieser 
Anschauung  nicht  übersehen  werden.  Erleuchtende  Parallelen  ließen  sich  aus 
einem  Blick  auf  Kleists  Arbeit  am  Guiscard  und  an  der  Penthesilea  gewinnen; 
weniger  und  eher  als  Gegenbeispiel  aus  einer  Betrachtung  von  Schillers  oder 
Hebbels  Fragmenten.  Übrigens  ist  gerade  auf  Grund  solcher  Untersuchungen  sehr 
wohl,  was  Gundolf  bestreitet,  ein  Werden  der  Gestalten  zu  beobachten,  wie  bei 
allen  Dichtern,  die  es  lieben,  Charaktere  gleicher  Anlage  in  verschiedenen  Werken 
und  Altersperioden  mehrmals  in  neuem  Wurf  zu  gestalten,  besonders  Ibsen  und 
Dostojewski]'.  Dagegen  bleibt  hier  die  sichere  Tatsache  der  Kontamination  ver- 
schiedener Modelle,  Erlebnisse,  Gestalten  unberücksichtigt,  und  auch  auf  das,  was 
Dilthey  Zerlegung  der  eigenen  Heterogeneität  nennt,  fällt  nur  ein  Seitenlicht.  Daß 
in  Goethes  Altersdichtung  das  Einzelerlebnis  überhaupt  nicht  mehr  die  Rolle  spielt, 
wie  in  den  früheren  Perioden,  ist  Gundolf  nicht  entgangen.  Das  Einzelerlebnis,  in 
der  Zeit  des  Werther,  auch  noch  der  Iphigenie,  Träger  und  Schöpfer  der  Produktion, 
geht  dann  unter  in  einer  allgemeinen  großen  Gestimnitheit,  und  es  wäre  noch  die 
Frage  zu  beantworten,  ob  diese  allgemeine  Gestimnitheit  soviel  Tragkraft  besitzt 
wie  das  einzelne  Erlebnis.  Die  meisten  werden  auch  die  bloße  Möglichkeit  ver- 
neinen, und  es  ist  ja  leicht,  angesichts  eines  Produktes,  das  eine  andere  Entschei- 
dung nahelegt,  ein  Einzelerlebnis  vorauszusetzen. 

Mittels  einer  Auffassungsweise,  die  durch  die  hier  vorgeführten  Grundbegriffe 
charakterisiert  wird,  ist  es  Gundolf  gelungen,  nicht  nur  den  Entwicklungsgang  des 
Goethischen  Geistes  und  die  besonderen  Zustände,  die  diese  Entwicklung  repräsen- 


208  BESPRECHUNGEN. 


tiefen,  In  einem  stärkeren  Grade  faßbar  zu  machen,  als  es  seit  Schiller  und  Hum- 
boldt seinen  Vorgängern  gelungen  ist,  sondern  auch  den  poetischen  Gehalt  der 
Dichtung  in  ganz  anderer  Weise  auszuschöpfen.  Wenn  Gundolf  dabei  stets  vom 
Erlebnis  ausgeht,  so  lehnt  er  doch  jeden  kausalen  Schluß  ab  und  begnügt  sich, 
über  die  geistige  Struktur,  den  geschichtlich-biographischen  Platz  und  den  seelischen 
Sinn  Aussagen  zu  machen.  Zu  diesem  Zweck  ist  er  genötigt  und  imstande,  sich 
über  Begriffe,  Grundfragen  und  Relationen  allgemeinster  Art,  wie  Geist,  Sprache, 
Form,  den  einzelnen  und  die  Gesellschaft,  die  Geschlechter,  Schicksal,  Jugend  und 
Alter  auszusprechen.  Er  vollbringt  dieses,  aus  dem  Gehalt  seines  eigenen  Daseins 
schöpfend,  nicht  bereitgehaltene  allgefrieine  Maximen  auf  einen  einzelnen  Fall  an- 
wendend, sondern  der  Erscheinung  hingegeben  und  in  dieser  Hingabe  sich  der 
Gesetzlichkeit  bewußt  werdend.  Dadurch  hat  er  dem  Begriff  des  klassischen 
iMenschen,  den  wir  so  oft  als  leere  Voraussetzung  angewendet  sehen  mußten,  einen 
positiven  Sinn  gegeben.  Er  konnte  das  nur  vollbringen  durch  eine  Darstellung, 
deren  Umfang  an  die  Ausdauer  des  Lesers  nicht  geringe  Anforderungen  stellt. 
Aber  —  damit  lenken  wir  zu  unserem  Ausgangspunkt  zurück  —  angesichts  des 
Zustandes  der  heutigen  Bildung  liegt  das  Entscheidende  darin,  daß  die  Gesamt- 
auffassung, die  in  knapperer  Form  gewiß  klarzustellen  war,  sich  in  der  durch- 
geführten Einzelbetrachtung  zu  bewähren  hatte.  Gundolfs  Buch  ist  keine  Aus- 
walzung eines  Einfalls,  keine  Abhetzung  einer  Methode,  es  ist  ein  groß  geartetes 
Denkmal  für  den  größten  deutschen  Menschen,  unternommen  und  zu  Ende  geführt 
in  einer  Gesinnung  und  mit  einer  Kraft,  deren  Vorhandensein  uns  mit  Zuversicht 
für  unser  Volk  und  Zeitalter  erfüllen  darf.  Es  ist  eine  Ausnahmeleistung,  aber  die 
Literaturwissenschaft  würde  übel  beraten  sein,  wenn  ihre  Vertreter  sich  mit  ehrlich 
gemeinten  Achtungsbezeigungen  begnügten  und  nicht  alles  daran  setzten,  das  neu 
bestimmte  Niveau  einzuhalten. 

Berlin-Grunewald.  Hugo  Bieber. 


Wilhelm  Wundt,  Völkerpsychologie.    Dritter  Band:   Die  Kunst.    Dritte, 
neu  bearbeitete  Auflage.    Mit  62  Abbildungen  im  Text.    Alfred  Kröner  Verlag 
in  Leipzig,  1919.    XII  und  624  Seiten. 
Eine   dritte,   neu   bearbeitete  Auflage   des   umfangreichen  Kunstbandes  aus  der 
Völkerpsychologie!  Wahrlich,  immer  wieder  staunenswert  sind  die  geistige  Frische 
und  der  nie  stockende  Fleiß,  die  Wundt  zu  dieser  —  ein  Menschenleben  weit  über- 
steigenden  —   Leistung  befähigen.    Und   wer  fände  nicht   in  diesem  —  man  darf 
wohl   getrost  behaupten   —   international   berühmten  Werke   eine   blendende  Fülle 
reifen  Wissens,   ruhige  Weite   des  Blickes,   meisterliche  Erfahrung  des  Alters,   das 
zahllose  geistige  Schätze  aufgestapelt  hat?  Aber  keiner  Empfehlung  bedarf  dieses 
Buch,  das  jeder  Fachmann  kennt,   und  das  Vertreter  der  verschiedensten  Wissens- 
zweige als  höchste  Autorität  zu  Rate  ziehen,  wenn  sie  erkunden  wollen,   was  »die 
Psychologie«  zu  einem  bestimmten  Problem  zu  sagen  hat. 

So  gern  ich  lediglich  dem  Gefühl  der  Ehrfurcht  Ausdruck  liehe;  der  Kritiker 
darf  nicht  schweigen.  Selbstverständlich  ist  es,  daß  Wundt  —  der  fast  um  zwei 
Menschenalter  die  heutige  wissenschaftliche  Jugend  überragt  —  in  vieler  Hinsicht 
die  Dinge  anders  als  diese  sieht  und  ausdeutet.  Aber  es  wäre  kleinlich,  in  einer 
Besprechung  da  einzuhaken.  Hier  wird  der  Betrieb  der  Wissenschaft  selbst  ent- 
scheiden. Wundts  Lehren  —  getragen  und  beflügeh  durch  die  Autorität  seiner  Per- 
sönlichkeit —  überspringen  jedoch  das  Gehege  der  Fachwissenschaft,  die  zu  selbst- 
ständiger Urteilsbildung  befähigt  ist.    Er   redet  recht  eigentlich  zur  ganzen  wissen- 


BESPRECHUNGEN.  200 


schaftlichen  Welt.  Da  besteht  nun  die  ernste  Gefahr,  daß  jene  ein  sehr  einseitiges, 
ja  schiefes  Bild  von  der  Lage  der  gegenwärtigen  Kunstphilosophie  und  Kunstpsycho- 
logie empfängt.  Die  gewaltige  Bewegung,  in  der  allgemeine  Kunstwissenschaft  und 
historische  Kunstdisziplinen  begriffen  sind,  spiegelt  sich  kaum  andeutungsweise  bei 
Wundt  wieder. 

Wundt  besitzt  die  fabelhafte  Gabe,  sich  in  jede  Wissenschaft  einzuarbeiten.  Er 
liest  die  Hauptwerke,  macht  sich  mit  dem  Material  bekannt  und  gewinnt  bald 
Gliederungen,  Begründungen  und  all  das,  was  er  als  gewiegter  Fachpsychologe  zu 
den  Problemen  zu  sagen  hat.  Aber  die  Nachteile  bleiben  auch  nicht  aus.  Wo  die 
Beziehungen  zu  dem  betreffenden  Wissensgebiet  nicht  eng  genug  sind,  entsteht  nur 
eine  blasse  »Buchgelehrsamkeit«,  also  eine  gerade  für  die  Psychologie  durchaus  un- 
genügende Grundlage.  So  sind  ihm  denn  auch  gelegentlich  fast  unglaubliche  Ent- 
gleisungen unterlaufen,  wie  z.  B.  Hoernes,  Marty  und  Stumpf  nachgewiesen  haben. 
Und  zur  Kunst  hat  Wundt  jedenfalls  kein  inneres  Verhältnis.  Qundolf  würde  sagen: 
die  Kunst  ist  für  Wundt  »Bildungserlebnis«,  nicht  »Urerlebnis«.  Keine  Psychologie 
vermag  jenen  schlichten  Tatbestand  des  Erlebens  zu  ersetzen.  Wie  sehr  darum  auch 
Wundt  gegen  konstruierendes  Verfahren,  Reflexion  und  Intellektualismus  eifert,  er 
selbst  wird  von  diesen  Gespenstern  bedräut;  denn  die  eigenen  Erfahrungen  lassen 
ihn  im  Stich  oder  sind  mangelhaft.  So  leiden  viele  Ausführungen  daran,  daß  sie 
unscharf,  verwaschen,  richtungslos  sind  und  dann  doch  wieder  eingepreßt  in  schwer 
bewegliche  Kategorien.  Unwiderleglich  offenbart  sich,  daß  Kunstpsychologie  und 
auch  Völkerpsychologie  der  Kunst  schlechterdings  unmöglich  sind  ohne  Philosophie 
der  Kunst,  welche  die  einzelnen  Grundbegriffe  säubert,  klärt  und  kritisch-systematisch 
verankert,  und  daß  keine  Exaktheit  irgendwie  jene  Welt  von  Eriebnissen  herbei- 
zwingen und  aufmeißeln  kann,  die  sich  nur  jenem  erschließt,  dessen  ganzes  Sein 
auf  Kunst  eingestellt  ist. 

Den  Begriff  der  Kunst  faßt  Wundt  »in  jenem  weiteren  Sinne,  der  durch  den 
Zusammenhang  des  Wortes  mit  dem  Können  unmittelbar  nahegelegt  ist,  und  bei 
dem  als  Bedingung  des  bei  der  Erzeugung  eines  Kunstwerkes  wirksamen  Könnens 
zugleich  ein  Wollen  vorausgesetzt  wird,  das  in  bestimmten,  näher  zu  untersuchenden 
Motiven  seinen  Ursprung  nimmt.  Bei  welchem  Punkte  dieser  Entwicklung  ästhetische 
Gefühle  sich  regen,  das  bleibt  aber  ebenso  an  die  im  Laufe  dieser  Untersuchung 
sich  ergebenden  Aufschlüsse  über  die  psychologischen  Bedingungen  des  künstlerischen 
Handelns  und  ihrer  Wandlungen  gebunden,  wie  die  damit  eng  zusammenhängende 
weitere  Frage,  welcher  Art  die  Beziehungen  seien,  die  das  künstlerische  Schaffen 
mit  den  übrigen  Faktoren  des  seelischen  Lebens  und  seiner  äußeren  Betätigungen 
verbinden«.  Darin  liegt  gewiß  ein  weites  Entgegenkommen  gegenüber  den  Be- 
strebungen einer  allgemeinen  Kunstwissenschaft,  die  es  ablehnt,  den  gesamten  Sach- 
verhalt der  Kunst  einseitig  auf  das  Ästhetische  festnageln  zu  wollen;  aber  man  muß 
doch  fragen:  wissen  wir  heute  über  Begriff  und  Wesen  der  Kunst  tatsächlich  nicht 
mehr,  als  jene  mageren  Bemerkungen  über  Können  und  Wollen  künden?  und  ist 
das  Verhältnis  des  Künstlerischen  zum  Ästhetischen  wirklich  so  unbestimmt,  fast 
»zufällig«  ?  oder  handelt  es  sich  vielmehr  dabei  um  Differenzen  und  Typen  innerhalb 
eines  grundsätzlichen  Spielraums,  um  verschiedene  Möglichkeiten  im  Bereich  einer 
Gesetzlichkeit? 

Wundt  gibt  auch  eine  nähere  Bestimmung:  die  Phantasie  soll  die  Grundlage 
jeder  Art  künstlerischer  Betätigung  sein ;  und  unter  Phantasie  faßt  er  alle  die  seeli- 
schen Erscheinungen  zusammen,  in  denen  sich  eine  bildende  Tätigkeit  offenbart 
Ich  stimme  keineswegs  der  Wundtschen  Psychologie  der  Phantasie  zu;  aber  be- 
wegen wir  uns  nicht  überhaupt  in  einem  etwas  eriedigten  Zustand  der  Wissenschaft, 

Zeitschr.  f.  ÄsUietik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  14 


210  BESPRECHUNGEN. 


wenn  wir  für  künstlerisches  Schaffen  und  Aufnahme  der  Kunst  Phantasie  als  zentrale 
Funktion  haftbar  machen  ?  Gewiß,  sie  gehört  hierher ;  aber  vieles  andere  nicht  minder, 
das  verdunkelt  und  vergewaltigt  wird  durch  jene  unbewiesene  Einheitsformulierung. 
Und  ebenso  scheinen  mir  Wundts  Ausführungen  über  »Einfühlung«  sehr  weit  hinter 
dem  zurückzubleiben,  was  durch  Lipps,  Volkelt,  Geiger  und  andere  bereits  erarbeitet 
ist  Ja,  die  gesamte  Auffassung  der  heutigen  Lage  unserer  Wissenschaft  klingt 
überaus  sonderbar:  »Im  Unterschiede  von  der  alten  Ästhetik,  die  im  Sinne  der 
aristotelischen  Poetik  und  getreu  der  Auffassung,  daß  die  Kunst  eine  Nachahmung 
der  Natur  sei,  in  einer  nach  dem  Vorbild  der  Naturbeschreibung  unternommenen 
objektiven  Analyse  des  Kunstwerks  ihre  Aufgabe  erschöpft  sah,  hat  die  moderne 
Ästhetik  in  wachsendem  Maße  das  Streben  entwickelt,  das  Kunstwerk  aus  den 
geistigen  Eigenschaften  des  Künstlers,  und  somit  aus  den  allgemeinen,  wie  aus  den 
individuellen  Gesetzen  der  künstlerischen  Phantasie  verstehen  zu  lernen.  Das  ist 
aber  eine  von  Grund  aus  psychologische  Aufgabe,  und  es  bliebe  völlig  unverständ- 
lich, wie  trotzdem  noch  immer  eine  rein  philosophische  Ästhetik  existieren  könnte, 
die  ihre  über  allen  solchen  Bedingungen  persönlichen  Schaffens  schwebenden  Schöa- 
heitsbegriffe  entwickelt,  wenn  nicht  auch  hier  noch  jene  objektive  aristotelische  Kunst- 
auffassung, durch  Kant  und  den  Klassizismus  in  eigentümlicher  Weise  umgebildet, 
ihre  Herrschaft  bis  in  unsere  Tage  erstreckte.  In  der  Kunst  selbst  aber  tritt  die 
Subjektivität  des  künstlerischen  Schaffens  nicht  zum  wenigsten  in  der  Willkür  hervor, 
mit  der  die  künstlerische  Phantasie  gelegentlich  an  die  Stelle  der  Gesetze  der  Natur 
und  der  ihnen  abgelauschten  objektiven  Ideale  ihre  eigenen,  unberechenbaren  Launen 
treten  läßt.«  Soll  man  mehr  die  historische,  oder  die  sachliche  Unrichtigkeit  dieser 
Ausführungen  beklagen  ?  Ich  glaube,  daß  für  die  Leser  dieser  Zeitschrift  eine  Kritik 
nicht  notwendig  ist. 

Jedes  Werk  der  bildenden  Kunst  läßt  sich  nach  Wundt  »psychologisch  in  zwei 
Grundbestandteile  zerlegen  :  einen  bildhaften  und  einen  ornamentalen.  Keiner  dieser 
Bestandteile  kann  fehlen«.  Die  omamentalen  Eigenschaften  bestehen  in  den  ein- 
fachsten Fällen  möglicherweise  »bloß  in  der  für  die  künstlerische  Wiedergabe  ge- 
wählten Stellung  des  Gegenstandes,  der  besonderen  Lage  seiner  Teile  usw.  Diese 
Erscheinungen  sind  Grenzfälle,  in  denen  der  bildhafte  Bestandteil  derart  überwiegt, 
daß  der  naive  Beschauer  nur  das  Bild  zu  sehen  glaubt,  während  er  in  Wirklichkeit 
nicht  minder  die  ornamentalen  Eigenschaften  sieht,  die  dem  Objekt  von  Natur  zu- 
kommen oder  vom  Künstler  mitgeteilt  sind,  so  daß  selbst  hier  die  notwendige  Ver- 
bindung bildhafter  und  ornamentaler  Bestandteile  nicht  fehlt-.  Die  beiden  Stilgegen- 
sätze, die  allen  anderen  vorausgegangen  sind,  können  als  der  Stil  der  geometrischen 
und  der  Stil  der  organischen  Gesetzmäßigkeit  unterschieden  werden.  Jedenfalls  sind 
das  die  beiden  grundlegenden  Stilformen,  die  völkerpsychologisch  deshalb  von  hervor 
ragendem  Interesse  sind,  weil  die  Anfänge  ihrer  Sonderung  bereits  weit  in  vor- 
historische Zeiten  und  in  die  primitive  Kunst  der  Naturvölker  zurückreichen.  Sie 
sind  es  eben,  welche  eng  an  jene  Grundbestandteile  des  Bildhaften  und  des  Orna- 
mentalen sich  anschließen,  die  aller  Kunst  von  Anfang  an  eigen  sind.  Diese  Ur- 
formen des  Stils  sind  es  darum  aber  auch,  die  vermöge  der  offenbaren  Allgemein- 
gültigkeit ihrer  Entstehungsbedingungen  auf  die  Entwicklungsgesetze  der  bildenden 
Kunst  Licht  zu  werfen  versprechen. 

Ich  habe  diese  Gedankengänge  Wundts  kurz  wiedergegeben,  weil  sie  mir  recht 
charakteristisch  zu  sein  scheinen.  JVlan  wird  wohl  hier  von  einer  eigentlichen  psycho- 
logischen »Erklärung«  nicht  sprechen  können,  sondern  eher  von  einer  Annahme, 
die  zu  sehr  weitgehenden  Hypothesen  verarbeitet  ist.  Jene  Annahme  ist  durchaus 
nicht  neu.    Schon  Furtwängler  z.  B.  unterschied  zwei  ursprüngliche  Begabungstypen, 


BESPRECHUNGEN.  211 


den  einen  in  Richtung  auf  das  Abstrakt-Geometrische,  den  anderen  in  Richtung  auf 
das  Organisch-Lebendige.  In  den  Schlagworten  »Abstraktion  und  Einfühlung«  ist 
dann  dieses  Problem  —  besonders  durch  Worringer  und  einige  jüngere  Forscher  — 
neu  gestellt  und  eingehend  behandelt  worden.  Aber  noch  anderes  spielt  bei  Wundt 
herein:  der  alte  Gegensatz  von  Form  und  Inhalt;  die  Erkenntnis,  daß  jede  Kunst 
irgendwie  Gestaltung  ist  usw.  Ich  kann  darin  keinen  Vorteil  erblicken,  diese  grund- 
legenden Fragen  vieldeutig  zu  vereinen.  Nur  Unklarheit  und  Verwirrung  sind  die 
Folgen  dieses  Verfahrens.  Und  gleich  äußerlich  scheint  mir  das  gesamte  Stilproblem 
erfaßt.  Es  geht  doch  wahrlich  nicht  mehr  an,  die  Stilfrage  als  ein  Architekturkapitel 
zu  behandeln.  Alles  was  Wundt  sagt,  ist  richtig;  aber  es  ritzt  kaum  die  Oberfläche 
jener  Aufgaben,  die  durch  Wölfflin,  Schmarsow,  Hamann,  Walzel  usw.  in  unaerer 
Wissenschaft  brennend  geworden  sind. 

Ich  will  hier  abbrechen,  um  mich  nicht  weiter  zu  einem  —  immer  mehr  sich 
verschärfenden  —  Widerspruch  verleiten  zu  lassen.  Und  ich  will  nur  hoffen,  daß 
der  Leser  über  alles  Trennende  hinweg  nicht  den  Ausdruck  tiefer  Verehrung  ver- 
gessen hat,  die  auch  ich  dem  JVlanne  und  seinem  Werke  zolle.  Wundt  und  seine 
Schriften  sind  heute  jedem  bekannt;  und  so  soll  es  auch  sein.  Warnen  wollte  ich 
lediglich  vor  der  unkritischen  Verwertung  und  Benutzung.  Und  die  Vertreter  der 
Nachbardisziplinen  müssen  wissen,  daß  jedenfalls  der  Kunstband  nicht  als  Re- 
präsentant unserer  heutigen  Ästhetik,  allgemeinen  Kunstwissenschaft  oder  auch  nur 
der  Kunstpsychologie  gelten  darf.  Er  ist  nach  Vorzügen  und  Mängeln  vollständig: 
Wilhelm  Wundt.    Dies  ist  zugleich  Grenzsetzung  und  Lob. 

Rostock.  Emil  Utitz. 


Schriftenverzeichnis  für  1918. 

Zweite  Hälfte. 

I.  Ästhetik. 

1.  Geschichte  und  Allgemeines. 

Festschrift,  J.  Volkelt  zum  70.  Geburtstag  dargebracht  von  P.Barth,  B.Bauch, 
E.  Bergmann,  J.  Cohn,  M.  Dessoir,  R.  Faickenberg,  M.  Frischeisen  -  Köhler, 
O.  Klemm,  A.  Köster,  F.  Krüger,  F.  R.  Lipsius,  W.  Schmied-Kowarzik,  H.  Schnei- 
der, H.  Schwarz,  E.  Spranger,  H.  Volkelt,  W.  Wirth,  O.  Witkowski,  W.  Wundt. 
Mit  einem  Bildnis  und  einem  vollständigen  Verzeichnis  der  Schriften  Volkelts. 
VII,  428  S.  gr.  8".    München,  C  H.  Beck.    25  M. 

Wundt,  W.,  Völkerpsychologie.  Eine  Untersuchung  der  Entwicklungsgeschichte 
von  Sprache,  Mythus  und  Sitte.  3.  Bd.  Die  Kunst.  3.  neubearbeitete  Auflage. 
Mit  62  Abbildungen  im  Text.      XII,  624  S.  gr.  8°.    Leipzig,  A.  Kröner.    16  M. 

Vi  seh  er.  Fr.  Jh.,  Ausgewählte  Prosaschriften.  Herausgegeben  von  J.  Keyßner 
513  S.  8".    Stuttgart,  Deutsche  Verlagsanstalt.    Pappbd.  5  M. 

Lichtwark,  A.,  Eine  Auswahl  seiner  Schriften.  Besorgt  von  W.  Mannhardt.  Mit 
einer  Einlage  von  K.  Scheffler.  2  Bde.  XXVIII,  351  u.  453  S.  gr.  8».  Berlin 
1917.    Br.  Cassirer.    Pappbd.  30  M. 

Katann,  O.,  Ästhetisch -literarische  Arbeiten.  Verlagsanst.  Tyrolia.  Wien-Inns- 
bruck-München.   371  S.    Broch.    10  M. 

Behne,  A.,  Die  russische  Ästhetik.  Sozialistische  Monatshefte.  24.  Jahrg.  21.  u. 
22.  Heft.  S.  894—896. 

Bonus,  A.,  Die  Bedeutung  des  Ästhetischen  für  die  Philosophie.  Die  neue  Rund- 
schau.   39.  Jahrg.  9.  Heft.    S.  1222-1226. 

Zangenberg,  Th.,  Ästhetische  Gesichtspunkte  in  der  englischen  Ethik  des  18.  Jahr- 
hunderts. III,  88  S.  671.  Heft  von  Manns  pädagog.  Magazin.  Abhandlung  vom 
Gebiete  d.  Pädag.  u.  ihrer  Hilfswissensch.  8«.  Langensalza,  H.  Beyer  u.  Söhne. 
1.60  M. 

Pfister,  O.,  Wahrheit  und  Schönheit  in  der  Psychoanalyse.  143  S.  Schweizer 
Schriften  f.  allg.  Wissen.    6.  Heft.    Zürich,  Rascher  u.  Cie.    5  M. 

Ho  eher,  F.,  Objektivierende  Kunstkritik.  Das  deutsche  Drama.  1.  Jahrg.  3.  Heft. 
S.  201—207. 

Enders,  C,  Die  Rettung  des  Kunstwerkes.  Zeitschrift  f.  Bücherfreunde.  1918/19. 
Heft  11.    S.  268-273. 

Schmied-Kowarzik,  W.,  Sammelbericht  über  das  ästhetische  Schrifttum.  Nach- 
trag 1914;  1915;  erster  Teil  1916.  Zeitschr.  f.  Phil.  u.  philos.  Kritik.  Bd.  165. 
Heft  2.  S.  189-207. 

2.  Prinzipien  und  Kategorien. 
Burger,  F.,  Weltanschauungsprobleme  und  Lebenssysteme  in  der  Kunst  der  Ver- 
gangenheit.    Delphin-Verlag  München. 
Höffding,  H.,  Humor  als  Lebengefühl  (Der  große  Humor).    Eine  psychologische 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  213 

Studie.    Aus  dem  Dänischen  von  H.  Ooebel.    VII,  205  S.  8".    Leipzig,  Teubner. 

3.80  M. 
Dvofai<,  M.,  Idealismus  und  Naturalismus  in  der  gotisclien  Skulptur  und  Malerei. 

(Forts.)    Hist.  Zeitsciir.  Bd.  119.  2.  Heft.  S.  186-246. 
Mc.  Do  wall,  A.,   Realism:  a  study  in  art  and  thought.    Constable  9  in.  305  pp. 

ind.,  10/6  n. 
Pauli,  O.,  Werden  und  Vergehen  des  Impressionismus.    Zeitschr.  f.  biid.  Kunst. 

54  S.  3.  Heft.  S.  45-67. 
Ströter,  M.,  Zur  neuen  Kunst.    Rheinlande.  18.  Jahrg.  11./12.  Heft.  S.  239-243. 
Burschen,  Fr.,  Die  neue  Schönheit.  Die  weißen  Blätter.  5.  Jahrg.  4.  Heft.  S.  39— 48. 
Waiden,   H.,  Das  Begriffliche  in  der  Dichtung.     Der  Sturm.  9. Jahrg.  5.  Heft 

S.  66-67. 
Feiner,  K.  v..  Die  dramatischen  Kategorien.   Das  deutsche  Drama.  1.  Jahrg.  4.  Heft. 

5.  189-304. 

Castle,  E.,  Die  dramatische  Algebra  in  Lessings  >Emilia  Qalotti«.    Zeitschr.  f.  d. 

deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  7./8.  Heft.  S.  277-285. 
Steinhof,  E.,  Aufzeichnungen  über  die  Darstellung  in  den  bildenden  Künsten. 

39  S.  8».    Düsseldorf,  A.  Bagel.    1.20  M. 
Thode,  H.,   Das  Wesen  der  deutschen  bildenden  Kunst.    IV,  133  S.  585.  Bdchen. 

»Aus  Natur  u.  Oeisteswelt«,  Leipzig,  B.  O.  Teubner. 
Grunewald,  M..  Germanische  Formensprache  in  der  bildenden  Kunst.   87  S.  gr.  8°. 

Straßburg,  J.  H.  E.  Heitz.    6  M. 
Winter,   Fr.,  Von  vergleichender  Kunstgeschichte.    Kunst  u.  Künstler.  7.  XVII., 

Heft  2.  S.  43-50. 

3.  Kunst    und  Natur. 
Haldy,  B.,   Aus  fränkischen  Gärten.    Würzburg  u.  Veitshöchheim.    Die  Bergstadt. 

6.  Jahrg.  S.  337—346. 

4.  Ästhetischer  Eindruck. 

Freund,  E.,  Musikverständnis  und  Musikgenuß.  Signale  f.  d.  musik.  Welt.  76.  Jahr- 
gang. 47.  48.  Heft.  S.  773—775.  789-790. 

Ward,  J.,  Psychological  Principles.  Cambridge,  University  Press.  10  in.  493  pp. 
ind.,  21/  n. 

Stumpf,  C,  Empfindung  und  Vorstellung.  Abhandl.  d.  preuß.  Akad.  d.  Wissensch. 
Phil.-Hist.  Klasse.  Nr.  1.  116  S.    Beriin,  G.  Reimer  (in  Komm.).    4.50  M. 

II.  Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

I.  Das  künstlerische  Schaffen. 
Delius,  R.  V..  Schöpfertum.    62  S.  8".    Jena,  Diederichs.    2  M. 
Quiller-Couch,  A.Th.,   Shakespeare's  Workmanship.    Fisher  Unwin.   8'/«  in. 

368  pp.  ind.,  15/n. 
Konsbrück,  H.,  Kunst  und  Mathematik.    Die  Kunst  für  Alle.  34  Jahrg.  1.  2.  Heft 

S.  36-40. 
Mann,  Th.,  Betrachtungen  eines  Unpolitischen.    Berlin,  S.  Fischer  Verlag. 

2.  Anfänge  der  Kunst. 
Levinstein,  S.,  Das  Kind  als  Künstler.    Kinderzeichnungen  bis  zum  14.  Lebensjahr. 
Mit  169  Abbildungen  auf  85  teils  farbigen  Tafeln.    Neue  Titelausg.    VII,  119  u. 
IV  S.  Lex.  8°.    Leipzig,   R.  Voigtländer.    Bisher  unter  dem  Titel :  Kinderzeich- 
nungen bis  zum  14.  Lebensjahr. 


214  SCHRFFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 


3.  Tonkunst  und  Bühnenkunst. 

Lande,  Fr.,  Grundriß  einer  wissenschaftlichen  Theorie  der  Musik.  Neue  Musik- 
zeitung. 40.  Jahrg.  3.  Heft.  S.  34—36.  4.  Heft.  S.  42—43.  6.  Heft.  S.  70-71. 

Kallenberg,  S.,  Über  die  große  und  die  kleine  Form  in  der  Musik.  Rheinische 
Musik-  u.  Theaterzeitung.  19.  Jahrg.  29.  30.  Heft.  Nr.  185—186. 

Friedrich,  H.,  Über  die  Bedeutung  des  musikalischen  Klangbildes.  Musikpädag. 
Zeitschr.  VIII.  Jahrg.  11.-12.  Heft.  S.  91-93. 

Riemann,  H.,  Die  Phrasierung  im  Lichte  einer  Lehre  von  den  Tonvorstellungen. 
Zeitschr.  f.  Musikwissensch.  1.  Jahrg.  1.  Heft.  S.  26— 39. 

Kurth,  E.,  Zur  Stilistik  und  Theorie  des  Kontrapunkts.  Zeitschr.  f.  Musikwissen- 
schaft. 1.  Jahrg.  3.  Heft.  S.  176-182. 

D  i  b  b  e  r  n ,  O. ,  Qrundzüge  der  Gesanglehre.  Unter  Berücksichtigung  des  Privat- 
unterrichts sowie  besonders  der  weiblichen  Stimme  für  Lehrer  und  Schüler  zu- 
sammengestellt. VIII,  274  S.  mit  Figuren  u.  2  Tafeln,  gr.  8".  Leipzig,  Breitkopf 
u.  Härtel.    5  M.,  geb.  6.50  M. 

Wetze  1,  H.  J.,  Volkslied  und  Kunstgesang.  Der  Türmer.  XX.  Jahrg.  21.  Heft. 
S.  407-410. 

Plaß,  J.,  Der  Rhythmus  der  Melodieen  unserer  Kirchenlieder.  Nach  den  Erforder- 
nissen des  Gemeindegesanges  und  den  musikalischen  Grundlagen  aus  entwickelt. 
166  S.  gr.  8".    Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.    5  M. 

Saß,  A.  L.,  Der  Geigerspiegel.  Betrachtungen  über  die  verschiedenen  Betätigungen 
des  Geigers.    32  u.  80  S.  kl.  8°.    Leipzig,  C.  F.  Kahnt.   0.60  M. 

Weißmann,  A.,  Der  Virtuose.  Mit  einem  Bild  d'Andrades,  radiert  von  M.  Slevogt. 
Umschlagzeichnung  von  H.  Meid.  39  Faks.  u.  Lichtdr.  174  S.  Lex.  8*.  Berlin, 
;   Paul  Cassirer.    24  M.,  Hlwbd.  32  M. 

Naumann,  E.,  Illustrierte  Musikgeschichte.  Vollständig  neu  bearbeitet  und  bis  auf 
die  Gegenwart  fortgeführt  von  E.  Schmitz.  Einleitung  und  Vorgeschichte  von 
Leop.  Schmidt.  Mit  274  Textabbildungen,  303  farbigen  Kunst-  u.  32  Notenbeil, 
3.  Aufl.  VIII,  792  S.  gr.  8°.    Stuttgart,  Union.    24  M. 

Bach-Jahrbuch,  14. Jahrg.  1917.  Im  Auftrag  der  neuen  Bachgesellschaft  heraus; 
gegeben  von  A.  Schering.  Veröffentlichungen  der  neuen  Bachgesellsch.  18.  Jahrg. 
VII,  176  S.  8».    Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.    Pappbd.  4  M. 

Heuß,  A.,  Haydns  Kaiserhymne.  Zeitschr.  f.  Musikwissensch.  1.  Jahrg.  I.Heft. 
S.  5-26. 

Kreitmaier,  J.,  der  Jüngere,  W.A.Mozart.  Eine  Charakterzeichnung  des  großen 
Meisters  nach  den  literarischen  Quellen.  XXIV,  250  S.  kl.  8».  Düsseldorf, 
L.  Schwann.    5  50  M. 

Curzon,  H.  de,  Mozart.  Les  Maitres  de  Musique,  public  sous  la  direction  df 
M.  J.  Chantavoine.    Paris,  F.  Alcan.    3.50  Fr.  > 

Lach,  R.,  Mozart  als  Theoretiker.  Denkschriften  der  Akademie  der  Wissenschaften 
in  Wien.  Phil.-Hist.  Klasse.  61.  Bd.  1.  Abt.  100  S.  4».  Mit  2  Tafeln.  Wien  ii^ 
Komm,  bei  A.  Holder. 

Gepi,  Fr.,  Mozart  in  seinen  Briefen.  I.Teil.  107  S.  Neujahrsblatt  der  Allg.  Musik: 
gesellsch.  Zürich.  65  S.  Lex.  8°.  Mit  dem  Porträt  Mozarts  von  Cignaroli.  Zürich, 
Grell  Füßli.    4  M. 

Leitzmann,  A.,  Beethovenstudien.  Zeitschr.  f.  Musikwissensch.  1.  Jahrg.  3.  Heft. 
>    S.  156—164. 

Shedlock,  J.  S,  Beethovens  Pianoforte  Sonatas.  The  origin  and  respective  values 
of  various  readtngs.    Augener  8V«  in.  51  pp.  ind.,  paper  1/n. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  '  215 

Dielzsch,  P.,  Heine  und  Chopin.  Neue  Musilczeitung.  40.  Jahrg.  3.  Heft.  S.  30— 34. 

4.  Heft.  S.  44-47. 
Fischer,  O.,  Marschner-Erinnerungen.   237  S.  u.  6  Tafeln.  8".    Hannover,  Hahnsche 

Buchh.     Pappbd.  9  M. 
Hirschberg,  L,  Franz  Pocci,  der  Musiker.    Zeitschr.  f.  Musikwissensch.  1.  Jahrg. 

1.  Heft.  S.  40-70. 
Wagner,   R.,   An  Mathilde  Wesendonk.    Tagebuchblätter  und   Briefe,  herausgeg. 
von   Dr.  J.  Kapp.    Mit   6  Bildnissen,   5  Tafeln   u.  3  Hs.   in  Faks.    464  S.  kl.   8». 
Leipzig,  Hesse  u.  Becker.    Pappbd.  2.50  M. 
Koch,  M.,    Rieh.  Wagner.   3.  Teil.  1859-1883.    Mit  6  Abbildungen,  1  Unterschrift 
und   Briefnachbildungen.    XVI,  774  S.  63.-65.  Bd.  der  »Geisteshelden«.     Eine 
Sammlung  von  Biographen,  herausgeg.  von  E.  Hoff  mann.    Berlin,  E.  Hoff  mann 
U.Co.    17.50  M. 
Istel,  E.,  Das  Kunstwerk  Rieh.  Wagners.    2.  verbess.  Auflage.    Mit  einem  Bildnis. 

VI,  125  S.  330.  Bdchen.  .Aus  Natur-  u.  Oeisteswelt«. 
Waack,  C,  Rieh.  Wagner.    Ein  Erfüller  und  Vollender  deutscher  Kunst.    X,  415  S. 

Mit  einem  Bildnis.  8».    Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.    7,50  M. 
Oöhlich,  H.,  Gedanken  über  Rieh.  Wagner  und  die  Neuzeit.    Neue  Musikzeitung. 

40  Jahrg.  3.  Heft   S.  29-30. 
Petschnig,  E.,   Rieh.  Wagner  und  das  Volkslied.    Neue  Musikzeitung.  40.  Jahrg. 

1.  Heft.  S.  1-2  u.  17-18. 
Haller,   C,   Zusammenhänge  in  den   ästhetischen  Anschauungen  Schopenhauers 

und  Wagners.     Bayreuther  Blätter.  4.-8.  Stück    S.  143—148. 
Nagel,  W.,  Die  Feindschaft  gegen  Wagner.    Neue  Musikzeitung.  40.  Jahrg.  5.  Heft. 

S.  56—59.  6.  Heft.  S.  71—74. 
Chop,  M.,   Bewußte   und   unbewußte  Brahms- Heuchelei.    Signale  f.  d.  musikal. 

Welt.  76.  Jahrg.  40.  41.  Heft.  S.  643-646. 
Neißer,  A.,  Gustav  Mahler.    Mft  Bildnis.    128  S.  Musiker-Biogr.  35.  Bd.  Reclams 

Mus.-Bibl,  Nr.  5985—5986. 
Pretzsch,  P.,  Schwarzschwanenreich  von  Siegfried  Wagner.    Führer  durch  Dich» 
lung  und  Musik.    Mit  Bildschmuck  von  F.  Stassen.    57  S.  8».    Leipzig,  Breitkopf 
u.  Härtel.   0.80  M. 
Niemann,   W.,  Die  Musik  der  Gegenwart  und  letzten  Vergangenheit  bis  zu  Ro- 
mantikem, Klassizisten  und  Neudeutschen.    5.-8.  reichverm.  u.  sorgf.  durchges. 
Aufl.    XVI,  303  S.  gr.  8».    Berlin,  Schuster  u.  Löffler.    8  M. 
Alt  mann,  W.,   Kammermusik-Literatur.    Verzeichnis  von  seft  1841  erschienenen 
Kammermusikwerken.    2.  verm.  u.  verb.  Auflage.    VIII,  132  S.   gr.  8».    Leipzig, 
C.  Merseburger.    5  M. 
Niemann,  W.,  Klavier- Lexikon.    Elementarlehre  für  Klavierspieler.    Anleitung  zm 
Aussprache  des  Italienischen,  Tabelle  der  Abkürzungen  in  Wort-  u.  Notenschrift, 
Literaturverzeichnis,  ausführliches  Fremd wörter-Sach-  u.  Personal-Lexikon.   (Vir- 
tuosen,  Komponisten,  Pädagogen,   Methodiker  und  Schriftsteller  des  Klaviers.) 
4.  völlig  umgearb.  u.  reichverm.  Aufl.  365  S.  kl.  8».    Wien,  Anzengruber.    2  M. 
Frank,  P.,  Taschenbüchlein  des  Musikers.    Enth.:  eine  vollständige  Erklärung  der 
in  der  Tonkunst  gebräuchlichen  Fremdwörter,  Kunstausdrücke  u.  Abbreviaturen, 
sowie    die   Anfangsgründe    des   Musikunterrichts.    25.  Aufl.    XIV,   122  S.   16'. 
Leipzig,  C.  Merseburger. 
Rothery,  O.  C,  The  Power  of  Mujic  and  the  Healing  Art.    Music-Lovers  libraty 
7'/a  in.  127  pp.  ind.  2/n. 


215  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 


Kutscher,  A.,  Die  Ausdruckskunst  der  Bühne.  Grundriß  und  Bausteine  zum  neuen 
Theater.    VH,  223  S.  16".    Leipzig,  Oldenburg  u.  Co.    Pappbd.  4  M. 

Be rg er,  R.,  Kunst  und  Theater.    32  8.8°.    Mainz,  L.  Wilkens.    1.50  M. 

Lederer,  M.,  Über  das  Theater.    45  S.  gr.  8".    Leipzig,  Xenienverlag.    1  M. 

Band,  E.,  Theaterkultur,  Theaterreform,  Theaterkunst.  Neue  Musikzeitung. 
40.  Jahrg.  6.  Heft.  S.  65—69. 

N  o  r  e  n ,  H.,  Die  Oebrauchsoper.  Signale  für  die  musikalische  Welt.  76.  Jahrg.  44. 
45.  Heft.  S.  719—721.  737-739. 

Michael,  Fr.,  Die  Anfänge  der  Theaterkritik  in  Deutschland.  VI,  110  S.  8».  Leip- 
zig, H.  Haessel.    4  M. 

Winkel,  R.,  Über  die  altdeutsche  Mysterienbühne.    Kunst  u.  Künstler.  27.  Jahrg. 

2.  Heft.  S.  65—72. 

Jonas,  M.,  Shakespeare  and  the  Stage;  with  a  completc  liste  of  theatrical  terms 
used  by  Shakespeare  in  his  plays  and  poems,  arranged  in  alphabetical  order, 
and  explanatory  notes.    Daris  and  Orioli.   9  in.  406  pp.  15/n. 

Bruce,  H.  L.,  Voltaire  on  the  English  Stage.  University  of  California  Publications 
in  Modern  Philosophy,  vol.  8.  Berkeley,  Cal.,  Univ.  Press.  10  in.  152  pp.  app. 
1.50  sh. 

Rehm,   H.,  Das  Marionetten-  und  Schattentheater  der  Orientalen.    Das  Landhaus. 

3.  Jahrg.  10.  Heft.  S.  150-155. 

Wohlmuth,  A.,  Ein  Schauspielerleben.    Ungeschminkte  Selbstschilderungen.    193  S. 

mit  3  Tafeln.  8°.    München,  Parcus  u.  Co. 
Richter,  H.,  Unser  Burgtheater.    61  S.  gr.  8".    Zürich,  Amaltheaveriag.    4.40  M. 
Jahrbuch,  amtliches,  des  k.  u.  k.  Hoftheaters  in  Wien  für  die  Spielzeit  1917 

bis  1918.    166  S.  8».    Wien,  Gerold  u.  Co.  in  Komm.    Kart.  8  M. 
Oersf,  W.  C,  Die  deutschen  Katholiken  und  der  Theaterkulturverband.    54  S.  8°. 

München-Gladbach ,  Verl.  d.  Volkskunst  (München-Gladbach ,  Volkvereinsverl.). 

1.50  M. 

4.  Wortkunst. 
Andreas-Salome,   L.,   Dichterischer   Ausdruck.     Literarisches   Echo.    21.  Jahrg. 

6.  Heft.  Sp.  325-331. 
Bühler,  Ch.,   Das  Märchen  und  die  Phantasie  des  Kindes.    IV,  82  S.  Beiheft  d. 

Zeitschrift  f.  angew.  Psychol.    Herausgeg.  von  W.  Stern  u.  O.  Lipmann.   gr.  8°. 

Leipzig,  Barth.    4  M. 
Bretschneider,  K.,  Die  Strophe.    Ein  Kapitel  aus  einer  ungedruckten  Poetik. 

Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  9.  Heft.  S.  355— 361. 
Rivaroli,  E.,  La  Poetique  Parnassienne  d'apres  Th.  de  Banville.  Theories.  Appli- 
cations. Consequences.    Paris,  Maloine,  1915.    in  -8,  4—207  pp. 
Leffevre,  Fr.,  La  jeune  Poesie  frangaise.    Hommes  et  Tendances.    Paris,  Rouart. 

In  -16,  269  pp.    3  Fr. 
Sievers,  E.,  Metrische  Studien.    IV.  Die  altschwedische  Upplandslagh  nebst  Proben 

formverwandter  germanischer  Sagendichtung,   I.  Teil.  Einl.  mit  3  Figuren  im  Text. 

VII,  262  S.   Abh.  d.  Sachs.  Qesellsch.  d.  Wissensch.    Phil.-Hist.  Klasse.   35.  Bd. 
'    Nr.  1.   Lex.  8°.    Leipzig,  Teubner. 
Meyer,  K.  A.,  Leitmotive  in  der  Dichtkunst.    Eigenton  und  Assoziativ.  II.  (Forts.) 

Bayr.  Blätter.  4.-8.  Stk.  S.  104—130. 
Lucka,  E.,   Historische   Dichtung.    Literarisches  Echo.  21.  Jahrg.  4.  Heft.  Sp.  211 
'    bis  215. 
Thomas,  E.,  Das  Tragische  in  Hebbels  »Gyges  und  sein  Ring«.    Zeitschr.  f.  d. 

deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  7.  8.  Heft.  S.  290—292. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  217 

Qräntz,  Fr.,  Die  deutsche  Landschaft   in  der  schwäbischen  Dichtung.    Vortrag. 

Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  10.  11.  Heft.  S.  385-407. 
Lessen,   L.,  Die  Schilderung  der  Massen   in  Klara  Viebigs  Romanen.    Die  neue 

Zeit.  32.  Jahrg.  Nr.  5.  S.  112-118. 
R  a  y  m  a  n  n ,  H.,  Die   Gestaltung  der   modernen   Seeschlacht.    Literarisches  Echo. 

21.  Jahrg.  2.  Heft.  Sp,  14—17. 
Wugic,  F.,   Die   romantische  Bewegung.    Der  Türmer.  21.  Jahrg.   5.  6.  Heft.  S.  223 

bis  229. 
Cippico,  A.,  The  Romantic  Age  in  Itahan  Literature.    Lee  Warner.  JVledici  Sodety. 

8  in.  108  pp.  4/6  n,  Students  ed.,  »/«. 

Meßleny,  R.,  Karl  Spitteler  und  das  neudeutsche  Epos.   Deutsche  Erzählungskunst. 

Ihr  Wesen   und  ihre  Geschichte.     Herausgeg.  von   R.  Meßleny.   gr.  8'.    Halle, 

M.  Niemeyer.    1.  Bd.  XI,  338  S.    12  M.,  geb.  14  M. 
Bartels,  A.,  Weltliteratur.    Eine  Übersicht,  zugleich  ein  Führer  durch  Reclams 

Univ.-Bibl.  1.  Teil.  Deutsche  Dichtung.  463  8.  Univ.-Bibi.  Nr.  5997—5999. 
Trent,  W.  P.,  And  others:  A  History  of  American  Literature.   Vol.  1  (supplemen- 

tary  to  the  Cambridge  History  of  English  Literature).  Cambridge.    Univ.  Press. 

9  in.  603  pp.    ind.  15  n. 

Boyd,  E.,  The  Contemporary  Drama   of   Ireland.    Dublin.  Talbot   Press.   Fisher 

Unwin.   8  in.  228  pp.  bibiiog.    ind.  5/n. 
George,  W.  L.,  A  Novelist  on  Novels.    Collins.    Sin.  248  pp.   6/n. 


Fi  sohl,  H.,  Ergebnisse  und  Aussichten  der  Homeranalyse.  III,  84  S.  gr.  8". 
Wien,  C.  Fromme.    4.50  M. 

Oeffken,  J.,  Die  griechische  Tragödie.  Mit  5  Abbildungen  im  Text  und  auf  einer 
Tafel.    »Aus  Natur  und  Geisteswelt«.  566.  Bdchen.    116S. 

M  a  1 1  h  a  e  i ,  L.,  Studies  in  Greek  Tragedy.  Cambridge.  Univ.  Press.  9  in.  232  pp. 
ind.  9n. 

Kroll,  W.,  Menander.    Nord  und  Süd.  Dezember-Heft.  S.  271— 283. 

Heusler,  A.,  Das  Nibelungenlied  und  die  Epenfrage.  Intern.  Monatsschr.  13.  Jahrg. 
2.  Heft.  S.  97-1 14.   3.  Heft.  S.  225-240. 

Choiseul,  H.  de,  Dante:  le  Paradis;  d'apres  les  comnientateurs.  Paris,  Hachette, 
1915.    8'/»  in  602  pp.   iL  bibliogr. 

Fischer,  E.,  Das  deutsche  Volksschauspiel.  61  S.  Flugschrift  des  Dürerbundes. 
Nr.  177.  gr.  8".    München,  Callwey.    1  M. 

Voßler,  K.,  Der  Minnesang  des  Bernhard  v.  Ventadorn.  Sitzungsberichte  d.  bayr. 
Akad.  d.  Wissensch.  Phil.-Hist.  Klasse.  2.  Abh.  146  S.  gr.  8«.  München,  G.  Franz- 
scher in  Komm.    3  M. 

Koppel,  R.,  Das  Primitive  in  Shakespeares  Dramatik  und  die  irreführenden  An- 
gaben und  Einteilungen  in  den  modernen  Ausgaben  seiner  Werke.  Neue  Folge 
der  Shakespeare-Studien.    VI,  144  S.  8«.    Beriin,  Mittler  u.  Sohn.    3  M. 

Richter,  J.,  Zur  Frage  nach  der  Herkunft  des  Erdgeistes  in  Goethes  »Faust«. 
Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  10.  11.  Heft.  S.  407— 423. 

Brocks,  E.,  Klopstocks  Silbenmasse  des  »gleichen  Verses«.  Die  Gesetze,  nach 
denen  Klopstock  die  Strophen  der  Triumphgesänge  des  Messias  und  die  seit 
1764  in  den  »neuen«  Silbenmassen  gedichteten  Oden  geformt  hat,  zum  erstenmal- 
aufgedeckt.   53  S.  gr.  8».    Kiel,  W.  G.  Mühlau.    2.50  M. 

Hudson,  W.  H.,  Johnson  and  Goldsmith  and  their  Poetry.  (Poetry  and  Life  Se-^ 
ries.)    Harrap.   7  in.  176  pp.  '/« "• 


218  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 

Beik,  K.,  Zur  Entstehungsgeschichte  von  Goethes  »Torquato  Tasso«.    Widerlegung 

der  Hypothese  K.  Fischers.    IX,  100  S.  gr.  8°.    Leipzig,  W.  Schunke.    3  M. 
Goethe,  Torquato  Tasso,  ein  Schauspiel;  ed.  by  J.S.Robertson  (Modern  Lan- 

guage  Texts).    Manchester,  Univ.  Press  (Longmans).  7'/»  in.  introd.  pap.   5/n. 
Aul  hörn,  E.,  Der  Aufbau  von  Goethes  »Wahlverwandtschaftenc.    Zeitschr.  f.  d. 

deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  9.  Heft.  S.  337—355. 
Jahrbuch  der  Goethe-Gesellschaft.    Im  Auftrage  des  Vorstandes  herausgeg. 

von  H.  G.  Graf.   5.  Bd.   VIII,  295  S.  mit  2  Tafeln.  8°.    Weimar.  Goethe-Gesellsch. 

Leipzig,  Inselverl.  in  Komm.    5  M. 
Ernst,   P.,  Der  Prinz  von  Homburg.    Deutsches  Volkstum.    Der  Bühne  u.  Welt. 

20.  Jahrg.  11.  Heft.  S.  319-323. 
Friedrich,   P.,  Chr.  Grabbe   als  vaterländischer  Dichter.    Deutsches  Volkstum. 

20.  Jahrg.  10.  Heft.  S.  281  -288. 
Wendel,  H.,  Anastasius  Grün  und  die  Südslawen.    Der  Kampf.  11.  Jahrg.  7.  Heft. 

S.  484—490. 
Allais,  G.,  Lamartine  et  le  pofeme  de  »Milly«.    Revue  d'Histoire  litteraire  de  la 

France.    25«  annee.  Nr.  3.  S.  345-361. 
Ley,  J.  W.  Th.,  The   Dickens   Circle:   a   narrative   of  the   novelist's  friendships. 

Chapman  Hall.   9  in.  379  pp.  il.  ind.   21/n. 
Crees,  J.  H.  E.,  George  Meredith:  a  study  of  his  works  and  personality.    Oxford 

Blackwell.    7'/2in.  248pp.    ind.  6/n. 
Meyer,  C.  F.,  und  J.  Rodenberg,   Ein  Briefwechsel.    Herausgeg.  von  A.  Lang- 
messer.   322  S   8».    Berlin,  Gebr.  Paetel.    7.50  M. 
Brecht,  W.,  C.F.Meyer  und  das  Kunstwerk  seiner  Gedichtsammlung.    XV,  234  S. 

gr.  8».    Wien,  Braumüller.    10  M. 
Hof  milier,  J.,  Paul  Heyse.  Süddeutsche  Monatshefte.  November  Heft.  S.  127—132. 
Litzmann,   B.,  Theodor  Storm.    Zwei  Aufsätze.    Mitteilungen  der  literar-histor. 

Gesellsch.  Bonn.  11.  Jahrg.  2.  3.  Heft.  gr.  8».    Bonn,  F.Cohen.    1.50  M. 
Bonneken,  M.,  Wilhelm  Raabes  Roman  »Die  Akten  des  Vogelsangs«.    XI,  186  S. 

Nr.  22  der  Beiträge  zur  deutschen  Liter.-Wissensch.,  herausgeg.  von  E.  Elster. 

Marburg,  Elwert    7  M. 
Meyer-Benfey,   H.,  Ilse  Frapan.     Norddeutsche  Monatshefte.   5.  Jahrg.  I.Heft. 

S.  21—27.  2.  Heft.  S.  69—74. 
Heuß,  Th.,  Isolde  Kurz.    Liter.  Echo.  21.  Jahrg.  2.  Heft.  Sp.  70-76. 
Friedrich,  K.J.,  Die  Heilige.    Erinnerungen  an  Agnes  Günther,  die  Dichterin  von 

»Die  Heilige  und  ihr  Narr«.    45  S.  8».    Gotha,  F.  A.  Perthes.   2  M. 
Mumbauer,  J.,  Der  Dichterinnen  stiller  Garten.    Marie  v.  Ebner-Eschenbach  und 

Enrica  v.  Handel-Mazzetti.    Bilder  aus  ihrem  Leben  und  ihrer  Freundschaft  dar- 
gestellt.   Mit  2  Bildern.    III,  90  S.   kl.  8».    Freiburg  i.  Br.,   Herdersche  Veriagsh. 

Kart.  1.60  M. 
Di  eis,  P.,  Deutsche  und  russische  Literatur  in  älterer  Zeit.    Internationale  Monats- 
schrift. 13.  Jahrg.  2.  Heft.  Sp.  163—184.  3.  Heft.  Sp.  263— 298. 
Benzmann,   H.,  Das  russische  Volkslied.    Konservative  Monatsschrift.  76.  Jahrg. 

1.  Heft.  S.  36-41. 
Früchte,   G.,   Dostojewski   und   Gogol.    Liter.  Echo.   21  Jahrg.   3.  Heft.   Sp.  145 

bis  151. 
Overmans,  J.,  Mit  Strindberg  nach  Damaskus.   Stimmen  d.  Zeit.  49  Jahrg.  1.  Heft. 

S.  75-84. 
Liebert,  A.,  Strindbergs  Geschichtsphilosophie  und  ihre  Beziehung  zu  seiner  Kunst. 

Preußische  Jahrbücher.  174.  Bd.  Dezember-Heft.  S.  341—361. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1Q18.  219 

Wiese,  L.  v.,  Strindberg.    Ein  Beitrag  zur  Soziologie  der  Geschlechter.    JMünchen 

u.  Leipzig,  Dunclcer  u.  Humblot.    143  8. 
Fehr,    B.,   Studien   zu   Oscar  Wildes   Gedichten.    XII,  216  S.    Palaestra,  Unter- 
suchungen und  Texte  aus  der  deutschen  und  englischen  Philologie,   herausgeg. 

von  A.  Brandt,  G.  Roethe.  Nr.  100     Berlin,  iVlayer  u.  JVlüller.    12  M. 
Hart,  W.  M.,  Kipling  the   story-writer.     Berkeley,  University  of  California  Press. 

8«.  226  pp. 
Neckel,  G.,  Per  Hallström.    Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterr.  32.  Jahrg.  7.  S.Heft. 

S.  292-296. 
Kannegießer,  W.,  Die  Werkleute  auf  Haus  Nyland  und  verwandte  neue  Dichter. 

Nord  und  Süd.  Dezember  Heft.  S.  284-296. 
Lissauer,  E.,  Autobiographische  Skizze.    Liter.  Echo.  21.  Jahrg.  Sp.  269— 273. 
Knudsen,  H.,  Der  Dichter  Hermann  Burte.    Mit  einem  Bildnis.  75  S.  86.  Bd.  der 

Zeitbücher,  kl.  8».    Konstanz,  Reuß  u.  Itta.    0.70  M. 
Roeßler,  A.,   Kritische  Fragmente.    Aufsätze   über  österreichische  Neukünstler. 

240  S.  mit  68  Abbildungen,  gr.  8".    Wien,  R.  Lange.    10  M. 
JV\ahrholz,  W.,  Karl  May.    Liter.  Echo.  21.  Jahrg.  3.  Heft.  Sp.  129-141. 
Karl-May-Jahrbuch  1918.    Herausgegeb.  von  R.  Beißel   u.  F.  Barthel.   1.  Jahrg. 

323  S.  mit  12  Tafeln,   kl.  8".    Breslau,  Schles.  Buchdr.,  Kunst-  u.  Verlags-Anstalt. 

5.   Raumkunst.  •  , 

Schumacher,  F.,  Grundlagen  der  Baukunst.  Studien  zum  Beruf  des  Architekten. 
194  S.    München,  G.  Callwey. 

Hoeber,  F.,  Architekturfragen.  Die  neue  Rundschau.  39.  Jahrg.  8.  Heft.  S.  1103 
bis  1108. 

Behne,  A.,  Die  Überwindung  des  Tektonischen  in  der  russischen  Baukunst. 
Sozialistische  Monatshefte.  24.  Jahrg.  20.  Heft.  S.  833—837. 

Herre,  C,  Der  Aufgang  in  das  geistige  Leben  oder  die  Fahrt  nach  dem  heiligen 
Gral  durch  die  Kunst,  Religion  und  Wissenschaft:  I.  Eine  Apotheose  deutscher 
Kathedralen-Baukunst  im  13.  Jahrhundert.  II.  Die  enthüllten  Bau-  und  Tempel- 
geheimnisse des  Münsters  zu  Freiburg  i.  Br.  Forschungsergebnisse  zum  Münster 
in  Freiburg  i.  Br.  Nr.  2.  76  S.  Mit  13  Abbildungen  u.  Tabellen.  Magnum  Opus 
Verl.    4.50  M. 

Theuer,  M.,  Der  griechisch-römische  Peripteraltempel.  Ein  Beitrag  zur  antike^ 
Proportionslehre.    47  Tafeln.  66  S.    Berlin,  C.  Wachsmuth  A.-G. 

Senmaltz,  K.,  Mater  ecclesiarum.  Die  Grabeskirche  in  Jerusalem.  Studie  zur 
Geschichte  der  kirchlichen  Baukunst  u.  Ikonographie  in  Antike  u.  Mittelalten 
Mit  147  Abbildungen.  XI,  510  S.  120.  Heft.  Zur  Kunstgeschichte  des  Auslandes. 
Lex.  8«.    Straßburg,  J.  H.  E.  Heitz.    45  M. 

Hamann,  R.,  Romanische  und  gotische  Kunst  in  Frankreich  und  Deutschlantfi 
Internationale  Monatsschrift.  13.  Jahrg.  1.  Heft.  S.  66—82.  3.  Heft.  S.  239-263. 

Schinnerer,  J.,  Die  Grundzüge  der  gotischen  Baukunst.  Mit  5  Textabbildungen  u. 
62  Abbildungen  auf  56  Tafeln.  39  S.  u.  56  S.  Abbildungen.  23.  Bd.  von  Voigti- 
länders  Quellenbüchern.  Neue  Ausgabe,  kl.  8°.    Lieipzig.    Kart.  1.50  M. 

Matthaei,  A.,  Deutsche  Baukunst  im  Mittelalter.  I.  Von  den  Anfängen  bis  zum 
Ausgang  der  romanischen  Baukunst.  4.  Aufl.  Mit  35  Abbildungen  im  Texti 
VI,  104  S.  8.  Bdchen.  »Aus  Natur-  u.  Geisteswelt«.  II.  Gotik  u.  Spätgotik.  4.  AufL 
Nr.  9.  S.  117.    Leipzig,  B.  G.  Teubner. 

Deutsche   Baukunst  in  der  Renaissance  u.  Barockzeit  bis  zum  Ausgang  des 
18.  Jahrhunderts.  2.  Aufl.   116  S.  Nr.  326.  «Aus  Natur-  u.  Geistesweltc.  -  • 


220  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 

Westlake,   H.  F.,  The  Palace  of  Westminster.    A  descriptive  and  historical  guide. 
Lane.  S'/z  in.  63  pp.    paper  1/n. 


Bulle,  H.,  Archaisierende  griechische  Rundplastik.  Mit  8  Tafeln.  36  S.  Abhandl. 
d.  bayr.  Akad.  d.  Wissensch.  Phil.-hist.  Klasse.  30.  Bd.  2.  Abh.  München,  Franz- 
scher in  Komm.    4  M. 

Bieber,  M.,  Der  Chiton  der  ephesischen  Amazonen.  Jahrbuch  des  kaiserlich  deut- 
schen archäol.  Instituts.  33.  Bd.  1.  2  Heft.  S.  49—75. 

Lehn  er,  H.,  Die  antiken  Steindenkmäler  des  Provinzial  -  Museums  in  Bonn. 
F.  Cohen  (in  Komm.).    8  M. 

Schinnerer,  J.,  Die  gotische  Plastik  in  Regensburg.  Mit  8  Lichtdrucktafeln.  122  S. 
207.  Heft.  Studien  zur  deutschen  Kunstgeschichte.  207.  Heft.  Lex.  8°.  Straßburg, 
J.  H.  E.  Heitz. 

6.  Bildkunst. 

Bimmel,  O.,  Das  Problem  des  Porträts.  Die  neue  Rundschau.  39.  Jahrg.  10.  Heft. 
S.  1336-1344. 

Swarzenski,  O.,  Das  Frankfurter  Bildnis  von  1500  bis  zur  Wende  des  20.  Jahr- 
hunderts. Herausgeg.  nach  Vorarbeiten  von  C.  v.  Berirab.  2.  Liefg.  25  Tafeln 
mit  Text.  S.  13—23.  41  x  31  cm.  Frankfurt  a.  M.  Frankfurter  Kunstverein.  Leip- 
zig, K.  W.  Hiersemann  in  Komm.    30  M.,  Luxusausg.  60  M. 

Thiersch,  H.,  Winkelmann  und  seine  Bildnisse.  Vortrag,  geh.  f.  d.  Freiburger 
wissensch.  Oesellsch.  Mit  5  Abbildungen  auf  Tafeln.  IV,  59  S.  Freiburger 
Wissensch.  Oesellsch.  5.  Heft.  gr.  8*.   München,  C.  H.  Becksche  Verlagsh.  3.50  M. 

Selbstbildnisse  schweizerischer  Künstler  der  Gegenwart.  Herausgeg. 
von  O.  Reinhart  u.  P.  Fink.   Zürich. 

Wurm,  A.,  Die  Entstehung  des  nazarenischen  Heiligentypus.  Zeitschr.  f.  christl. 
Kunst.  31.  Jahrg.  3.  4.  Heft.  S.  24—29. 

Zoff,  O.,  Die  Bedeutung  der  deutschen  Landschaftskunst.  Kunst  und  Künstler. 
17.  Jahrg.  4.  Heft.  S.  131—141. 

Pfister,  K.,  Die  Landschaft  Rembrandts.  Kunst  u.  Künstler.  37.  Jahrg.  3.  Heft. 
S.  98—103. 

Eis I  er,  M.,  Rembrandt  als  Landschafter.  Vll,  272  S.  mit  140  Abbildungen.  8". 
München,  F.  Bruckmann.    8  M. 

Coppier,  A.  Ch.,  Les  Eaux-Fortes  de  Rembrandt.  L'ensemble  de  l'oeuvre  grave, 
la  technique  des  »cent  florins«,  les  cuivres  graves.  Paris,  Berger-Levrault,  1917. 
13  in.  138  pp.  plates,  il.  paper. 

Martin,  W.,  Alt-holländische  Bilder.    127  Abbildungen.    Berlin,  C.Schmidt  u.  Co. 

Polaczek,  E.,  Von  der  Kunst  im  Elsaß.  Nach  einem  Vortrag.  Mit  10  Abbildungen. 
28  S.  8".    Basel,  E.  Finckh  Verl.    1  M. 

Neuwirth,  J.,  Bildende  Kunst  in  Österreich.  I.  Von  der  Urzeit  bis  zum  Ausgange 
des  Mittelalters.  96  S.  Österreichische  Bücherei.  17.  Bd.  kl.  8".  Wien,  C.Fromme. 
0.80  M. 

P  e  n  n  e  I ,  J.,  Pictures  of  War  Work  in  America.  Reproductions  of  litographs  et 
munition  works;  notes  and  introduction  by  thc  artist.  Philadelphia,  Lippincott. 
10  by  7V2  in.  84  pp.  36  pl.   9/n. 

Bone,  M.,  War  Drawings:  from  the  collection  presented  by  the  British  Museum, 
by  His  Majesty's  Govemment-edition  de  Luxe.    20  by  15  in.  10  pl.  paper  ">/«n. 

Lavery,  J.,  British  Artists  at  the  Front.  2.  Sir  J.  Lavery.  introds.  by  R.  Rossand, 
C.  E.  Montague.    12Vs  by  9'/»  in.  15  plates.   paper  5/n. 

Fränkel,L.,  Maler  Müllers  Auferstehung.    31  S.  gr.  8°.    Berlin,  Behrs  Verl.    0.90  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  221 

Diirck-Kaulbach,  J.,  Erinnerungen   an   W.  Vi  Kaulbach   und   sein    Haus.     Mit 

Briefen    u.    160   Abbildungen.    2.  Aufl.    368  S.   8».     München,    Delphin-Verlag. 

Pappbd.  9  M. 
Braun-Artaria,  R.,  Von  berühmten  Zeitgenossen.  Lebenserinnerungen  einer  Sieben- 

zigerin.    Mit  2  Bildern  des  Verfassers  nach  den  Originalen  von  Fr.  v.  Lenbach 

u.  Anselm  Feuerbach.    7.  Aufl.    III,  215  S.  8».    München,  C.  H.  Becks  Verlagshg. 

Pappbd.  5.50  M. 
Künstler  abseits  vom  Wege.    Zehn  Jahre  deutscher  Kunst   in  der  Provinz. 

Kunstverl.  E.  Richter,  Dresden. 
Der  expressionistische  Holzschnitt.    46.  Ausstellung.    Neue  Kunst  H.  Goltz 

München  (Katalog).  8°.    München,  Ooltzverlag.    15  S.  mit  21  Tafeln.    3  M. 
Die  Sammlung  W.  Oumprecht,  Berlin.    2  Bde.   33  x  24,5  cm.    Berlin,  P.  Cas- 

sirer.    München,  H.  Helbing.    Pappbd.  50  M. 

1.  Die  Gemälde.    Verzeichnet  von  E.  Plietsch.    88  S.  mit  40  Tafeln. 

2.  Die  Bildwerke.    Verzeichnet  von  F.  Goldschmidt.  —  Die  kunstgewerblichen 
Gegenstände  verzeichnet  von  R.  Schmidt.    90  S.  mit  51  Tafeln. 

Führer  durch  die  kgl.  Museen  zu  Berlin.  Herausgeg.  von  der  General- 
verwaltung. Die  Altertums-Sammlungen  des  Alten  u.  Neuen  Museums.  15.  Aufl. 
159  S.  mit  eingedruckten  Grundrissen,  kl.  8".    Berlin,  Georg  Reimer.    0.50  M. 

Führer  durch  die  kgl.  Sammlungen  zu  Dresden.  Herausgeg.  von  der 
Generaldirektion  der  kgl.  Sammlungen  für  Kunst  u.  Wissenschaft.  13.  Aufl.  mit 
16  Abbildungen  auf  Tafeln.  XXIV,  340  S.  m.  eingedr.  Plänen,  kl.  8".  Dresden, 
Albanussche  Buchdruckerei.    Dresden,  H.  Burdach.    9  M. 

Die  Kunstdenkmäler  des  Königr.  Bayerns.  Herausgeg.  im  Auftrage  des 
kgl.  bayr.  Staatsministeriums  des  Innern.  3.  Bd.  Regier.-Bez.  Unterfranken  u. 
Aschaffenburg,  herausgeg.  von  F.  Mader.  19.  Heft.  Lex.  8".  München,  R.  Olden- 
bourg  in  Komm.  F.  Mader.  Stadt  Aschaffenburg  mit  einer  historischen  Einlage 
von  H.  Ring.  Mit  zeichnerischen  Aufnahmen  von  G.  Lösti.  Mit  43  Tafeln,  263  Ab- 
bildungen im  Text  u.  einem  Lageplan.    V,  339  S.    Hlwbd.  14  M. 


Woermann,  K.,  Geschichte  der  Kunst  aller  Zeiten  und  Völker.  2.  neubearb.  u. 
verm.  Aufl.  In  6  Bdn.  3.  Bd.  Lex.  8".  Leipzig,  Bibliographisches  Institut.  3.  Die 
Kunst  der  christl.  Frühzeit  u.  des  JVUttelalters.  Mit  343  Abbildungen  im  Text, 
8  Tafeln  in  Farbendruck  u.  58  Tafeln  in  Tonätzung  u.  Holzschn.  XVIU,  574  S. 
16  M.,  Hwbd.  18  M. 

Karabacek,  I.  v..  Abendländische  Künstler  zu  Konstantinopel  im  15.  u.  16.  Jahr- 
hundert. I.  Italiens  Künstler  am  Hofe  Mohammeds  II.  Mit  9  Tafeln  u.  55  Text- 
bildern. 62.  Bd.  der  Denkschriften  der  Akad.  d.  Wissensch.  Wien.  Phil.-Hist. 
Klasse.  1.  Abh.    Wien,  Holder  in  Komm.    22  M. 

Kahn,  M.,  Die  Stadtansicht  von  Würzburg  im  Wechsel  der  Jahrhunderte.  Mün- 
chen, Dunker  u.  Humblot.    Leipzig  1918. 

Wald  mann,  E.,  Albrecht  Dürers  Handzeichnungen.  Des  Dürer-Buches  3.  Tl.  mit 
80  Vollbildern.  57  S.  gr.  8".    Leipzig,  Insel-Verl.    Hlwbd.  5  M. 

Friedländer,  M.  J.,  Dürers  Bilddruck.  Ein  Vortrag  gedr.  f.  d.  Mitglieder  d.  kunst- 
hist.  Gesellsch.  E.V.  Nürnberg.    18  S.  8°.    Nürnberg,  C.  Koch.    1  M. 

Kahn,   R.,   Die  Graphik  des  Lukas   van  Leyden.    Studien  zur  Entwicklungsgesch. 
der  holl.  Kunst  im  16.  Jahrhundert.    Mit  18  Lichtdrucktaf.    XVll,  146  S. 
Zur  Kunstgesch.  des  Auslandes.    118.  Heft.  8°.    Straßburg,  J.  H.  E.  Heitz.    20  M. 

Weihnachten  in  altdeutscher  Malerei.  16  Gemälde  des  15.  u.  16.  Jahr- 
hunderts in  farbiger  Wiedergabe  mit  Einf.  von  H.  Naumann.    Furche-Verl. 


222  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 

Tiliey,  A.,  The  Dawn  of  the  Frensh  Renaissance.    Cambridge.  Univ.  Press.  9  in. 

662  pp.   il.  ind.  25/n. 
Die  Briefe  des   P.P.Rubens.     Übers,  u.  eingel.  von  O.  Zoff.     Kunstverlag 

A.  Schroll  u.  Co.  Wien. 
Rothes,  W.,  Anton  van  Dyck.    Mit  56  Abbildungen.  36  S.    Die  Kunst  dem  Volke. 

Herausgeg.  von  der  allgem.  Vereinigung  für  christliche  Kunst.   Nr.  35.    Lex.   8*. 

München.  Durch  O.  Maier,  Leipzig.    Für  den  Band  von  4  Nrn.  4  M.,  geb.  6.80  M., 

Einzelbd.  1.10  M. 
Kehr  er,  H.,  Francisco  de  Zurbarän.    Hugo  Schmidt,  München. 
Delphin-Kunstbücher.    3.  Folge.  8".    München,  Delphin-Verlag.    Muriilo,  Barto- 

lome,  Esteban.    Der  Maler  der  Betteljungen  und  Madonnen.    Ausgew.  u.  eingeL 

von  A.  L.  Mayer.    Mit  24  Abbildungen  auf  Tafeln.  22  S.    Pappbd.  0.90  M. 
Goya,  F.,  Caprichos.    83  getreue  Nachbildungen  in  Lichtdruck.    Herausgeg.  von 

V.  v.  Loga.   83  Tafeln  mit  11  S.  Text.  31  x  20,5  cm.    München,  H.  Schmidt.  Leder- 
band 480  M.    Subskr.-Pr.  380  M. 
Hautecoeur,  L.,  Madame  Vigee-Lebrun.    Etüde  critique  illustree  de  24  planches 

hors  texte.    Paris,  H.  Laurens.    In.  -8.  de  128  p. 
Chodowiecki,  D.,  Der  Briefwechsel   zwischen  ihm  und  seinen  Zeitgenossen, 

herausgeg.    von    Ch.  Steinbrucker.     1.  Bd.    1736—1786.     Mit    66  Abbildungen. 

497  S.  gr.  8".    Berlin  1919,  C.  Dunker.    20  M. 


Dieffenbach,  Ph.,  Das  Leben  des  Malers  Karl  Fohr.  Darmstadt  1823.  Verl.  von 
J.  W.  Heyer.  Mit  einer  Vorrede  von  Dr.  Paul  F.  .Schmidt.  Neu  herausgeg.  von 
R.  Schrey.    XXIV,  XVI,  167  S.  8».    Frankfurt  a.  M.,  A.  Voigtländer-Tetzner.    6  M. 

Das  Neureuther-Album.  Mit  78  Tafeln  Abbildungen  aus  den  Briefen  Goethes 
an  Neureuther.  Herausgeg.  von  E.  Bredt.  72  Tafeln  mit  32  S.  Text.  30,5x23  cm. 
München,  H.  Schmidt.    Pappbd.  22  M. 

Neureuther,  J.,  Bilder  um  Lieder.  Mit  60  Abbildungen.  Gewählt  u.  eingel.  von 
E.  W.  Bredt.    80  S.  8«.    München,  H.  Schmidt.    Pappbd.  2.80  M. 

Beringer,  J.  A.,  Emil  Lugo.    Die  Kunst  für  Alle.  34.  Jahrg.  5.  6.  Heft.  S.  77-94. 

Segantini,  O.,  Sein  Leben  und  seine  Werke.    Mit  einer  Einf.  von  G.  Segantini. 

2.  Aufl.  53  zum  Teil  farbigen  Tafeln  u.  23  S.  Text  mit  eingeklebten  Abbildungen. 
Lex.  8".   München,  Photograph.  Union.    Pappbd.  40  M.,  Vorzugsausg.  100  M. 

Velde,   H.  V.,  Ferdinand   Hodler.     Die  weißen  Blätter.   5.  Jahrg.   3.  Heft.   S.  125 

bis  137. 
Pastor,  W.,  Max  Klinger.     Mit   eigenhändiger   Deckelzeichnung   des    Künstlers. 

196  S.   Mit  einem  Bildnis  u.  84  S.  Abbildungen,  gr.  8».    Beriin,  Amsler  u.  Rut- 

hardt.    Pappbd.  24  M. 
Stern,  F.,  Fritz  Boehle  als  Zeichner.    Die  Kunst  für  Alle.  34.  Jahrg.   1.  i  Heft. 

S.  21—34. 
Hausenstein,  W.,  Slevogt.    Kunst  und  Künstler.  17.  Jahrg.  I.Heft.  S.  3— 18. 
Rosenhagen,   H.,  Robert  Breyer.    Velhagen   u.  Klasings  Monatshefte.   33. Jahrg. 

3.  Heft.  S.  249-260. 

Dur  et,  Th.,  Die  Impressionisten.  Pissaro,  Claude  Monet,  Sisley,  Renoir,  Berthe 
Morisot,  Cezanne,  Guillaumin.  Volksausg.  Mit  65  Abbildungen  nach  Gemälden, 
Zeichnungen,  Radierungen  der  Impressionisten  auf  Tafeln  (eine  farbige)  und  im 
Text.    3.  Auf.  V,  139  S.  gr.  8».    Beriin,  B.  Cassirer.    Hlwbd.  13  M. 

Das  Ornamentwerk  des  Daniel  Marot  in  264  Lichtdr.  nachgebildet.  Mit 
Text  von  P.Jessen.  Neudr.-Ausg.  d.  Tafeln.  264  Tafeln.  37  x  27,5  cm.  Berlin, 
E.  Wasmuth.    Hlwbd.  132  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918.  223 

Streng,  E.,  Das  Rosettenmotiv  in  der  Kunst-  und  Kulturgeschichte.  Mit  33  Abbil- 
dungen.   München,  Müller  u.  Fröhlich. 

Wölffiin,  H.,  Die  Bamberger  Apokalypse.  Eine  Reichenauer  Bilderhandschrift 
vom  Jahre  >1000«.  Gedr.  auf  Kosten  der  kgl.  bayr.  Akad.  der  Wissensch.  20  8. 
mit  53,  2  farbigen,  Tafein.  33,5  x  25  cm.  München,  O.  Franzscher  Verlag  in 
Komm.   30  M. 

Mayer,  A.  L,  Expressionistische  Miniaturen  des  deutschen  Mittelalters.  Delphin- 
Verlag,  München. 

Ooldschmidt,  A.,  Die  Elfenbeinskulpturen  aus  der  Zeit  der  karolingischen  und 
sächsischen  Kaiser..  8.— 11. Jahrhundert.  Bearb.  unter  Mitw.  von  P.O.  Hübner 
u.  O.  Homburger.  Denkmäler  der  deutschen  Kunst.  2.  Sektion.  Plastik.  4.  Abt. 
2.Bd.  70Lichtdr.-Tafelnu.42TextiIlustr.,  Text- U.Tafelbild.  V, 77 S.  49 x 38,5 cm. 
Berlin,  B.  Cassirer.    In  Leinw.-Mappe  170  M.,  Hlbrbd.  235  M. 

7.  Geistige  und  soziale  Funktion  der  Kunst. 

Samter,  E.,  Kulturunferricht.    Erfahrungen  und  Vorschläge.    III,  204  S.  8'.    Berlin, 

Weidmannsche  Buchhandlung.    Pappbd.  7  M. 
Sakmann,  P.,  Lehrproben  in  philosophischer  Propädeutik  über  ästhetische  Grund- 
begriffe.   Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht.  33.  Jahrg.  1.  2.  Heft.  S.  43— 51. 
Braun,  H.,  Künstlerischer  Deutschunterricht.    Zeitschr.  f.  d.  deutschen  Unterricht. 

32.  Jahrg.  10.  11.  Heft    S.  423-427. 
Friedrichs,   E.,  Versuch   zu   einer  Renaissance   der  musikalischen    Erziehung. 

Schweizerische  musikpädagog.  Blätter.   7.  Jahrg.   Nr.  14.  15.    S.  210— 213.   S.  225 

bis  228. 
Bauke,  W.,   Ist  die  Musik  technisches  oder  ethisches  Fach?    Neue  Musikzeitung. 

40.  Jahrg.  5.  Heft.  S.  59-60. 
Orunsky,   K-,  Etwas   von   Hausmusik.     Die   Harmonie.    lO.Jahrg.    11.  12.  Heft. 

S.  42—45. 
Nagel,  W.,  Die  Verstaatlichung  der  Musikschulen.    Neue  Musikzeitung.  6.  Heft. 

S.  69-70. 
Utitz,  E.,  Kunstphilosophie  und  Kunstleben.   Kunst  und  Künstler.  17.  Jahrg.  l.Heit. 

S.  20-32. 
Eccarius-Sieber,  A.,  Künstlerarbeit  und  Erfolg.    Signale  für  die  musikalische  Welt. 

76.  Jahrg.  Nr.  39.  S.  607-610. 
Schliepmann,  H.,  Der  Jammer  unserer  Kritik.    Deutsches  Volkstum.    Der  Bühne 

u.  Welt  20.  Jahrg.  7.  Heft.  S.  206-212. 
Velden,  J.,  Neue  Wege  für  Künstler  und  Mäzen.    Ein  Beitrag  zur  künstlerischen 

Volkserziehung.    Beriin.  8°.  7  S.   0.25  M. 
Müller-Freienfels,   R.,   Musik   und  Nationalcharakter.    Neue  Musikzeitung. 

40.  Jahrg.  2.  Heft.  S.  18-22. 
Colsmann,  W.,  Ästhetik  und  Volkstum.    Deutsches  Volkstum.  8.  Heft.  S.  234—237. 
Seiling,  M.,  Richard  Wagner  als  Politiker.    Deutsches  .Volkstum.  S.Heft.  S.  238 

bis  240. 
Kutzke,   O.,   Voraussetzungen  zur    künstlerischen   Weltmission   der   Deutschen. 

Schriften  zur  kommenden  Volkskultur.  2.  Heft.   8".   61  S.    Eisleben,  Iso-Verlag. 

250  M. 
Wendung,  K.,  Der  Weltkrieg  in  der  Dichtung.  32  S.  5.  Aufl.  8».  Straßburg,  Straß- 
burger Druckerei  u.  Veriagsanstalt. 
Kuhn,  A.,   Die  englischen  Museen  und  der  Weltkrieg.    Museumskunde.   14.  Bd. 

2.-3.  Heft.  S.  86-94. 


224  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1918. 


Ackerknecht,  E.,  Das  Lichtspiel  im  Dienste  der  Bildungspflege.  Zentralinstitut 
f.  Erziehung  u.  Unterricht,  Berlin.  162  S.  8".    Weidmannsche  Buchh.    3.60  M. 

Sturtevant,  E.,  Vom  guten  Ton  im  Wandel  der  Jahrhunderte.  Mit  einer  Kostüm- 
tafel. Die  Entwicklung  der  modischen  Trachten  von  1200—1850.  Berlin,  Deut- 
sches Verlagshaus  Bong  &  Co.,  1917.  8».    VIII,  368  S.    Oeb.  3  M. 

Boehn,  M.,  Bekleidungskunst  und  Mode.  Mit  135  Abbildungen  im  Text  und  auf 
Tafeln.  128  S.  gr.  8°.    München,  Delphin- Verlag.    Pappbd.  12  M. 

Lepsius,  S.,  Vom  deutschen  Lebensstil.  Bücherei  der  deutschen  Frau.  Herausgeg. 
von  O.  H.  Schmitz.   4.  Bd.  68  S.    Leipzig,  Leemann  &  Co.    1.60  M. 

Berger,  A.,  Luther  und  die  deutsche  Kultur.  XIV,  754  S.  8°.  Berlin,  E.  Hofmann 
U.Co.    19  M. 

V  e  r  h  a  e  r  e  n ,  E.,  An  Aesthetic  Interpretation  of  Belgiums  Fast.  Proceedings  of 
British  Academy.    Milford.  9  in.  14  pp.    paper  l/n. 

Milde,  F.  V.,  Ein  ideales  Künstlerpaar.  Rosa  und  Feodor  v.  Milde.  Ihre  Kunst 
u.  ihre  Zeit.  2  Bde.  324  u.  368  S.  mit  Tafel  u.  Faks.  8».  Leipzig,  Breitkopf  u. 
Härtel.    Doppelbd.  15  M. 

Thode,  H.,  Hans  Paui  Freiherr  von  Wolzogen.  Deutsches  Volkstum.  11.  Heft. 
S.  302-308. 

Vieweg,  R.,  40  Jahre  Bayreuther  Blätter.  Deutsches  Volkstum.  11.  Heft.  S.  314 
bis  318. 

Breitner,  A.,  Jos.  V.  v.  Scheffels  Werke  und  der  §9  des  Gesetzes  über  das  Ur- 
heberrecht. 43  Proteste  deutscher  Schriftsteller  u.  Dichter.  29,  VI,  67  u.  16  S.  8". 
Bayreuth,  Seligsberg.    8  M. 

8.  Neue  Zeitschriften  und  Sammelwerke. 
Archiv  für  Musikwissenschaft.    Herausgeg.  von  Max  Seiffert,  Joh.  Wolf,  Max 
Schneider.    Bückeburg  u.  Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel. 

Zeitschrift  für  Musikwissenschaft.  Herausgeg.  von  der  deutschen  Musikgesell- 
schaft. Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.  Für  Mitglieder  d.  deutsch.  Musikgesellsch. 
kostenlos.    Einzelhefte  2  M.    Erscheint  monatlich. 

Nyland.  Vierteljahrsschrift  des  Bundes  für  schöpferische  Arbeit.  (Fortsetzung  der 
Quadriga.)  Jahrg.  1918/19.  4  Hefte.  I.Heft.  SOS.  gr.  8".  Jena,  E.  Diederichs. 
16  M.,  Einzelheft  4  M. 

Eos.  Eine  Dreimonatsschrift  für  Dichtung  und  Kunst.  Herausgeg.  von  Emil  Pirchan, 
1.  Jahr.  Oktober  1918  bis  September  1919.  4  Hefte.  1.  Heft  96  S.  mit  Abbil- 
dungen. 38  X  27,5  cm.  Beriin-Wilmersdorf.  Die  Wende.  Ausg.  A.  (Nr.  1—40) 
auf  Büttenpapier,  Abbildungen  auf  Japanpapier,  1000  M.,  Einzelheft  250  M. ;  Aus- 
gabe B  (Nr.  41— 250)  Pappbd.  700  M.,  Einzelheft  175  M. 

Berliner  Romantik.  Eine  Vierteljahrsschrift.  Herausgeg.  von  Dr.  Kurt  Bock. 
1.  Jahrg.  Oktober  1918  bis  September  1919.  4  Hefte.  1.  Heft.  16  S.  gr.  8».  Beriin, 
Bolle  &  Pickardt.    3  M. 

Der  Wächter.  Zeitschrift  für  alle  Zweige  der  Kultur,  in  Verb,  mit  dem  Eichen- 
dorff-Bund.  Begr.  u.  herausgeg.  von  W.  Kosch.  1.  Jahrg.  4  Hefte.  1.  u.  2.  Heft. 
120  u.  XVI  S.  mit  1 1  Tafeln  u.  Musikbeil.  Lex.  S".  München,  Veri.  Parcus  &  Co. 
12  M.,  Einzelheft  4  M. 


5  '^ 


VII. 

Das  ästhetische  Naturerlebnis. 

Von 

Betty  M.  Heimann. 

Natur  als  ästhetischer  Gegenstand  ist  anscheinend  ein  Doppeltes: 
einmal  ein  Ganzes,  in  welches  der  Mensch  gestellt  ist,  eine  Welt,  die 
ihn  umgibt  —  ein  andermal  eine  Vielheit  von  Einzeldingen,  denen  er 
gegenübersteht.  Wir  sprechen  von  einem  ästhetischen  Genüsse  an 
der  Natur  sowohl  dann,  wenn  wir  uns  der  edlen  Bildung  einer  Rose 
freuen,  den  schlanken  Wuciis  einer  Gazelle  bewundern,  als  auch  dann, 
wenn  wir  —  losgelöst  von  den  praktischen  Interessen  des  Lebens, 
hinausgehoben  über  seine  Alltäglichkeiten  ■—  uns  von  dem  Zauber  des 
Waldes  einspinnen  lassen,  in  die  erhabene  Weite  und  den  tönenden 
Gesang  des  Meeres  uns  verlieren.  Nun  aber  nimmt  alles,  was  zur 
Natur  gehört,  an  dieser  Doppelheit  teil:  Umwelt  oder  Gegenüber  sein 
zu  können.  Ais  ein  Gegenüber  ist  das  Naturwesen  —  der  Kristall, 
die  Pflanze,  das  Tier,  der  Mensch  eine  selbständige  Bildung,  die 
aus  der  Natur  herausragt  und  zu  gesonderter  Beschäftigung  mit  ihm 
auffordert.  Es  ist  ein  Einzelnes,  ein  Einziges  und  Individuelles,  das 
seinen  Wert  und  Unwert  in  sich  selber  hat,  über  das  wir  nicht  weiter 
hinausfragen,  das  wir  nicht  einstellen  in  einen  größeren  und  um- 
fassenderen Zusammenhang.  Ebenso  kann  dasjenige,  dem  diese  Dinge 
in  anderer  Einstellung  eingegliedert  sind:  die  Landschaft,  auch  ihrer- 
seits wieder  als  ein  in  sich  geschlossener  selbstgenugsamer  Gegen- 
stand angesehen  werden,  als  ein  Bild,  das  wir  durch  das  Gezweig  der 
Waldgesträuche  hindurch  wie  in  einem  natürlichen  Rahmen  erblicken, 
zu  dessen  Genüsse  wir  uns  den  günstigsten  Standpunkt,  die  richtige 
Aussicht  wählen.  Schließlich  kann  sogar  die  ganze  Natur,  die  ganze 
Welt  als  ein  Individuum  aufgefaßt  werden,  als  Kosmos,  der  freilich 
gar  nicht  mehr  sinnlich,  sondern  rein  intellektuell  und  gefühlsmäßig 
zustande  kommt  und  dessen  ästhetischer  Charakter  insofern  fraglich  ist. 

Oder  aber  wir  begeben  uns  in  die  andere  Art  des  Naturerlebens. 
Dann  werden  die  Einzelwesen  zu  Elementen  der  Umwelt,  eingebettet 
in  die  landschaftliche  Natur.  Ja  selbst  wenn  wir  unsere  Aufmerksam- 
keit einem  von  ihnen  besonders  zuwenden,  so  erhält  es  nicht  mehr 

Zeitsclir.  f.  Ästhetik  II.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  t5 


226  BETTY  M.  HEIMANN. 


die  frühere  Selbständigkeit.  Es  wird  aufgenommen  als  eine  Offenbarung 
der  Allnatur,  an  dem  sie  dieselben  schöpferischen  Kräfte  betätigt,  die 
sich  auch  in  uns  regen,  als  eine  Welle  im  kontinuierlichem  Flusse  der 
Dinge  und  des  Geschehens,  in  dem  auch  wir  nur  Wellen  sind,  als  ein 
Herz,  an  dem  wir  nur  den  Pulsschlag  des  Allebens  um  uns  her  ver- 
stärkt und  gesammelt  verspüren  und  mit  dem  uns  feine  unzerreißbare 
Blutgefäße  verbinden.  All  dies  natürlich  nicht  in  verstandesmäßiger 
Überlegung,  sondern  in  der  lebendigen  Fülle  sinnlichen  Ergreifens. 
Weiter  wird  die  Landschaft  zum  Milieu,  dem  wir  zugehören,  zur 
Totalität,  von  der  wir  ein  Stück  sind,  zum  Alibeseelten,  dem  wir  uns 
verwandt  fühlen. 

Nun  aber  besteht  dieselbe  Zweiheit  in  unserem  Verhältnis  zu  den 
Werken  der  Kunst.  Auch  mit  ihnen  sind  wir  das  eine  Mal  im  tiefsten 
Innern  eines,  gehen  in  ihnen  auf,  sind  trunken  und  berauscht  von  ihnen; 
das  andere  Mal  werden  wir  von  ihnen  nur  leicht  und  zart  bewegt  wie 
von  einem  uns  Abgeschiedenen  und  Abgesonderten,  so  daß  wir  sie 
rings  umschreiten,  alle  ihre  Reize  genießen,  uns  mit  Kennerschaft  in 
sie  versenken,  ohne  in  ihnen  zu  versinken. 

Die  Zugehörigkeit  eines  Gegenstandes  zur  Natur  im  alltäglichen 
Sinne  oder  zum  Gebiete  der  Kunst  bestimmt  also  keineswegs  eindeutig 
die  Art  unseres  ästhetischen  Erlebens;  vielmehr  unterscheiden  sich 
naturästhetisches  und  künstlerisches  Aufnehmen  äußerer  Gegebenheiten 
rein  erlebnismäßig.  Es  ist  unsere  Auffassung,  die  bestimmt,  ob  ein 
Objekt  »Natur«  ist  oder  »Kunst«,  wobei  natürlich  nicht  geleugnet 
werden  soll,  daß  sich  bestimmte  Objekte  mehr  für  die  eine,  andere 
für  die  andere  Auffassung  eignen  und  daß  sich  überhaupt  über  die 
Berechtigung  streiten  läßt,  Naturgegenstände  künstlerisch  oder  Kunst- 
werke naturästhetisch  auf  sich  wirken  zu  lassen.  Aber  einerlei  ob 
berechtigt  oder  nicht:  beides  geschieht  und  wir  haben  deshalb  jedes 
Erleben  eines  Kunstgegenstandes  erst  daraufhin  anzusehen,  ob  es  ein 
kunstästhetisches  ist,  ebenso  wie  jeder  Naturgenuß  sich  als  natur- 
ästhetisch ausweisen  muß. 

Es  kann  wohl  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  welche  von  den 
beiden  oben  kurz  gekennzeichneten  Erlebnisarten  die  naturästhetische, 
welche  die  kunstästhetische  ist.  Über  die  richtige  Weise  Kunstwerke 
zu  erleben,  überhaupt  künstlerisch  zu  sehen  und  zu  hören,  ist  man 
sich  im  allgemeinen  klar.  Man  hat  aber  die  naturästhetische  Auffassung 
noch  nicht  genügend  von  der  kunstästhetischen  unterschieden;  man 
hat  vielfach  Momente,  welche  dem  künstlerischen  Auffassen  als  solchem 
angehören,  fälschlich  auf  das  naturästhetische  übertragen  und  hat  sich 
noch  nicht  Rechenschaft  darüber  abgelegt,  daß  beide  —  abgesehen  von 
ihrer  Verwandtschaft  als  ästhetischen  Erlebnisweisen,  d.  h.  von  ihrem 


DAS  ÄSTHETISCHE  NATURERLEBNIS.  227 


Gegensatze   gegen   das   praktische,   verstandesmäßige,   religiöse  Ver- 
halten usw.  —  den  stärksten  Kontrast  miteinander  bilden. 

Das   erste   und   bedeutsamste  Merkmal   des  ästhetischen  Natur- 
genießens  (Naturerlebens,  Naturerfassens,  all  dies  hier  promiscue  ge- 
braucht) scheint  mir  dieses  zu  sein,  daß  der  Genießende  sich  als  Ein- 
heft  mit  der  Natur  erlebt.     Er  muß  selber  untrennbar  zu  ihr  gehören, 
sich  unlöslich  in  sie  verwebt  fühlen ;  nicht  aber  darf  er  sich  ihr  gegen- 
überstellen, die  zarten  Verbindungsfäden  zwischen  ihr  und  sich  zer- 
reißen und  sie  als  etwas  Fremdes,  außerhalb  seiner  Stehendes  betrachten. 
3  Eines  zu  sein  mit  allem,  was  lebt,  in  seliger  Selbstvergessenheit  wieder- 
zukehren ins  All  der  Natur,   das  ist  der  Gipfel  der  Gedanken  und 
Freuden,  das   ist  die  heilige  Bergeshöhe,  der  Ort  der  ewigen  Ruhe, 
wo  der  Mittag  seine  Schwüle  und  der  Donner  seine  Stimme  verliert, 
und  das  kochende  Meer  der  Woge  des  Kornfelds  gleicht.«    Mit  diesen 
Worten  schildert  Hyperion   sein  Naturgefühl  dem  Freunde  Bellarmin. 
2>0  selige  Natur!  . . .  Mein  ganzes  Wesen  verstummt  und  lauscht,  wenn 
die  zarte  Welle  der  Luft  mir  um  die  Brust  spielt.    Verloren  ins  weite 
Blau,  blick'  ich  oft  hinauf  an  den  Äther  und  hinein  ins  heilige  Meer, 
und  mir  ist,  als  öffnet  ein  verwandter  Geist  mir  die  Arme,  als  löste 
der  Schmerz  der  Einsamkeit  sich  auf  ins  Leben  der  Gottheit.    Eines 
zu  sein  mit  allem,  das  ist  Leben  der  Gottheit,  das  ist  der  Himmel  des 
Menschen.«  —  Wer  die  Natur  wahrhaft  liebt,  der  taucht  ganz  hinein 
in  ihr  heimliches   Leben  und  Weben,  der  fühlt  die  Herzen  aller  Ge- 
schöpfe in  gleichem  Takte  mit  dem  seinen  schlagen.    Still  liegt  er  da 
wie  der  Knabe  in  Kellers  Gedicht  »Lebendig  begraben«  unter  den  tief- 
hängenden  jungen  Tannen,  über  sich  in  blauer  Luft  den  Adler  mit 
ausgebreiteten  Schwingen,  und  schaut  dem  grünen  Eidechslein  wonnig 
zufrieden  in  seine  ernsten  braungoldenen  Augen.    Oder  er  wirft  sich 
jauchzend  ins  weiche  Moos,  belauscht  das  emsige  geschäftige  Treiben 
der  Käferlein  und  Würmchen  und  freut  sich  der  Sonnenwärme,  die 
ihn  und  all  diese  winzigen  Kreaturen  gleichmäßig  belebend  umfängt 
und  durchdringt.    »Wenn  das  liebe  Tal  um  mich  dampft  . . .,  ich  dann 
im  hohen  Grase  am  fallenden   Bache  liege  und  näher  an  der  Erde 
tausend  mannigfaltige  Gräschen  mir  merkwürdig  werden;  wenn  ich 
das  Wimmeln  der  kleinen  Welt  zwischen  Halmen,  die  unzähligen,  un- 
ergründlichen Gestalten  der  Würmchen,  der  Mückchen  näher  an  meinem 
Herzen  fühle  und  die  Gegenwart  des  Allmächtigen,  der  uns  nach  seinem 
Bilde  schuf,  das  Wehen  des  Alliebenden,  der  uns  in  ewiger  Wonne 
schwebend  trägt  und  erhält  — «  (Werther  am  10.  Mai). 

Die  Verschmelzung  mit  der  Natur,  das  Aufgehen  in  ihr  gelingt 
uns  nur,  wenn  wir  mit  ihr  allein  sind.  :  Ich  kann  nicht  dichten  wie 
du,  Günderode,  aber  ich  kann  sprechen  mit  der  Natur,  wenn  ich  allein 


228  BETTY  M.  IlElMAiNN. 

mit  ihr  bin;  aber  es  darf  niemand  hinter  mir  sein,  denn  grad  das  Allein- 
sein macht,  daß  ich  mit  ihr  bin< ,  schreibt  Bettina  an  ihre  Freundin. 
Zum  Naturgenuß   gehört  Einsaml<eit.    Für  Liebende  freilich  oder  sehr 
vertraute  Freunde  mag  es  bisweilen  möglich  sein,  auch  gemeinsam  in 
jene  Stimmung  zu  geraten,  ohne  welche  das  Naturerlebnis  nicht  statt- 
finden kann.    Es  gibt  anderseits  eine  gewisse  Gruppe  von  Menschen, 
deren  Anwesenheit  unter  Umständen,  zu  denen  auch  gehört,  daß  sie 
uns  persönlich  fremd   sind,   unser  inniges  Verhältnis  zur  Natur  nicht 
beeinträchtigt.  Das  sind  u.  a.  die  Köhler,  Holzfäller,  Beerensammlerinnen 
im  Walde,  die  Fischer  und  Schiffer  am  Meere,  die  Landleute  auf  dem 
Felde,    wenn    sie   in   ihrer   Erscheinung   und  Tätigkeit  organisch  zur 
Natur  gehören,  einen   selbstverständlichen   Bestandteil  der  landschaft- 
lichen   Umgebung   bilden.     Denn   die   Störung,   welche   die   Gegen- 
wart eines  andern  Menschen  in  mein  Naturerleben  bringt,  besteht  ja 
darin,  daß  er  als  ein  Fremdkörper  in   ihr,  als  ein   sich  von  ihr  Ab- 
hebendes aufgefaßt  wird,  daß  sein  Du  die  Aufmerksamkeit  meines  Ich 
für  sich  fordert  und  von  der  Natur  ablenkt  und  das  Aufgehen  meines 
Ich   in   dem  großen   Du   der  Natur  unmöglich  macht.    Der  Tod  des 
echten  Naturgenusses  ist  die  Gesellschaft,  die  Geselligkeit;  wo  sie  auf 
den   Plan   tritt,   da  wird   sie   sogleich   zum  herrschenden  Gliede  des 
Ganzen    und  die  Natur  verwandelt  sich  in  einen  Schauplatz,  einen 
Hintergrund,  anstatt  ein  Ganzes  für  sich  zu  sein.    Als  Bühne  für  die 
Veranstaltungen,  als  Treffpunkt  für  die  Begebnisse  der  Gesellschaft 
verliert  die  Landschaft  jedoch  nicht  nur  ihre  Selbständigkeit,  mit  der 
sie  allein  und  für  sich  die  Natur  darsteUt;  sondern  das  Ganze,  dem  sie 
sich  einordnet,  ist  selbst  nicht  mehr  Natur,  freilich  auch  kein  eigent- 
liches   Kunstwerk,    vielmehr   ein    Drittes,    dessen    Eigenschaften    wir 
hier  nicht  zu  untersuchen  brauchen.     Trotzdem  aber  spielt  die  Land- 
schaft hier    die   Rolle    eines    künstlerisch    verwerteten    Faktors;    dem- 
entsprechend ist  hier  auch  stets  die  Neigung  vorhanden,  zur  tatsäch- 
lichen Umgestaltung  der  Landschaft  ihrer  Funktion  gemäß  nach  künst- 
lerischen  Gesichtspunkten  vorzuschreiten.    Eine  Szenerie,  welche  für 
die  Geselligkeit  bestimmt  ist,  behält  nicht  lange  ihr  natürliches  Aus- 
sehen,  sondern   wird  ehestens  zum   Parke,   zur  Gartenanlage  umge- 
schaffen. 

Diesen  Ausgang  nimmt  leicht  jede  ästhetische  Berührung  mit  der 
Natur,  welche  nicht  rein  naturästhetisch  ist.  Wer  die  Landschaft  wie 
ein  Bild  vor  sich  liegen  sieht,  dem  er  selber  als  Zuschauer  gegenüber- 
steht, der  kommt  schnell  dazu,  sich  auch  bildend,  umbildend  zu  ihr  zu 
verhalten,  ganz  einfach  dadurch  daß  man  an  ein  Bild  bestimmte  Forde- 
rungen der  Einheitlichkeit  stellt,  der  Übereinstimmung  mit  sich  selbst. 
So  verändert  er  zunächst  in   seiner  Phantasie  einige  Linien,  er  veK 


DAS  ÄSTHETISCHE  NATÜRERLEBNIS.  229 

schiebt  Baumgruppen,  Felspartien  ein  wenig  in  seiner  Vorstellung;  kurz 
er  sieht  in  die  Landschaft  hinein,  was  er  in  ihr  finden  will,  was  er 
darin  zu  erblicken  wünscht.  Und  diese  Tätigkeit  der  Einbildung  geht 
natürlich,  soweit  das  möglich  ist,  gerne  in  ein  wirkliches  Tun  über. 
Man  hat  oft  gesagt,  jede  Zeit  sähe  die  Natur  mit  den  Augen  ihrer 
Künstler;  so  richtig  dies  ist,  so  beweist  es  doch  nur,  daß  wir  die 
Natur  viel  weniger  naturästhetisch  zu  erleben  gewohnt  sind  als  künst- 
lerisch. Wir  sind  Künstler,  wenn  wir  die  Landschaft  als  Bild  sehen, 
Künstler  aus  zweiter  Hand  in  den  meisten  Fällen,  aber  in  gewissem 
Sinne  immerhin  Künstler.  —  Aus  diesem  Gegensätze  zwischen  natur- 
ästhetischem und  künstlerischem  Erfassen  der  Natur  erklärt  es  sich 
auch,  warum  so  oft  der  Künstler  nicht  den  echten  Naturgenuß  kennt 
noch  der  echte  Naturfreund  den  künstlerischen.  Der  Künstler  ist  nur 
sehr  selten  dazu  geneigt,  sich  bei  dem  einfachen  Akte  zu  beruhigen, 
der  aus  dem  Gegebenen  Natur  macht.  Er  kann  nicht  auf  das  bildende 
Weiterarbeiten  der  schöpferischen  Kräfte  verzichten.  Das  naturästhetische 
Erlebnis  wirkt  sich  wohl  aus,  aber  es  läßt  sich  nicht  ausgestalten, 
so  wenig  wie  sein  Gegenstand,  wenn  man  hier  überhaupt  noch  von 
einem  Gegenstande  sprechen,  einen  Gegenstand  von  dem  Erlebnisse 
abscheiden  kann.  Der  richtige  Naturfreund  dagegen  ist  viel  zu  stark 
verknüpft  mit  dem  Naturleben,  er  fühlt  sich  —  als  Jäger,  Forstmann, 
Wanderer  usw.  —  ihm  viel  zu  sehr  zugehörig  und  verwandt,  als  daß 
er  aus  ihm  heraustreten  und  sich  rein  betrachtend  dazu  verhalten 
möchte.  Es  ist  nichts  anderes  als  eine  Selbsttäuschung,  die  Werther 
schreiben  läßt:  >lch  bin  so  glücklich,  mein  Bester,  so  ganz  in  dem 
Gefühle  von  ruhigem  Dasein  versunken,  daß  meine  Kunst  darunter 
leidet.  Ich  könnte  jetzt  nicht  zeichnen,  nicht  einen  Strich,  und  bin 
nie  ein  größerer  Maler  gewesen,  als  in  diesen  Augenblicken«  (am 
10.  Mai).  Ach  nein,  Werther  ist  in  diesen  Augenblicken  durchaus 
kein  Maler;  er  unterliegt  nur  dem  allgemeinen  Vorurteil,  jedes  lebhafte 
Gefühl  der  sichtbaren  Naturschönheit  sei  ein  malerisches  und  bestimmt 
oder  geeignet  malerische  Kunstwerke  aus  sich  hervorgehen  zu  lassen!  — 
Sehr  lange  Zeit  habe  ich  darüber  nachgesonnen,  wie  es  doch  zugehe, 
daß  gerade  solche  Gegenden,  die  mir  die  intensivsten  Naturerlebnisse 
schenken,  mich  am  wenigsten  reizen,  sie  zu  malen  und  höchstens  spär- 
liche Ausschnitte,  Szenen,  Motive  darbieten,  welche  zu  künstlerischer 
Wiedergabe  oder  Verarbeitung  anregen;  während  umgekehrt  diejenigen 
Landschaften,  die  meine  Produktivität  unwiderstehlich  herauszufordern 
pflegen  —  wie  etwa  das  Bergland  des  Schweizer  Jura  — ,  mir  äußerst 
selten  die  Wonnen  reinen  Naturgenusses  geben.  Die  Lösung  dieses 
Rätsels  liegt  in  der  Verschiedenartigkeit  des  künstlerischen  und  des 
naturästhetischen  Erlebens  der  Landschaft  und  ihrer  Affinität  zu  einem 


230  BETTY  M.  HEIMANN. 


oder  dem  andern.  Manche  Landschaften  laden  gleichsam  selbst  den 
Maler  dazu  ein,  sich  an  ihnen  zu  versuchen;  andere  dagegen  versagen 
sich  gerne  selbst  den  hartnäckigsten  Bemühungen,  sie  malerisch  zu 
verwerten.  Es  mag  dies  teilweise  damit  zusammenhängen,  daß  wir 
gewisse  Landschaftsformen  sehr  häufig  dargestellt  finden,  andere  nie- 
mals oder  in  verschwindend  geringer  Anzahl  und  daß  wir  daher,  sobald 
wir  jene  erblicken,  unwillkürlich  dazu  geführt  werden,  ein  Bild  darin 
zu  sehen,  was  bei  diesen  andern  nicht  geschieht.  So  groß  jedoch  der 
Anteil  der  Gewohnheit  sein  mag,  so  kann  er  doch  nicht  unser  Ver- 
halten allein  erklären;  sicher  ist,  daß  die  eine  Landschaft  durch  groß- 
zügigere Formen,  durch  die  übersichtlichere  Gliederung  in  Vorder-  und 
Hintergründe,  durch  eine  bestimmte  Verteilung  ihrer  Bestandstücke  im 
Gelände  sich  leichter  einer  bildmäßigen  Zusammenfassung  durch  das 
Auge  hergibt  als  die  andere.  Auch  das  trägt  oft  dazu  bei,  einen  Teil 
einer  »Gegend«  zum  Bilde  zu  prädisponieren,  daß  man  ihn  von  einem 
besonderen  —  erhöht  und  damit  gleichsam  außerhalb  ihrer  liegenden  — 
Orte,  einem  sogenannten  Aussichtspunkte  aus  übersehen  kann,  und 
mehr  noch,  daß  eine  Lücke  im  Gemäuer,  im  Buschwerk,  in  den  Felsen 
die  Möglichkeit  bietet,  ihn  durch  eine  vorteilhafte  Einfassung  aus  ihr 
herauszuschneiden.  Die  Trennung,  die  zwischen  uns,  unserer  Welt 
und  dem  Kunstwerke  besteht,  die  Selbstgenügsamkeit  und  Abge- 
schlossenheit seiner  findet  Ausdruck  und  Stütze  in  der  Umrahmung. 
Wo  daher  die  Landschaft  in  irgend  einem  Rahmen  —  es  mag  übrigens 
auch  ein  bloß  phantasierter,  fingierter  sein  —  erblickt  wird,  dort  ist 
ihre  Erhöhung  und  Proklamierung  zum  Kunstwerke  vollendet,  dort 
wird  sie  quasi  auf  ein  Postament  gestellt  und  wie  eine  Bildsäule  verehrt. 
Wie  es  also  zum  echten  Naturgenusse  gehört,  daß  ich  mit  meinem 
Gegenstande,  mit  der  Natur  eine  Einheit  bilde,  so  gehört  es  ebenso 
dazu,  daß  die  Natur  selber  eine  Einheit,  ein  Ganzes  sei;  das  heißt,  daß 
ich  nicht  einen  Teil  aus  ihr  heraushebe  und  mich  auf  diesen  einstelle, 
sondern  daß  mein  Gegenstand  die  ganze  Natur  sei,  kein  begrenzter 
Ausschnitt  aus  ihr,  sondern  sie  selbst  in  ihrer  Weite  und  Unbeschränkt- 
heit.  Landschaft  als  >  Natur«  ist  offen,  nicht  geschlossen;  sie  hat  die 
Perspektive  der  Unendlichkeit.  Das  Gefühl  der  Unermeßlichkeit,  der 
Schrankenlosigkeit  der  Natur  ist  ein  wesentlicher  Bestandteil  unseres 
Naturgefühls.  Daß  das  Land,  die  See  sich  immer  mehr  ins  Weite 
dehnt,  daß  der  Horizont  vor  uns  flieht,  wenn  wir  ihm  näher  schreiten 
wollen,  daß  hinter  den  Wolken  Tiefen  sich  auftun,  deren  Boden  das 
Auge  nicht  erreicht  —  ein  Wissen  von  dem  allen  liegt  uns  im  Blute, 
wenn  wir  auf  die  Natur  gestimmt  sind.  Ein  Gärtchen  von  Stadtmauern 
umschlossen,  kann  höchstens  einen  gewissen  künstlerischen  Reiz  be- 
sitzen, wenn  es  gut  angelegt  ist;  es  kann  uns  einzelne  Elemente  der 


DAS  ÄSTHETISCHE  NATURERLEBNIS.  231 

Natur  geben.  —  Grün  des  Rasens,  Jasminduft,  Vogelgezwitscher  — 
Natur  gibt  es  uns  nicht.  Zum  Zauber  des  Waldes  gehört  es,  daß 
sich  der  Blick  in  der  grüngoldenen  Dämmerung  verliert,  daß  das  un- 
durchdringliche Dunkel  des  Dickichts  uns  zu  der  Annahme  verführt, 
der  Wald  höre  niemals  auf;  wir  könnten  hineingchn  —  Stunden,  Tage, 
wir  könnten  ihn  Monde  und  Jahre  durchirren  und  fänden  niemals 
wieder  heraus.  Das  ist  der  verzauberte  Wald  unserer  Märchen. 
Sobald  wir  die  jenseitige  Grenze  eines  Waldbestandes  sehen  können, 
sobald  wir  wissen:  er  ist  in  geringer  Entfernung  von  uns  zu  Ende, 
sind  wir  ernüchtert. 

Mit  diesem  Erleben  der  Unendlichkeit  hängt  ein  anderer  Faktor 
unseres  Naturgenusses  zusammen:  das  Gefühl  für  die  Wirklichkeit  des 
Erlebens  und  des  Erlebten.  In  der  Wirklichkeit  sind  wir  immer  mitten 
darin;  aus  ihr  können  wir  eigentlich  niemals  herauskommen.  Alles 
künstlich  Gemachte  können  wir  von  außen  ansehen ;  auch  das  Unwirk- 
liche, bloß  Erträumte  ist  nicht  überall,  sondern  jenseits  unserer  Welt. 
Die  seligen  Inseln  sind  weit,  weit  weg;  sie  haben  Ufer  und  das  Meer 
umgibt  sie.  Auch  das  Paradies  hat  noch  eine  Mauer  und  wir  können 
daraus  verjagt  werden;  wir  können  an  die  Pforte  klopfen  und  den 
Engel  mit  dem  Schwerte  vergebens  um  Einlaß  bitten.  Nur  die  Wirk- 
lichkeit ist  nie  zu  Ende;  sie  ist  immer  da,  wo  ich  bin  und  folgt  mir, 
wohin  ich  gehe.  Denn  ich  selber  bin  ja  die  Wirklichkeit,  die  eindring- 
lichste, unerschöpflichste  Wirklichkeit.  Ich  aber  bin  in  der  Natur,  und 
wenn  ich  sie  erlebe,  so  erlebe  ich  zugleich  auch  mich.  Für  den  Natur- 
genuß gilt  also  nicht  der  weitverbreitete  Glaube  an  die  Unwirklichkeit 
des  ästhetischen  Gegenstandes.  Im  Genüsse  einer  Bergwanderung, 
einer  Meerfahrt,  im  Geschütteltwerden  vom  Sturm,  bei  ruhigem  Daliegen 
im  Sonnenlicht  saugen  wir  die  Wirklichkeit  der  Welt  durch  alle  unsere 
Poren  in  uns  auf.  All  unseren  Sinnen  prägt  es  sich  ein,  daß  das  Wirk- 
lichkeit ist,  nicht  Traum,  daß  wir  es  sind,  wir  hier  auf  unserer  alten 
Erde,  die  so  Köstliches  erleben  dürfen.  Wer  zum  ersten  Male  ein  be- 
sonders schönes  Fleckchen  Erde  besucht,  vielleicht  ein  sonnenbeglänztes 
sanft  geschwungenes  südliches  Gestade  mit  See  und  Bergen,  dem 
drängt  sich  seine  Begeisterung  unwillkürlich  in  die  Worte  zusammen : 
Wie  schön  ist  die  Welt !  Wie  herrlich  ist  das  Leben !  —  Wie  elend,  wie 
grau  und  unsäglich  nüchtern  muß  Wirklichkeit  für  uns  sein,  wenn 
wir  uns  einbilden,  Wirklichkeit  sei  keine  Tonart,  in  der  wir  ästhetisch 
erleben  können,  wenn  wir  vermeinen,  was  da  schön  und  herrlich  sein 
solle,  das  müsse  jenseits  aller  Wirklichkeit  liegen.  Aber  in  unserem 
alltäglichen  Leben,  in  der  Praxis,  in  der  wir  allein  die  Wirklichkeit  als 
herrschend  anerkennen  wollen,  erleben  wir  die  Wirklichkeit  ja  gar 
nicht;  wir  erleben  allerlei  Inhalte,  welche  sich  als  zur  Wirklichkeit  ge- 


232  BETTY  M.  HEIMANN. 


hörig  erweisen,  wenn  wir  über  ihre  Herl<unft  und  ihren  Ort  nach- 
denken. Wirklichkeit  als  solche  erleben  wir  nicht,  nicht  das  be- 
rauschende Bewußtsein  unseres  Wurzeins  und  Daseins,  unserer  Ge- 
wißheit und  Sicherheit  in  ihr,  unserer  Verschwisterung  mit  ihren 
Geschöpfen,  nicht  die  liebevolle  Andacht,  die  uns  alles,  was  wirklich 
ist,  rein  deshalb  schon  wert  und  köstlich  macht.  Es  gibt  ein  tiefes 
Ausschöpfen  und  Genießen  der  Wirklichkeit,  bei  dem  wir  das  Häß- 
lichste und  Geringste,  jede  Falte,  ja  jede  Warze,  jedes  Mal  und  Härchen 
in  einem  alten  runzligen  Gesicht  unendlich  viel  reizender  finden  als 
die  schönsten  erdichteten  Köpfe.  Jene  alten  deutschen  Meister,  die  ein 
Gräschen,  ein  Hälmchen  mit  einem  Tautropfen,  ein  armseliges  Käferlein 
so  unendlich  bescheiden  und  innig  mit  ihrem  Pinsel  nachbildeten,  sie 
besaßen  diese  Versenkung  in  die  Wirklichkeit,  der  alle  Wirklichkeit  als 
ein  Ehrwürdiges  gilt.  Dieser  Geist  macht  den  Realismus«  der  ger- 
manischen Meister  aus,  ein  Realismus,  der  zugleich  der  höchste  Idealis- 
mus, die  vollkommene  Verklärung  des  Wirklichen  aus  der  Wirklichkeit 
ist.  Denn  dies  Wirkliche  ist  nicht  wirklich  ohne  Gott.  Nirgends  viel- 
leicht hat  sich  die  fromme  Anbetung  der  göttlichen  /überwirklichen«  Er- 
habenheit zusammen  mit  dem  tiefberuhigten  Erfülltsein  von  der  Herrlichkeit 
desWirklichen  ergreifender  ausgesprochen  als  in  den  Eingangsworten  jenes 
alten  Gedichtes,  das  man  das  Wessobrunner  Gebet  genannt  hat.  Das 
erfuhr  ich  unter  den  Menschen  als  der  Weisheiten  größte:  da  die  Erde 
nicht  war,  noch  der  Himmel  oben,  nicht  Berg  noch  Baum  nicht  war, 
die  Sonne  nicht  schien,  noch  der  Mond  leuchtete,  noch  der  Meersee, 
da  nichts  noch  war  von  Ende  und  Grenze,  da  war  der  eine  allmächtige 
Gott.  In  dieser  anscheinend  fast  trockenen  Aufzählung  der  Wirklich- 
keiten in  der  Welt  verrät  sich  dennoch  die  kräftige  Liebe  zu  ihnen 
geradezu  überwältigend.  In  den  früheren  Zeiten  tritt  nun  allerdings 
das  Moment  der  Unendlichkeit  der  Natur  noch  ein  wenig  zurück,  ohne 
daß  es  ganz  fehlte;  überhaupt  sind  ja  die  Typen  unseres  Empfindens, 
die  wir  im  Interesse  der  Erkenntnis  aufstellen  müssen,  niemals  ganz 
rein  verwirklicht,  und  das  reiche  vielfältige  Leben  stellt  bald  diese,  bald 
jene  Züge  in  den  Vordergrund.  So  dürfen  wir  uns  denn  nicht  wundern, 
daß  in  manchen  Erscheinungen  des  Naturempfindens  mehr  das  Gefühl 
für  die  Unendlichkeit  des  Natürlichen,  in  andern  mehr  das  Gefühl  für 
ihre  Wirklichkeit,  in  andern  wieder  anderes  hervortritt.  Für  jene  alten 
Meister  des  Pinsels,  von  denen  wir  oben  gesprochen  haben,  und  für 
ihre  Zeitgenossen  ist  der  Charakter  der  Wirklichkeit  der  Natur  so 
wesentlich,  daß  sie  die  Gestalt  derjenigen  Wirklichkeiten  annimmt,  die 
sie  in  ihrer  Umgebung  zu  sehen  gewohnt,  mit  denen  sie  vertraut  sind. 
Da  ist  die  Natur  wie  ein  sauber  gefegtes  wohlgeordnetes  Kämmerlein, 
in  der  Gott  die  Hausfrau   ist,  die  alles  blank  geputzt  und  an  seinen 


DAS  ÄSTHETISCHE  NATURERLEBNIS.  233 


Ort  gestellt  hat.  Oder  sie  ist  wie  ein  prächtiges  Schatzkästlefn,  in  das 
Gott  allerlei  blitzende  kunstreich  geschliffene  Steine  und  zierlich  ge- 
arbeitete Geschmeide  gelegt  hat.  Oder  sie  ist  wie  ein  weitläufig  und 
übersichtlich  angelegter  Garten,  in  dem  der  göttliche  Gärtner  die  Beete 
reinlich  abgemessen  und  alle  Pflänzlein  wohl  verteilt  hat.  Es  artet  dann 
freilich  auch  diese  Auffassung  der  Natur,  wo  ihr  der  Horizont  der  Un- 
endlichkeit gänzlich  mangelt,  bisweilen  in  eine  mehr  kleinbürgerliche 
Beschränktheit  aus,  welche  auch  nicht  den  Zauberschlüssel  besitzt,  der 
die  Natur  uns  aufschließt.  Im  ganzen  aber  liegt  doch  hierin,  daß  die 
Natur  etwas  Vertrautes  und  Heimisches  ist,  die  Heimat,  in  der  wir 
geborgen  sind  und  zu  der  wir  uns  immer  wieder  flüchten  können. 
Das  schließt  nicht  aus,  daß  die  Natur  uns  auch  gelegentlich  das  Fremde, 
ja  das  Unheimliche  sein  mag.  Bei  aller  Einheitlichkeit  und  Verwandt- 
schaft darf  doch  die  Verschmelzung  nicht  so  weit  gehen,  daß  wir  nur 
uns  selbst  in  der  Natur  und  gar  nicht  mehr  sie  selbst  in  ihrer  Eigenart 
und  Selbständigkeit  erleben.  Nicht  das  ist  das  echte  Naturgefühl,  das 
die  Natur  zum  Echo,  zum  Spiegel  unserer  eigenen  Stimmungen  werden 
läßt.  Nicht  der  sentimentale  oder  elegische  Naturgenuß,  der  eigentlich 
nur  ein  Selbstgenuß  ist,  ist  der  richtige,  auf  den  es  ankommt.  Damit  sind 
auch  die  sogenannten  lyrischen  und  romantischen  Naturschwärmereien 
als  unechte  Naturliebe  gekennzeichnet.  Die  Gefühle  der  Sehnsucht, 
der  Resignation  usw.  suchen  ein  Unwirkliches;  sie  schweifen  hinüber 
in  eine  andere  Welt.  Und  wie  sie  in  einem  andern  Räume  sich  er- 
gehen, so  beziehen  sie  sich  auch  auf  eine  andere  Zeit.  In  der  Resigna- 
tion und  der  Sehnsucht,  sagt  Simmel  einmal  (Lebensanschauung  S.  81), 
»stellt  sich  die  Seele  irgendwie  jenseits  der  Bedingtheiten  der  Zeit  ; 
damit  bekommen  diese  Gefühle  eine  künstlerische  Färbung.  Wie  das 
Kunstwerk  eine  Welt  für  sich,  seinem  Orte  nach  ein  Jenseits  ist,  so 
ist  es  auch  ein  Jenseits  der  Zeit;  es  ist  zeitlos,  ewig.  In  dem  Natur- 
erleben dagegen,  in  der  intensiven  Unmittelbarkeit  des  Lebens  sind 
wir  ganz  eingefangen  in  die  Gegenwart.  Wie  die  Natur  immer  Wirk- 
lichkeit ist,  so  ist  sie  auch  immer  Gegenwart,  —  eine  Gegenwart  freilich, 
die  ebenso  ihren  zeitlichen  Unendlichkeitshorizont  hat,  wie  ihre  Wirk- 
lichkeit den  räumlichen,  und  so  gibt  es  denn  in  ihr  auch  ein  Indie- 
fernestreben,  das  jenem  romantischen  Sehnen  nach  einer  andern  Welt 
zum  Verwechseln  ähnlich  sieht. 

Zu  dieser  Distanzlosigkeit  und  Gegenwartsumsponnenheit  liefert 
nun  ein  neues  Moment  des  ästhetischen  Naturerlebnisses  einen  erheb- 
lichen Beifrag;  die  Teilnahme  alier  Sinne  an  ihm.  Das  Kunstwerk,  das 
nur  einem  Sinne  zugänglich  ist,  berührt  mit  seinem  Kreise  unsern  Lebens- 
kreis gleichsam  nur  in  einem  Punkte;  beide  Kreise  fallen  auseinander. 
Der  Kreis  der  Natur  hat  mit  dem  unsern  viele  Punkte  gemeinsam,  so 


234  BETTY  M.  HEIMANN. 


viele,  daß  beide  miteinander  zusammenfallen.  Alle  Sinne  vereinigen  sich 
zur  Erzeugung  des  Naturerlebnisses.  Wie  ich  mit  allem  und  jedem 
in  der  Natur  verbunden  bin,  wie  weder  ich  gegen  die  Natur  noch  sie 
gegen  mich  isoliert  ist,  so  ist  auch  die  Weise  meines  Naturempfindens 
keine  einseitige,  in  sich  gegen  andere  Weisen  des  Empfindens  abge- 
grenzte. Mein  Naturgenuß  ist  nicht  allein  auf  mein  Sehen  der  Natur 
gegründet;  die  Laute  in  ihr,  das  Brausen  des  Meeres,  das  Rauschen 
der  Bäume,  das  vielstimmige  Konzert  der  Vögel  oder  auch  die  hörbare 
traumhafte  Stille  —  sie  gehören  ebensogut  mit  zu  meinem  Natur- 
genusse  wie  das  Schauen  auf  die  Dinge.  Ja,  auch  der  Duft  des  Waldes 
oder  der  Seegeruch,  die  kräftige  leichte  oder  dumpfe  schwere  Luft,  die 
Tast-  und  Temperatur-  und  Raumempfindungen  —  sie  alle  sind  Ele- 
mente meines  Naturerlebens. 

>Die  Wolke  seh'  ich  wandeln  und  den  Fluß, 

Es  dringt  der  Sonne  goldner  Kuß 

Mir  tief  bis  ins  Geblüt  hinein;  ' 

Die  Augen,  wunderbar  berauschet, 

Tun  als  schliefen  sie  ein, 

Nur  noch  das  Ohr  dem  Ton  der  Biene  lauschet.» 

Mörike,  Im  Frühling. 

Wenn  ich  mit  der  ganzen  Natur  in  Einheit  leben,  in  ihr  mich  ver- 
lieren soll,  so  darf  keiner  der  Wege  versperrt  sein,  auf  denen  sie  in 
mich  eindringen,  kein  Tor,  durch  das  ich  sie  einatmen  kann.  Eben 
dadurch,  daß  die  Natur  durch  alle  Pforten  meiner  Sinne  zu  mir  kommt, 
dadurch  wird  sie  erst  selbst  zu  einer  einheitlichen  mich  überwältigenden 
Macht,  zu  einem  Meere,  in  das  ich  tauche,  in  dem  ich  schwimme.  Ja 
eigentlich  ist  es  nicht  einmal  die  Gesamtheit  der  Sinne,  durch  die 
das  naturästhetische  Erlebnis  in  mich  eindringt,  sondern  ein  zwischen 
ihnen  sich  ausbreitendes  gemeinsames  Medium  der  Zuleitung.  Natur 
ästhetisch  erlebt  ist  nicht  mehr  Gegenstand,  sondern  Ele- 
ment. »Die  sternenhelle  Nacht  ist  nun  mein  Element  geworden« 
(Hyperion  an  Bellarmin).  Darum  wird  auch  das  Elementarische  in  der 
Natur  als  das  eigentlich  Reizende  und  Wesentliche  in  ihr  gepriesen: 
die  mütterliche  Erde,  das  weiche  spielende  oder  wild  aufrauschende 
Wasser,  der  reine  Äther,  die  göttliche  Sonnenwärme,  der  Sturmwind, 
die  milde  Luft.  Ein  kindliches  Sichhineinschmiegen  in  so  ein  um- 
fangendes Element  ist  die  wahre  Hingabe  an  die  Natur;  in  ihr  wird 
die  Wonne  und  Seligkeit  des  Naturerlebens,  wird  die  Erlösung  des 
Menschen  von  allen  Lasten  und  Kümmernissen  des  Lebens  am  tiefsten 
gefühlt.  »Allen  drang  die  mütterliche  Luft  ans  Herz,  und  hob  sie  und 
zog  sie  zu  sich.  Und  die  Menschen  gingen  aus  ihren  Türen  heraus, 
und  fühlten  wunderbar  das  geistige  Wehen,  wie  es  leise  die  zarten 


DAS  ÄSTHETISCHE  NATURERLEBNIS.  235 

Haare  über  die  Stirne  bewegte,  wie  es  den  Lichtstrahl  itühlte,  und 
lösten  freundlich  ihre  Gewänder,  um  es  aufzunehmen  an  ihre  Brust, 
atmeten  süßer,  berührten  zärtlicher  das  leichte  klare  schmeichelnde 
Meer,  in  dem  sie  lebten  und  webten.  O  Schwester  des  Geistes,  der 
feurig  mächtig  in  uns  waltet  und  lebt,  heilige  Luft!  wie  schön  ists, 
daß  du,  wohin  ich  wandre,  mich  geleitest.  Allgegenwärtige,  Unsterb- 
liche !<  (Hyperion  an  Beliarmin).  Nicht  das  Physische  des  Elementes 
ist  es  also  im  Grunde  allein,  was  hier  ästhetisch  erlebt  wird,  sondern 
ein  Geistiges  und  Seelisches,  das  sich  eben  nur  als  Element  erfassen, 
bezeichnen  läßt,  und  dementsprechend  drückt  die  Mitwirkung  aller  Sinne 
bei  der  Vermittlung  des  ästhetischen  Naturgenusses  ihn  nicht  in  höherem 
Grade  zu  einem  rein  physischen  herab,  als  es  die  Vermittlung  eines 
einzelnen  Sinnes  dem  ästhetischen  Kunstgenüsse  gegenüber  tut. 

Natur  ist  Element,  nicht  Gestalt,  ebenso  wie  wir  selbst  —  uns  in 
sie  auflösend  —  unsere  Abgeschlossenheit,  unsere  Gestalthaftigkeit  preis- 
geben. Wäre  Natur  Gestalt,  so  wäre  das  Zusammenwirken  unserer 
verschiedenen  Sinne  zu  ihrem  Zustandekommen  unmöglich.  Denn  jede 
Form,  die  sichtbare  des  organischen  Gebildes,  die  hörbare  der  Melodie 
ist  nur  für  einen  der  Sinne  vorhanden,  kann  nur  erzeugt  werden  da- 
durch, daß  wir  uns  auf  den  Gebrauch  eines  einzigen  unserer  Sinnes- 
organe beschränken  und  alle  Eindrücke,  die  uns  durch  andere  Werk- 
zeuge der  Empfindung  zugeleitet  werden,  als  störend  ausschalten. 
Obwohl  aber  Natur  nicht  Gestalt  ist,  ist  sie  dennoch  ein  Werk  unseres 
Schöpfertums.  Es  scheint  mir  ein  Irrtum  zu  sein,  anzunehmen,  daß 
jedes  Erzeugnis  ein  Gebilde  sein  müsse  —  so  wie  umgekehrt 
vielleicht  auch  nicht  jedes  Gebilde  im  strengen  Sinne  ein  Erzeugnis 
zu  sein  braucht  — ,  daß  Form  die  einzige  Tat  sei,  die  unser  Ich  an 
dem  Gegebenen  vollbringen  könne.  Das  Gegebene  ist  als  solches 
genau  so  wenig  gestaltlos  im  Sinne  der  positiven  Kontinuität,  wie  es 
gestaltet  ist,  sich  negierend  diskret  gegen  anderes  absetzt.  Für  das 
Gegebene  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  wir  die  Landschaft  unendlich 
sehen  oder  endlich,  ob  wir  am  Horizonte  betonen,  daß  er  den  Erd- 
boden, das  Meer  abschließt  oder  daß  er  sich  nicht  fassen  läßt,  immer 
weiter  ins  Nebelhafte  flieht  —  ob  wir  den  Himmel  betrachten  als  die 
gewölbte  über  die  Erde  gestülpte  Glocke,  an  dessen  Sphären  die  Ge- 
stirne befestigt  sind,  oder  ob  wir  das  Auge  hineintauchen  lassen,  um 
einen  Ruhepunkt  zu  finden,  und  es  dann  tiefer  und  tiefer  sich  verliert 
und  seines  Suchens  kein  Ende  ist.  Unendlichkeit  ist  nicht  gegeben. 
Unendlichkeit  ist  ein  Licht,  das  der  Geist  über  die  Dinge  ausgießt. 
Unendlichkeit  ist  ein  Jauchzen  und  eine  Schwermut  der  Seele.  Was 
ist  denn  ästhetische  Natur,  gefühlte  Natur?  Doch  nicht  das  Land,  dessen 
Flächeninhalt  der  Geometer  ausmißt,  dessen  Ertrag  der  Landwirt  be- 


236  BETTY  M.  HEIMANN. 

rechnet,  dessen  Aussichten  als  Gelände  der  Stratege  oder  der  Sports- 
mann  in  Erwägung  zieht?  Natur  ist  eine  ebenso  radikale  Transposition 
des  Gegebenen  wie  die  Kunst,  nur  in  entgegengesetzter  Richtung.  In 
der  Kunst  heben  wir  die  Form  aus  der  Welt  heraus,  machen  sie  zu 
einem  Selbständigen,  verabsolutieren  sie;  in  der  Natur  erlösen  wir  die 
Weh  —  und  uns  —  von  der  Form.  Als  Schöpfer  des  Kunstwerkes 
sind  wir  Parmenides,  und  walten  im  Reiche  des  starren  unveränder- 
lichen Seins,  der  zeitlos  ewigen  Form;  als  Schöpfer  der  Natur  sind 
wir  der  Heraklit,  der  die  Dinge  in  einen  rastlosen  Strom,  ein  dauernd 
sich  wandelndes  Geschehen  hineinwirft  und  alle  Einzelheiten  in  einem 
glühenden  Schmelztiegel  verdampfen  läßt.  Nun  aber  glaube  ich,  daß 
die  Kunst  zuletzt  doch  die  höhere  Macht  hat  und  die  platonische 
Synthese  von  Ruhe  und  Bewegung,  von  Gestalt  und  Ungestalt  vollzieht. 
Kunst  und  Naturgefühl  sind  in  einer  ständigen  Entwicklung  be- 
griffen. Die  Antike,  welche  die  Grenzenlosigkeit  ablehnt,  kennt  keinen 
Naturgenuß  in  unserem  Sinne.  Ihre  Welt  war  eine  Ordnung,  ein 
Kosmos,  die  griechische  Landschaft  ein  begrenzter  Bezirk,  nur  in  der 
hellsten  und  zugleich  traumhaftesten  Stunde  des  Mittags  aus  ihrer  be- 
ruhigenden Umfriedung  aufgeschreckt,  nur  hier  von  einem  tieferen 
Schauer  berührt.  Mit  Pan  dringt  das  außerkosmische  Chaos,  die  Un- 
endlichkeit ein  in  diese  Welt  und  macht  sie  dem  klassischen  Menschen 
unheimlich,  während  uns  gerade  dann  heimlich,  heimisch  in  ihr  zu 
Sinne  ist.  Die  Antike  erlebt  die  Natur  noch  in  der  Kategorie  des 
Künstlerischen.  Und  wie  die  Natur  sich  hier  noch  nicht  völlig  von 
der  Kunst  gelöst  hat,  so  steht  die  Kunst  noch  in  der  Natur,  in  der 
»gegebenen  <  Natur,  dem  gemeinsamen  Mutterschoße  beider.  Sie  ist 
noch  die  Verklärung  und  Erhöhung  dieser  Natur,  ist  noch  von  einem 
gegenüberstehenden  Sein  empfangen,  nicht  freie  Tat  eines  Ich.  Sie  ist 
als  reine  Gestaltung  einerseits  erst  noch  der  volle  Gegensatz  zu  unserem 
modernen  Naturgefühl  und  somit  ganz  Kunst;  anderseits  aber  der 
modernen,  die  Gegensätze  in  sich  begreifenden  Kunst  gegenüber  noch 
nicht  ganz  Kunst.  Kunst  und  Natur  sind  noch  beide  vorwiegend  Ge- 
bilde und  darin  einander  ähnlich;  erst  als  reine  Erzeugnisse  treten  sie 
völlig  auseinander.  Erst  wenn  Natur  als  eine  besondere  Art  der 
Schöpfung  angesehen  wird,  läßt  sie  sich  in  eine  Parallele  zur  Kunst 
bringen;  erst  dann  ist  Natur  nicht  mehr  ein  »als  ob«,  eine  Illusion  und 
Vorstufe  der  Kunst,  sondern  ein  eigenes  ästhetisches  Reich.  Erst  so 
können  aber  auch  die  Reiche  von  Kunst  und  Natur  ineinander  hinein- 
reichen, können  beide  ineinander  übergehen  —  weil  das  Subjekt  ihnen 
gegenüber  auf  demselben  Niveau  bleibt  — ,  kann  sich  zwischen  ihren 
Polen  eine  Skala  spannen  von  mehr  oder  minder  geformten  Kunst- 
werken, kann  Kunst  in  dem  einen  Sinne  als  ein  Überbau  über  beide 


IMS  ASTHETISCWK  NATURÜRLEBNIS.  237 

befrachtet  werden,  während  es  in  einem  anderen  Sinne  das  Gebilde 
Hervorbringende,  der  Gegensatz  zur  Natur  ist,  und  wieder  in  einem 
dritten  Sinne  das  gemeinsame  schaffende  l'rinzip,  das  in  seine  Arten 
Kunst  und  Natur  auseinandertritt.  Mit  dem  »Fortschreiten  der  Kunst 
zu  einer  Produktion,  weiche  die  beiden  unmeßliar  weit  auseinander- 
stehenden Gegensätze  der  modernen  Natur  und  des  modernen  Kunst- 
gebildes,  des  t art-pour-V art  übergreift  und  in  sich  begreift,  ist  na- 
türlich nicht  gemeint,  daß  die  späteren  Kunstwerke  besser  und  wert- 
voller sind  als  die  früheren.  Trotzdem  aber  soll  mit  der  Billigung  einer 
Synthese  oder  Überwindung  der  Dualität  nicht  etwa  die  eingetretene 
Differenzierung  auch  die  Kunst  als  Gebilde  hat  sich  in  ihrer  Richtung 
entwickelt,  nicht  nur  die  Natur  als  Erzeugnis  —  verurteilt  und  ihre 
Rückgängigmachung  anempfohlen  werden.  Die  Einheit,  welche  die 
Kunst  vollbringen  soll  und  in  vielen  Fällen  auch  schon  vollbracht  hat, 
ist  ganz  anderer  Art  als  jene  Ungeschiedenheit  der  antiken  Kunst  und 
Natur. 

:» Natur  zerstört  die  Grenzen,  löst  die  Form  der  Naturdinge;  Kunst 
enthebt  die  Form  der  gegebenen  Natur.  Aber  solange  sie  die  Form 
noch  aus  dem  Gegebenen  der  Natur  heraushebt,  hält  sie  sich  auch 
noch  an  die  Natur,  haftet  sie  noch  an  ihr.  Es  ist  noch  die  alte  Kunst, 
die  schöne  Kunst,  die  Kunst  des  Gegenständlichen,  die  so  tut.  Ihr 
Gegenstand  hat  immer  schon  selber  eine  Form,  obgleich  erst  die  Kunst 
sie  an  ihm  erzeugt;  es  ist  immer  noch  die  Form  dieses  Gegenstandes, 
des  Menschen,  des  Tieres  usw.,  die  sie  ablöst  und  erlöst.  Die  moderne 
Kunst  hat  sich  nicht  nur  freigemacht  von  der  Schönheit  des  Gegen- 
standes im  Sinne  des  »Mittleren  ;,  sondern  sie  ist  auf  dem  Wege  dazu, 
sich  von  seiner  Form  als  einer  individuellen  gegenständ- 
lichen Form  zu  befreien  Sie  nimmt  gar  nichts  mehr  vom  Gegen- 
stande auf,  sondern  schafft  frei  aus  dem  Punkt  der  Intensität,  der  Inner- 
lichkeit heraus.  Ihre  Form  kann  die  Formlosigkeit  in  sich  schließen, 
weil  sie  nicht  mehr  gegenständliche  Form  ist,  sondern  höhere,  über- 
gegenständliche Form.  Das  Gedicht  z.  B.  drückt  ja  auch  das  Natur- 
gefühl aus,  d.  h.:  erst  geschieht  die  Auflösung  aller  Naturformen,  aller 
Gegenstände  und  ihrer  Formen,  derjenigen  [Formen,  zu  deren  Schöpfung 
das  Gegebene  Anlaß  bietet  und  dann  —  oder  vielmehr  zeitlich  zu- 
gleich -  wird  diese  aufgelöste  Welt  in  eine  Form  genommen,  die  gar 
nicht  mehr  gegenständlich  ist,  sondern  rein  dem  künstlerischen  Indivi- 
duum entstammt.  Zu  diesem  Verfahren  der  Dichtung  strebt  auch  die 
moderne  Malerei  und  Skulptur.  Für  die  Kunst  der  Renaissance  gilt 
noch  dasselbe,  was  für  die  hellenische  Kunst  gilt  —  soweit  es  über- 
haupt »gilt;  alle  Schemata  gelten  ja  nur  mehr  oder  weniger  ange- 
nähert. —  In  derselben  Stunde,  in  der  Giordano  Bruno  das  neue  Natur- 


238 


BETTY  M.  HEIMANN. 


gefühl  in  sich  erstehen  fühlt,  wird  jene  Kunst  des  Unendlichen  geboren, 
die  wir  die  Kunst  des  Barock  nennen;  jene  Kunst,  die  in  die  architek- 
tonische und  geometrische  Form  das  Schwellende,  Bewegte  der  Natur 
aufzunehmen  weiß,  und  für  welche  die  Dinge  anfangen,  unterzugehen 
im  Lichte,  im  Element.  Natur  als  Element  wird  das  Motiv  der  neuen 
Malerei,  deren  Höhepunkt  der  Impressionismus  ist.  Und  in  den  Über- 
gang zum  Expressionismus  fällt  die  Peripetie  dieser  modernen  Kunst ; 
als  reines  Element  wird  die  Natur  zur  reinen  Stimmung,  zur  bloßen 
Intensität  des  Gefühls.  In  dieser  Intensität  fällt  sie  zusammen  mit  dem 
innersten  Punkte  der  Subjektivität  selber,  und  jede  Kunstwerdung  ist 
fortan  ein  Herausgebären  aus  dieser  Subjektivität,  eine  rein  künstlerische 
und  individuelle  Formung.  Die  Notwendigkeit  dieses  Umschwunges 
bedingt  den  kritischen  Punkt  unserer  heutigen  bildenden  Kunst  (der 
wieder  in  der  Poesie  eine  hier  nicht  zu  erörternde  Parallele  hat);  ob 
diese  Krisis  in  der  richtigen  Weise  überwunden  werden  wird,  d.  h. 
ob  sich  der  große  Künstler  finden  wird,  der  die  neue  Kunst  in  völlig 
überzeugender,  nicht  mehr  anzuzweifelnder  Weise  Wirklichkeit  wird 
werden  lassen,  davon  hängt  das  Schicksal  dieser  Kunst  jetzt  ab. 


VIII. 

über  Wertung  und  Wirkung  von  Werken 
der  bildenden  Kunst'). 

Von 
Otto  Loewi. 

Wenn  wir  Werken  der  bildenden  Kunst  gegenübertreten,  so  wer- 
den wir  schon  im  ersten  Moment  sie  scheiden  in  solche,  die  uns 
gleichgültig  sind,  und  solche,  die  uns  etwas  bedeuten.  Die  Art  der 
Stellungnahme  ist  wesentlich  abhängig  von  der  Art  und,  wenn  ich  so 
sagen  darf,  vom  Vorleben  des  Betrachters.  Oft  oder  vielleicht  meist 
ist  der  erste  Eindruck  nicht  oder  nicht  hauptsächlich  bestimmt  durch 
künstlerische,  sondern  durch  außerkünstlerische  Momente;  daher  ist  er 
mehr  oder  weniger  gleichzuwerten  Geschmacksäußerungen  auf  ganz 
anderen  als  künstlerischen  Gebieten  und  sagt  so  oft  weniger  aus  über 
den  Wert  des  Kunstwerkes  als  solchen  als  über  den  Wert  des 
betrachtenden  Individuums.  Die  meisten  Betrachter  beanspruchen 
auch  gar  nicht  Kunstrichter  zu  sein;  es  genügt  ihnen  der  Genuß, 
gleichviel,  ob  das  Werk  Kunstwert  besitzt  oder  nicht. 

Nun  gibt  es  aber  anderseits  viele,  die  das  Bedürfnis  haben  nach 
einem  wenn  auch  nicht  allgemeingültigen  so  doch  dem  Wesen  des 
Kunstwerks  an  sich  Rechnung  tragenden  Werturteil. 

Die  folgenden  Erörterungen  sollen  daher  der  Frage  gelten: 

1.  ob  und  inwieweit  ein  Werturteil  möglich  ist  und 

2.  in  welchem  Verhältnis  es  zur  Wirkung  steht. 

Es  kann  meines  Erachtens  keinem  Zweifel  unterliegen,  daß  die 
Wertung  von  Kunstwerken  deren  besonderem  von  anderen  zu  be- 
urteilenden Erscheinungen  abweichenden  Charakter  Rechnung  tragen 
muß;  es  müssen  sich  also  die  Normen  ausschließlich  oder  wesentlich 
aus  dem  besonderen  Sinn  der  künstlerischen  Darstellung  ableiten 
lassen,  mit  anderen  Worten:  die  Beurteilung  des  Wertes  einer  künst- 
lerischen Leistung  wird  sich  danach  richten  müssen,  ob  diese  mehr 
oder  weniger  dem  Sinn  allen  Kunstschaffens  entspricht. 


')  Nach  einem  Vortrag. 


240  OTTO  LOEWI. 


Was  ist  nun  der  Sinn  der  künstlerischen  Darstellung? 

Wollen  wir  nicht  von  vornherein  mit  unbeweisbaren  Hypothesen 
arbeiten,  so  können  wir  ihn  mit  Konrad  Fiedler ')  nur  von  der  Seite 
der  Entstehung  der  Kunstwerke  fassen.  Ihre  Entstehung  aber  verdanken 
die  Kunstwerke  dem  besonderen  Bedürfnis  und  der  besonderen  Be- 
fähigung des  Künstlers,  das  Erleben  der  Welt,  der  inneren  und  der 
äußeren,  von  der  Seite  der  Anschaulichkeit,  der  Sichtbarkeit  zu  erfassen, 
und  zwar  ausschließlich  von  dieser.  Die  Anschaulichkeit  der  Dinge 
ist  nun  nicht  etwa  etwas  schlechtweg,  mithin  für  jedermann  Gegebenes, 
sie  entsteht  vielmehr  erst  durch  eine  besondere  Tätigkeit,  muß  in  jedem 
einzelnen  Fall  erst  geschaffen  werden.  Das  klingt  so  ohne  weiteres 
unglaubhaft  und  seltsam;  man  sollte  doch  glauben,  daß  jeder,  der 
Augen  hat,  auch  ein  anschauliches  Bild  der  Dinge  hat.  Bei  genauerem 
Zusehen  werden  wir  aber  gewahr,  daß  wir  gewöhnlich  außerordent- 
lich wenig  von  der  sichtbaren  Erscheinung  der  Dinge  uns  zum  Be- 
wußtsein bringen.  Das  liegt  zunächst  an  dem,  daß  wir  in  der  Regel 
gar  nicht  zu  dem  Zweck  schauen,  zu  dem  der  Künstler  ausschließlich 
schaut,  nämlich:  um  ein  Bild  von  den  Dingen  zu  gewinnen;  das 
Sehen  ist  in  der  Regel  gar  nicht  Selbstzweck,  sondern  dient  ganz 
anderen,  oft  z.  B.  utilitarischen  Zwecken.  Es  ist  bekannt,  daß  wir  selbst 
von  Menschen,  mit  denen  wir  dauernd  oder  oft  zusammen  sind,  nicht 
einmal  die  Augenfarbe  wissen  und  sie  erst  daraufhin  besonders  be- 
trachten müssen.  Aber  selbst  da,  wo  wir  schauen,  nur  um  ein  Bild 
zu  gewinnen,  kommt  uns  das  Geschaute  meist  nicht  in  seiner  Totalität 
zum  Bewußtsein,  weil  wir  uns  auf  Teile  des  Sichtbaren  konzentrieren, 
und  infolgedessen  sind  wir  auch  meist  nachträglich  außerstande,  es 
auch  nur  in  der  Erinnerung  zu  reproduzieren;  wir  glauben  dann, 
wir  haben  es  vergessen;  meist  aber  haben  wir  es  gar  nicht  perzipiert 
und  so  können  wir  es  uns  auch  nicht  einprägen.  So  wissen  z.  B.  die 
wenigsten  Menschen  selbst  nach  langer  Betrachtung  eines  Figuren- 
bildes, was  für  eine  Farbe  die  darauf  dargestellten  Kleider  haben. 

Danach  könnte  man  glauben,  daß  wir  nur  die  Aufmerksamkeit 
auf  die  Erwerbung  eines  anschaulichen  Bildes  zu  konzentrieren  brauch- 
ten, um  es  zu  gewinnen.  Weit  gefehlt:  wir  wüßten  gar  nicht,  wie  wir 
uns  dabei  anstellen  sollten.  Was  die  Sichtbarkeit  eines  Dinges  aus- 
macht, sind  zahllose  Elemente,  die  wir  ohne  spezielle  künstlerische 
Begabung  nicht  entdecken  können,  auch  wenn  wir  wollten.  Anders 
der  Künstler:  auf  dem  Wege  der  Intuition  erfaßt  er  die  Elemente,  die 
in  ihrer  Verbindung  die  Dinge  erst  anschaulich  machen;  der  Künstler 


')  Konrad  Fiedlers  Schriften  über  Kunst.    Herausgegeben  von  Hermann  Kon- 
nertli.    R.  Piper  und  Co.,  München  1Q13. 


ÜBER  WERTUNG  UND  WKKUNG  VON  WERKEN  DER  BILDENDEN  KUNST.     241 


erschafft  also  die  Anschaulichkeit  erst,  und  zwar  ist  das  seine  dauernde 
Tätigkeit;  denn  ihm  ist  ja  die  Welt  nur  Erscheinung,  und  ihr  Wesen, 
das  er  sich  geistig  anzueignen  bemüht,  beruht  ihm  ausschließlich  in 
der  Erscheinung,  in  der  sichtbaren  Gestalt  der  Dinge.  Hinter  die 
Fähigkeit  und  Neigung  zu  anschaulicher  Vorstellung  treten  alle  anderen 
menschlichen  Interessen  an  der  Welt  des  Seins  zurück. 

Diese  Dauerproduktion  von  anschaulichen  Vorstellungen  durch 
den  Künstler  tritt  nun  zeitweise  in  Erscheinung  im  Kunstwerk;  dies 
hat  jene  also  zur  Voraussetzung  und  bedeutet  zunächst  ihre  Verdich- 
tung zu  einer  schärferen  Fassung  oder  Formung  in  einem  bestimmten 
Fall,  die  man  als  inneres  Gesicht  oder  als  Idee  des  Kunstwerkes  be- 
zeichnen kann.  Das  Wesentliche  und  Unterscheidende  an  der  künst- 
lerischen Idee  gegenüber  anderen  Ideen  ist  also  die  Tatsache,  daß  sie 
anschaulich  ist.  Wenn  der  Nichlkünstler  sagt:  »Ich  werde  eine  Ma- 
donna malen«,  so  bedeutet  das  nichts;  denn  er  stellt  sich  irgend  etwas 
Unanschauliches  vor,  aber  er  sieht  nichts  dabei.  Der  Künstler  aber 
sieht  die  Madonna,  die  er  malen  will.  Daß  die  Idee  nur  dann  künst- 
lerische Idee  ist,  wenn  sie  schon  Anschaulichkeit  angenommen  hat, 
gilt  übrigens  für  jede  Kunst.  Wenn  nun  das  Bild  in  der  Vorstellung 
auch  schon  vorhanden,  so  ist  es  doch  noch  nicht  darin  voll  entwickelt; 
dazu  gelangt  es  erst  durch  einen  weiteren  Prozeß,  nämlich  durch  die 
künstlerische  Gestaltung.  Das  Verhältnis  dieser  Gestaltung  zur  Idee 
wird  hübsch  und  klar  illustriert  durch  die  Bemerkung  eines  Künstlers, 
die  ich  jüngst  bei  Hermann  Bahr")  gelesen  habe;  er  sagte:  j^Meine 
geistigen  Bilder  sind  so  klar,  daß,  wenn  ich  nicht  zeichnen  könnte,  ich 
sagen  würde,  daß  ich  sie  zeichnen  könnte.  Das  innere  Bild  ist  also 
nicht  so  klar,  daß  seine  Ausgestaltung  zum  Kunstwerk  nicht  noch  eine 
große  Aufgabe  wäre;  die  Gestaltung  ist  keineswegs  nur  Anwendung 
der  Technik,  vielmehr  auch  noch  eine  weitere  Ausarbeitung,  Entwick- 
lung der  Idee;  und  natürlich  bedarf  der  Künstler  dazu  der  Technik.  — 
Die  Grenze  zwischen  Idee  und  Gestaltung  ist  wohl  schwer  zu  ziehen. 
Das  Hauptthema  der  Eroica  ist  vor  Beethoven  schon  Mozart  eingefallen 
und  Mozart  hat  daraus  die  Ouvertüre  zu  dem  anmutigen  Stück  ^^Bastien 
und  Bastiennet  gemacht.  Ist  das  nur  Verschiedenheit  der  Gestaltung 
oder  ist  nicht  die  verschiedene  Gestaltung  Ausdruck  und  Entwicklung 
verschiedener  musikalischer  Ideen  über  das  gleiche  Thema?  Wer 
wollte  das  entscheiden? 

Schon  daraus,  daß  die  Anschaulichkeit  der  Dinge  nicht  a  priori 
gegeben  ist,  sondern  jedesmal  neu  geschaffen  werden  muß,  geht  her- 
vor, daß  sie  verschieden  ausfallen  muß,  je  nachdem,  was  die  Phantasie 


')  Hermann  Bahr,  Expressionismus.  Delphin-Verlag,  München  191S. 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Ktinttwissenschaft.    XIV.  16 


242  OTTO  LOEWI. 


der  einzelnen  aus  den  Wahrnehmungsvorstellungen  macht,  wie  sie  sie 
verarbeitet;  und  das  ist  wieder  abhängig  von  der  Art  der  Persönlich- 
keit. Schon  der  Nichti<ünstler  verarbeitet  die  gleiche  Gesichtsempfin- 
dung nicht  immer  zur  gleichen  Vorstellung;  er  sieht  z.  B.  mit  den 
»Augen  der  Liebe«  anders  als  sonst.  Der  Dichter  Hölty  singt:  »Röter 
blühet  Tal  und  Au,  grüner  wird  der  Rasen,  wo  die  Finger  meiner  Frau 
Maienblumen  lasen.«  Jeder  Mensch  würde  auch  das  gleiche  Vor- 
stellungsbild anders  gestalten.  Das  können  wir  daraus  schließen, 
daß  jeder  Mensch  eine  andere  Handschrift  schreibt. 

Viel  gewaltiger  sind  natürlich  die  Unterschiede  im  »Sehen<,  d.  h. 
im  geistigen  Aufnehmen,  und  dann  im  Gestalten  der  empfangenen 
Wahrnehmungsvorstellungen  bei  verschiedenen  Künstlern  vermöge  der 
ihnen  eigenen,  verschieden  anschaulichen  Phantasie.  Auf  die  Unter- 
schiede im  einzelnen  kann  ich  nicht  eingehen,  weil  die  Probleme  der 
Künstlerpsychologie,  um  die  es  sich  dabei  handelt,  ungelöst  und  viel- 
leicht unlösbar  sind.  Nur  eines  möchte  ich  herausheben.  Die  Um- 
wandlung einer  Gesichtsempfindung  durch  ein  und  denselben  Künstler 
kann  verschieden  weit  gehen.  Der  Künstler  muß  ja  nicht  nur  wieder- 
geben was  er  sah,  er  kann  z.  B.  in  der  Absicht,  einen  bestimmten 
Eindruck,  den  er  hat,  zu  verstärken,  das,  was  er  sah,  noch  weiter 
umwandeln. 

Die  hier  vorgetragene  Auffassung  vom  Wesen  der  Kunst,  das 
also  ausschließlich  aus  der  eigentümlichen  Veranlagung  des  Künstlers 
abgeleitet  wird,  genügt  allein  schon,  um  die  gewaltige  Bedeutung,  die 
die  bildende  Kunst  für  unsere  geistige  Entwicklung  besitzt,  klar  auf- 
zuzeigen. Danach  ist  die  Leistung  der  Kunst  für  unsere  Erfassung 
der  Welt  von  ähnlicher  Bedeutung  wie  die  der  Wissenschaft.  Beide 
lehren  uns  die  Welt  von  einer  besonderen  Seite  nehmen;  die 
Wissenschaft  von  der  Seite  der  Kausalität,  die  Kunst  von  der  Seite 
der  Anschaulichkeit.  Anselm  Feuerbach  gab  dem  entwickelten  Ge- 
danken die  Prägung:  »Die  Kunst  sieht  das  Wesen  in  der  Erscheinung, 
die  Wissenschaft  die  Erscheinung  im  Wesen.«  Durch  die  Kunst  lernen 
wir  also  die  Welt  in  des  Wortes  eigenstem  Sinn  erst  »sehen«.  Ich 
kann  natürlich  nur  an  wenigen  Beispielen  dartun,  was  wir  der  Kunst 
in  diesem  Sinn  verdanken.  Das  Sehenlernen  erstreckt  sich  einmal  auf 
die  allen  Dingen  gemeinsamen  Erscheinungsweisen;  um  nur  Grobes 
anzuführen,  erwähne  ich,  daß  wir  linear,  plastisch,  malerisch  sehen 
gelernt  haben.  Es  erstreckt  sich  ferner  das  Sehenlernen  auf  das  Dar- 
gestellte selbst.  Und  zwar  war  die  Kunst  bis  auf  unsere  Tage  fast 
reine  Gegenstandskunst.  Gerade  um  das  anschauliche  und  nur  anschau- 
liche Wesen  des  Gegenständlichen  uns  zu  vermitteln,  ist  die  Kunst 
unentbehrlich;   denn  wir  pflegen  im  gewöhnlichen  Leben  die  Gegen- 


^ 


ÜBKR  WERTUNG  UND  WIRKUNG  VON  WERKEN  DER  BILDENDEN  KUNST.     243 

stände  fast  nie  losgelöst  von  ihrer  mehr  oder  weniger  zufälligen  Um- 
gebung und  von  anderen  unwesentlichen  Zutaten  zu  sehen.  Die 
Gegenstände  erscheinen  uns  daher  in  der  Regel  mehr  als  beziehungs- 
reiche Teile  von  anderem,  denn  als  selbständige  Eigenwesen.  Erst 
die  Kunst  macht  sie  dazu  und  verleiht  ihnen  Eigendasein  und  Eigen- 
leben und  damit  unser  Interesse,  dadurch,  daß  sie  sie  aus  ihrer  Umge- 
bung isoliert,  herausstellt  und  gegen  die  Umw^elt  abschließt  schon  rein 
äußerlich,  z.  B.  das  Bild  durch  den  Rahmen,  die  Skulptur  durch  leeren 
Hintergrund.  Dies  Selbständigmachen  des  Gegenstands  ist  ein  wesent- 
licher Teil  der  künstlerischen  Betätigung;  die  Mühe  des  Künstlers  bei 
der  Wahl  des  Standpunktes  dem  Darzustellenden  gegenüber  und  der 
Anordnung  im  Werk  selbst,  alles  läuft  darauf  hinaus,  das  Darzustellende 
zur  selbständigen  Geltung  zu  bringen.  Das  Gelingen  beweist  die 
Künstlerschaft.  Das  Sehenlernen  durch  die  Kunst  ist  natürlich  nicht 
abgeschlossen,  sondern  geht  immer  weiter.  Wir  sehen  schon  viel 
mehr  als  frühere  Jahrhunderte.  Solche  (sit  venia  verbo)  Augenmenschen 
wie  die  Künstler  der  Renaissance  haben  Luft  und  Licht  nur  selten 
gesehen;  auf  ihren  Bildern  kann  man  meist  bestenfalls  erkennen,  daß 
nicht  Nacht  ist;  ob  aber  Sonnenschein  oder  nicht,  oder  gar  Morgen- 
oder Abenddämmerung,  bleibt  unklar.  Luft  und  Licht  als  wesentliche 
Elemente  der  Sichtbarkeit  wurden  vom  Künstler  viel  später  entdeckt 
oder  doch  betont.  Seitdem  sind  sie  uns  so  geläufig  geworden,  daß 
sie  sogar  unsere  Freude  an  der  Landschaft  in  der  Natur  wesentlich 
mitbestimmen.  Beweis:  die  Freude  an  der  Ebene,  der  sogenannten 
einfachen  Landschaft,  die  nichts  als  Luft  und  Licht  dem  Auge  bietet. 
Und  was  wird  uns  die  Zukunft  noch  bringen?  Damit,  daß  sie 
unser  Weltbild  nach  einer  wesentlichen  Seite  vervollkommnet,  befriedigt 
die  Kunst  gleichzeitig  eines  unserer  stärksten  Bedürfnisse,  nämlich 
das  nach  Anschaulichkeit  im  allgemeinen.  Und  danach  verstehen  wir 
ihre  hohe  allgemeine  Wertung  erst  recht.  Das  Anschaulichmachen 
ganz  im  allgemeinen  ist  offenbar  ein  notwendiges  Mittel  für  uns, 
zu  verstehen;  ich  erinnere  daran,  wie  das  Verständnis  abstrakter 
Begriffe  durch  anschauliche  Beispiele  oder  durch  Bilder  gefördert 
wird.  Aber  auch  sonst  stellen  wir  die  Dinge  heraus,  außer  uns, 
und  machen  sie  dadurch  sinnfällig,  um  weiter  zu  kommen;  dahin 
gehört  vielleicht  auch,  daß  wir  das  Bedürfnis  nach  Aussprache 
haben,  um  uns  selbst  über  Dinge  klar  zu  werden.  Schließlich  sehe 
ich  auch  eine  Seite  der  Bedeutung  des  Dichters  darin,  daß  er  durch 
völlige  Konzentration  auf  das  Gemüt  unklare  Gefühle  zum  klaren  Be- 
wußtsein bringt,  genau  so  wie  der  darstellende  Künstler  durch  kon- 
zentriertes Streben  nach  Anschaulichkeit  undeutliche  Vorstellungen 
anschaulich  macht. 


244    •  OTTO  LOEWI. 


Wir  sind  nunmehr  so  weit  in  den  Sinn  der  bildenden  Kunst  ein- 
gedrungen, daß  wir  auf  die  Frage  nach  der  Wertung  von 
Kunstwerken  eingehen  können. 

Entsprechend  unserer  Auffassung  vom  Wesen  der  Kunst  könnten 
wir  vielleicht  zur  Entscheidung  der  Frage,  ob  wir  es  mit  einem  Kunst- 
werk zu  tun  haben  oder  nicht,  sagen:  ein  Werk  hat  dann  als  Kunst- 
werk zu  gelten,  wenn  es  dem  reinen  Trieb  entspringt.  Gegenständ- 
liches anschaulich  zu  erfassen,  und  wenn  es  dem  Bildner  gelungen  ist, 
die  erfaßte  Anschaulichkeit  zu  gestalten,  d.  h.  zum  Ausdruck  zu  bringen. 
Damit  scheidet  schon  eine  große  Reihe  von  Werken  aus  der  Reihe 
der  Kunstwerke  aus,  alle  die  nämlich,  bei  denen  nicht  allein  das  künst- 
lerische Streben  nach  Anschaulichkeit,  sondern  auch  irgendwelche 
außerkünstlerische  Tendenzen  den  Pinsel  oder  den  Meißel  geführt  und 
nichts  Künstlerisches  zuwege  gebracht  haben.  Eine  niedere  Art  solcher 
außerkünstlerischer  Tendenzen  stellt  die  Spekulation  auf  Neigungen 
des  Publikums  dar,  seien  diese  nun  sentimentaler,  spannender  oder 
welcher  Art  immer.  Solche  Übung  nennen  wir:  Kitsch.  Eine  höhere 
Art  stellen  Werke  dar,  bei  denen  nicht  gerade  die  Oewinnabsicht, 
sondern  irgend  eine  andere,  außerästhetische  Tendenz  das  Primäre  ist, 
so  daß  das  Werk  nur  eine  nachträgliche  Illustration  zu  irgend  einer 
vorgefaßten  Idee  darstellt;  die  sogenannten  Nazarener  z.  B.  waren  fromm 
und  wollten  dem  malerisch  Ausdruck  geben;  eigene  anschauliche 
Phantasie  hatten  sie  nicht;  so  machten  sie  eine  Anleihe  bei  den  Bildern 
Rafaels.  Die  Künstler  pflegen  solche  Kunst  treffend  als  *  Literatur« 
zu  bezeichnen.  Alle  solche  Werke,  die  nicht  aus  künstlerischer  Not- 
wendigkeit entsprungen  sind,  verstoßen  gleichzeitig  gegen  das,  was 
allein  man  künstlerische  Wahrheit  nennen  sollte.  Anderseits  aber 
werden  wir  nun  kaum  geneigt  sein,  Werke,  die  den  obigen  Anforde- 
rungen genügen,  schlechthin  als  Kunstwerke  zu  bezeichnen.  Die 
obige  Forderung  stellt  weniger  einen  Maßstab  zur  Beurteilung  dar,  als 
vielmehr  eine  Voraussetzung,  ohne  deren  Erfüllung  von  Kunst  über- 
haupt nicht  die  Rede  sein  kann.  Wenn  ein  Knabe  sich  bemüht,  eine 
Kugel  zeichnerisch  anschaulich  zu  gestalten  und  es  ihm  restlos  ge- 
lingt, so  können  wir  das  Ergebnis  meinethalben  als  Kunstwerk  be- 
zeichen.  Ich  werde  aber  kaum  auf  Widerstand  stoßen,  wenn  ich  dies 
Kunstwerk  als  ein  kleines  Kunstwerk  bezeichne.  Wenn  wir  anderseits 
hören,  wie  Hans  von  Marees  Jahre  und  Jahre  schwer  gerungen  hat, 
anschauliche  Vorstellungen,  die  er  sich  vom  Zusammenhang  von  Natur 
und  Menschentum  machte,  bildnerisch  zum  Ausdruck  zu  bringen, 
und  ihm  dies  selbst  nach  seiner  eigenen  Überzeugung  nie  voll  ge- 
lungen ist,  sei  es,  daß  seine  Vorstellungen  nicht  anschaulich  genug 
waren  oder  daß  es  ihm  an  Gestaltungskraft  fehlte,  so  hat  er  zwar  im 


ÜBER  WERTUNG  UND  WIRKUNG  VON  WERKEN  DER  BILDENDEN  KUNST.     245 

Gegensatze  zum  Knaben,  was  er  wollte,  nicht  gekonnt,  wir  werden 
ihn  aber  doch  im  Gegensätze  zum  Knaben  einen  Künstler  nennen. 
Entscheidend  für  unser  Urteil  ist  der  streng  genommen  quantitative, 
faktisch  qualitative  Unterschied  in  der  Aufgabe,  die  sich  der  Knabe 
einerseits,  Marees  anderseits  stellten.  Bei  der  Aufgabe  des  Knaben 
ist  kaum  die  Möglichkeit  produktiver  Phantasiebetätigung  gegeben,  es 
muß  aber  ein  gewisses  Mindestmaß  von  künstlerischer  Aufgabe  vor- 
liegen, d.  h.  es  muß  etwas  zu  dem  hinzukommen,  was  von  vornherein 
für  jedermanns  Anschauung  gegeben.  Es  genügt  z.  B.  nicht  eine 
Wiedergabe  der  Natur,  wie  sie  vollständiger  und  besser  der  photo- 
graphische Apparat  besorgt,  darum  nicht,  weil  sie  nicht  mehr  an  An- 
schaulichkeit gibt  als  was  ich  in  der  Natur  selbst  anschaulich  sehe, 
und  das  ist  ja,  wie  wir  darlegten,  sehr  wenig.  Graf  Schack  sagt  ein- 
mal: »Nur  der  Handwerker  kopiert  die  Wirklichkeit,  der  Künstler  stellt 
sie  so  dar,  wie  sie  erscheint,  nachdem  das  Bild  durch  seine  Seele 
gegangen  ist.  Erst  der  Künstler  erschafft  die  Anschaulichkeit  durch 
eigenes  Zutun,  und  wir  werden  ihn  um  so  höher  stellen,  je  schöpfe- 
rischer er  ist,  je  größer  seine  Persönlichkeit,  je  mehr  er  daher  zum 
gegebenen  Vorstellungsgehalt  aus  eigener  Phantasie  bringt,  je  größer 
also  der  anschauliche  Neugehalt  in  seinen  Werken  ist.  Es  soll  nun 
nicht  geleugnet  werden,  daß  dieser  Maßstab,  falls  wir  keine  Ein- 
schränkungen machen,  auch  den  äußersten  Individualismus  als  künst- 
lerisch berechtigt  anerkennt.  In  der  Tat  sehe  ich  nicht,  wo  die  Grenze 
grundsätzlich  gezogen  werden  könnte,  ohne  daß  wir  uns  auf  einen 
normativen  Standpunkt  stellten,  der  der  Kunst  Aufgaben  und  Grenzen 
setzt.  Jedenfalls  ist  mit  Recht  der  Standpunkt  schon  längst  über- 
wunden, der  die  Treue  gegen  die  Natur,  wie  wir,  die  Nichtkünstler, 
sie  sehen,  verlangt.  Es  ist  meines  Erachtens  die  Grenze  nicht  ab- 
zustecken, über  die  hinaus  Künstler  einer  bestimmten  anschaulichen 
Vorstellung  zuliebe  z.  B.  nicht  weglassen  oder  übertreiben  sollten; 
wir  sehen  ja  oft  ganze  Gestalten  oder  nur  Teile  übermäßig  in  die 
Länge  gezogen  oder  sonstwie  stilisiert.  Wenn  wir  nach  der  Ursache 
forschen,  erkennen  wir,  daß  z.  B.  der  Eindruck  des  Feierlichen  hervor- 
gerufen werden  sollte.  Oft  sind  Gründe  maßgebend,  die  in  der  äußeren 
Bestimmung  des  Werkes  liegen;  in  der  ägyptischen  Kunst  sehen  wir 
solche  Stilisierung  zu  einer  Zeit,  wo  gleichzeitige  lebensvolle  realistische 
Darstellungen  Zeugnis  davon  ablegen,  daß  nicht  etwa  Nichtanders- 
können  Ursache  der  seltsamen  Stilisierung  war.  In  all  diesen  Fällen 
ist  äußerste  Zurückhaltung  geboten  mit  dem  Urteil:  sinnlos  oder  gar 
verrückt.  Zuvor  muß  mindestens  die  oft  schwer  lösbare  Aufgabe  ge- 
löst sein,  die  Absicht  des  Künstlers  zu  erkennen;  aber  selbst  an- 
genommen, es  wäre  das  geglückt:  was  ist  sinnvoll,  was  ist  sinnlos? 


246  Ono  LOEWI. 


Fließen  nicht  die  Grenzen  oft  ineinander  wie  zwischen  gesund  und 
krank?  Und  dann:  der  Verstand  dürfte  in  Sachen  höherer  geistiger 
Bedürfnisse,  gar  der  Kunst,  kaum  der  einzige  zuständige  Richter  sein. 
Ein  weit  besserer  ist  die  Zeit,  und  so  überlassen  wir  das  Urteil  besser 
ihr,  als  daß  wir  uns  voreilig  auf  Normen  festlegen.  Jedenfalls  ist  das 
Vorkommen  von  Fällen  sogenannter  Vergewaltigung  der  Natur  nicht 
geeignet,  den  Satz  zu  erschüttern,  daß  der  Wert  eines  Kunstwerkes 
durch  die  Größe  der  schöpferischen  Kraft  und  des  davon  abhängigen 
Neugehalts  an  Anschaulichkeit  bestimmt  wird. 

Gibt  es  nun  einen  Maßstab  zur  Bemessung  dieser 
Größen  im  Einzelfall? 

Auch  hier  heißt  es  prüfen,  ob  es  uns  nicht  weiterbringt,  wenn 
wir  vom  Sinn  des  Kunstwerkes,  wie  wir  ihn  auffaßten,  ausgehen. 
Der  Künstler  sieht  das  Wesen  der  Dinge  in  ihrer  anschaulichen  Gestalt 
Um  es  zu  finden  isoliert  er  sie,  wie  wir  sahen,  aus  der  ihr  Eigen- 
wesen verschleiernden  zufälligen  Umgebung.  Aber  auch  dann  haften 
noch  allemal  der  Einzelerscheinung  unwesentliche,  mehr  zufällige  Züge 
an.  Ich  möchte  nun  glauben,  daß  wie  auf  anderen  Gebieten  so  auch 
hier  der  Künstler  die  größere  Schöpferkraft  besitzt,  der  das  Wesent* 
liehe  vom  Unwesentlichen  der  Erscheinungen  zu  trennen  weiß  und 
durch  diese  Vereinfachung  das  einzelne  zum  Typus  erhebt.  So  haben 
die  großen  Porträtisten  Menschentypen  geschaffen.  Jedenfalls  huldigt 
die  durch  des  Gedankens  Blässe  nicht  angekränkelte  instinktive  Meinung 
aller  Zeiten  der  hier  geäußerten  Auffassung;  sie  liebt  im  Künstler  wie 
im  Dichter  den  Seher,  der  das  wahre,  das  ist  durch  nichts  Zufälliges 
entstellte  Wesen  der  Dinge  sieht.  Wir  sagen:  der  Apfel  ist  wie  ge- 
malt; wir  meinen  damit:  er  nähert  sich  dem  von  Zufälligkeiten  freien 
Typus.  Das«  Idealbild  der  Dinge  existiert  natürlich  nicht.  Die  großen 
Künstler  schaffen  vielmehr  etwas,  was  uns  als  solches  erscheint,  weil 
es  dunklen  Vorstellungen  in  uns  begegnet,  sie  klärt  und  damit  ein 
Streben  in  uns  befriedigt.  Die  verschiedenen  Künstler  sehen  selbst- 
verständlich das  Wesen  der  Dinge  in  verschiedenem.  Wofern  die 
Gestaltung  ihrer  Vorstellung  entspricht,  weiß  ich  nicht,  wie  man  aus 
der  Verschiedenheit  künstlerische  Rangunterschiede  ableiten  kann.  Es 
handelt  sich  dabei  um  Unvergleichbares.  Die  Frage:  wer  ist  größer, 
Schiller  oder  Goethe?  ist  zur  Persiflage  auf  derlei  geworden.  Wir 
schließen  also :  ein  Künstler  ist  um  so  größer,  je  mehr  er  mit  der  Dar- 
stellung des  einzelnen  gleichzeitig  einen  Typus  schafft.  Ob  aber  der 
Typus  so  oder  so  beschaffen,  bedingt  an  sich  keine  verschiedene 
Wertung.  Anders  steht  es  dagegen  mit  der  Frage,  ob  etwa  der  Vo!^ 
wurf  als  solcher,  den  der  Künstler  wählt,  bei  gleicher  Durchführung, 
eine  verschiedene  Wertung  der  künstlerischen  Leistung  begründet,  ob, 


4 


ÜBER  WERTUNG  UND  WIRKUNG  VON  WERKEN  DER  BILDENDEN  KUNST.     247 


um  ein  geläufiges  Beispiel  anzuführen,  die  Darstellung  einer  Madonna 
rein  künstlerisch  mehr  bedeutet  als  die  Darstellung  einer  Rübe.  Erst 
hieß  der  Satz:  die  gutgemalte  Rübe  ist  besser  als  die  schlechtgemalte 
Madonna.  Das  ist  eine  Binsenwahrheit,  denn  es  heißt  nichts  anderes 
als:  ein  gutgemaltes  Bild  ist  besser  als  ein  schlechtgemaltes  Bild. 
Liebermann')  tat  dann  den  Ausspruch:  »Eine  gutgemalte  Rübe  ist 
ebensogut  wie  eine  gutgemalte  Madonna.<  Er  meint  allerdings  nur 
als  rein  malerisches  Produkt.  Als  künstlerische  Oesamtaufgabe  ist 
auch  nach  seiner  Meinung  die  Madonna  weit  schwerer  zu  bewältigen 
als  das  Stilleben.  Und  das  ist  klar;  bei  der  Rübe  erschöpft  sich  die 
künstlerische  Aufgabe  im  wesentlichen  in  der  malerischen.  Nicht  als 
ob  deren  Bewältigung  gering  einzuschätzen  wäre.  Mit  Recht  sagt  einer 
vom  Handwerk,  der  es  verstehen  muß,  Max  Klinger:  »Die  Intensität,  mit 
welcher  das  bisher  im  Stoff  kaum  Geahnte  zum  Ausdruck  gebracht 
wird,  macht  die  Kunst  aus,  und  so  wird  der  unscheinbarste  Gegen- 
stand, den  eine  schöpferische  Kraft  erfaßt,  zum  Kunstwerk.;  Aber  bei 
der  Madonna  ist  die  Aufgabe  eine  noch  größere.  Soll  uns  in  ihr  die 
vor  irdischen  Müttern  ausgezeichnete  Mutter  mit  den  besonderen  Be- 
ziehungen zu  dem  vor  irdischen  Kindern  ausgezeichneten  Kinde  an- 
schaulich gemacht  werden,  dann  muß  der  Beruf  erkennbar  sein  in 
Ausdruck  und  Haltung  auch  ohne  äußere  Attribute.  Mag  ein  irdi- 
sches Modell  die  Aufgabe  in  Einzelheiten  erleichtern,  das  Besondere, 
das  Madonnenhafte  muß  vom  Künstler  schöpferisch  erschaut  und 
gestaltet  werden;  es  kommt  also  eine  gewaltige  Aufgabe,  die  näm- 
lich im  Gegenstand  als  solchem  liegt,  zur  malerischen  hinzu.  Fraglos 
ist  der  größere  Künstler,  wer  beides  bewältigt.  Es  hat  also  auch 
der  Gegenstand  als  solcher  Bedeutung  für  die  Wertung  der  Größe 
.der  künstlerischen  Leistung.  Natürlich  läßt  sich  im  einzelnen  so 
eine  Art  Wertvergleichstabelle  nach  Gegenständen  geordnet  nicht  auf- 
stellen. 

Ich  kann  nun  nicht  umhin,  ganz  kurz  an  dieser  Stelle  den  Stand- 
punkt der  Kunst  unserer  Tage,  worunter  ich  noch  nicht  den  Expres- 
sionismus verstehe,  in  dieser  Frage  zu  berühren. 

Ich  habe  oben  den  Ausspruch  gebracht,  die  gutgemalte  Rübe  ist 
besser  als  die  schlechtgemalte  Madonna.  Weiter  sagt  Liebermann  einmal: 
>Der  spezifisch  malerische  Gehalt  eines  Bildes  ist  um  so  größer,  je 
geringer  das  Interesse  an  seinem  Gegenstand;  je  restloser  der  Inhalt 
eines  Bildes  in  malerischer  Form  aufgegangen  ist,  desto  größer  der 
Maler. <  Wohlgemerkt,  Liebermann  sagt  auch  hier,  der  Maler,  nicht 
der  Künstler!    Der  Sinn  beider  Aussprüche  ist,  daß  die  Hauptsache 


')  Max  Liebermann,  Die  Phantasie  in  der  Malerei.  Bruno  Cassirer,  Berlin  1Q16. 


248  OTTO  LOEWI. 


für  den  Maler  nicht  sowohl  anschauliche  Charakterisierung  eines  be- 
stimmten Gegenstandes  behufs  dessen  anschaulicherer  Charakterisierung 
ist,  sondern  der  allen  Gegenständen  eigentümliche  malerische  Ausdruck. 
In  der  Tat  ist  die  Malerei  von  heute  im  Gegensatz  zur  Kunst  aller 
Zeiten  nicht  Gegenstandskunst,  sondern  in  höchstem  Maß  ungegen- 
ständliche oder  Formkunst.  Form  ist  Selbstzweck.  Man  hat  den  Ein- 
druck, daß  die  Gegenstände  nur  die  bis  jetzt  noch  unumgänglich  not- 
wendigen, aber  schon  beinahe  lästigen  Träger  der  ihnen  eigentüm- 
lichen malerischen  Form  sind.  Diese  Stellung,  nämlich  das  Zurück- 
treten des  Interesses  am  Einzelgegenstand  gegen  das  an  der  eigen- 
tümlichen Form,  hinter  das  Ungegenständliche,  ist  charakteristisch  nicht 
nur  für  die  heutige  Malerei,  sondern  für  die  gesamte  Kunst  unserer 
Tage.  Wir  sehen,  wie  in  der  Musik  die  gegenständlichen  Momente, 
Thema,  sogar  Motiv,  immer  spärlicher  werden  und  das  Ungegenständ- 
liche, die  musikalische  Form,  die  Gestaltung  an  sich  zur  Hauptsache 
wird.  Und  in  der  Literatur  ist  es  nicht  anders.  Ich  kann,  was  ich 
meine,  nicht  besser  ausdrücken,  als  mit  den  Worten  Ernst  Ludwigs 
über  das  Schaffen  Hermann  Bangs,  die  er  dessen  letztem  Werk,  dem 
Roman  »Die  Vaterlandslosen« '),  vorausschickt.  Er  sagt:  Von  seinem 
ersten  Buch  zu  diesem  führen  zwei  Linien,  die  eine  abwärts,  das  ist 
die  Linie  der  Handlung,  der  interessanten  Begebenheiten,  der  Be- 
wegung; die  andere  aufwärts,  das  ist  die  musikalische  Linie.«  Soll 
heißen:  gegenstandslose  Gestaltung.  Und  weiter:  »Mehr  und  mehr 
wurden  seine  Romane  Dokumente  eines  Gestalters,  nicht  Erfinders. 
Mehr  und  mehr  will  und  vermag  er  im  Grunde  nur  dieses  eine:  Ge- 
stalten an  sich  ohne  Handlung,  ohne  Bewegung,  ja  ohne  Milieu  und 
Landschaft  aufzustellen.«^ 

Jede  Kunst  wurzelt  in  der  meist  unbewußten  Sehnsucht  ihrer  Zeit, 
gibt  ihr  klaren  Ausdruck  und  mitunter  Erfüllung.  Was  bedeutet  die, 
wie  wir  sahen,  einheitliche  Tendenz  der  Kunst  unserer  Tage?  Wir 
leben  im  Zeitalter  der  Wissenschaft.  Die  Wissenschaft  aber  kann  nur 
ein  Weltbild  gelten  lassen,  das  aus  im  einzelnen  erkannten  Teilen  sich 
zusammensetzt;  von  dem  intuitiv  erfaßten  Weltbild,  der  Synthesis  a 
priori,  geht  ihr  Weg  über  die  Analyse  zur  Synthesis  a  posteriori,  zur 
Resynthese.  Auf  diesem  Weg  hat  sie  frühere  Weltbilder  schon  zer- 
trümmert, ist  aber  von  der  Resynthese  noch  weit  entfernt.  Der  Mensch 
aber  braucht  ein  einheitliches  Bild  schon  heute.  So  verstehen  wir 
vielleicht,  daß  heute  jede  einzelne  Kunst  innerhalb  ihres  Rahmens  über 
das  Besondere  hinaus  durch  Vereinfachung  und  Vereinheitlichung  zum 
allgemeineren   strebt.    Aber   es   geht   noch   weiter:   die  Malerei    will 


')  Bei  S.  Fischer,  Berlin. 


BER  WERTUNG  UND  WIRKUNG  VON  WEttKEN  DER  BILDENDEN  KUNST.     24Q 


gleichzeitig  Musik  sein,  die  Musik  Malerei  und  die  Dichtung  beides; 
die  Grenzen  der  einzelnen  Künste  werden  gesprengt,  im  Oesamtkunst- 
werk  soll  alles  zur  Einheit  werden. 

Wir  haben  bisher,  was  allein  zulässig  erscheint,  im  allgemeinen 
den  Standpunkt  angegeben,  von  dem  aus  die  künstlerische  Bewertung 
von  Kunstwerken  erfolgen  muß.  Es  fragt  sich  nunmehr,  was 
im  einzelnen  dazu  gehört,  sie  durchzuführen. 

Es  braucht  wohl  kaum  besonders  gesagt  zu  werden,  daß  wir  die 
Größe  des  Kunstwertes  eines  Werkes  nur  beurteilen  können,  wenn 
wir  das  Werk  verstehen.  Verstehen  heißt  aber  nach  dem,  was  wir 
gehört  haben,  die  auf  anschauliche  Darstellung  gerichtete  Absicht  des 
Künstlers  und  ihren  Ausdruck  im  Werk  erkennen.  Dazu  verhilft 
nun  kein  theoretisches  Wissen,  sondern  es  muß  die  Gabe  verliehen 
sein,  sich  in  den  Künstler  einzufühlen.  Dies  ist  aber  nur  möglich, 
wenn  ein,  obgleich  der  Intensität  nach  verschiedenes,  so  doch  dem 
des  Künstlers  gleichgerichtetes  Bedürfnis  nach  anschaulicher  Erfassung 
der  Dinge  unbewußt  vorliegt.  Wer  das  nicht  besitzt,  wird  sich  übrigens 
gar  nicht  zur  Beschäftigung  mit  der  Kunst  getrieben  fühlen.  Es  ge- 
nügt aber  nicht  eine  Einfühlungsmöglichkeit  im  allgemeinen  in  das, 
was  Kunst  überhaupt  bietet,  zu  haben,  sondern  wir  müssen  uns  ein- 
fühlen können  in  das,  was  der  Künstler  im  einzelnen  Fall  will.  Das 
wird  uns  am  ehesten  gelingen,  wenn  wir  einem  Kunstwerk  aus  unseren 
Tagen  gegenüberstehen;  denn  die  zeitgenössischen  Künstler  sind  ja 
vom  selben  Fleisch  und  Blut  wie  wir,  ihre  Absichten  werden  darum 
bis  zu  einem  gewissen  Grad  mit  unseren  übereinstimmen,  wodurch 
das  Verständnis  naturgemäß  wesentlich  erleichtert  wird.  Verstehen 
werden  wir  aber  ohne  weiteres  auch  die  Kunst  der  ganz  Großen  der 
Vergangenheit,  die  zeitlose  Kunst,  die  auf  anschauliche  Darstellung 
gerichtete,  allgemein  menschliche  Bedürfnisse  befriedigt.  Weniger  leicht 
wird  es  uns  sein,  solche  Kunst  der  Vergangenheit  zu  verstehen,  die 
nur  zeitlich  oder  national  begrenzte,  der  Gegenwart  nicht  analoge  Be- 
dürfnisse in  ihren  Erzeugnissen  befriedigte.  Um  dieser  Kunst  einiger- 
maßen gerecht  zu  werden,  sind  antiquarische  Studien  erforderlich;  wir 
müssen  die  Zeit  verstehen,  um  Wollen  und  Leistung  ihrer  Künstler 
würdigen  zu  können;  vor  allem  müssen  wir  über  die  uns  wesens- 
fremden Formeigentümlichkeiten  der  verschiedenen  Zeiten  wegkommen, 
wollen  wir  dem  einzelnen  Künstler  gerecht  werden.  Diese  gleichen 
Schwierigkeiten  des  Verständnisses  wie  der  Kunstfreund  hat  auch  der 
Künstler.  Ja,  in  gesteigertem  Maße.  Besitzt  er  auch  das  größere  An- 
schaulichkeitsbedürfnis, so  kann  er  sich  doch  im  allgemeinen  noch 
weniger  als  der  Nichtkünstler  in  ihm  fremde  Art  zu  sehen  und  zu 
gestalten   einfühlen;   ist  doch   gerade   eine   gewisse  leidenschaftliche 


250  ■        OTTOLOEWt,  ..r,:  !,;;::  r.;r:     u) 

Einseitigkeit  in  dieser  Richtung  notwendige  Voraussetzung  für  wahres 
Künstiertum.  Nur  als  Kenner,  d.  h.  als  Beurteiler  der  Größe  der 
technischen  Leistungen,  der  zu  überwindenden  Schwierigkeiten  wird 
der  Künstler  vom  gleichen  Handwerk  dem  Kunstfreund  in  der  Regel 
überlegen  sein.    Dies  nebenbei. 

Wenn  wir  uns  auch  noch  so  heiß  um  das  Verständnis  eines 
Kunstwerkes  bemüht  haben,  wir  haben  kein  Kriterium  dafür,  ob  es 
uns  gelungen  ist,  es  zu  verstehen.  Wir  dürfen  aber  in  Analogie  zu 
anderen  Erfahrungen  annehmen,  daß  es  uns  in  der  Regel  nur  bis  zu 
einem  gewissen  Grad  gelungen  ist.  Ein  Teil  von  all  dem,  was  vom 
Menschen  kommt,  bleibt  immer  problemhaft.  Wir  verstehen  ja  nicht 
einmal  die  Handlungen  der  Menschen  restlos,  mit  denen  wir  zu- 
sammenleben. Oft  empfinden  wir  geradezu,  namentlich  wenn  wir 
einem  großen  Kunstwerk  gegenüberstehen,  daß  uns  dunkel  bleibt, 
was  für  die  Wirkung  auf  uns  das  wesentlichste  ist;  beim  großen 
Kunstwerk  ist  das  Ganze  mehr  als  die  Summe  der  erkennbaren 
Teile.  Man  kann  sogar  sagen:  ein  Kunstwerk  ist  um  so  größer,  je 
mehr  Imponderables  es  enthält. 

Aber  selbst  angenommen,  wir  haben  ein  Werk  verstanden,  so  ist 
doch  das  bloße  Verstehen  nicht  die  einzige  Vorbedingung  für  die 
rechte  Bewertung.  Gerade  was  das  Verstehen  erleichtert,  nämlich  ein 
dem  des  Künstlers  gleichgerichtetes  Anschaulichkeitsbedürfnis,  erschwert 
die  Sachlichkeit;  was  mein  Bedürfnis  befriedigt,  ist  mir  sympathisch 
und  macht  mich  voreingenommen.  So  verstehen  wir,  daß  ein  kunst- 
gerechtes Urteil  nur  möglich  ist  über  die  Kunst  der  Vergangenheit; 
bei  der  der  Gegenwart  sind  wir  zu  sehr  mit  unserem  Eigenwollen 
beteiligt.  Bei  dieser  Sachlage  könnte  man  fragen,  ob  es  überhaupt 
einen  Sinn  hat,  nach  einem  Werturteil  zu  streben.  Ich  glaube  diese 
Frage  unbedingt  bejahen  zu  sollen  und  zwar  von  zwei  Gesichtspunkten 
aus.  Zum  ersten  werden  wir  veranlaßt  den  Werken  der  echten 
Künstler,  und  für  Echtheit  pflegen  wir  eine  feine  Empfindung  zu 
haben,  voll  Ehrfurcht  gegenüber  zu  treten  und  uns  in  sie  zu  versenken, 
und  kommen  wir  nicht  zu  einem  kunstgerechten  Verständnis,  so  wer- 
den wir  die  Unzulänglichkeit  eher  in  uns  als  beim  Künstler  zu  suchen 
haben.  Das  scheint  aber  der  einzige  Standpunkt  zu  sein,  der  den 
großen  Bereicherern  unseres  Daseins  gerecht  wird.  Zum  anderen  aber 
sehen  wir  auf  allen  Gebieten,  auch  auf  dem  der  exakten  Naturwissen- 
schaften, daß  die  Betätigung  im  Streben  nach  einem  Ziel  den  Menschen 
meist  mehr  fördert  als  der  schließliche  Erfolg  selbst. 

Wir  haben  es  bisher  versucht,  den  Wert  der  Kunstwerke  aus- 
schließlich aus  dem  Verhältnis  abzuleiten,  in  dem  die  Größe  des 
Werkes  zu   der  aus  dem  Sinn  des  Kunstschaffens  sich  ergebenden 


:  WERTUNG  UND  WIRKUNG  VON  WERKEN  DER  BILDENDEN  KUNST.    251 


Aufgabe  steht.  Wir  haben  es  soweit  als  möglich  vermieden,  auch 
die  Wirkung  zur  Wertbeurteii  ung  heranzuziehen,  da  diese 
erstens  etwas  komplexes  ist,  d.  h.  von  einer  Summe  außerkünst. 
lerischer  Momente  mitabhängt,  und  zweitens  von  Subjekt  zu  Subjekt 
wechselt  und  darum  von  vornherein  keinerlei  Maßstab  an  die  Hand 
jtxt  geben  scheint.  Auch  ist  ja  die  Wirkung  weder  im  Zweck  noch 
in  der  Absicht  des  wahren  Kunstwerks  gelegen,  sondern  gewisser- 
maßen etwas,  was  infolge  des  besonderen  Wesens  der  Kunst  sich 
nebenbei  einstellt  oder  einstellen  kann;  das  wahre  Kunstwerk  bliebe 
dasselbe,  wenn  aus  äußeren  Gründen  die  Möglichkeit  der  Wirkung 
entfiele.  Immerhin  ist  das,  was  uns  zur  Kunst  treibt,  nicht  das,  was 
sie  an  sich,  sondern  was  sie  für  uns  ist.  Und  da  ist  es  doch  sehr 
der  Mühe  wert,  zu  untersuchen,  ob  nicht  —  allen  scheinbaren  Oe- 
schmacksverschiedenheiten  zum  Trotz  —  ein  bestimmtes  Verhältnis 
zwischen  Wert  und  Wirkung  besteht,  ob  wir  nicht  die  Gewißheit 
haben  können,  daß  unsere  gefühlsmäßige  Reaktion  auf  Kunstwerke 
ihrer  künstlerischen  Größe  gerecht  wird. 

Wie  und  wo  aber  soll  man  die  Wirkung  fassen?  Offenbar  dort, 
wo  sie  eine  einheitliche  ist.    Da  kann  man 

1.  naturgemäß  nur  die  Wirkung  auf  diejenigen  heranziehen,  denen 
die  Kunst  als  solche  Bedürfnis  ist,  denen  die  Kunst  also  etwas 
gibt,  was  ihnen  nichts  anderes  gibt;  nach  dem,  was  wir  gesehen 
haben,  kann  es  nur  die  Befriedigung  des  unbewußten  Bedürfnisses 
nach  anschaulicher  Darstellung  der  Welt  sein.  Aber  wenn  wir  so 
auch  den  Kreis  derer,  die  in  Betracht  kommen,  schon  erheblich  ein- 
engen, gehen  doch  noch  immer  innerhalb  dieses  Kreises  die  Ge- 
schmacksrichtungen weit  auseinander;  sie  sind  von  Individuum  zu 
Individuum  verschieden.     Einheitlicher  ist 

2.  die  Wirkung  schon  innerhalb  gleicher  Zeitperioden.  Neben 
und  über  dem  Individuellen  gibt  es  einen  Zeitgeschmack,  es  hat  mit 
anderen  Worten  jede  Zeitepoche  ein  bestimmt  gerichtetes  Anschauungs- 
bedürfnis, das  natürlich  auch  die  Künstler  teilen  und  in  der  Zeitkunst 
zum  Ausdruck  bringen.  Noch  mehr  aber  als  in  der  Zeitkunst  kon- 
vergiert 

3.  der  Geschmack  gegenüber  der  Kunst,  die  man  als  zeitlose 
bezeichnet;  ihr  gegenüber  verstummt  jeder  Streit  der  Meinungen, 
denn  über  die  Bedürfnisse  der  Individuen  und  Zeit  und 

4.  auch  der  kulturell  vergleichbaren  Nationen  hinaus  wendet 
sie  sich  an  den  kunstsinnigen  Menschen  schlechtweg  und  offenbart 
ihm  als  Veranschaulichungskunst  im  höchsten  Sinn  das  reine  und 
wahre  Wesen  dessen,  was  ihm  im  Leben  verschleiert  ist  durch  zu- 
fällige Beimischungen. 


252 


OTTO  LOEWI. 


So  sind  die  zeitlosen  Kunstweri<e  zu  Heiligtümern  für  die  ganze 
sehnende  Menschheit  geworden.  Hier  also  haben  wir  die  gesuchte, 
einheitliche  Wirkung.  Und  wenn  wir  uns  fragen,  was  diese  Werke  als 
Kunstleistungen  bedeuten,  so  finden  wir,  daß  unerreichte  abschließende 
Schöpferkraft  zum  wahren  und  zwingenden  Ausdruck  bringt,  was 
ohne  Vorbild  ist  und  was  doch  existiert;  denn  wir  fühlen  es.  Somit 
ergibt  sich:  unbedingte  Wirkung  und  höchster  Wert  sind 
eines. 


I 


\ 


IX. 

über  Malerbildhauer  und  Bildhauermaler. 
(Kriterien  zur  Bestimmung  von  Werken  aus  einer  Hand.) 

Von 

V.  Curt  Habicht. 

Eine  innere  Verwandtschaft  aller  gleichzeitig  entstandener  Kunst- 
werke aller  Kunstzweige  besteht  trotz  der  bedeutenden  Unterschiede 
der  Ausdrucksmittei.  Zur  Erklärung  und  Vertiefung  der  Vorstellung 
vom  Gesamtausdruckswillen  eines  bestimmten  Zeitabschnittes  bleibt 
deshalb  die  Vergieichsmöglichkeit  aller  Künste  untereinander  offen  und 
gestattet.  Mit  vollem  Rechte  spricht  man  von  einer  wechselseitigen 
Erhellung  der  Künste ')  und  macht  auch  von  diesem  Mittel  der  In- 
beziehungsetzung  verständnisfördernden  Gebrauch.  Bei  allen  solchen 
Untersuchungen  —  auch  bei  enger  gefaßten,  wo  Vorwiegen  eines 
Teilgebietes  der  bildenden  Kunst  (etwa  des  Plastischen  oder  des 
Malerischen)  klargestellt  wird  —  tritt  die  Autorfrage  hinter  der  Absicht, 
die  treibende  Kraft  des  Stilwillens  zu  fassen,  zurück. 

An  der  Tatsache  aber,  daß  eine  Künstlerpersönlichkeit  den  Willen 
und  die  Fähigkeit  besessen  haben  kann,  sich  auf  verschiedenen 
Kunstzweigen  —  oft  gegensätzlicher  Art  —  auszudrücken,  ist  nicht 
zu  zweifeln  —  und  wird  auch  nicht  gezweifelt,  wenn  die  geschaffenen 
Werke  unbestreitbare  Fakten  bilden  und  wenn  ausreichende  urkund- 
liche Nachrichten  sprechen.  Sowohl  vom  Standpunkt  des  psycho- 
genetischen  Betrachters,  als  besonders  von  dem  des  Stilkritikers  höchst 
unbequeme  und  unleidliche  Tatsachen.  Wie  weit  wir  von  einer  wirk- 
lichen wechselseitigen  Erhellung  der  bildenden  Künste  noch  entfernt 
sind,  zeigt  der  Widerstand,  der  sich  durchgängig  weigert,  diese  Tat- 
sache allein  aus  formalen  Gründen  zuzugeben.  Nur  da,  wo  die 
urkundlichen  Zeugnisse  und  Nachrichten  erdrückend  schwere  sind, 
findet  man  sich  zu  einer  süßsauren  Anerkennung  bereit.  Aber  auch 
hier  stehen  die  Äußerungen  wie  zwei  Welten  gegenüber,  und  eine  Ver- 
gleichsmöglichkeit, die  .Auffindung  des  aus  psychologischen  Gründen 


')  Vgl.  Oskar  Walzel,  Wechselseitige  Erhellung  der  Künste  (Philos.  Vorträge, 
veröff.  von  der  Kantgesellschaft,  Nr.  15),  Berlin  1917  und  dazu  O.  Wulff,  Wechsel- 
seitige Erhellung  der  Künste,  D.  L.  Z.  XXXIX.  Jahrg.,  Berlin  1918,  Nr.  49-52. 


254  V.  CURT  HABICHT. 


Erkennbaren  und  Verbindenden  scheinen  ausgeschlossen  bleiben  zu 
müssen.  Dabei  mehren  sich  die  Fälle  —  besonders  in  der  deutschen 
Kunstgeschichte  — ,  wo  Nachrichten  vorliegen,  die  die  Annahme  der 
Doppelbegabung  und  -tätigkeit  wahrscheinlich  machen,  wo  wir  auf 
zwingende  urkundliche  Nachrichten  aber  kaum  noch  hoffen  dürfen  und 
wo  wir  zu  einer  vergleichsweisen  Gewißheit  allein  auf  dem  Wege  der 
wechselseitigen  Erhellung  gelangen  können.  Die  geschmäcklerische 
Behauptung  der  Unmöglichkeit  —  auf  Grund  orthodoxer  Festlegung 
der  Künstlerpersönlichkeit  — ,  die  sehr  problematischen  Hinweise  auf 
Qualitätsunterschiede  und  die  einseitige  Benutzung  von  Bestimmungen 
der  Zunftordnungen  können  jedenfalls  nicht  mehr  ausreichen,  in 
strittigen  Fällen  wie  etwa  bei  Meister  Bertram,  Meister  Francke,  Konrad 
Witz,  Hans  Multscher,  Hans  Raphon,  Meister  Wolter,  M.  Grünewald 
und  anderen  die  Diskussion  abzuschneiden  und  die  Problemstellung 
überhaupt  zu  verweigern. 

Es  dürfte  demnach  angebracht  sein,  sich  über  die  Grenzen  der 
Malerei  und  Plastik  einig  zu  werden,  ihre  Berührungspunkte  aufzufinden 
und  die  Fäden  bei  Emanationen  durch  eine  Persönlichkeit  aufzu- 
weisen 1). 

Zunächst  aber  sind  die  bequemen,  üblichen,  unsachlichen  Einwände 
in  Summa  zu  beseitigen. 

Der  dürftigste  entspringt  den  Grenzen  des  Denkens  der  Beurteiler, 
mehr  einer  gefühlsmäßigen  Inanspruchnahme  für  eine  Seite  des  künst- 
lerischen Schaffens  als  einer  kühlen  (aber  darum  keineswegs  weniger 
liebenden)  Denkbarmachung  der  genetischen  Entwicklung.  Je  ein- 
dringender die  alle  Denkfaktoren  erfahrungsgemäß  bestimmende  »Ein- 
fühlung«, der  selig-süße  Akt  der  gefühlsmäßigen  Kontaminität,  gewesen 
ist,  umso  apodiktischer  wird  die  Entscheidung  für  die  eine  oder  andere 
Wesensseite  des  Künstlers  ausfallen.  Die  ebenso  starke  Inanspruch- 
nahme Michelangelos  für  die  Kategorie  der  Maler  wie  für  die  der 
Bildhauer  kann  deshalb  nicht  verwundern.  Die  gefühlsmäßige  Be^ 
tonung  droht  unter  Umständen  die  unumstößlichen  Nachrichten  zu 
kassieren  oder  zu  Berichten  von  erzwungenen  Leistungen  zu  degra- 
dieren. Im  voraus  sei  gesagt,  daß  die  völlig  gleichmäßige  Verteilung 
der  Gaben  an  sich  durchaus  möglich  und  denkbar  ist.  Im  Grunde  ist 
sie  weit  weniger  ungeheuerlich  als  die  stündlich  zu  erleidende  Hetero- 
nomie  unseres  Seins  (Materie  und  Geist)  überhaupt.  Zu  gleichmäßiger 
und  gleichwertiger  Emanation  setzt  sie  allerdings  eine  Harmonie  des 

')  Erst  nachträglich  kommt  mir  die  Arbeit  von  O.  Wulff,  Grundlinien  und 
kritische  Erörterungen  zur  Prinzipienlehre  der  bildenden  Kunst,  Stuttgart  1917,  in 
die  Hände,  in  der  ich  wichtige  Bestätigungen  meiner  Ansichten  finde,  die  ich  zum 
Teil  noch  berücksichtigen  konnte. 


OBER  MALERBILDHAUER  UND  BrLDHAUERMALER.  255 


I 


Schaffens  und  eine  Sauberkeit  der  Einstellung  des  schaffenden  Künst- 
lers auf  eine  Ausdruclcsart  voraus,  die  selten  und  ungewöhnlich 
sind.  Daneben  besteht  —  vielleicht  über  unausdenkbarem  Ideal- 
falie  —  der  weit  häufigere  einer  Doppelbegabung  unter  ersicht- 
lichem Überwiegen  einer  Seite.  Warum  diese  Anlage,  auch  bei  un- 
gleichmäßiger Verteilung  der  Realisierungsform,  nicht  in  die  Wirklich- 
keit umgesetzt  werden  soll.  Zwang  zur  Emanation  sogar  besitzen 
kann,  ist  gar  nicht  einzusehen.  Jedenfalls  bedeutet  es  eine  außer- 
ordentliche, subjektive  Beschränkung,  die  einmal  gewonnene,  wenn 
auch  gefühlsmäßig  noch  so  starke  Einfühlung  in  die  malerische  Be- 
gabung Grünewalds  etwa  zur  unduldsamen  Ablehnung  jeder  bild- 
hauerischen Tätigkeit  des  Künstlers  zu  übersteigern. 

Damit  gelangen  wir  zum  Qualitätsvorwurf.  Die  ungleichmäßige 
Oabenverteilung  —  im  Sehen  und  Gestalten  —  ist  häufig;  häufiger 
jedenfalls  als  eine  äquivalente.  Aber  sie  ist  eine  Tatsache,  die  die 
Betätigung,  die  Gestaltungsnof  und  den  künstlerischen  Akt  nicht  hin- 
dern kann.  Allein  Goethes  malerisch-zeichnerische  und  dichterische 
Begabung  —  bei  völliger  Urteilslosigkeit  des  gewiß  urteilsreichen 
Künstlersubjektes  — ,  die  ungeheure  Kluft  zwischen  den  Emanationen 
auf  beiden  Gebieten  bei  völlig  gleichem  Willenstrieb  (nach  der  un- 
zulänglichen Seite  sogar  zeitweise  zweifellos  stärker!)  sollten  davon 
abhalten,  Qualitätsunterschiede  allein  —  etwa  bei  strittigen  Fragen  des 
V.  Stoß  oder  M.  Grunewald  —  als  zureichende  Gründe  für  die  Ab- 
lehnung der  Doppelbegabung  auszuspielen. 

Es  bleibt  der  äußerlichste  Widerstand:  die  bürgerliche  Sanktion. 
Nun  bestehen  zweifellos  im  mittelalterlichen  Deutschland  —  für  das 
die  Streitfälle  hauptsächlich  gelten  —  ängstliche  Zunftabgrenzungen, 
Verbote  der  Ausübung  der  doppelten  Tätigkeit  und  ähnliche  Bestim- 
mungen. Ebenso  häufig  aber  begegnen  wir  auch  Zunftvereinigungen, 
die  sogar  die  gleichen  künstlerischen  Anforderungen  bei  der  Auf- 
nahme forderten  (vgl.  z.  B.  Hamburg  i)  oder  Würzburg  '^). 

In  den  schroffen,  engbrüstigen  Fällen,  bei  denen  eine  Erlaubnis- 
einholung notwendig  war,  werden  sich  der  künstlerische  Wille  und 
die  Begabung  —  Urkraft  und  Trieb  —  dadurch  nicht  einmal  haben 
binden  lassen.  Der  legale  Ausweg  des  Eintrittes  in  die  gesonderten 
Zünfte  ist  in  der  Tat  auch  oft  genug  beschritten  —  aber  auch  glatt 
überschritten  worden. 


')  O.  Rüdigdr,  Die  ältesten  hamburgischen  Zunftrollen,  Hamburg  1874. 
-)  E.  Tönnies,  Leben  und  Werke  des  Tilmann  Riemenschneider,  Straßburg  1900, 
S.  9  ö. 


256  V.  CURT  HABICHT. 


Gehen  wir  an  die  Lösung  der  uns  hier  beschäftigenden  Fragen 
heran,  so  müssen  zunächst  einige  bereits  klargestellte  Begriffe  noch 
einmal  erläutert  werden.  Ich  stelle  die  Definition,  die  Wulff ')  auf 
Grund  psychologischer  Untersuchungen  vom  Typus  des  Malers  und 
Bildhauers  gibt,  voran.  Für  den  Bildhauer:  >Das  plastische  Sehen 
oder  Vorstellen  haftet  an  der  Gestaltqualität  der  Dinge  und  beruht 
auf  dem  psychophysischen  Tatbestande,  daß  in  der  künstlerischen 
Vorstellungsbildung  diejenigen  Gesichtssinnesempfindungen  die  Vor- 
herrschaft haben,  welche  uns  die  extensiven  Wahrnehmungen  ver- 
mitteln und  sich  am  engsten  mit  Tast-  und  Bewegungsempfindungen 
assoziieren. f  Er  erblickt  im  Bildhauer  den  visuell  motorischen  Typus. 
Der  Maler  rechnet  nach  ihm  zum  dynamischen  Typus.  Über  die 
malerische  Grundanlage  äußert  sich  Wulff  folgendermaßen:  »Das  male- 
rische Sehen  und  Gestalten  herrscht  da,  wo  die  intensiven  (qualitativen) 
Gesichtssinnesempfindungen  vorwiegend  die  Wahrnehmung  (oder  die 
reproduktive  Phantasietätigkeit)  vermitteln.«  So  wertvoll  diese  begriff- 
lichen Klarlegungen  sind,  so  wenig  können  sie  uns  bei  der  Entschei- 
dung über  die  uns  hier  beschäftigenden  Fragen  nützen,  weil  die  be- 
stimmte Einreihungsmöglichkeit  eines  Künstlers  (etwa  Verrocchios)  die 
Doppeltätigkeit  nicht  aus  der  Welt  schafft  und  eher  unerklärlich  als 
deutbar  erscheinen  lassen  muß. 

Wir  werden  deshalb  von  den  Tatsachen  selbst,  zunächst  von  den 
Gemeinsamkeiten  der  beiden  Künste  auszugehen  haben.  Die  erste 
Übereinstimmung  beruht  auf  der  künstlerischen  Intention,  auf  dem 
Grundwollen  der  Mitteilung,  der  Benutzung  künstlerischer  Formen  zur 
symbolischen  Sprache  von  Seele  zu  Seele ").  Beide  Ausdrucksarten 
wollen  gesehen  werden,  beide  beziehen  sich  zunächst  auf  unseren 
Gesichtssinn,  wenden  sich  an  das  gleiche  physische  Organ  zwecks 
Rezeption,  während  alle  Erscheinungen  und  Körper  im  realen  Räume 
diese  Absicht  an  sich  nicht  besitzen  (oder  nicht  zu  besitzen  brauchen). 
Die  Annäherung,  ja  die  Gemeinsamkeit  beruhen  also  auf  einer  Art  von 
Konkurrenz,  in  die  Bildhauerkunst  und  Malerei  stets  treten  werden. 
Die  weitere  Gemeinsamkeit  besteht  in  der  für  beide  Künste  überein- 
stimmenden Notwendigkeit,  Raumwerte  zu  schaffen,  einen  Raum,  den 
die  Bildhauerkunst  mit  dem  Werke  selbst  besitzt,  oder  doch  mit  Willen 
wesentlich,  erweitern  kann,  während  die  Malerei  ihn  für  ihre  Gestalten 
überhaupt  erst  schaffen  muß.  Trotz  einer  leichten  Übertreibung 
(durch  die  Problemstellung  veranlaßt)  kann  Troß^)  mit  einem  gewissen 


")  Vgl.  Wulff,  Grundlinien,  a.  a.  O.  S.  40  ff. 

-)  Vgl.  Paul  Häberlin,   Symbol  in  der  Psychologie  und  Symbol  in  der  Kunst. 
Bern  1916. 

^)  Vgl.  Ernst  Troß,  Das  Raumproblem  in  der  bildenden  Kunst.  München  1914,8.89. 


ÜBER  MALERBILDHAUER  UND  BILDHAUERMALER.  257 

Recht  sagen:  »Das  Prinzip  der  Gestaltung  einer  Raumeinheit  im  empi- 
rischen Raum  bleibt  in  der  Malerei  wie  in  der  Plastik  dasselbe,  nur 
zwingt  die  Verschiedenheit  des  Materials  den  Künstler  zu  verschiedenen 
Lösungen. 

Ebenso  scharf  wie  die  Übereinstimmungen  ergeben  sich  auch  die 
Verschiedenheiten.  Es  sind  die  Ziele  der  beiden  Künste,  die  auch  die 
nötige  Klarheit  über  die  verschiedenen  Wege  geben.  Aufgabe  der 
Bildhauerkunst  ist  die  Schöpfung  von  realen  Körpern,  Aufgabe  der 
Malerei  ist  die  Vortäuschung  von  Körpern  (neben  anderem,  das  uns 
hier  nicht  zu  beschäftigen  hat).  Die  Bildhauerkunst  stellt  ein  wirk- 
liches, körperhaftes  Gebilde  in  den  Raum  (ich  spreche  zur  Verdeut- 
lichung der  Unterschiede  und  Grenzen  in  erster  Linie  von  Freistatuen), 
die  Malerei  weckt  nur  die  Illusion  von  solchen  Gebilden,  wobei  die 
Anforderungen  (Erschwerungen  oder  Erleichterungen)  an  unsere  Vor- 
stellung gleichgültig  sind.  Die  eine  Kunst  ist  konkret,  körperlich,  der 
Wirklichkeit  eng  verschmolzen;  die  andere  abstrakt,  unkörperlich,  Ideen 
nah  verwandt.  Scheinbar  unvereinbare  Gegensätze.  Dualismen  wie 
Geist  und  Körper,  Diesseits  und  Jenseits,  Glück  und  Leid.  Typische 
Äußerungen  unserer  kontrapolischen  Gesamtstruktur.  Aber  auch  hier 
tun  sich  wieder  Verbindungstore  auf.  Körper  kann  nicht  reiner  Geist, 
Geist  nicht  reiner  Körper  sein  (wenigstens  für  den  Menschen  und  sein 
künstlerisches  Abbild).  Ein  unvermitteltes  Nebeneinanderstehen  ist 
unmöglich.  Wir  gelangen  damit  zum  ersten  Grenzpunkt  der  Annähe- 
rung. Bildhauerkunst  kann  nicht  reine  Körperkunst,  Malerei  nicht  reine 
Abstraktion  sein.  Die  Bildhauerei  bleibt  schon  als  Kunst  ideenhaft 
verfestigt,  die  Malerei  bedarf  zur  Sichtbarmachung  der  Körperwelt. 
Hier  sind  die  Grenzen  fließend. 

Der  Maler  ist  ein  Zusammenschauender,  der  Bildhauer  ein  ab- 
sondernd Schauender.  So  klein  der  Ausschnitt  aus  der  Wirklichkeit 
sein  mag,  den  der  Maler  gibt,  so  bleibt  er  eine  in  sich  gefügte,  un- 
lösliche Welt  für  sich.  Diese  Welt  trennt  sich  von  der  übrigen  ab, 
muß  sich  absondern,  fordert  Begrenzung,  sie  lehnt  die  Umwelt  ab. 
Vom  Gesichtspunkt  des  Raumproblems  aus  gelangt  Troß*)  zu  fol- 
gender Formulierung:  >Das  Bild  des  Malers  muß  dem  umgebenden 
Gesamtraum  gegenüber  als  Einheit  sich  behaupten,  der  positive  Raum 
für  unsere  Anschauung  deutlich  innerhalb  der  empirischen  Realität 
raumabgegrenzt  sein,  damit  das,  was  Rauminhalt  des  Gesichtsraums 
werden  soll,  aus  dem  Zusammenhange  der  Umgebung  herausgenommen 
ist  und  dadurch  einer  anschaulichen  wie  diskursiven  Verknüpfung  mit 
ihr  entgegengearbeitet  wird.«    Dagegen  der  Bildhauer.    So  geschlossen 


')  Vgl.  Troß,  a.  a.  O.  S.  85. 
Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  alltr.  Kunstwissenscliaft.   XIV.  17 


258  V.  CURT  HABICHT. 


der  Bildhauer  sein  Gebilde  auch  fessein  mag,  es  gehört  zum  Oei- 
schaffenen,  geht  in  es  über.  Es  tritt  in  die  Welt  der  Erscheinung, 
bedarf  der  Umwelt  nicht,  benötigt  keine  Grenzen.  Es  hat  sie  in  sich. 
Wieder  von  der  Raumvorstellung  aus  kommt  Troß  ^)  zu  folgendem 
Ergebnis:  »Während  die  Vorstellung  eines  Objektes  in  abstracto  (also 
im  euklidischen  Raum)  für  den  Maler  weder  Ausgangspunkt  noch 
Zweck  seiner  Darstellung  ist,  muß  der  Bildhauer  von  der  Vorstellung 
in  abstracto  ausgehen  und  diese  im  kubischen  Material  so  realisieren, 
daß  sie  als  Gegenstandserscheinung  des  positiven  Raumes  den  gesetz- 
lichen Zusammenhang  der  Sichtbarkeit  für  unsere  Raumvorstellung 
ausmacht.« 

Die  grundlegenden  Unterschiede  werden  für  unsere  Zwecke  aber 
noch  begrifflich  handhabbarer  bei  einer  Betrachtung  des  Werdens  der 
Kunstwerke  selber.  Der  körperschaffende  Künstler,  der  Bildhauer, 
stellt  seine  Gebilde  in  den  unbegrenzten  Raum.  Die  Parallelität  und 
Identität  mit  allem  in  der  Erscheinungswelt  Gewordenen  schaffen  in 
sich  begrenzte  Emanationen,  die  auf  die  äußere  Bindung  verzichten 
können.    Nicht  so  der  Maler. 

Die  Tatwerdung  des  Ideenhaften,  die  Perpetuierung  eines  visionär 
Geschauten,  des  an  sich  Unbegrenzten,  fordern  Einschluß  in  Grenzen. 
Troß'-)  sagt:  -Gegenüber  der  Plastik  befindet  sich  der  Maler  hierbei 
im  Vorteil,  da  es  in  der  Art  seiner  Darstellungsmittel  liegt,  den  Be- 
schauer notwendig  in  sein  persönliches  Raumzentrum  zu  zwingen, 
andernfalls  das  Bild  gar  nicht  oder  nur  unvollständig  gesehen  werden 
könnte.«  Von  hier  aus  ergeben  sich  auch  die  ersten  Kriterien  zur 
Bestimmung  eines  Autors.  Entweder  wird  sich  der  Maler  in  Bild- 
hauerarbeiten durch  seinen  geforderten  Begrenzungsdrang  (den  er  aber 
nicht  mit  bildhauerischen  Mitteln  erfüllen  kann)  oder  der  Bildhauer  in 
seinen  Malereien  durch  den  Verzicht  auf  räumlichen  Abschluß  (der 
deshalb  keine  Welt  für  sich  entstehen  läßt  und  zu  künstlerischen  In- 
konsequenzen führt)  von  vornherein  verraten. 

Abgesehen  von  weiteren  notwendigen  Kriterien  lassen  sich  aber 
mit  den  gefundenen  bereits  Proben  auf  die  Anwendungsfähigkeit 
machen.  Ich  wähle  als  Beispiele  die  Bildhauerarbeiten  des  Isenheimer 
Altares  und  die  Malereien  des  Grabower  Altares,  jeder  der  Grüne- 
waldbiographen beklagt  mit  besonderem  Nachdruck  das  Fehlen  des 
ursprünglichen  Altaraufbaus  und  der  rahmenden  Teile  für  die  Plastiken. 
Mit  vollstem  Rechte;  denn  diese  Arbeiten  schreien  geradezu  nach  einer 
künstlerischen  Begrenzung,  innerhalb  der  sie  überhaupt  erst  Sinn  und 


')  Vgl.  Troß,  a.  a.  O.  S.  87. 
=)  Vgl.  Troß,  a.  a.  O.  S.  85. 


^ 


ÜBER  MALERBILDHAUER  UND  BILDHAUERMALER.  259 

Bedeutung  erhalten.  Daß  hier  der  Künstler  den  Orenzraum  mit  den 
Plastiken  nicht  mitzuschaffen  verstanden  hat,  wie  es  der  reine  Bild- 
hauer tut,  kann  gar  nicht  übersehen  werden.  Das  Zusammenschauen 
der  Figuren  mit  dem  Raum,  anstatt  des  Körperbildens  unbekümmert 
um  einen  besonders  gestalteten  Raum,  bildet  den  Ausgangspunkt,  der 
für  die  Figuren  der  Heiligen  Augustin  und  Hieronymus ')  genau  so 
ausschlaggebend  ist  wie  für  die  gemalten  Statuen  der  Heiligen  Sebastian 
und  Antonius*').  Sie  sind  nicht  absolut  für  sich  gedacht  und  gestaltet, 
sondern  in  notwendiger  Verbindung  mit  einer  künstlerischen  Um- 
gebung (die  aber  mit  plastischen  Mitteln  nicht  geschaffen  werden  kann), 
sie  verwachsen  mit  einer  künstlerisch  gefühlten,  jedoch  nicht  gegebenen 
Umwelt.  Anders  verhält  es  sich  mit  dem  Heiligen  Antonius  und  den 
Büsten  Christi  und  der  zwölf  Apostel").  Diese  Gestalten  tragen  ihre 
Begrenzung  in  sich  (vgl.  Antonius  oder  besonders  auch  die  geschlossene 
Gestalt  Christi),  sind  durchaus  bildhauerisch  gesehen  und  danach  ge- 
arbeitet. Dagegen  erweisen  die  beiden  opfernden  Bauern^)  (Sammlung 
Böhler)  schon  von  dem  hier  beleuchteten  Gesichtspunkt  aus  klar  und 
deutlich  ihre  Zugehörigkeit  zu  den  malerisch  empfundenen  Figuren  der 
Heiligen  Hieronymus  und  Augustin. 

Eine  Abgrenzung  gegen  den  empirischen  Raum  gibt  es  auf  keiner 
der  Tafeln  des  Grabower  Altares.  Wie  die  vom  Bildhauer  *)  geschaffe- 
nen Figuren  stehen  besonders  die  Wiederholungen  Gottvaters'^)  im 
euklidischen  Raum.  Keine  Raumgrenze  schafft  hier  einen  Ausschnitt, 
Abstand  und  Ende.  Vielleicht  könnte  man  den  Erzählungen  der 
Schöpfungsgeschichte  dabei  eine  gewisse  Absicht,  nämlich  Verdeut- 
lichung der  Unendlichkeit,  zusprechen.  Die  anderen  Tafeln  zeigen 
aber  auf  das  klarste,  daß  ein  plastisches  Orundempfinden  des  Künstlers 
alle  Darstellungen  in  dieser  Eigenart  bestimmt  hat.  Nicht  eine  der 
Tafeln  gibt  einen  wirklichen  Raumausschnitt,  Abschnürungen  gegen 
den  empirischen  Raum,  Anfang  und  Ende  des  dargestellten  Raumes. 
Dieser  Künstler  hat  mit  dem  Orundsehen  des  Malers  bei  diesen  Tafeln 
nichts  gemein.  Gestalten  ragen  in  die  Szenen  (z.  B.  bethlehemitischer 
Kindermord ')),  werden  überschnitten  (z.  B.  Entdeckungen  des  Sünden- 


')  Vgl.  H.  A.  Schtnid,  Die  Gemälde  und  Zeichnungen  von  M.  Grünewald. 
Straßburg,  Tafel  27  b. 

-■)  Vgl.  H.  A.  Schniid,  a.  a.  O.  Tafel  14  und  15. 

')  Vgl.  H.  A.  Schmid,  a.  a.  O.  Tafel  27c  und  27d. 

')  Vgl.  H.  H.  Josten,  M.  Grünewald.    Bielefeld  und  Leipzig  1913,  S.  54  und  55. 

')  Daß  Meister  Bertram  hier  als  Bildhauer  in  Anspruch  genommen  wird,  be- 
darf einer  kurzen  Begründung.  Er  wird  in  den  archivalischen  Nachrichten  zwar 
stets  pictor  genannt,  ist  aber  dokumentarisch  auch  als  Bildhauer  tätig  gewesen. 

°)  Vgl.  A.  Lichtwark,  Meister  Bertram.    Hamburg  1905,  Abb.  S.  189,  191  ff, 

')  Vgl.  Lichtwark,  a.  a.  O.  Abb.  S.  233. 


260  V.  CURT  HABICHT. 


falles '))  und  stehen  ohne  jede  Rücksicht  zum  Räume.  Wo  es  die  Dar- 
stellung nur  irgend  zuläßt,  leben  diese  Figuren  für  sich,  sie  brauchen 
die  Umwelt  nicht,  sie  haben  vollen  Halt  im  körperlichen  Sein  (be- 
sonders deutlich  Gottvater  oder  Kain  oder  Joseph  auf  der  Flucht  nach 
Ägypten-)).  Man  kann  diese  Figuren  lostrennen,  ohne  den  Bildorganis- 
mus zu  zerstören.  Sie  sind  nicht  mit  dem  Bilde  verwachsen,  eben 
nicht  malerisch  mit  der  Umwelt  zusammengesehen.  Ein  durchaus 
plastisch  empfindender  Meister  ist  hier  deutlich  am  Werke  gewesen  ■). 
Ein  Maler-Bildhauer,  was  er  ja  auch  urkundlich  war. 

Erst  von  diesen  Orundgrenzen  und  ihren  Folgen  in  zwiefacher 
Betätigung  aus  lassen  sich  die  übrigen  Kriterien  gewinnen.  Neben 
der  Begrenzungsunbedürftigkeit  der  Gestalt  wird  der  malende  Bild- 
hauer in  der  körperhaften  Durchdringung  seiner  Figuren,  in  der  Pla- 
stizität sein  angeborenes  Talent  verraten.  Gewöhnlich  legt  man  hierauf 
allein  Gewicht.  Es  bleibt  aber  einmal  zu  beachten,  daß  das  raum- 
füllende Bilden  hier  wegfällt,  daß  eine  Identität  mit  dem  kubischen 
Schöpfungsakte  nicht  vorliegt  und  daß  sich  der  malende  Bildhauer 
vom  Augenblicke  der  Wahl  der  zweidimensionalen  Mittel  der  Unmög- 
lichkeit seines  gewohnten  Tuns  vollauf  bewußt  wird.  Er  würde  eben 
bilden  und  nicht  malen,  wenn  er  sich  nicht  freiwillig  dem  Zwange  des 
malerischen  Grundproblems  unterworfen  hätte.  Nun  ist  aber,  von 
einigen  wenigen  Stilströmungen  abgesehen,  das  körperhafte  Runden 
der  Gestalten,  die  Herausmodellierung  der  Figuren  selbst  ein  Postulat 
der  Malerei.  Der  malende  Bildhauer  trifft  also  hier  oft  auf  ein  Ver- 
wandtes. Selbst  die  Andersartigkeit  der  Mittel  wird  es  seiner  hierzu 
begünstigenden  Begabung  nicht  verwehren  können,  urtümlicher  und 
schneller  zum  Ziele  zu  gelangen.  Gewiß  lagen  ernste  Bemühungen 
in  der  Malerei  in  der  Zeit  um  1430  vor,  die  entschlossen  auf  glaub- 
hafte Plastizität  der  Gestalt  im  Bilde  ausgingen.  Die  rigorose  Ein- 
seitigkeit, die  Iieilige  Eindringlichkeit  und  die  unbeirrbare  Verfolgung 
des  einen  Zieles  in  den  Werken  des  Konrad  Witz  sind  aber  mehr  als 
dies,  mehr  als  kluges  und  begabtes  Aufnehmen  von  Dingen,  die  in 
der  Luft  lagen.  Hier  verrät  sich  unter  der  Gruppe  der  Francke,  Moser, 
Lochner  ein  Bildhauer  mit  unverkennbarer  Deutlichkeit.  In  der  Tat 
fehlt  es  uns  auch  nicht  an  Nachrichten,  die  die  Beobachtung  als 
richtig  erscheinen  lassen,  wenn  ihnen  auch  keine  zwingende  Beweis- 
kraft beizulegen  ist.    Ich   meine  die  Stelle  in  der  Reimerzählung,  die 


')  Vgl.  Lichtwark,  a.  a.  O.  Abb.  S.  207. 

'■')  Vgl.  Abb.  in  Lichtwark,  a.  a.  O. 

=)  Die  gewonnene  Einsicht  ist  übrigens  ein  Grund  mehr  —  unter  anderen  — 
für  die  Annahme  eines  Autors  (Meister  Bertrams)  als  Urhebers  der  Malereien  und 
Piastiken  des  Orabower  Altares. 


ÜBKR  MALKRBILDHAUER  UND  BILDHAUERMALER.  261 

man  jedenfalls  nicht  leicht  abtun  kann').  Es  ist  eine  logisch  nicht  ganz 
richtige  Anschauung,  wenn  die  Plastizität  der  Malerei  darin  gesehen 
wird,  daß  man  die  Gestalten  mit  den  Augen  abtasten,  daß  man  um 
sie  »herumgehen <  kann.  Dies  ist  erst  eine  Folge,  ein  Ergebnis,  die 
mit  der  Eigenart  des  bildhauerisch  gefühlten  Reproduzierens  in  Male- 
reien gegeben  sind,  sie  selbst  aber  nicht  erklären.  Die  Entstehung 
dieser  Tatsache  beruht  auf  dem  eingeborenen  Zwange,  die  zu  bildende 
Figur  nicht  von  einer  Einansicht  aus,  wie  es  der  Maler  tut,  sondern 
von  allen  Seiten,  oder  doch  wenigstens  von  mehreren  aus  zu  sehen 
und  dementsprechend  zu  gestalten.  Gewiß  kann  man  auch  bei  Figuren 
eines  reinen  Malers,  etwa  denen  der  Kreuzigung  des  Isenlieimer  Altares, 
mit  den  Augen  um  sie  herumgehen  ,  aber  die  Einstellung  auf  eine 
bestimmte  Ansicht  ist  doch  scharf  festgehalten  und  mehr:  diese  Stellung 
ist  mit  dem  Ganzen  organisch  verwachsen,  in  Eins  geschaut  und  dem- 
gemäß gebildet.  Ganz  anders  Witz.  Etwa  David  und  Abisai,  Sabothai 
und  Benaja^).  Die  Körper  sind  nicht  auf  eine  bestimmte  Blickeinstellung 
hin  geschaffen.  Soweit  es  die  Grenzen  der  Malerei,  die  nicht  darstell- 
bare Rückseite,  zulassen,  sind  alle  Ansichten  körperhaft  wie  bei  einer 
Statue  und  mit  gleichberechtigter  Betonung  dargeboten.  Und  da  die 
Einstellung  auf  die  Einansicht  fehlt,  geht  auch  der  malerische  Gesamt- 
zusammenhang der  Gestalten  mit  der  Umwelt  im  Bilde  verloren.  Sie 
leben  für  sich,  unbekümmert  um  die  sie  umschließende  Welt.  Es  ver- 
steht sich,  daß  solche  Ergebnisse  doch  nur  relativen  Wert  besitzen, 
daß  sie  aufschlußreich  erst  durch  Messen  an  den  zeitlichen  Gesamt- 
problemen werden  können.  Die  Evidenz  der  bildhauerischen  Anlage 
von  Konrad  Witz  wird  ganz  überzeugend  etwa  erst  bei  einem  Ver- 
gleiche seiner  Werke  mit  dem  Tiefenbronner  Altare. 

Der  gleiche  Fall  liegt  bei  den  mit  Hans  Multscher  in  Verbindung 
gebrachten  Malereien  und  Plastiken  vor.  Zur  Verdeutlichung  der  Ab- 
sichten dieser  Abhandlung  sei  hierauf  noch  näher  eingegangen.  Die 
Wurzacher  Tafeln'')  zeigen  sämtlich  eine  auffallende  Sorglosigkeit  gegen- 
über der  Begrenzung  des  Bildes  gegen  den  empirischen  Raum.  Ja, 
im  Gegensatze  zu  einer  geschlossenen  Projizierung  eines  Wirklich- 
keitsausschnittes verfließen  sie,  gehen  in  den  empirischen  Raum  über. 
Fast  überall  finden  sich  an  den  Seiten  Figuren,  die  in  eine  nicht  mehr 
sichtbare  Raumschicht  hineinragen.  Nur  bei  den  Innenräumen  wird 
das  Blickfeld  etwas  mehr  abgeschlossen,  aber  auch  hier  nicht  absolut. 
Bei   den  Sterzinger  Tafeln  ')  kommt  das  malerische  Grundempfinden 

')  Vgl.  Mela  Escliericli,  Konrad  Witz.     Straßburg  1916,  S.  30  ff. 

-)  Vgl.  Abb.  in  E.  Heidrich,  Die  altdeutsche  Malerei.    Jena  1909,  Abb.  20  u.  21. 

')  Vgl.  Heidricli,  a.  a.  O.  Abb.  30—33. 

')  Vgl.  Heidrich,  a.a.O.  Abb.  39-41. 


262  V.  CURT  HABICHT. 


stärker  zum  Ausdruck,  ohne  aber  die  Unbekümmertheit  um  den  empi- 
rischen Raum  ganz  zu  verleugnen.  Man  hat  den  Eindruck,  daß  längere 
Erfahrung  eine  Änderung  hat  reifen  lassen,  wobei  aber  die  Grundanlage 
nicht  verwischt  werden  konnte.  Die  Beobachtung  entspricht  der  zeit- 
lichen Differenz  von  nahezu  20  Jahren,  in  denen  sich  das  malerische 
Sehen  überhaupt,  die  Schärfung  der  Beobachtung  für  die  Wirklich- 
keitswiedergabe und  offenbar  auch  die  Erfahrungen  des  Künstlers  ge- 
wandelt haben.  Bei  näherem  Zusehen  verblaf^t  das  Neue  der  Bild- 
haltung doch  sehr  schnell.  Es  sind  bestechende,  dem  Drang  der  Ent- 
wicklung folgende,  übernommene  und  sogar  aufdringlich  gegebene 
Errungenschaften.  Ist  wirklich  der  Raum  der  Verkündigung  des  Ster- 
zinger  Altares  ^),  dieser  an  fremde  Vorbilder  kühlberechnend  angeglichene, 
das  Wesentliche?  Ist  das  von  Rogiers  Pathos  gelenkte  Sentiment  die 
Hauptsache?  Kann  man  im  Grunde  von  einer  gesamtmalerischen  Auf- 
fassung sprechen?  Ich  glaube,  bei  allen  diesen  Fragen  kann  es  bei 
ernstlichem  Eingehen  auf  die  Tatsachen  nur  ein  Nein  als  Antwort 
geben.  Es  ist  der  Drang  nach  schöpferischem  Bilden  der  Gestalt, 
der  hier  nur  zu  deutlich  spricht.  Raum  steigt  von  den  breitgelagerten 
Gewandmassen  nach  oben  für  die  Gestalten  (Mariae  und  Gabriels) 
auf.  Von  einer  Einansicht,  von  malerisch  gesehener  Verknüpfung  mit 
der  Umwelt  kann  gar  keine  Rede  sein.  Am  zwingendsten  spricht  wohl 
die  Darstellung  des  Gebets  am  Ölberg'*).  Gewiß,  die  Landschaft  ist 
anders  geworden  als  bei  den  Wurzacher  Tafeln.  Sie  erstreckt  sich 
nahezu  an  den  oberen  Bildrand,  hat  Perspektive,  Tiefe.  Aber  wie  gleich- 
gültig ist  sie  im  Grunde.  Sie  ist  ein  Tribut  an  das  Wollen  der  Zeit. 
Nicht  mehr.  Warm  wird  der  Meister  erst  bei  den  Figuren,  d.  h.  bei 
den  bildhauerisch  gefühlten  Figuren.  Hier  erkennen  wir  eine  Plastizität 
des  Gestaltens,  einen  Drang  nach  dem  kubischen  Raumfüllenden  wie 
bei  den  Wurzacher  Tafeln.  Dort  ist  die  Einansicht  allerdings  schärfer 
verlassen,  die  Gesichter  erscheinen  wie  holzgeschnitzt.  Die  Schärfe 
der  Schatten-  und  Lichtverteilung  von  Bildhauerarbeiten  schwebt  dem 
Künstler  als  notwendiges  Wirkungs-  und  Ausdrucksmittel  vor.  Er  sucht 
sie  mit  einer  rigorosen  Härte  durch  malerische  Mittel  zu  erreichen, 
genauer  gesagt,  er  arbeitet  hier  wie  dort  intuitiv  auf  gleiche  Weise. 
Das  bildhauerische  Grundgefühl  und  Reproduzieren  können  bei  den 
Wurzacher  Tafeln  unmöglich  übersehen  werden.  Ich  gebe  zu,  daß 
es,  wenn  man  von  der  üblichen  stilkritischen  Methode  kommt,  schwer 
ist,  den  gleichen  Meister  für  die  Sterzinger  Tafeln  anzuerkennen.  Aber 
daß  hier  gleichfalls  ein  Bildhauer,  und  dann  doch  wohl  der  gewandelte 


')  Vgl.  Heidrich,  a.  a.  O.  Abb.  40. 
2)  Vgl.  Heidrich,  a.  a.  O.  Abb.  39. 


ÜBER  MALERBILDHAUER  UND  BILDHAUERMALER.  263 


und  an  malerischen  Erfahrungen  bereicherte,  von  der  niederländischen 
Oroßmalerei  stari<  betroffene,  Hans  Muitscher  am  Werke  war,  habe 
ich  wohl  deutlich  gemacht. 

Der  bildhauernde  Maler  wird  ebensowenig  von  seiner  Grund- 
anlage abweichen  können.  Außer  der  Begrenzungsbedürftigkeit  seiner 
Gestalten  wird  er,  Gebilde  schaffend,  vom  Zwange  seines  malerischen 
Sehens  bestimmt,  einen  Schauungsakt  auf  die  Figuren  projizieren.  Sie 
werden  mehr  als  andere  Plastiken  die  Einstellung  auf  eine  bestimmte 
Ansicht  verlangen,  jedenfalls  in  weit  stärkerem  Grade  als  Bildhauer- 
werke einseitig  tätiger  und  veranlagter  Plastiker.  Sie  wachsen  nicht, 
sie  sind  gesehen.  Sie  wollen  von  einer  bestimmten  Stelle  aus  gesehen 
sein.  Dies  Drängen  auf  eine  Hauptansicht  der  Bildwerke  bildet  zwar 
zweifellos  auch  ein  Problem  der  Bildhauerkunst  überhaupt  und  wird 
durch  Zweckursachen:  Aufstellung  an  Portalen,  in  Altären  usw.  mit- 
bestimmt. Die  einseitige  Vorkehrung  dieses  Problems,  die  Art  seiner 
Inangriffnahme  und  die  Durchführung  werden  aber  den  malerisch 
sehenden  und  veranlagten  Autor  in  bestimmten  Bildhauerarbeiten  un* 
schwer  feststellen  lassen.  Die  Seitenfiguren  des  Isenheimer  Alfares, 
die  Heiligen  Antonius,  Hieronymus  und  die  Bauern  verraten  den  Maler 
in  dieser  Hinsicht  mit  aller  Deutlichkeit.  Sie  sind  scharf  auf  eine  Ein- 
ansicht  eingestellt  (alle  frontalen  Photographien  genügen  deshalb  nicht), 
der  Standpunkt  ist  für  den  Beschauer  ganz  genau  vorgeschrieben.  Der 
Zwang,  unter  dem  der  Künstler  gearbeitet  hat,  wirkt  nach,  muß  be- 
achtet werden,  wenn  man  seine  Absicht  verstehen,  seinem  künstlerischen 
Willen  gerecht  werden  will.  Als  zweites  Beispiel  seien  die  Plastiken 
des  von  mir  in  die  Literatur  eingeführten  Meisters  Wolter  heran- 
gezogen'). Er  wird  in  den  Urkunden  stets  Maler  genannt  und  verrät 
sein  malerisches  Empfinden  und  die  dadurch  gebundene  Art  seines 
Reproduzierens  auch  deutlich  genug.  Die  Tatsache  soll  hier  aliein 
bezüglich  des  Einstellungszwanges  der  Plastik  auf  die  Einansicht  be- 
leuchtet werden.  Zunächst:  für  den  Augeneindruck,  für  den  die  Statuen 
allein  geschaffen  sind,  leben  sie  nicht  unbedingt.  Sie  zerflattern  in 
den  umgebenden  Raum,  suchen  dort  Halt  und  Resonanz,  ohne  ihn 
finden  zu  können.  Die  ehemalige  Bestimmung  zur  Aufstellung  in  einem 
Altare  hat  diesem  Tasten  eine  gewisse  Beruhigung  gegeben,  sie  be- 
dingt aber  eigentlich  eine  reine  Frontalansicht,  für  die  die  Gestalten 
wieder  nicht  geschaffen  sind.  Besonders  bei  dem  Heiligen  Martin  -) 
hat  man  bei  reiner  Frontalansicht  nicht  einmal  die  Möglichkeit,  die  Be- 
deutung der  Figur,  viel  weniger  ihre  formalen  Absichten  zu  erkennen. 

')  Habicht,  Die  mittelalterliche  Plastik  Hildesheinis.  Straßburg  1917,  Tafel  XXXVI 
bis  XXXIX. 

•-)  Vgl.  Abb.  72  in  Habicht,  a.  a.  O. 


264  V.  CURT  HABICHT. 


Erst  von  einem  Standpunkt  ganz  rechts  zur  Seite  kann  man  die  Oe- 
bärde  zu  dem  Bettler  verstehen.  Alle  Formwerte  sind  auf  diese  Ein- 
ansicht  von  der  Seite  her  ganz  einseitig  eingestellt.  Erst  hier  und  hier 
allein  baut  sich  die  Gestalt  bildhauerisch  auf. 

Aufs  engste  verbunden  mit  diesen  Bedingtheiten  des  bildhauernden 
Malers  ist  seine  Behandlung  von  Licht  und  Schatten.  Der  Bildhauer 
formt  Kreaturen,  Gottvater  ähnlich.  Der  Maler  sieht  sich  verwiesen 
auf  ein  Täuschungsmittel.  Nur  durch  die  Verteilung  der  Licht-  und 
Dunkelwerte  ist  es  ihm  möglich,  eine  Illusion  von  Plastizität  zu  er- 
reichen. Diese  grundlegende  Ausdrucksgebundenheit  wird  er  als  Bild- 
hauer kaum  los  werden  können.  Mit  der  Einstellung  auf  eine  be- 
stimmte Ansicht  und  dem  Zwang  der  einseitigen  Auffassungsnotwen- 
digkeit seiner  Gestalten  wird  er  unumgänglich  eine  bestimmte  Lichl- 
und  Dunkelverteilung  verbinden.  Er  rechnet  mit  dem  Lichteinfall  von 
einer  klar  vorgeschriebenen  Seite.  Die  Figuren  des  Isenheimer  Altares 
zeigen  diese  Eigentümlichkeit,  die  aufs  engste  mit  der  Einstellung  auf 
die  Einansicht  zusammenhängt,  ebenso  klar  wie  die  Figuren  Meister 
Wolters. 

Mit  ziemlicher  Sicherheit  wird  sich  also  wenigstens  feststellen 
lassen,  ob  Malereien  von  einem  Bildhauer  oder  Plastiken  von  einem 
Maler  herrühren.  Dies  Ergebnis  gewinnt  dann  meist  sicheren  Boden 
durch  die  mehr  oder  minder  stark  sprechenden  dokumentarischen 
Zeugnisse.  Zur  Beantwortung  der  Frage,  ob  nun  bestimmte  Arbeiten, 
also  etwa  Malereien,  von  einem  durch  bildhauerische  Werke  greifbaren 
Künstler  angefertigt  worden  sind,  oder  umgekehrt,  stehen  uns  also 
Kriterien  zur  Verfügung.  Jedenfalls  sind  wir  nicht  so  hilflos,  wie  es 
zunächst  scheinen  könnte. 

Von  Bedeutung  zur  Feststellung  der  Doppeltätigkeit  erweist  sich 
ferner  die  Zuweisung  zu  einer  der  beiden  kontrapolischen  künst- 
lerischen Möglichkeiten,  zur  Ausdrucks-  und  Formkunst.  Die  Tätigkeit 
des  Künstlers  auf  einem  Gebiete,  sei  es  Malerei  oder  Plastik,  steht  ja  in 
den  uns  beschäftigenden,  strittigen  Fällen  fest.  Es  kann  kaum  Mühe 
machen,  mit  Eindeutigkeit  zu  bestimmen,  welcher  Kategorie,  der  natura- 
listischen oder  idealistischen,  wie  Dvorak  i)  sagt,  der  Künstler  zuzu- 
zählen sein  wird.  Nehmen  wir  Grünewald.  Unbedingter  Ausdrucks- 
künstler! Es  wird  sich  also  zur  Klärung  der  jeweiligen  Frage  als  not- 
wendig erweisen,  in  den  zweifelhaften  Bildhauerarbeiten  das  Vorwiegen 
dieser  Anlage  zu  finden  oder  nicht.  Man  sieht  aber  leicht,  daß  diesen 
Kriterien    nur   eine  bedingte  Beweiskraft,    nämlich   eine  negative,  zu- 


')  Vgl.  Max  Dvorak,  Idealismus  und  Naturalismus   in   der  gotischen  Si<ulptur 
und  Malerei,  München  1918. 


ÜBER  MALERBILDHAUER  UND  BILDHAUERMALER.  265 


kommen  kann.  Der  positive  Wert  wird  geschmälert  durch  die  Tat- 
sache der  allgemeinen,  nicht  singulären,  Erscheinung  dieser  Ausdrucks- 
arten; um  konkret  zu  sprechen:  Der  Bildhauer  des  Isenheimer  Altares 
kann  ein  zweiter  Ausdruckskünstler  neben  Grünewald  sein,  weil  das 
Vorherrschen  dieser  künstlerischen  Grundrichtung  wohl  eine  Eigen- 
schaft Grünewalds,  aber  eine  ihm  nicht  allein  gehörige,  sondern  eine 
spontane,  willkürlich  auftretende  ist.  Zur  Klärung  unserer  Frage  wäre 
nur  ein  negatives  Resultat  zu  gewinnen,  falls  die  Plastiken  ausge- 
sprochen naturalistische  (den  Begriff  in  dem  eindeutigen,  von  Dvoi'äk 
für  das  Mittelalter  festgelegten  Sinne  genommen)  wären.  Das  sind  sie 
aber  nicht.  Die  Hypothese  der  Anfertigung  durch  zwei  verschiedene 
Künstler  verliert  also  durch  diese  Feststellung  immerhin  eine  Stütze, 
während  sie  durch  die  Anwendung  der  Grundkriferien  (siehe  oben) 
zu  Fall  gebracht  werden  kann. 

Ähnlich  verhält  es  sich  etwa  bei  den  Arbeiten  des  Grabower 
Altares.  Trotz  aller  Transzendenz  und  aller  Ausdruckskunst  ruhen  die 
Werke  hier  wie  dort,  in  Malerei  und  Plastik,  auf  der  charakteristischen, 
subjektiven  Naturalistik.  Die  Gleichstrebigkeit  ist  auf  beiden  Seiten 
vollkommen,  aber  wieder  eingebettet  in  die  allgemeinen  Ziele  der  Zeit. 
Ein  Beweis  für  die  Ausführung  durch  eine  Persönlichkeit  ist  von  hier 
aus  wieder  nicht  zu  erbringen.  Die  Parallelität  könnte  auch  in  zwei 
Individuen  durch  den  Sfilwillen  und  das  gemeinsame  Zeitziel  verknüpft 
sein.  Sie  könnte.  Andere  Gründe,  beibringbare  müssen  dazu  kommen, 
um  die  Identität  behaupten  zu  können. 

In  weit  größerem  Abstände  kommen  dann  die  auf  einem  Kunst- 
gebiete zu  Recht  bestehenden  Stilkriterien;  die  beliebten  Handhaben 
nach  der  Morelli-Berensonschen  Methode.  Ihre  Beweiskraft  liegt  gerade 
in  ihrer  Unabhängigkeit  —  im  ganzen  und  großen  —  von  dem  künst- 
lerischen Gesamtwillen,  von  dem  Wesentlichen  der  künstlerischen  Ab- 
sichten. Gerade  die  unnachahmbaren  und  zu  Nachahmungen  nicht 
reizenden  Marotten  liefern  hier  die  untrüglichsten  und  besten  Hand- 
haben. Es  sind  im  Grunde  materialistische  Dinge,  die  über  den  Kern 
des  Kunstwerkes  nichts,  über  den  Urheber  oft  alles  aussagen.  Die 
großen  Ohren  der  Franckeschen  Gestalten,  die  watteartigen  Perücken 
der  Haardarstellungen  Bertramscher  Figuren  rechnen  hierher.  Es  sind 
modi  pingendi  in  Kleinigkeiten,  nachlässige  Erleichterungen  in  Neben- 
sächlichem, kleine  Schwächen  großer  Menschen,  Konzessionen  im 
Kampf  mit  der  Materie,  Abbreviaturen  bei  der  Realisierung  der  künst- 
lerischen Absichten.  Es  versteht  sich,  daß  diese  Erscheinungen  durch 
die  Technik  bestimmt  werden,  und  es  ist  deshalb  nicht  von  vornherein 
zu  erwarten,  daß  sie  sich  bei  der  Handhabung  verschiedener  Techniken 
wiederholen.    Das  Sichabfinden  mit  dem  Stofflichen,  die  Mache,  können 


266  y.  ClIRT  HABICHT. 


hier  und  dort  zu  ganz  verschiedenen  Schwächen  führen.  Wir  besitzen 
alle,  auch  die  Nichtlcünstler,  bei  der  mechanischen,  nun  einmal  not- 
wendigen Realisierung  von  geistigen  Absichten,  in  der  Emanation  des 
Geistigen,  gewisse  Tricks  zur  Bewältigung  bestimmter  Widerstände. 
Sie  können  etwa  in  der  Rede  oder  Schrift  ähnliche  oder  gleiche  sein, 
brauchen  es  aber  nicht.  Genau  so  im  künstlerischen  Vortrage.  Zeigen 
Kunstwerke  verschiedener  Gebiete  trotzdem  übereinstimmende  Sonder- 
heiten in  diesen  Abkürzungen,  Marotten,  so  darf  der  Nachweis  als 
Beweis  für  die  Identität  des  Künstlers  angesehen  werden.  Nur  darf 
man  sie  nicht  von  vornherein  als  die  ausschlaggebenden  Kriterien 
verlangen  oder  erwarten.  Sie  können  auch  trotz  der  Identität  des 
Urhebers  fehlen.  Wiederholen  müssen  sie  sich  nur  in  Werken  des 
gleichen  Kunstgebietes  (Malerei  oder  Plastik).  Aber  diese  Fragen  be- 
schäftigen uns  hier  nicht. 

Mit  Bestimmtheit  wird  sich  hiernach  feststellen  lassen,  ob  Malereien 
bildhauerische  Begabung  oder  Bildhauerarbeiten  malerische  Veranlagung 
verraten.  Mit  der  Möglichkeit  dieser  allgemeinen  Feststellung  ist  schon 
viel  gewonnen.  Sie  wird  vorhandenen  Nachrichten  Stütze  und  Halt 
geben,  Nachprüfungsmöglichkeit  und  Bestätigung  in  bestimmten  Fällen 
schaffen  können. 

Die  obigen  Ausführungen  sollen  Hilfsmittel  zur  Entscheidung  in 
praktischen  Fällen  sein.  Hilfsmittel  nur,  denn  alle  Geisteswissen- 
schaften, auch  die  Kunstgeschichte,  müssen  mit  Überraschungen  rech- 
nen. Gottlob,  denn  der  menschliche  Geist  ist  keine  Maschine,  und  die 
Grenzenlosigkeit  seiner  Betätigung  ist  das  einzige,  was  uns  noch  Wun- 
der erleben  lassen  kann.  Hilfsmittel  nur,  denn  vollkommene  Sicherheit 
geben  einzig  und  allein  eindeutige  und  sichere  dokumentarische  Nach- 
richten. Ihr  Nachweis  muß  —  trotz  aller  zu  erwartenden  Enttäu- 
schungen bei  oft  vergeblichem  Suchen  —  stets  Ziel  und  Antrieb  bleiben, 
wenn  sich  aus  dem  unbegrenzten  Reich  des  Möglichen  die  nüchtern 
greifbare  Tatsächlichkeit  erheben  soll.  Aber  auch  dann  will  das  Factum 
weniger  gelesen  als  vielmehr  verstanden  sein.  Auch  hierzu  wollen 
die  obigen  Ausführungen  einen  Beitrag  liefern. 


X. 

über  den  Tonschatten'). 

Von 
Josef  G.  Daninger. 

Die  folgende  Untersuchung  gilt  einem  Erlebnis  auf  dem  Gebiete 
des  Gehörsinnes,  das  in  die  Gruppe  der  Nachempfindungen  ge- 
hört, und  zwar  soll  dieses  Erlebnis  hier  im  Zusammenhange  mit  dem 
lebendigen  Kunstwerk  behandelt  werden.  Das  bekannteste  Schul- 
beispiel für  das  Erleben  einer  Nachempfindung  auf  dem  Gebiete  des 
Gesichtssinnes  liefert  die  im  dunklen  Räume  im  Kreise  geschwungene 
glühende  Kohle.  Wir  nehmen  nicht  die  einzelnen  Lagen  der  Kohle 
wahr,  sondern  sehen  einen  leuchtenden  Kreis.  Die  Erklärung  für 
dieses  Erlebnis  gibt  die  Psychologie  damit,  daß  mit  dem  Aufhören 
des  physischen  Reizes  nicht  auch  sofort  die  Empfindung  aufhört, 
sondern  daß  vielmehr  der  Lichteindruck,  den  wir  von  der  glühenden 
Kohle  an  der  ersten  Stelle  empfingen,  noch  anhält,  wenn  die  Kohle 
bereits  eine  Nachbarlage  eingenommen  hat.  Auf  dem  Gebiete  des 
Gehörsinnes  brauchen  wir  nur  hinzuweisen  auf  die  Erscheinung  des 
Echo.  Die  echogebende  Wand  muß  etwa  18V'  m  vom  Orte  der 
Schallerregung  entfernt  sein,  damit  die  reflektierte  Silbe  von  der  gegen 
die  Wand  gesprochenen  getrennt  wahrgenommen  werden  kann.  Ein 
anderes  zu  den  folgenden  Darlegungen  in  engerer  Beziehung  stehen- 
des Beispiel:  Wenn  wir  längere  Zeit  hindurch  das  Gerassel  in  der 
Werkstätte  einer  Fabrik  über  uns  haben  ergehen  lassen  müssen  und 
hierauf  ins  Freie  traten,  so  sind  wir  für  einige  Augenblicke  taub  für 
kleine  Geräusche. 

Die  Eigentümlichkeiten  der  Erscheinungen  auf  dem  Gebiete  des 
Sinnes,  durch  den  eine  Kunst  wirkt,  stellen  dieser  besondere  Auf- 
gaben. Zeigen  sie  sich  zunächst  vielleicht  als  Hemmungen  einer  un- 
gebundenen Entfaltung,  so  können  sie  anderseits  Gelegenheit  geben, 
besondere  Aufgaben  zu  lösen.  Wir  wollen  die  Bedeutung  der  Nach- 
empfindung in  der  Tonkunst  näher  beleuchten,  und  zwar  soll  unsere 
Untersuchung  dem  sogenannten  Nachhall  oder    Tonschatten<  gelten, 


')  Vortrag,  gehalten  in  der  deutschen  Gesellschaft  für  Altertumskunde  in  Prag. 


268  JOSEF  G.  DANINGER. 


einer  Erscheinung,  in  welcher  die  Nachempfindung  zunächst  als 
Hemmung  auftritt. 

J.  C.  Lobe  gibt  im  2.  Band  seines  Lehrbuches  der  musikalischen 
Komposition  (Lehre  von  der  Instrumentation)  S.  80 1)  in  dem  Kapitel 
über  den  Kontrast  ein  Beispiel  aus  Beethovens  Egmontouvertüre: 
Allegrosatz  Takt  Q2— 9Q.  Die  hier  angezogene  Stelle  beginnt  mit  dem 
Takte,  in  welchem  die  Tonart  As-dur,  die  Paralleltonart  zur  Haupt- 
tonart f-moll,  erreicht  ist.  Es  ertönt  das  bekannte  schöne  Thema  in 
Verteilung  zwischen  Klarinette,  Flöte  und  Hoboe,  während  die  Streicher 
in  tiefer  Lage  die  Harmonie  in  Achteln  ruhig  hämmern  über  dem 
Pizzikato  der  Streicherbässe  und  dem  liegenden  Fagottbaß.  Aber  erst 
mit  dem  dritten  Viertel  des  zweiten  Taktes  setzt  die  zarte  Melodie 
ein.  Lobe,  welcher  die  Stelle  zunächst  als  Beispiel  für  den  Instru- 
mentalkontrast anführt,  sagt:  Diese  Gestaltungsweise  hat  aber  noch 
einen  zweiten  Grund.  Es  geht  nämlich  unmittelbar  eine  kräftige  Stelle 
des  ganzen  Orchesters  voraus,  die  noch  mit  einem  Viertel  in  die 
gegenwärtige  Periode  hereinschlägt  und  dadurch  einen  Nachhall 
und  Tonschatten  über  den  ersten  Takt  wirft,  aus  dem  das  Akkom- 
pagment  sich  erst  zur  vollen  Klarheit  herauszuwinden  hat.  Dies  ge- 
schieht in  den  beiden  ersten  Takten  vollständig  und  nun  werden  die 
zarten  Töne  der  Blasinstrumente  ungetrübt  gehört. <  Der  Begriff  des 
Tonschattens  ist  hiernach  klar.  Die  zarten  Motive  der  Holzbläser  setzen 
nicht  sofort  ein,  damit  sich  das  Ohr  vom  Orchestertutti  erholen  kann. 

Der  Fluß  des  Tonsatzes  darf  aber  nicht  unterbrochen  werden, 
denn  ein  Stocken  widerspräche  ganz  und  gar  dem  Charakter  dieses 
dahinstürmenden  Allegrosatzes.  Die  Streicher  erfüllen  daher  die  Auf- 
gabe, den  Fluß  des  Satzes  zu  erhalten,  indem  sie  die  Harmonie, 
welche  bereits  erklungen  ist,  ruhig  hämmernd  fortsetzen-).  Das 
Verfahren  des  Tondichters  kann  aber  an  derartigen  Stellen  —  die 
weiteren  Beispiele  werden  dies  deutlicher  hervortreten  lassen  —  noch 
in  anderer  Hinsicht  Bedeutung  für  den  ästhetischen  Genuß  erhalten, 
nämlich  durch  die  erzeugte  Spannung,  mit  welcher  wir  die  melo- 
dische Erscheinung  erwarten. 

')  J.  C.  Lobe,  Lehrbuch  der  musikalischen  Komposition,  2.  Bd.,  Die  Lehre  von 
der  Instrumentation,  3.  Auflage,  Leipzig  1878.  —  Eugen  Thomas  hebt  in  seinem 
Buche:  »Die  Instrumentation  der  Meistersinger  von  Nürnberg«  hervor,  daß  Lobes 
Buch  im  Gegensatz  zu  den  meisten  Lehrbüchern  der  Instrumentation  auseinander- 
setzt, worin  das  Oute  oder  Schlechte  einer  zitierten  Partiturstelle  liegt,  wodurch 
die  Wirkung  der  Stelle  zustande  kommt. 

*)  Es  braucht  wohl  nicht  erst  gesagt  zu  werden,  daß  der  Verfasser  dieser 
Studie  über  die  Wirkungen  in  den  angeführten  Beispielen  spricht  und  diese  zu  er- 
klären sucht,  dagegen  die  Frage  ganz  unerörtert  läßt,  ob  der  Tondichter  etwa  in 
der  angedeuteten  Richtung  planmäßig  vorgegangen  ist. 


I 


ÜHER  DEN  TONSCHATTEN.  26«) 

Der  Zustand  der  Spannung  ist  gekennzeichnet  durch  das  Ernst- 
begehren nach  der  Kenntnis  der  weiteren  Entwicklung  eines  Ge- 
schehens ').  Hieraus  ergibt  sich,  daß  solciie  Spannung  nur  bei  Zeit- 
künsten in  Frage  kommen  kann.  Gebräuchlich  ist  es  in  der  Dichtkunst, 
von  Spannung  zu  reden.  Worauf  soll  sich  in  einem  musikalischen 
Kunstwerk  die  Spannung  beziehen?  Was  soll  hier  Gegenstand  des 
vorhin  genannten  Ernstbegehrens  sein?  Spannung  setzt  ein  nicht  ab- 
geschlossenes Geschehen  voraus,  ein  Geschehen  an  einer  solchen 
Stelle  angelangt,  daß  wir  noch  Bedeutsames  erwarten. 

Die  Spannung  beim  Anhören  eines  Instrumentalstückes  bedingen 
daher  alle  jene  Momente,  aus  welchen  wir  schließen,  daß  das  Ton- 
sfück  noch  nicht  zu  Ende  sein  kann.  Hierher  gehört  z.  B.  die  Modu- 
lation. Richard  Wagner  rät  in  Über  die  Anwendung  der  Musik 
auf  das  Drama  ,  eine  Tonart  nicht  zu  verlassen,  solange  als,  was 
(sie!)  wir  zu  sagen  haben,  in  dieser  noch  zu  sagen  ist  *).  Aus  diesem 
Satze  folgt:  Wenn  wir  nach  einer  neuen  Tonart  modulieren,  so  muß 
etwas  Neues,  Bedeutsames  eintreten.  Dieses  Neue  erwarten  wir,  da- 
durch entsteht  die  Spannung. 

Ein  solcher  Fall  liegt  in  dem  Beispiele  aus  der  Egmontouvertüre 
vor.  Es  wurde  eben  18  Takte  hindurch  die  Paralleltonart  von  f-moll, 
die  Tonart  As-dur,  festgelegt,  wir  erwarten  daher  mit  Recht,  daß  der 
Tondichter  in  dieser  nunmehr  befestigten  Tonart  auch  etwas  bietet. 
Das  Mittel,  die  Wirkung  des  Tonschattens  aufzuheben,  ergibt  sich 
zugleich  als  Mittel,  die  durch  das  Modulieren  nach  As-dur  eingetretene 
Spannung  zu  erhöhen. 

Ein  anderes  Beispiel  für  das  Auftreten  des  Tonschattens  und  für 
die  Art,  wie  diesem  der  Tondichter  begegnen  kann,  finden  wir  in 
Brückners  IX.  Symphonie  im  1.  Satz,  5  Takte  nach  dem  Buchstaben  D. 
Der  13  Takte  lange  Satz  —  Tempo  1  (sehr  breit)  —  schließt  mit  Be- 
ginn des  13.  Taktes  mit  einer  Dominant-Tonika-Kadenz  in  D-dur.  In 
den  13  Takten  entlädt  das  Orchester  vollen  Glanz.  Bevor  nun  das 
stufenweise  absteigende  Pizzikato  der  Streicher  (p)  mit  den  Zwischen- 
rufen der  Holzbläser  (p)  einsetzt,  wirbelt  die  Pauke  -'Solo<  (wie  es 
auch  in  der  Partitur  heißt)  pp  auf  d  weiter.  Zur  Pauke  gesellt  sich 
mit  dem  Eintritt  des  vorhin  genannten  Streicherpizzikatos  das  Tremolo 
der  Bratschen  ebenfalls  auf  d.  Der  Paukenwirbel  hat  an  dieser  Stelle 
dieselbe  Aufgabe  wie  im  Beispiele  der  Egmontouvertüre  die  hämmern- 
den Achtel  der  Streicher.  Auch  hier  tritt  Spannung  ein,  aber  nicht 
wie  oben  durch  die  Feststellung  einer  neuen  Tonika,   es   wird   hier 

')  Vgl.  Witasek,  Ästhetik,  Leipzig  1904. 

')  Richard  Wagner,  Gesammelte  Schriften  und  Dichtungen,  3.  Auflage,  Leipzig 
1898,  X.  Bd.,  S.  193. 


270  JOSEF  G.  DAHINGER. 


vielmehr  die  alte  Tonika  bejaht,  aber  es  ist  so  Gewaltiges  vor  sich 
gegangen,  daß  wir  unbedingt  weiteres  Geschehen  erwarten. 

Sehen  wir  uns  den  ersten  Satz  von  Brückners  V.  Symphonie  an, 
so  finden  wir  ein  neues  Mittel,  dem  Tonschatten  zu  begegnen.  Im 
15.  Takte  vom  Beginn  gerechnet  setzt  ff  das  Unisono  des  aus  2  Flöten, 
2  Hoboen,  2  Klarinetten,  2  Fagotten,  4  Hörnern  und  den  Streichern 
bestehenden  Klangkörpers  ein,  an  welches  sich  nach  3  Takten  der 
4-taktige  Choral  schließt.  In  diesem  wirken  außer  den  früheren  Bläsern 
noch  2  Trompeten,  3  Posaunen  und  eine  Baßtuba  mit.  Nun  folgen 
drei  halbe  Takte  Generalpause.  Das  Unisono  setzt  nochmals  ein, 
und  zwar  in  der  Tonika  b  (vorher  die  große  Unterterz  ges).  Jetzt 
beteiligt  sich  auch  die  Pauke.  Diese  Wiederholung  ist  der  ersten  Auf- 
stellung analog  gebaut,  es  folgen  auch  ihr  drei  halbe  Takte  General- 
pause. In  diesem  Beispiele  hebt  die  Generalpause  die 
Wirkung  des  Tonschattens  auf.  Ihre  ästhetische  Bedeutung 
besteht  zu  beiden  Malen  in  einer  Erhöhung  der  Spannung.  Eine  so 
große  Machtentfaltung  des  Orchesters  zu  Beginn  eines  Symphonie- 
satzes läßt  Bedeutendes  erwarten.  Nach  der  ersten  Generalpause  tritt 
jedoch  dieses  erwartete  Neue  noch  nicht  ein,  es  folgt  vielmehr  die 
Wiederholung  auf  der  Tonika.  Die  volle  Energie  des  Orchesters  ent- 
lädt sich  ruckweise.  Durch  die  zweite  Generalpause  wird  die  Span- 
nung noch  erhöht. 

Gegen  die  Verwendung  der  Generalpause  könnte  vielleicht  das 
gelegentlich  des  Beispieles  aus  der  Egmontouvertüre  berührte  Be- 
denken angeführt  werden:  das  Aussetzen  aller  Instrumente  zerstöre 
den  Fluß  des  Tonsatzes.  Demgegenüber  ist  aber  zu  antworten:  Wir 
haben  es  hier  nicht  mit  einem  im  Fluß  befindlichen  Tonsatz  zu  tun, 
sondern  mit  einem  sich  erst  entwickelnden. 

Sorgfältiger  Beachtung  bedarf  die  Behandlung  des  Tonschattens 
in  Kompositionen  für  Soloinstrumente  mit  Begleitung  des  Orchesters. 
J.  C.  Lobe  sagt  in  dem  oben  genannten  Lehrbuche  im  Kapitel  über 
»Die  Instrumentation  aller  Arten  von  Virtuosenmusik«!):  »Auf  einen 
vollstimmig  und  forte  endenden  Orchestersatz  erscheint  das  eintretende 
Solo  selbst  des  stärksten  Flügels  mager  und  klanglos.  In  solchen 
Fällen  tut  man  wohl,  das  Orchester  auf  einer  Fermate  erst  austönen 
und  durch  eine  Pause  danach  ganz  verschwinden  zu  lassen,  damit 
das  Ohr  von  der  dicken  Klangmasse  befreit,  beruhigt  und  für  den 
Eintritt  des  Solo  empfänglich  gemacht  werde.;  Lobe  bringt  als  Bei- 
spiel eine  Stelle  aus  Beethovens  C-moIl-Konzert:  In  Fortissimoorchester- 
schlägen  ertönt  die  Tonika   C  im  V^-Takt  auf   dem  1.  und  3.  Viertel 


')  S.  349. 


ÜBER  DEN  TONSCHATTEN.  271 


des  1.  Taktes,  dann  auf  einer  mit  einer  Fermate  versehenen  halben 
Note  des  zweiten  Taktes.  Nun  setzt  das  Klavier  forte  ein  mit  einem 
Sechzehntellauf  durch  die  C-moli-Tonieiter  ausgehend  von  c,  begleitet 
von  der  tieferen  Oktave;  dem  Laufe  folgt  ein  analoger  in  der  nächst 
höheren  Oktave  und  nochmals  in  der  höheren  Oktave.  An  dieser  Stelle 
ist  besonders  zu  beachten,  daß  solche  Läufe  von  selten  des  Hörers 
noch  keiner  eigentlichen  apperzeptiven  Tätigkeit  bedürfen  und  so  be- 
sonders geeignet  sind,  nach  dem  Tuttiklang  des  Orchesters  die  Klang- 
farbe des  Klavieres  einzuführen. 

Als  weiteres  Beispiel  diene  der  Wechsel  zwischen  den  Sforzato- 
Schlägen  des  Orchesters  und  den  Kadenzen  des  Klavieres  zu  Beginn 
von  Liszts  Totentanz.  Das  aus  1  kleinen  Flöte,  2  großen  Flöten, 
2  Hoboen,  2  Klarinetten,  2  Fagotten,  2  Hörnern,  2  Trompeten,  3  Po- 
saunen, 1  Baßtuba,  Pauke,  Becken  und  dem  Streicherkörper  bestehende 
Orchester  schlägt  nach  dem  Erdröhnen  des  dies-trae-N[ot\ves  auf  das 
erste  Achtel  des  Taktes  staccato  einen  verminderten  Septakkord,  erst 
nach  drei  Achtel  Pause  im  Andantezeitmaß  setzt  martellato<:  im 
Presto  die  Klavierkadenz  ein.  Die  Stelle  wird  (einen  Halbton  höher) 
wiederholt,  nach  zwei  weiteren  im  Prinzip  ähnlich  gehaltenen  Takten 
folgt  nach  einem  abermaligen  Orchesterschlag  nochmals  eine  Klavier- 
kadenz. Jetzt  kann  diese  schon  mit  dem  zweiten  Achtel  einsetzen, 
wir  haben  uns  bereits  mit  dem  Soloklang  des  Klavieres  vertraut  ge- 
macht und  so  überschattet  der  letzte  Tuttiklang  keineswegs  mehr  den 
Klavierklang. 

Treffen  wir  in  Tonwerken  für  Gesang  und  Orchester,  etwa  im 
musikalischen  Drama,  auf  Stellen,  in  denen  der  Tondichter  der  stören- 
den Wirkung  des  Tonschattens  begegnet,  so  können  wir  uns  zwei 
Fragen  vorlegen: 

1.  Welche  Beziehung  zur  Dichtung  weist  die  Stelle  auf,  die  die 
schädliche  Wirkung  des  Tonschattens  aufhebt? 

2.  Welche  Beziehung  zur  Dichtung  zeigt  die  vorausgehende  Kraft- 
entfalfung? 

In  Wotans  Abschied  lautet  an  einer  Stelle  der  Text:  ». . .  der 
Feige  fliehe  Brunhildes  Fels.'c  Das  erste  Viertel  des  Taktes,  auf 
welches  das  Textwort  >Fels«  fällt,  geben  die  Bläser  (2  Flöten,  2  Hoboen, 
2  Klarinetten,  1  englisches  Hörn,  4  Hörner,  3  Fagotte,  2  Trompeten) 
staccato  und  fortissimo,  die  Streichbässe  geben  in  der  Dauer  einer 
Achtelnote  den  Orundton  h,  Violinen  und  Bratschen  setzen  in  Oktaven 
ein  Tremolo  ein.  Dieses  Oktaventremolo  dauert  abnehmend  bis  zum 
p  zwei  Takte  hindurch.  Es  hat  bezüglich  des  Tonschattens  der  vorher- 
gehenden Orchestersteigerung  und  des  Einsetzens  des  folgenden  Sieg- 
friedmotives  dieselbe  Bedeutung  wie  in  der  Egmontouvertüre  die  im 


272  JOSEF  G,  DANINGER. 


As-dur-Dreiklang  ruhig  hämmernden  Streicher.  Die  beiden  Stellen 
unterscheiden  sich  aber  in  folgender  Weise: 

1.  In  der  Egmontouvertüre  finden  wir  in  meßbarem  Achtelrhyth- 
mus pulsierende  Akkorde,  hier  in  für  den  Hörer  unmeßbar  kleinen 
Zeitintervallen  tremulierende  Oktaven,  dort  in  tiefer  Lage  das  dunkle 
As-dur,  hier  in  hoher  Lage  (h  bis  h)  das  helle  H-dur  (als  Dominante 
von  E-dur).  Nicht  zu  übersehen  ist  die  durch  die  Oktaven  plötzlich 
eintretende  harmonische  Leere  nach  der  harmonisch  reich  ausgestal- 
teten Verheißung  des  -bräutiichen  Feuers.  Die  zum  Verfolgen  der 
Harmonie  nötige  psychische  Energie  wird  frei.  Eine  derartige  plötz- 
liche Entlastung  wird  begleitet  von  einem  eigentümlichen  Gemüts- 
zustand, welcher  gewissermaßen  die  Frage  auslöst:  Was  geschieht 
nun?  Es  tritt  also  wiederum  Spannung  ein.  Diese  wird  erhöht  durch 
die  mit  Sechzehntelauftakt  einsetzende,  den  zweiten  Takt  hindurch 
ausgehaltene  Oktave  h  bis  h  der  zwei  Trompeten  und  zwei  Posaunen 
vom  Forte  zum  Piano  abnehmend.  Die  musikalische  Einkleidung  der 
Stelle  steht  in  engstem  Zusammenhang  mit  der  Dichtung.  Gerade 
vorher  malt  das  Orchester  in  überaus  genialer  Weise  die  ^zehrenden 
Schrecken  des  Feuers;  »der  Feige  fliehe  Brunhildes  Fels!>  Hierdurch 
ist  die  gewahige  Entladung  im  Orchester  begründet.  Nun  die  ge- 
spannte Erwartung  nach  dem  berufenen  Wecker.  Hatten  wir  in  der 
Egmontouvertüre  ein  allgemein  gezeichnetes  Stimmungsbild  vor  uns, 
so  befinden  wir  uns  hier  inmitten  einer  dramatisch  scharf  umrissenen 
Situation;  daher  die  Verschiedenheit  der  Mittel  in  der  Behandlung  der 
beiden  Fälle,  welche  instrumentationstechnisch  grundsätzlich  gleich- 
artig sind. 

Einige  Beispiele  aus  Wagners  Meistersinger  mögen  nun  folgen. 
Die  Beispiele  entstammen  dem  Wahn-Monolog.  Als  erstes  diene  die 
Stelle  nach  den  Worten:  ...  gleich  wacht  er  auf,  —  dann  schaut, 
wer  ihn  bemetstern  kann!«  Hier  bricht  das  Orchester  nach  einer 
lebhaften  Steigerung  bis  zum  Forte  (darin  das  Wahnmotiv  —  Hör- 
ner und  Trompete  — )  mit  einem  Zweiunddreißigstellauf  der  beiden 
großen  Flöten,  der  beiden  Klarinetten  und  der  Streicher  plötzlich  ab. 
Nun  folgt  eine  Generalpause.  Nach  dieser  setzt  in  den  Streichbläsern 
wiederum  das  Wahnmotiv  p  ein.  Das  technische  Mittel,  das  an 
dieser  Stelle  den  Tonschatten  unwirksam  macht,  ist  die  Generalpause. 
Wir  hatten  sie  im  gleichen  Dienste  bei  Brückners  fünfter  Symphonie 
kennen  gelernt,  dort  in  der  reinen  Instrumentalmusik,  hier  in  der 
dramatischen  Musik.  Die  Orchestersteigerung  ist  in  Sachsens  vorhin 
angeführten  Worten  begründet.  Die  angestaute  psychische  Energie 
entspannt  sich  in  der  Generalpause,  und  nun  wenden  sich  Sachsens 
Gedanken  dem  lieblichen  Nürnberg  zu. 


n 


ÜBER  Dm  TONSCHATTEN.  273 

Ein  zweites  Beispiel  bietet  der  Monolog  in  der  Oeneralpause, 
welclie  dem  Eintritt  des  Sommernachtsmotives  in  H-dur,  ^/j-Takt,  vor- 
angeht. Das  der  Oeneralpause  vorangehende  Anschwellen  des 
Orchesters  weist  eine  Steigerung  auf  gegenüber  dem  Anschwellen  im 
vorigen  Beispiel.  Diese  Steigerung  ist  zunächst  gegeben  in  der  Zu- 
sammensetzung des  Orchesters  aus  kleiner  Flöte,  2  großen  Flöten, 
2  Hoboen,  2  Klarinetten,  4  Hörnern,  2  Fagotten,  2  Trompeten,  Baß- 
tuba, Pauke,  Streicher  hier  gegen  2  große  Flöten,  2  Hoboen,  2  Klari- 
netten, 4  Hörner,  2  Fagotten,  Trompete  und  Streicher  dort.  Die 
Steigerung  liegt  aber  auch  im  motivischen  Material.  Dort  ist  die 
Steigerung  entwickelt  mit  Hilfe  des  schön  geschwungenen  Lenzes- 
gebotmotives,  zu  welchem  sich  im  letzten  Takt  das  markante  Wahn- 
motiv gesellt,  hier  mit  Hilfe  des  lebhaft  hämmernden  Prügelmotivs, 
staccato  in  chromatischer  Aufwärtsführung;  schließlich  folgt  ein  schriller 
Sechzehntel-Sextolenlauf,  dazu  kommt  noch  das  drängende  Zeitmaß 
mit  den  nachschlagenden  Viertein  in  der  Pauke  und  den  Trompeten. 
Während  im  vorigen  Beispiel  die  Generalpause  auch  dem  Sänger  gilt, 
ist  dies  hier  erst  vom  zweiten  Viertel  der  zweiten  Pause  an  der  Fall. 
Die  erste  der  beiden  Pausen  mit  dem  letzten  Viertel  des  vorangehen- 
den und  dem  ersten  des  folgenden  Taktes  erfüllen  Sachsens  Worte: 
»Gott  weiß,  wie  das  geschah?*  Die  Worte  werden  durch  die  voraus- 
gehende Orchesterentwicklung  nicht  überschattet,  da  die  Stimme  des 
Sängers  auf  der  Bühne  gegen  das  vertiefte,  oder  sogar  verdeckte 
Orchester  genügend  kontrastiert.  Das  Mittel  der  Generalpause  erfährt 
hier  durch  die  Weiterführung  der  Singstimme  eine  feine  Abstufung. 
Abermals  versinkt  Sachs  in  Träumerei,  und  nun  folgt  die  herrliche 
Stelle:  das  Sommernachtsmotiv  in  gedämpften  Violinen  und  Bratschen 
mit  Begleitung  der  Harfe.  Die  Generalpause  hat  hier  auch  noch  eine 
spieltechnische  Bedeutung,  nämlich  die,  den  Streichern  die  zum  Auf- 
setzen der  Dämpfer  nötige  Zeit  zu  gewähren. 

Noch  eine  dritte  Stelle  aus  dem  Wahnmonolog  soll  hier  vorge- 
bracht werden,  es  sind  dies  die  zwei  letzten  Takte  vor  dem  Beginn 
der  zweiten  Szene.  Diese  setzt  ein  mit  dem  p  dolce  beginnenden 
Terzquartakkord  der  Holzbläser  und  Hörner,  in  deren  Klang  die  Harfe 
ihre  Arpeggien  mischt,  dazu  noch  das  as  der  Violoncelli.  Zwei  Takte 
zuvor  ertönt  fortissimo  (2  Flöten,  2  Hoboen,  2  Klarinetten,  4  Hörner, 
2  Fagotte,  1  Trompete,  Streicher)  der  Dominantakkord  von  C-dur. 
Von  den  Bläsern  setzen  schon  mit  dem  zweiten  Viertel  des  Taktes 
4.  Hörn  und  2.  Fagott  aus,  die  übrigen  Bläser  erst  mit  dem  letzten 
Achtel  des  Taktes,  ausgenommen  die  Trompete,  welche  auch  noch 
den  folgenden  Takt  hindurch  g  aushält.  In  diesem  Takt  lassen  die 
Streicher  das  schon  im  ersten  Takt  einsetzende  Diminuendo  auf  dem 

Zeitsclir.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    .\IV.  l'S 


274  JOSEF  G.DANINGER. 


Akkord  ausklingen,  die  vorhin  erwähnte  Trompete  verstärkt  den  Baß 
der  Violoncelli.  Die  Streicher  geben  noch  das  erste  Achtel  des 
folgenden  Taktes.  Hier  wird  der  Tonschatten  unwirksam  gemacht 
durch  das  diminuendo  Ausklingen  des  Akkordes  in  den  Streichern 
und  in  der  Trompete.  Die  Orchestersteigerung  war  begründet  in 
Sachsens  Entschluß;  die  folgende  Szene  muß  mit  zartem  Kolorit  ein- 
setzen. 

Die  gleichzeitige  Aufgabe,  die  störende  Wirkung  des  Tonschattens 
aufzuheben,  kommt  neben  seiner  Bedeutung  für  die  Szene  im  zweiten 
Aufzuge  vor  dem  ersten  Auftreten  des  Nachtwächters  dem  Nacht- 
wächterhorn  zu.  Walter  Stolzing  gibt  gerade  seiner  Wut  über  die 
Meister  Ausdruck.  Die  Violinen  stürmen  in  die  Höhe  unterstützt 
von  der  kleinen  Flöte,  dazu  der  aus  2  großen  Flöten,  2  Hoboen, 
2  Klarinetten,  4  Hörnern,  2  Fagotten  und  Bratschen  ertönende  Akkord, 
die  Pauke  wirbelt,  die  Violoncelli  trillern,  fortissimo  erklingt  nun,  ge- 
bildet von  sämtlichen  Streichern  (tremuliert)  und  von  den  Bläsern  der 
Akkord  (a  c  es  ges  [fis])  ^),  zu  diesem  Akkord  setzt  das  Nachtwächter- 
horn  hinter  der  Szene  mit  fis  ein.  Mit  dem  ersten  Achtel  des 
folgenden  Taktes  setzen  sämtliche  Orchesterinstrumente  aus  und  nur 
das  Nachtwächterhorn  tönt  diminuendo  während  der  mit  einer  Fer- 
mate versehenen  Generalpause  des  Orchesters  hinüber  zum  ersten 
Achtel  des  folgenden  zarten  H-dur-Satzes,  welcher  nach  Walters  leiden- 
schaftlichem Ausbruch  in  die  anmutige  Stimmung  der  Sommernacht 
hinüberführt. 

Mit  diesem  Beispiele  möge  unsere  Studie  geschlossen  sein.  Noch 
zahlreiche  weitere  Beispiele  ließen  sich  vorführen,  das  Grundsätzliche 
unseres  Gegenstandes  dürfte  aber  mit  den  angeführten  genügend  dar- 
gelegt sein. 


■)  Die  eckige  Klammer  soll  andeuten,  daß  die  Buchstaben  nur  die  Akkord- 
elemente geben  aber  nichts  mit  der  Stellung  des  Tones  in  einer  bestimmten  Oktave 
zu  tun  haben. 


Bemerkungen. 


Das  Ästhetische  und  die  Kunst. 

Von 

Erich  Major. 

Die  Grenzlinie  zwischen  dem  Ästhetischen  im  weiteren  Sinne  und  dem  Künst- 
lerischen im  engeren  ist  noch  nicht  gefunden.  Die  beiden  Gebiete  berühren  sich, 
aber  sie  decicen  sich  nicht  und  das  eigenth"che  Wesen  des  Unterschiedes  ist  nicht 
vollständig  klargestellt.  Ein  kunstgewerbliches  Ornament  beispielsweise,  die  Kurven 
einer  Tapete,  die  feinen  Verzahnungen  eines  Uhrwerks  sind  sicherlich  ästhetisch, 
jedoch  niemals  Kunstwerke.  Bis  ins  Primitivste  hinunter  sehen  wir,  wie  die  Menschen 
versuchen,  ihre  Umgebung  ästhetisch  zu  gestalten.  Jeder  empfindet  sofort  Miß- 
behagen, wenn  etwa  in  einer  Bücherreihe  das  mittlere  Buch  das  größte  wäre  und 
die  daneben  stehenden  kleiner.  Ebenso  spüren  wir,  selbst  in  der  Haltung  unseres 
Körpers,  im  Verhältnisse  zu  uns  selber  und  zu  unserer  Umgebung  unzweifelhafte 
Gesetze  des  Ästhetischen,  die  nicht  verletzt  werden  können,  ohne  sofort  das  schärfste 
Mißfallen,  ja  eine  sehr  oft  unverhältnismäßige  Mißbilligung  hervorzurufen.  Ganz 
anders  und  scheinbar  getrennt  davon  ist  das  Künstlerische.  Im  Kunstwerk  wird  ein 
gewisser  Grad  von  Unregelmäßigkeit,  von  Willkürlichkeit,  ja  von  Dissonanz  beinahe 
gefordert.  Jedes  Kunstwerk,  das  rein  ornamental  gestaltet  wäre,  sich  ganz  nach 
dem  Gesetze  richten  würde,  das  sich  in  den  Ausschmückungen  eines  Tischläufers 
ausdrückt  oder  in  der  Schwingung  und  Biegung  einer  Lampe,  wäre  rettungslos 
der  Langweile  preisgegeben.  Nicht  die  geistige  Idee  bedingt  den  Unterschied. 
Denn  auch  ein  Ornament  kann  in  seiner  Art  und  durch  mystische  Deutungen  idealen 
Wert  erhalten  und  doch  kein  Kunstwerk  sein.  Es  muß  somit  etwas  anderes  sein, 
was  diese  Differenzierung  und  das  innerste  Wesen  dieses  Gegensatzes  ausmacht. 
Und  da  stoßen  wir  immer  wieder  auf  die  berühmte  und  noch  immer  als  vollgültig 
betrachtete  Kantische  Lehre  von  dem  interesselosen  Wohlgefallen  als  Kriterium  des 
Ästhetischen.  Schon  Nietzsche  hat  es  mit  Recht  als  Unding  bezeichnet,  daß  Schön- 
heit keine  Begierden  erwecken  und  nur  eine  Art  von  Kastratengefühl,  ein  ärmliches, 
blasses  und  dennoch  süffisantes  Behagen  hervorrufen  solle.  Die  Kantische  Definition 
ist  rein  negativ.  Sie  will  nur  besagen,  daß  man  keine  praktischen  Ziele  beim  reinen 
Anschauen  des  Ästhetischen  verfolgen  könne,  daß  sich  das  Schöne  vom  Angenehmen 
unterscheide.  Den  positiven  Inhalt  des  Kunstgefühls  hat  jedoch  Kant  nicht  gefunden 
und  er  gibt  nur  eine  Abgrenzung  und  noch  dazu  eine  sehr  zweifelhafte,  da  ja  bei- 
spielsweise die  Gegenstände  chinesischer  Kunst  zum  größten  Teil  praktische  Neben- 
ziele verfolgen,  ohne  jedoch  zu  sagen,  was  innerhalb  der  Grenzen  der  Interesse- 
losigkeit das  Besondere  und  Spezifische  des  Ästhetischen  ausmacht. 

Wenn  man  diesen  Begriff  überhaupt  annimmt,  so  gibt  es  nur  ein  Gebiet,  für 
das  er  wirklich  in  gewissem  Maße  zu  passen  scheint,  nämlich  das  Ästhetische  im 
weiteren  Sinne.  Wenn  ich  die  Verflechtungen  einer  Sessellehne  betrachte,  so  ist 
diese  Regelmäßigkeit  gewiß  ästhetisch  und  wirkt  im  Sinne  eines  Wohlgefallens,  das 


276  BEMERKUNGEN. 


sicherlich  als  solches  mit  praktischen  Erwägungen  nichts  zu  tun  hat,  so  sehr  auch 
der  Ursprung  dieser  Ornamantik  mit  Gesetzen  des  Praktischen  verwoben  sein  mag. 
Positiv  gesprochen,  zeigt  sich  in  ästhetischen  Kurven  das  freiwillige  Befolgen  des 
ökonomischen  Prinzips,  ferner  das  Streben,  dem  Auge  nach  den  Gesetzen  des 
menschlichen  Körpers  Doppelseitigkeit  zu  geben  und  zu  gleicher  Zeit  in  den  Linien 
Bewegungsfornien  darzustellen,  die  angenehme  Wirkung  haben.  Die  Kurven  oder 
die  Farben  oder  die  Töne  bei  Etüden,  die  beiläufig  die  Verpflanzung  des  Orna- 
mentalen ins  iWusikalische  sind,  gehorchen  den  Gesetzen  der  Spannung  und  Lösung 
der  körperlichen  Reize,  ferner  dem  Bedürfnis  des  Organismus  nach  Reichhaltigkeit 
der  Einwirkung,  nach  Funktionslust  und  nach  Kontrastwirkung.  Diese  Gesetze 
bieten  jedoch  nur  die  Wesenheiten  des  Rahmens,  und  nie  und  nimmer  wird  diese 
ästhetische  Regelmäßigkeit  künstlerische  Wirkung  im  eigenen  und  echten  Sinne  her- 
vorrufen. Denn  ihr  fehlt  der  wesentliche  Umstand,  das  eigentliche  Kriterium  des 
Künstlerischen,  und  das  ist  gerade  die  von  Kant  verpönte  und  von  einer 
asketischen  und  lebensfremden  Ästhetik  abgewiesene  Begierde. 

Man  versuche  einmal  die  Wirkung  des  Kunstgewerblichen  bei  sich  selber  zu 
beobachten.  Der  Unbefangene  wird  nach  längerer  Besichtigung  eine  eigentümliche 
Abspannung  empfinden,  ein  Gefühl  nahe  der  Langweile,  weil  eben  alles  Anschauen 
dieser  Art  uninteressiert  bleibt,  weil  der  Kontrapunkt  fehlt,  das  Bewegte  der 
Empfindung,  die  beim  echten  Kunstwerk  nicht  in  sich  ruhend  ist,  sondern  wie  bei 
allen  starken  Reizen  motorische  und  vasomotorische  Wirkungen  hervorruft.  Man 
versuche  es  einmal,  ein  solches  Ornament  wirklich  fortlaufend  zu  verfolgen.  Binnen 
kurzem  wird  sich  vollkommener  Überdruß  einstellen  und  ein  gleichsam  physiologi- 
scher Ärger,  der  uns  zwingt  an  etwas  anderes  zu  denken  und  aus  der  Regelmäßig- 
keit, aus  dem  Anblick  der  einschläfernden  Ranken,  aus  diesem  leeren  Wohllaut  ins 
Lebendige  und  ''Interessierte^,  mit  einem  Worte:  in  die  Begierde  zu  flüchten.  In 
diesem  Moment  liegt  für  uns  der  wesentliche  Unterschied  und  die  Grenzlinie  des 
Kunstwerks.  Das  Ornament  erweckt  Behagen,  ebenso  die  gut  gegliederte  prosaische 
Rede  mit  der  richtigen  Abwechslung  der  Vokale  und  der  >normalen»  Gliederung 
des  Satzbaus.  Das  Kunstwerk  dagegen  ist  niemals  »normal  ,  sondern 
immer  wächst  es  aus  den  Elementen  des  Behagens  zu  dem  Triebhaften,  Elementaren 
und  zu  der  Dämonie,  die  auch  das  Unlustvolle,  das  Unharmonische,  ja  das  Peinliche 
für  sich  zu  erobern  vermag. 

Was  ist  Begierde?  Sie  bedeutet  eine  Triebäußerung,  verbunden  mit  einer  Vor- 
stellung. In  dieser  Gemeinschaft  ergibt  sich  zu  gleicher  Zeit  eine  Doppelseitigkeit. 
Die  Triebäußerung  ist  schmerzhaft  und  entladet  sich  in  dem  Schrei  des  Kindes  nach 
der  Mutterbrust  und  in  den  Qualen  des  Liebenden.  Die  Vorstellung,  der  geistige 
Anblick  des  Begehrten  dagegen  ist  lustvoll  und  bewirkt  die  seligen  Ekstasen  bei  der 
sich  nähernden  Erfüllung,  die  vorwiegende  Freude  an  der  Gewährung,  an  dem 
Anteros,  der  Gegenliebe,  wie  sie  die  Griechen  geistvoll  als  Gegenwert  zum  Eros 
verkörperten.  So  nu'schen  sich  Lust  und  Unlust,  Freude  und  Leid,  Kühnheit  und 
Angst,  Streben  nach  dem  Wirklichen  und  phantastisches  Ausgreifen  in  der  Begierde, 
die  nach  unserer  Ansicht  zum  Kunstwerk  leitet.  Aber  noch  ist  der  exakte  oder 
zum  mindesten  der  Indizienbeweis  nicht  geführt,  'daß  es  sich  tatsächlich  bei  der 
künstlerischen  Empfindung  im  Gegensatze  zur  ästhetischen  im  allgemeinen  um  Be- 
gierde handelt.  Vor  allem  ist  die  Einhaltung  der  Grenze  zwischen  Gefühl  und  Be- 
gierde sehr  schwierig,  Leiden  setzt  sich  in  die  Begierde  der  Tränen  um,  wie  sie 
schon  Homer  genannt  hat  und  in  den  Wunsch,  das  Leidvolle  auszuschalten.  Lust 
wieder  mündet  in  Gelächter,  oft  auch  in  Tränen  oder  in  frohmüfige  Bewegung  und 
in   die  Begierde  der  Aneignung.    Das  Wesentliche  des  Gefühls  im  Gegensätze  zur 


BEMERK13NGES.  277 


Begierde  ist  jedoch  zweierlei:  Einheitlichkeit  und  Ruhe.  Wer  Lust  empfindet,  wird 
solange  das  Gefühl  haben,  als  diese  Lust  eben  nicht  in  die  Bewegung  übergeht, 
noch  nicht  das  Zufassen  nach  dem  Gegenstand,  den  Willen  auslöst,  ihn  zu  besitzen. 
Ebenso  wird  Unlust  die  ruhige  Trauer  sein,  die  noch  nicht  physiologische  Se- 
kretion, noch  nicht  den  Abscheu  erzeugt  und  den  Gegenpol  zwingend  und  lockend 
in  das  Bewußtsein  bringt.  Prüft  man  nun  die  künstlerische  Sensation,  im  Verhältnis 
zu  diesen  Abzweigungen,  so  möge  sich  jeder  einzelne  fragen,  was  er  in  seinen 
stärksten  Erschütterungen  empfunden  hat,  in  den  Augenblicken,  wo  er  nicht  auf- 
nehmend oder  mindestens  nicht  aufnehmend  alleinjdem  Kunstwerk  gegenüberstand, 
und  er  wird  finden,  es  ist  nicht  die  eigentümliche  Annehmlichkeit  wie  beim  Betrachten 
einer  schönen  Farbe,  einer  rein  geformten  Ledertasche,  einer  richtig  geschweiften 
Brosche  und  einer  selbst  zierlich  angeordneten  feinen  Wohnung.  Es  ist  auch  nicht 
die  unzweideutige  Ablehnung  wie  bei  offenbarer  Asymmetrie  von  Gegenständen, 
bei  fleckigen  Kleidern,  abgebrochenen  Flaschen  oder  falsch  gearbeiteten  und  ge- 
stellten Sätzen.  Sondern  es  ist  eine  neue,  über  beide  Empfindungen  hinausgehende, 
sie  beide  gleichsam  in  eine  Hülle  spannende  und  durch  starke  Ladung  von  Oeistig- 
keit  veränderte  Erregung.  Nehmen  wir  die  zweite  Sinfonie  von  Mahler,  diese 
vielleicht  höchste  Leistung  eines  modernen  Genius.  Ist  es  »Lust«,  die  uns  bei  dieser 
Musik  ergreift,  ist  es  »Unlust»,  fühlen  wir  uns  angezogen,  abgestoßen,  sind  wir 
erfreut  oder  empfinden  wir  Gram?  Keines  von  all  dem  und  doch  alles  zusammen, 
es  ist  Begeisterung  am  Wohlklang  und  doch  wieder  das  eigentümliche  Ziehen  und 
Zerren  an  unserem  Innersten,  die  strömende  Bewegung,  die  Plato  in  unvergleich- 
licher Plastik  mit  der  Wachstumsenipfindung  verglichen  hat,  als  regten  sich,  wie  er 
im  Phädrus  sagt,  die  alten  Schäfte  der  Flügel,  die  wir  auf  unserem  Himmelssturze 
verloren  haben.  Ja,  selbst  bei  der  lustvollsten  Musik,  bei  »Figaros  Hochzeit«,  ist 
es  nicht  »Lust«,  die  wir  empfinden,  viel  mehr  eine  prickelnde,  aufwühlende,  beinahe 
schmerzhafte  Erkenntnis  der  Vollendung.  Der  Abgrund  zwischen  Gefühl  und  Be- 
gierde, darin  ist  der  Unterschied  zwischen  dem  Ästhetischen  und  dem  Künstlerischen 
verborgen.  Daß  man  »keusch«,  in  meiner  Sprache  erotisch  begehren  kann,  das 
ist  das  dem  Philister  unlösbare  Geheimnis  der  Kunst,  und  in  dem  Unverständnis 
für  diese  spezifisch  künstlerische,  auch  sinnliche  und  dennoch  vom  rein  Physiologi- 
schen freie  und  daher  »reine«  Begierde  beruhen  alle  muckerischen  Hetzen  gegen 
die  Kunst  und  ihre  Freiheit  dem  Nackten  und  dem  (sobald  unkünstlerisch  betrachtet), 
»Unsittlichen«  gegenüber.  Dieses  ewig  Harmlose,  dieses  vollkommene  Billigen  des 
Begehrten  und  des  Begehrens,  dieser  Zusammenschluß  von  Körper  und  Geist  mit 
dem  Geist  als  Führer,  darin  liegt  für  den  Dutzendmenschen  das  Unheimliche,  ja  oft 
Widerliche  und  Abschreckende  der  Kunst,  während  darin  doch  nur  das  Inkommen- 
surable im  Sinne  Goethes  ist,  das  seltsame  Schweben  zwischen  Göttlichem  und  Mensch- 
lichem, zwischen  Erdenleid  und  Himmelsfreude,  der  Dämon. 

Nun  könnte  man  einwenden,  es  handle  sich  nicht  um  eine  Begierde,  sondern 
um  ein  gemischtes  Gefühl,  etwa,  wie  wenn  man  Trost  im  Ausweinen  finde  oder 
mit  allzu  vieler  Freude  die  Wehmut  des  Vergehens  verknüpfe.  Eine  Begierde  könne 
nur  in  dem  Wunsche  nach  Besitzergreifung  eines  Gegenstandes  liegen.  Hierauf 
ist  zu  antworten:  Es  mag  sein,  daß  beim  Rezeptiven  das  künstlerische  Empfinden 
manchmal  im  Gefühl  stecken  bleibt  und  zu  schwach,  zu  unbestimmt  ist,  um  sich 
zur  Begehrung  zu  erhöhen.  Unmöglich  ist  dies  aber  bei  der  Hauptperson  des  künst- 
lerischen Prozesses,  dem  Schöpfer  des  Künstlerwerkes,  dem  Produktiven.  Denn 
sonnenklar  ist  es,  daß  er  wirklich  etwas  besitzen  und  haben  will,  daß  er  den  geistigen 
und  körperlichen  Stoff  verschmelzen,  den  Gegenstand  seiner  Sehnsucht  zwingen  und 
im  toten  Stoff  befestigen  möchte.    Diese  Begehrung,  die  mit  stürmischer,  oft  unab- 


278  BEMERKUNGEN. 


weislicher  Intensität  den  Schaffenden  überfällt,  diese  >Brunst«  (Wagner),  dieser  ge- 
waltige Drang  kann  nicht  mehr  mit  -Gefühlt  verwechselt  werden,  er  ist  nicht 
mehr  Ruhe,  nicht  mehr  Beschauung,  nicht  mehr  passives  Wirkenlassen,  sondern 
höchste  Aktivität,  ein  Stürmen  der  visionären  und  plastischen  Fähigkeiten,  ein 
Zusammenklang  von  Schmerzlichem  und  Lustvollem,  wie  ihn  in  dieser  Schärfe 
nur  die  Begierde  bietet,  die  schon  der  Rezeptive,  der  Hörer  im  guten  Sinne  des 
Wortes,  wenn  auch  in  Schattenhaftigkeit  und  rudimentär  empfindet.  Nun  wäre 
noch  das  Problem  zu  lösen:  Die  Begierde  wonach?  Hier  erhebt  sich  jedoch 
eine  Frage,  die  nur  in  Umrissen  besprochen  werden  kann.  Die  Sehnsucht  nach 
Verewigung,  die  hier  an  erster  Stelle  steht,  hat  insbesondere  Schmarsow  in  seinem 
großen  Werk  über  die  Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft  betont,  worin  er 
sagt:  es  komme  darauf  an,  die  Gegenstände  dem  ewig  wechselnden  Strome  des 
Werdens  und  Vergehens  zu  entrücken,  sie  hinzustellen  zu  freiem  Genuß,  ja  eben 
diese  Werte  als  anerkannte  zu  verewigen  für  den  Menschen,  sei  dies  der  Schöpfer 
des  Werkes  allein  oder  seinesgleichen  allesamt.  Auch  in  seinem  letzten  großen 
Essay  in  diesen  Blättern  entwickelt  er  denselben  Gedanken  und  er  führt  dieses 
Prinzip  auch  aus  der  primitiven  Kunst  hervor,  indem  er  darstellt,  daß  die  Halskette 
der  Frauen  nichts  anderes  bedeutet,  als  die  »beharrende  Wiederholung-  der 
Liebkosung  eines  geliebten  Mannes,  ebenso  die  Umrahmung  der  Stirne,  der  Augen 
und  Ohren.  »Das  Ornament  selbst  ist  in  all  seinen  mannigfachen  Variationen  nichts 
anderes  als  ein  Niederschlag  des  mimischen  Spiels  um  solchen  Wert  herum,  des 
anerkennenden  Verweilens  und  beteuernden  Wiederkehrensim  Erfassen 
des  gefundenen  Wertes.  Eben  'lie  nachfühlende,  genießende  Wiederholung  der 
ähnlichen  Gebärde  ist  der  Sinn,  der  allem  Reichtum  der  Motive,  allen  Abwechs- 
lungen der  Form  für  den  nämlichen  Inhalt  zugrunde  liegt.«  Schmarsow  geht  somit 
im  gleichen  Gedankengang  wie  unabhängig  von  ihm  der  Verfasser  von  dem  Grund- 
satze aus,  daß  das  Produktive  den  Vorrang  in  der  Ästhetik  habe  und  in  seinem 
letzten  großen  Aufsatz  in  dieser  Zeitschrift  spricht  Schmarsow  wieder  den  Gedanken 
der  Verewigung  aus  und  bezeichnet  das  Schaffen  als  die  Auseinandersetzung  des 
Menschen  mit  der  Welt. 

Diese  Definition,  so  fruchtbar  und  bedeutsam  sie  sein  mag,  erscheint  uns 
jedoch  als  zu  unbegrenzt,  zu  allgemein  und  zu  vieldeutig.  Denn  zu  dem  Wunsche, 
dem  Begehren  nach  Verewigung  muß  noch  ein  weiteres  bestimmendes  Merkmal 
hinzutreten,  weil  sonst  die  Abgrenzung  zur  Wissenschaft,  zur  Geschichte,  zur 
Philosophie,  zu  den  halbniechanischen  Fähigkeiten  wie  Photographie  und  Kine- 
matograph  nicht  möglich  wären.  Es  ist  das  Moment  des  Sinnlichen,  die  Begierde 
nicht  nach  der  künstlerischen  Handlung,  denn  sie  ist  ja  Verewigung,  sondern  nach 
einer  bestimmten  Art  des  Gegenstandes  dieser  Handlung  und  nach  bestimmter 
Art  der  Verewigung.  Der  Wille  zur  Verewigung  muß  sich,  wenn  er  künstlerisch 
sein  soll,  mit  der  Begierde  nach  dem  Geliebten  vermählen,  er  muß  in  gegenständ- 
licher Richtung  bestimmt  sein  durch  das  Sehnsuchtweckende  oder  Sehnsucht- 
stillende, durch  die  Atmosphäre  der  rein  sinnlichen  Erregung,  hervorgerufen  durch 
Hörbarkeiten,  Sichtbarkeiten  und  Tastbarkeiten,  die  unser  Liebesvermögen  berühren. 
Er  muß,  sei  es  im  Sinne  der  Schmerzphase,  wenn  man  so  sagen  darf,  dieser  Be- 
gierdenkurve arbeiten,  indem  er  die  Streb ung  selbst  in  ihrer  heftigen,  unrast- 
vollen, oft  grausamen,  ja  wahnsinnigen  Gewalt  darstellt  oder  im  Sinne  der  Lustphase, 
wenn  der  Gegenstand  dieser  Sehnsucht  nähergerückt  ist  und  die  Begierde  sich  be- 
sitzend glaubt  und  in  der  Erfüllung  bereits  zu  schwelgen  scheint. 

Was  ist  neben  solchen  Kräften  die  hausbackene  Empfindung  des  Ästhetischen 
im  allgemeinen,  die  stumpfe  Beh.Tglichkeit  dieses  einschläfernden  Paradieses.    Wie 


I 


BEMERKUNGEN.  219 


sollte  erklärt  werden,  daß  die  heftigsten  Strebungen,  ja  Verbrechen  künstlerisch 
wirken  können,  wenn  nicht  schon  im  Wesen,  in  der  Entstehung  der  Kunst  eine 
Affinität  zur  Begierde  läge,  als  deren  heftigste  Äußerungen  solche  Abnormitäten 
sich  darstellen.  Nein,  da  ist  eine  entscheidende,  psychologisch  wesentliche  Kluft, 
und  das  Ästhetische  im  weiteren  Sinne  ist  eben  nur  Dienerin  des  Künstlerischen, 
ein  Hinlocken  des  Gemüts  zu  jener  Höhe,  wo  dann  eben  »Lust«  und  »Unlüste  auf- 
hören und  das  »Erleben'»  beginnt;  ein  Luxusgefühl,  eine  Empfindung  höheren,  be- 
wegteren Daseins.  Lust  und  Unlust  sind  nur  Stufen,  nur  Helferinnen  der  großen 
schöpferischen  Auseinandersetzung,  die  das  Kunstwerk  hervorbringt.  Die  reine 
Begierde,  die  ewige  Sehnsucht  ist  es,  die  das  Künstlertum  erzeugt. 


Fichte  und  die  Lehre  von  der  „romantischen  Ironie". 

Von 

Carl  Enders. 

In  ihrem  Aufsatz  «Die  romantische  Ironie  (in  dieser  Zeitschrift  Xlll  [lOlSj, 
S.  270  ff.)  will  Käte  Friedemann  zeigen,  daß  die  allgemeine  Annahme  einer  Ein- 
wirkung Fichtes  auf  die  Lehre  von  der  romantischen  Ironie  nicht  richtig  sei.  Diese 
ijberzeugung  wird  ihr  erweckt  einmal  »durch  die  Aussprüche  der  Romantiker  über 
das  Wesen  der  Ironie,  die  nicht  auf  eine  Verherrlichung  des  Ich,  sondern  im  Gegen- 
teil auf  dessen  Preisgabe  an  den  Geist  des  Universums  deuten,  und  zweitens  durch 
das  gänzliche  Fehlen  irgendwelcher  Hinweise  darauf,  daß  hier  tatsächlich  ein  Ein- 
fluß Fichtes  vorgelegen.  Somit  (schließt  sie)  scheint  der  von  Hegel  stammenden 
und  immer  weiter  verbreiteten  Behauptung  jeder  sichere  Boden  entzogen  zu  sein«. 

Ich  kann  diesen  Ausführungen  durchaus  nicht  beistimmen  ').  Vor  allem  scheint 
mir  ein  methodischer  Fehler  vorzuliegen,  wenn  die  Verfasserin  sich  für  ihre  Dar- 
legungen auf  die  Aussprüche  beschränkt,  in  denen  das  Wort  Ironie  vorkommt.  Wo 
würden  wir  in  der  Erforschung  geistiger  Zusammenhänge  hinkommen,  wenn  wir 
dieses  äußerliche,  hier  als  selbstverständlich  vorausgesetzte  Prinzip  anerkennen 
wollten  ?  Welche  lebensfremde  Auffassung  geistiger  Lebensprozesse  liegt  dem  zu- 
grunde! Und  dabei  handelt  es  sich  hier  um  eine  Bewegung,  welche  das  »Sym- 
philosophieren^  auf  ihr  Banner  geschrieben  hat!  Es  kommt  doch  wahrlich  nicht 
auf  das  Wort  an,  sondern  auf  den  ganzen  Begriffskomplex,  in  dem  ein  Glied  durch 
dieses  Wort  bezeichnet  wird.  Die  Ironie  ist,  wenn  sie  auch,  was  ja  bei  der  ge- 
wollten Vermischung  aller  geistigen  Betätigungsweisen  (Philosophie,  Kunst,  Moral) 
bei  Friedrich  Schlegel  selbstverständlich  erscheint,  nicht  rein  .Hsthetisch  ist,  doch  aus 
ästhetischen  Betrachtungen  heraus  geboren.  Und  so  müssen  zum  wenigsten  alle 
Äußerungen  über  Poesie,  das  Wesen  des  Künstlertums  usw.  herangezogen  werden. 
Käte  Friedemann  behauptet  nun,  es  widerspräche  durchaus  der  Art  Friedrich 
Schlegels,  in  den  Athenäumsfragmenten  sowohl  von  Fichte  wie  von  der  Ironie  zu 
sprechen,  ohne  beide  je  miteinander  in  Zusammenhang  zu  bringen.  Denn  er  sei 
keine  unbewußte  Natur  und  gebe  sich  stets  Rechenschaft  über  die  Einwirkungen, 
die  er  erfahren  habe.    Den  Beweis  für  diese  kühne  Behauptung  bleibt  sie  schuldig. 


')  Die  Behauptung,  die  romantische  Ironie  beruhe  auf  dem  Grunde  der  roman- 
tischen Auffassung  vom  Tragischen,  lasse  ich  hier  auf  sich  beruhen. 


28Ö  BEMERKUNGEN. 

Sie  verweist  nur  darauf,  daß  ich  in  meinem  Buche  über  Friedrich  Schlegel, 
Leipzig  1913,  S.  VlI,  eine  andere  Auffassung  vertreten  habe.  Ich  stehe  sogar  auf 
einem  noch  viel  radikaleren  Standpunkt.  Ich  glaube,  daß  es  so  bewußte  Naturen, 
wie  sie  eine  in  Schlegel  sehen  will,  in  reichbewegten  Kulturkreisen  überhaupt  nicht 
gibt.  Kein  Mensch,  am  wenigsten  aber  ein  so  gärender  und  in  voller  Revolution 
befindlicher,  wie  Schlegel  einer  im  Jahre  1798  war,  gibt  sich  in  dieser  mathematisch- 
starren Weise  Rechenschaft  von  den  Quellen  aller  Einzelheiten  seines  Denksystems, 
insbesondere  dann  nicht,  wenn  wie  bei  Friedrich  Schlegel  diese  Anregungen  in 
seine  eigene  auf  individuelle  Naturanlage  gegründete  Anschauungswelt  sich  ein- 
fügen derart,  daß  sich  schwer  sagen  läßt,  ob  die  Anregung  ihm  weiter  entgegen- 
gekommen ist  als  er  ihr.  Für  Friedrich  Schlegel  habe  ich  die  irrationale  Grundlage 
seines  Wesens  doch  nicht  nur  in  der  Einleitung  behauptet,  sondern  durch  das  Buch 
eingehend  erwiesen. 

Käte  Friedemann  sagt  nun,  Schlegel  habe  ja  für  die  Lehre  von  der  Ironie  (wie 
alle  Romantiker)  wiederholt  auf  Vorbilder  hingewiesen,  auf  Sokrates,  Sophokles  und 
Shakespeare,  niemals  aber  in  solchem  Zusammenhang  auf  Fichte.  Das  ist  ein  Trug- 
schluß. Auf  Fichte  konnte  in  solchem  Zusammenhang  gar  nicht  verwiesen  werden. 
Dort  handelte  es  sich  um  Theoretiker  und  Praktiker  der  Ironie,  um  den  Lehrer  und 
um  die  Meister  der  Vorstufen.  Das  war  freilich  Fichte  nicht;  er  hat  weder  eine 
Lehre  der  Ironie  als  solche  formuliert,  noch  hat  er  die  Ironie  künstlerisch  gehand- 
habt. Die  immer  nur  behauptete  Beziehung  Fichtes  zu  dieser  Lehre  Schlegels  be- 
steht darin,  daß  er  Begriffsstützen  für  ihren  Bau  geliefert  hat.  Das  ist  aber  etwas 
ganz  anderes. 

Prüfen  wir  nun  die  Beweisführung  Käte  Friedemanns  einmal  nach.  Sie  kenn- 
zeichnet das  Verhältnis  der  romantischen  Persönlichkeit  Schlegels  zum  Universum 
ganz  richtig:  :>Das  Ich  fühlt  sich  klein  in  seiner  Endlichkeit  dem  unendlichen  Uni- 
versum gegenüber  (S.  274),  das  ihm  aber  nicht,  wie  bei  Heine  und  Brentano  als 
die  Macht  der  brutalen  Außenwelt  über  die  Welt  der  Seele  entgegentritt,  sondern 
als  das  Ganze,  dem  der  Teil  sich  liebend  hingibt,  in  das  er  sich  freudig  zu  -ver- 
lieren vermag  und  mit  dessen  innerstem  Wesen  er  sich  eins  weiß.«  Sehr  richtig: 
mit  dessen  innerstem  Wesen  er  sich  eins  weiß!  Noch  mehr:  mit  dem  er  sich 
in  den  Augenblicken  der  romantischen  Ironie  geradezu,  wenn  auch  nur  momentan, 
identifiziert.  Dieser  Gedanke  wird  zu  Unrecht  nicht  in  gleicher  Weise  ausgeführt, 
wie  der  Gedanke  des  Bewußtseins  von  der  Kleinheit  des  Ichs,  wenn  das  Gefühl 
der  Einheit  zurücktritt.  Denn  nun  heißt  es  weiter:  i^Wir  haben  es  hier  im  Grunde 
mit  drei  Faktoren  zu  tun:  mit  dem  Ich,  der  empirischen  Welt  und  dem  Universum, 
das  uns  niemals  als  Erfahrung,  sondern  immer  nur  als  Idee  gegeben  oder  eigentlich 
aufgegeben  ist.  Um  des  letzteren  willen  leiden  die  beiden  ersten,  aber  das  Ich 
betrachtet  sich  selbst  sowie  die  Welt  des  äußeren  Geschehens,  »die  Begebenheiten, 
die  Menschen,  kurz  das  ganze  Spiel  des  Lebens«;,  als  Spiel,  das  heißt  mit  Ironie, 
um  des  Ernstes  jenes  Allumfassenden  willen,  das  ihm  Universum  oder  Gottheit 
heißt«.  Hier  liegt  der  Fehler  in  der  begrifflichen  Ableitung.  Wir  haben  es  bei 
Schlegel  nicht  mit  drei,  sondern  mit  vier  Faktoren  zu  tun.  Es  handelt  sich  nicht 
um  ein  Ich,  sondern  um  zwei  verschiedene  Ich,  um  das  hier  allein  berücksichtigte 
empirische  Ich  und  um  das  absolute  Ich,  welches  als  praktisches  Ich  das  ausführende 
Organ  des  Universums  im  Zustand  der  romantischen  Ironie  ist.  Die  Polarität  von 
Zentrum  und  Peripherie  (das  sind  doch  die  letzten  Grundbegriffe  von  Schiegels 
Lehre)  wird  auf  der  einen  Seite  vertreten  durch  die  empirische  Welt  und  ihre  Er- 
scheinung in  der  Persönlichkeit,  das  empirische  Ich,  auf  der  anderen  Seite  durch 
das  Universum  und  seine  Erscheinung  in  der  Persönlichkeit,  das  absolute  Ich.    Es 


BEMERKUNGEN.  281 


hiuB  also  heißen:  Um  der  letzteren  willen  (Universum  und  absolutes  Ich)  leiden 
die  beiden  ersten.  Und  wenn  Käte  Friedemann  fortfährt:  »aber  das  Ich  betrachtet 
sich  selbst  als  Spiel«,  so  wirft  sie  in  verwirrender  Weise  diese  beiden  Ich  zu- 
sammen.   Es  muß  heißen:  das  absolute  Ich  betrachtet  das  empirische  Ich  als  Spiel. 

Zu  der  Auffassung  von  der  Selbsthingabe,  welche  jene  Stimmung  heiterer 
Ironie  erzeugt,  'die  sich  gegen  das  Ich  selbst  kehrt,  weil  der  einzelne  Mensch  als 
solcher  mit  allem,  was  ihm  das  äußere  Leben  zu  bringen  vermag,  nicht  wichtig 
genug  ist,  als  daß  man  ihn  ernst  nehme«,  zu  dieser  Auffassung  soll  jene  andere 
durchaus  im  Widerspruch  stehen,  die  das  Wesen  der  romantischen  Ironie  gerade 
in  der  Verherrlichung  des  souveränen  Ich  der  Welt  gegenüber  erblicken  möchte. 
Sie  steht  damit  nicht  im  Widerspruch.  Es  ist  die  Machtvollkommenheit  des  abso- 
luten Ich,  das  sich  »mit  dem  innersten  Wesen  des  Universums  eins  weiß«,  welches 
sich  diese  selbstgeschaffene  Welt  in  jedem  Augenblick  wieder  zerstören  kann.  In 
der  Tat  ist  der  Fichtesche  Gedanke,  der  in  der  Entstehungszeit  der  Lyzeums-  und 
Athenäumsfragniente  mit  voller  Wucht  auf  das  sich  entwickelnde  System  Schlegels 
einwirkt,  voll  und  ganz  zur  Geltung  gekommen.  Weshalb  Fichte  nicht  als  Lehrer 
und  Meister  der  Ironie  selbst  genannt  werden  kann,  ist  oben  ausgeführt  worden. 
Wenn  dagegen  Käte  Friedemann  das  Gegenargument  aufstellt,  Friedrich  Schlegel 
bringe,  statt  Fichte  zu  nennen,  die  Ironie  direkt  mit  dem  Begriff  der  Selbstvernich- 
tung in  Verbindung,  und  wenn  sie  sich  dabei  auf  das  Athenäumsfragment  305 
bezieht'),  so  muß  doch  festgestellt  werden,  daß  es  dort  heißt:  »Absicht  bis  zur 
Ironie  und  mit  willkürlichem  Schein  von  Selbstvernichtung  ist  ebenso  wohl 
naiv  als  Instinkt  bis  zur  Ironie.«  Es  handelt  sich  hier  doch  ersichtlich  wieder  um 
die  beiden  Pole.  Die  Ironie  begreift  sie  beide,  die  Absicht  und  den  Instinkt.  Die 
Willkür  ist  für  den  tieferen  Blick  nur  scheinbar,  weil  das  vom  Universum  inspirierte 
und  in  die  Persönlichkeit  wirkende  absolute  Ich  doch  im  letzten  Grunde  naiv  ist. 
Letzthin  ist  eben  die  Selbstvernichtung  auch  nur  positive  Auswirkung,  nicht  negative, 
deshalb  sii/i  specie  aetcrnitatis  gar  nicht  Vernichtung,  sondern  Schöpfung,  conditio 
sine  qua  noii  der  Schöpfung.  Daß  der  Instinkt  bis  zur  Ironie  naiv  ist,  das  leuchtet  ja 
jedem  sofort  ein.  Es  soll  deshalb  gesagt  werden,  daß  Absicht  bis  zur  Ironie  ebenso 
naiv  ist.  K.  Friedemann  stützt  sich  also  auf  eine  Stelle,  die  beim  näheren  Zusehen 
das  Gegenteil  von  dem  beweist,  was  sie  beweisen  soll.  Und  sie  hat  andere  Stellen, 
wo  auch  von  Ironie  und  Selbstvernichtung  zusammenfassend  die  Rede  ist,  wie 
Athenäumsfragment  51  u.a.  einfach  beiseite  gelassen,  obwohl  sie  eine  von  den  ersten 
Forschern  vertretene  Meinung  als  einen  großen  Irrtum  mit  leichter  Gebärde  abtun 
will.  Dieses  letztere  erläutert  Nr.  305  durchaus  gegen  die  Auffassung  Käte  Friede- 
manns. Es  heißt  da  ausdrücklich:  »Naiv  ist,  was  bis  zur  Ironie  oder  bis  zum  steten 
Wechsel  von  Selbstschöpfung  und  Selbstvernichtung  natürlich,  individuell  oder 
klassisch  ist  oder  scheint..  Ironie  wird  also  ausdrücklich  identifiziert  mit  dem 
steten  Wechsel  von  Selbstschöpfung  und  Selbstvernichlung. . 

Friedrich  Schlegel  hat  sich  aber  auch  ganz  unzweideutig  zu  der  Frage  des 
Verhältnisses  von  absolutcTn  und  empirischem  Ich  gerade  in  einer  kritischen  Stellung- 
nahme zu  Fichteschem  Geist  ausgesprochen.  In  der  Rezension  des  Niethammer- 
schen  Philosophischen  Journals  (von  1797!)  führt  er  in  Besprechung  der  Niet- 
hammerschen  »Briefe«  aus-):  »Wenn,  wie  er  behauptet,  nur  dem  transzendentalen 
Subjekt  absolute  Freiheit  beigelegt  werden  kann,  die  er  dem  empirischen  mit  dem 
vollsten  Recht  und   den   bündigsten   Beweisen   abspricht;    wenn   die    praktische 


')  Minor,  Schlegels  Jugendschriften  II,  S.  253. 

■)  Enders,  Fr.  Schlegel,  S.  301  ff.,  Minor  II,  S.  103  ff. 


282  BEMEKKUNÜEN. 


Selbstbestimmung  durchaus  nur  mittelbar  sein  kann,  so  gibt's  überall  keine 
Praxis,  d.  h.  (eben)  Bestimmung  des  Empirischen  durchs  Absolute.  Eine  durchaus 
nur  mittelbare  Selbstbestimmung  enthält  schon  einen  inneren  Widerspruch:  es  wäre 
gar  keine  Selbstbestimnmng  und  kein  Selbst.  Alle  Vermittlungen  sind  empirisch : 
man  kommt  dem  Absoluten  dadurch  um  nichts  näher  und  bleibt  immer  in  den 
Schranken.  Daraus  würde  folgen,  daß  die  Schranken  absolut  wären,  das  Ich  aber 
relativ.  So  ist  es  im  theoretischen  Gebiet.  Gibt  es  ein  praktisches  Gebiet  und  eine 
praktische  Aufgabe,  die  nicht  an  das  reine  Ich  ergehen  kann:  so  muß  es  auch  ein 
praktisches  Ich  geben.  Denn  von  dem  empirischen  Subjekt  als  solchem,  dessen 
Selbsttätigkeit  durch  Naturgesetze  beschränkt  ist,  gänzliche  Vernichtung  aller  Schranken 
absolut  zu  fordern,  wäre  widersprechend.  Das  praktische  Ich  ist  das  Abso- 
lute, insofern  es  das  empirische  bestimmt  oder  umgekehrt.  Die  Mög- 
lichkeit dieser  Bestimmung,  die  nur  unmittelbar  sein  kann,  worauf  es  hier 
eigentlich  ankommt,  folgt  von  selbst,  wenn  das  reine  Ich  absolut  ist.  Es  gibt 
dann  keine  Schranken,  als  die  es  sich  selbst  gesetzt  hat,  also  auch  wieder  durch 
sich  selbst  muß  aufheben  können.  Wird  von  der  Zeit  abstrahiert,  wie  in 
praktischer  Rücksicht  davon  abstrahiert  werden  muß  und  soll  '):  so  ist  die  Macht 
des  Willens  unendlich.  Ein  einziger  synthetischer  Entschluß  kann 
als  erstes  Glied  einer  unendlichen  Progression  von  steten  Freiheits- 
erweiterungen die  Ursache  der  gänzlichen  Vernichtung  aller  Schranken 
sein.  Wie  könnte  die  Kraft  beschrärrkt  sein,  deren  Produkt  absolut  ist,«  das  absolute 
Ich  Fichtes.  »Freilich  aber  darf  man  nicht,'  fährt  er  fort,  »wie  so  häufig  ge- 
schieht, was  nur  fürs  praktische  gilt,  auch  aufs  empirische  Subjekt 
übertrageil.«.  »Wir  können  uns  nicht  mit  einem  Schwertstreich  heilig  machen.« 
Das  war  die  Jakobische  Tendenz,  die  er  in  der  selbstreinigenden  Rezension  von 
Jakobis  »Woldeniar«  so  scharf  und  witzig  abgelehnt  hatte.  >  Es  gibt  gewiß  keinen 
größeren  Unsinn,  als  zu  sagen:  Soeben  habe  ich  mich  durch  reine  Vernunft  selbst 
bestimmt.«  Schlegel  unterscheidet  also  ganz  klar  Fichtes  reines  Ich  und  empirisches 
Ich.  Das  empirische  ist  in  die  Schranken  gebannt,  die  nur  in  unendlicher  Progression 
überwunden  werden  können.  Das  reine  Ich  er.scheint  als  theoretisches,  indem  es 
die  Schranken  setzt,  als  praktisches,  indem  es  sie  überwindet,  vernichtet,  als  abso- 
lutes, indem  es  im  Unendlichen  vollendet  ist. 

Die  ästhetische  Genialität  des  romantischen  Künstler-Menschen  ergibt  sich 
daraus  nun  in  Anlehnung  an  die  (Hemsterhuissche)  Vorstellung,  daß  das  Absolute 
oder  Wesentliche  zur  Erscheinung  hindrängt.  Das  Kunstwerk  entsteht  parallel  der 
Welt  als  Mikrokosmos,  der  schöpferische  Geist  ist  das  Vehikel  des  Absoluten;  das 
reine  Ich  wirkt  in  ihm.  Entsprechend  der  Setzung  der  Schranken  durch  das  theo- 
retische Ich  ergibt  sich  im  Gebiet  des  Ästhetischen  die  Beschränktheit  des  sinn- 
fälligen Ausdrucks  in  der  Gestaltung  (ganz  wie  bei  Hemsterhuis).  Das  empirische 
ästhetische  Ich  könnte  diese  Beschränktheit  in  der  Gestaltung  einer  absoluten  Idee 
auch  nur  in  unendlicher  Progression  überwinden.  Das  praktische  ästhetische  Ich, 
das  verlangt,  daß  die  Gestaltung  die  absolute  Idee  völlig  zur  Anschauung  bringe, 
gibt  den  Antrieb.  Die  Genialität  des  romantischen  Künstlers  besteht  nun  darin, 
daß  das  praktische  Ich  in  der  schöpferischen  Sphäre  seines  künstlerischen  Schaffens 
die  unendliche  Progression  überfliegt  und  die  Schranken  der  empirischen  Gestaltung 
von  der  momentan  erfaßten  absoluten  Idee  her  sieht  und  beurteilt,  ja,  für  diesen 
Moment  vernichten  kann,  um  in  der  Vernichtung  die  Idee  schöpferisch-intuitiv  auf- 


')  In   empirischer  Rücksicht  kann  davon   nicht  abstrahiert  werden,  weil  der 
Zeitbegriff  ja  eine  unlösliche  Anschauungsweise  endlicher  Wesen  ist. 


% 


BEMERKUNGEN.  283 


leuchten  zu  lassen.  Und  der  Zustand,  in  dem  das  gelingt,  ist  der  der  romantischen 
Ironie.  Sie  ist  verankert  in  diesem  Gedankenkomplex.  Ich  kann  mir  nicht  helfen, 
ich  sehe  Schlegel  lächeln  über  einen  Versuch,  sie  in' solcher  Anklammerung  an  das 
Wort  und  sein  Vorkommen,  an  diese  empirische  Stoffverbindung  von  Lauten  und 
Buchstaben,  erklären  zu  wollen. 

So  bleibt  also  die  Einwirkung  Fichtes  auch  nach  der  Anfechtung  durch  Käte 
Friedemann  bestehen.  Nach  den  letzten  Ausführungen,  die  natürlich  noch  in 
gleichem  Sinn  erweitert  werden  können,  ist  es  klar,  daß  es  im  Wesen  der  in  der 
Begabung  mit  der  romantischen  Ironie,  diesem  steten  Wechsel  von  Selbstvernichtung 
und  Selbstschöpfung  bedingten  romantischen  Dichtart  liegen  mufi,  »daß  sie  ewig 
nur  werden,  nie  vollendet  sein  kann«.  »Sie  kann  durch  keine  Theorie  erschöpft 
werden,  und  nur  eine  divinatorische  Kritik  dürfte  es  wagen,  ihr  Ideal  charakterisieren 
zu  wollen,«  eine  Kritik  also,  die  auch  vom  praktisch  gewordenen  absoluten  Ich 
getragen  wäre.  >Sie  allein  ist  unendlich,  wie  sie  allein  frei  ist  und  das  als  ihr 
erstes  Gesetz  .inerkennt,  daß  die  Willkür  des  Dichters  kein  Gesetz 
über  sich  leide.«  An  dieser  Schlegelschen  Festlegung  (Athenäumsfragment  116) 
ist  nicht  zu  deuteln.  Wie  der  Begriff  Willkür  aufzufassen  ist,  haben  wir  oben  ge- 
sehen. Er  ist  die  volle  Freiheit  von  Schranken  des  in  der  Persönlichkeit  wirksamen 
Universums,  sah  specic  aeternitatis  also  gar  keine  Willkür,  sondern  nur  willkürlicher 
Schein;  als  Willkür  nur  dem  empirischen  Ich  erscheinend,  das  sich  der  Vernichtung 
preisgegeben  sieht. 

Einige  Fragmente  ')  werden  das  Bild  noch  lebensvoller  machen.  »Nur  der- 
jenige kann  Künstler  sein,  der  eine  eigene  Religion,  eine  originelle  Ansicht  des 
Unendlichen  hat«  (Idee  13).  Ist  hier  das  Gefühl  der  Abhängigkeit  des  Auserlesenen 
betont,  so  die  Souveränität  des  Künstlers,  auf  dem  der  Abglanz  des  in  ihm  wirk- 
samen Universums  ruht,  in  der  Idee  43:  »Was  die  Menschen  unter  den  anderen 
Bildungen  der  Erde,  das  sind  die  Künstler  unter  den  Menschen.«  In  der  Idee  114 
heißt  es:  »Keiner  soll  bloß  Repräsentant. seiner  Gattung  sein,  sondern  er  soll  sich 
und  seine  Gattung  auf  das  Ganze  beziehen,  dieses  dadurch  bestimmen  und  also 
beherrschen.«  Zwar  heißt  es  in  der  Idee  113  von  einem  Pol  her:  Der  Künstler,  der 
nicht  sein  ganzes  Selbst  (sein  empirisches!)  preisgibt,  ist  ein  unnützer  Knecht«,  und 
die  Idee  131  führt  dazu  aus:  Der  geheime  Sinn  des  Opfers  ist  die  Vernichtung 
des  Endlichen,  weil  es  endlich  ist«,  und  »Menschenopfer  sind  die  natürlichsten 
Opfer.«  Aber  »der  Mensch  ist  mehr  als  die  Blüte  der  Erde;  er  ist  vernünftig, 
und  die  Vernunft  (die  sich  eben  aus  dem  Universum,  von  Gott  her  in  ihm  mani- 
festiert) ist  frei  und  selbst  nichts  anderes,  als  ein  ewiges  Selbstbestimmen  ins  Un- 
endliche ...  In  der  Begeisterung  des  Vernichtens  offenbart  sich  zuerst  der  Sinn 
der  göttlichen  Schöpfung.  Nur  in  der  Mitte  des  Todes  entzündet  sich  der 
Blitz  des  ewigen  Lebens.«  Hier  ist  es  wieder  deutlich  ausgesprochen:  Die 
Selbstvernichtung  (des  Empirischen)  ist  nichts  ohne  die  mit  und  aus  ihr  geborene 
Selbstschöpfung  (des  Absoluten).  Beides  vollzieht  sich  in,  gegen  und  durch  das 
Ich,  das  »Selbst«.  Und  die  Idee  *I4  verkündet,  vom  Nur-Ästhetischen  absehend, 
wie  das  Göttliche  selbst  im  Menschen  wirksam  wird  und  durch  ihn  sich  offenbart: 
»Gott  erblicken  wir  nicht,  aber  überall  erblicken  wir  Göttliches,  zunächst  und  am 
eigentlichsten  jedoch  in  der  Mitte  eines  sinnvollen  Menschen  .  .  .  Nur  der  Mensch 
kann  göttlich  dichten  und  denken  und  mit  Religion  leben  ...  Ein  Mittler  ist  der- 
jenige, der  Göttliches  in  sich  wahrnimmt  und  sich  selbst  vernichtend  preisgibt,   um 


')  Vgl.  dazu   meine  Gruppenanordnung  in   dem   Bärdchen  der  Inselbücherei 
Nr.  179. 


284  BEMERKUNGEN. 


dieses  Göttliche  zu  verkündigen,  mitzuteilen  und  darzustellen...  Ver* 
mitteln  und  Vermitteltwerden  ist  das  ganze  höhere  Leben  des  Menschen,  und 
jeder  Künstler  ist  Mittler  für  alle  übrigen.«  Und  ein  Künstler  ist,  wer  sein 
Zentrum  in  sich  selbst  hat«  (aus  Idee  45).  Auch  da,  wo  er  als  Schriftsteller  von 
der  Notwendigkeit  spricht,  sich  im  Ausgeben  der  Welt  gegenüber  zu-  beschränken, 
meint  er,  das  sei  der  beste  Prüfstein  des  großen  Schriftstellers,  denn  man  kann 
sich  nur  in  den  Punkten  und  an  den  Seiten  selbst  beschränken,  wo  man  unendliche 
Kraft  hat,  Sei  bst  schöpf  ung  und  Selbstbeschränkung  (Lyzeumsfrag- 
mente 37). 

Es  ist  also  wieder  zum  mindesten  sehr  einseitig,  wenn  Käte  Friedemann  der 
Frühromantik  nur  die  begeisterte  Resignation  eines  Spinoza  zuschreiben  will.  Es 
lebt  in  ihr  auch  das  Gefühl  göttlicher  Überlegenheit  über  alle  Kreatur,  jenes  Be- 
wußtsein einer  geistigen  Herrschaft,  das  in  Novalis  so  bezeichnend  zum  jmagischen-, 
die  empirische  Welt  zur  Unterwerfung  zwingenden  Idealismus  sich  verdichtet.  Erst 
als  dieser  Glaube  schwankt  und  erlischt,  wird  der  Platz  frei  für  den  geoffenbarten 
Glauben  der  Kirche,  das  Dogma. 


Regelmäßigkeit  und  Gesetzmäßigkeit  in  der  Architektur. 

•  Von 

Leo  Adler. 

Tritt  man  an  die  geschichtliche  Betrachtung  der  Baukunst  nicht  nur  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  Tatsachenforschung  heran,  sondern  wirft  man  die  Frage  nach 
ihrer  gesetzmäßigen  Entwicklung  auf,  so  stößt  man  nur  zu  bald  auf  den  erschweren- 
den Umstand,  daß  die  kunstwissenschaftliche  Terminologie  häufig  an  einer  be- 
klagenswerten Verschwommenheit  leidet,  daß  das  betreffende  Wort  über  seinen 
Begriffsinhalt  gar  nichts  aussagt.  Allerorten  tritt  die  schon  von  Wölfflin  beklagte 
Tatsache  zutage,  daß  in  der  Kunstwissenschaft  die  begriffliche  Forschung  mit  der 
Tatsachenforschung  nicht  Schritt  gehalten  hat ').  Für  die  Architektur  kommt  noch 
ferner  der  Umstand  hinzu,  daß  es  sich  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  um  übertragene 
Begriffe  handelt,  die  auf  dem  Gebiete  der  Schwesterkünste  gewonnen  sind; 
ich  brauche  nur  auf  den  alten  und  scheinbar  unlöslichen  Streit  um  den  Begriff  des 
Malerischen  und  Unmalerischen  in  der  Architektur  hinzuweisen  -).  Soll  also  eine 
Betrachtung  im  genetischen  Sinne  erfolgen,  so  ergibt  sich  zuvor  die  Notwendigkeit 
der  Untersuchung  und  Zergliederung  der  wichtigsten  Begriffe  sowohl  formal-ästheti- 
scher als  auch  prinzipiell-genetischer  Art  im  Gebiete  der  Architektur.  In  den  folgenden 
Zeilen  soll  unter  diesem  Gesichtswinkel  die  Regelmäßigkeit  und  Gesetzmäßigkeit 
in  der  Baukunst  einer  Betrachtung  unterzogen  werden. 

Fr.  Th.  Vischer  definiert  die  Regelmäßigkeit  als  die  >gleichniäßige  Wiederkehr 
unterschiedener  doch  gleicher  Teile.  Niemals  kann  ein  ganzes  Schönes  darin  er- 
schöpft sein;  nur  als  Teil  in  einem  ganzen  Schönen  kann  streng  Regelmäßiges  auf- 
treten :  mathematische  Formen  wie  Quadrat,   Kreis,  Würfel,  Kugel,  gleiche  Säulen 


')  Wölfflin,  Kunstgeschichtliche  Grundbegriffe,  2.  Aufl.,  München  1917,  S.VIII. 
-)  Vgl.   z.   B.   Gurlitf,   Zum   Wesen    des    Barock    in :  Berliner  Architekturwelt, 
14.  Jahrg.  1912,  S.  40  ff. 


BEMKKKUNUKN.  283 


mit  gleichen  Distanzen,  gleiche  VersfüHe,  gleicher  Takt  ').  Mit  Recht  betont  dem- 
gegenüber Wölfflin-)  das  Unzulängliche  dieser  Bestimm iing,  mit  der  Begründung, 
daß  sich  Regelmäßigkeit  und  Oesetzniäßigkeit,  die  in  Vischers  Definition,  namentlich 
aber  in  den  herangezogenen  Beispielen  durcheinander  laufen,  grundsätzlich  unter- 
scheiden. Nach  Wölfflin  hätten  wir  in  der  Gesetzmäßigkeit  ein  rein  intellektuelles 
Verhältnis  vor  uns«,  während  die  Regelmäßigkeit  ein  physisches-  darstellt.  Wölfflin 
versucht  seinerseits  folgende  Klarstellung:  Die  Oesetzniäßigkeit,  die  sich  in  einem 
Quadrat  ausspricht,  hat  keine  Beziehung  zu  unserem  Organismus').«  (janz  recht: 
nur  lautet  die  Frage  eben,  ob  das  Quadrat  eine  gesetzmäßige  oder  regelmäßige 
Bildung  ist,  da  wir  eben  nicht  beide  Worte  als  Synonyma  auffassen,  wie  es  die 
ältere  Ästhetik  zum  Teil  tat  '). 

Die  Geometrie  spricht  unzweifelhaft  von  der  Regelmäßigkeit  ebener  Figuren 
und  diesen  ist  das  Quadrat  ebenso  unzweifelhaft  unterzuordnen.  Ganz  willkür- 
lich wird,  so  will  uns  scheinen,  Wölfflins  Dialektik  im  Fortgange  seiner  Unter- 
suchung: 'Die  Regelmäßigkeit  der  Folge  ist  uns  etwas  Wertvolles«  ■'),  willkürlich 
deshalb,  weil  hier  die  Regelmäßigkeit  der  Folge  herausgegriffen  wird,  also  wie 
schon  bei  Vischer,  der  aufeinanderfolgenden  Mehrzahl  gleicher  Elemente.  Das  fällt 
aber  unseres  Erachteiis  unter  dasjenige  formal-ästhetische  Prinzip,  das  Semper  mit 
mehr  Recht,  wie  uns  scheint,  Eurhythmie  nennt  (in  bewußtem  Gegensatz  zu  Vitruv 
allerdings)").  Nach  Semper  ist  Eurhythmie  »eine  geschlossene  Aneinanderreihung 
gleichgeformter  Raumabschnitte«  ■),  an  deren  Stelle  selbstverständlich  auch  andere 
ästhetische  Elemente  treten  können,  ohne  etwas  an  dem  Begriff  der  Eurhythmie  zu 
ändern.  Die  Regelmäßigkeit  dagegen  ist  im  weiteren  Sinne  nicht  an  eine  zeitliche 
oder  räumliche  Folge  gebunden,  wie  wir  zeigen  wollen. 

Schmarsow  zieht  die  letzte  Konsequenz  aus  der  Auffassung  der  Regelmäßigkeit 
als  einer  bloßen  Folge:  »Regelmäßigkeit  unterliegt  der  zeitlichen  Auffassung  ... 
Im  Bereich  der  Künste  zeitlicher  Anschauungsformen,  Musik,  Mimik,  Poesie,  herrscht 
sie  ohne  weiteres  als  Grundform").«  Allerdings:  »So  wie  wir  den  Begriff  auf  die 
räumliche  Existenz  übertragen,  scheint  sich  eben  durch  den  Vergleich  mit  einem 
zeitlichen  Nebeneinander,  das  die  Regel  vorschreibt,  der  Widerspruch  zum  räum- 
lichen Nebeneinander  einzustellen.  Wir  sprechen  aber  trotzdem  (!)  von  einem  regel- 
mäßigen Körper,  ohne  Anstoß  zu  nehmen.  Die  Erscheinung  eines  solchen  kristal- 
linisch festen  Gebildes  führt  uns  durch  seinen  Anblick  selbst  dazu,  das  starre  Dasein 
sozusagen  in  zeitliche  Auffassung  aufzulösen').»  Wir  vermögen  unserseits  hierin 
nur  eine  dialektische  Gewaltsamkeit  zu  erblicken,  um  von  dem  gewählten  Ausgangs- 
punkt aus   an  dem  Begriffe  noch  zu  retten,  was  zu  retten  ist.     Wenn  vollends  ge- 

>)  Fr.  Th.  Vischer,  Kritische  Gänge  V,  Stuttgart  1866,  S.  67  ff. 

')  Wölfflin,  Prolegomena  zu  einer  Psychologie  der  Architektur.  Diss.  München 
1886,  S.  20  ff. 

»)  Ebenda  S.  20. 

*)  So  z.  B.  Zeising,  Neue  Lehre  von  den  Proportionen  des  menschlichen  Kör- 
pers usw.,  Leipzig  1854,  S.  332  ff. 

0)  Wölfflin,  a.  a.  O.  S.  20. 

'•)  Vitruv,  Zehn  Bücher  über  die  Architektur,  Ausg.  Reber.  1.  Buch,  2.  Kap., 
Ziff.  3,  S.  13. 

')  Semper,  Der  Stil  in  den  technischen  und  tektonischen  Künsten,  Bd.  I,  2.  Aufl. 
München  1878,  S.  XXVIII. 

*)  Schmarsow,  Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft,  Leipzig  1905,  S.  48. 

»)  Ebenda  S.  4S. 


gS6  BEMERKUNGEN. 

fragt  wird:  »Enthält  die  Vorstellung  (der  Regelmäßigkeit)  nicht  von  vornherein  den 
Impuls  der  Bewegung  mit  ?  '),  so  vermögen  wir  nur  mit  Nein  zu  antworten.  Denn 
inwieweit  z.  B.  die  Vorstellung  von  der  Regelmäßigkeit  eines  Oktaeders  oder  eines 
sonstigen  regelmäßigen  Vielflächners  den  Impuls  der  Bewegung  enthalten  soll,  ist 
uns  unerfindlich.  Um  zu  Gebilden  in  der  Fläche  zurückzukehren:  Wir  halten  mit 
Vischer  an  der  Regelmäßigkeit  des  Quadrates  fest,  wie  der  geometrische  Aus- 
druck nun  einmal  lautet.  ^Quadrat  und  Kreis  .  .  .  sind  beide  regelmäßige  Figuren« 
heißt  es  auch  bei  Lipps ').  Dieser  Eindruck  der  Regelmäßigkeit  soll  nun  laut 
Schmarsow  ein  »Beitrag  des  menschlichen  Subjekts«  sein  und  im  Gegensatz  dazu 
sei  »Gesetzlichkeit  .  .  .  der  Beitrag  der  Außenwelt,  die  Wirkung  der  Natur- 
kräfte« '). 

Bei  dieser  Auffassung  des  Problems  ist  schlechterdings  nicht  einzusehen,  wie 
die  Zahl  regelmäßiger  stereometrischer  Vielflächner  (Polyeder)  durch  mathematischen 
Beweis  auf  fünf  beschränkt  werden  kann  ').  Dazu  müssen  notwendig  objektive 
Merkzeichen  der  Regelmäßigkeit  vorhanden  sein.  Auf  den  subjektiven  Standpunkt 
des  Betrachters  allein  kann  es  füglich  nicht  ankommen,  wie  Schmarsow  will: 
-Unsere  Subjektivität  hat  das  Recht  der  Erstgeburt  für  sich;  allmählich  erst  an- 
erkennen wir  die  Objektivität  des  Bestandes  außer  uns,  damit  aber  hört  dann  die 
sukzessive  Auffassung  als  solche  auf  (d.  h.  die  Regelmäßigkeit)  und  die  simultane 
tritt  an  deren  Stelle  (also  die  Gesetzmäßigkeit)').« 

Kurz,  danach  schlössen  Regel-  und  Gesetzmäßigkeit  keinen  objektiven  Gegen- 
satz in  sich,  sie  wären  lediglich  abhängig  von  der  subjektiven  Auffassung  des  Be- 
schauers, ohne  daß  ein  objektiver  Tatbestand  als  Ursache  vorläge;  objektiv  im 
Sinne  der  Fähigkeit  eines  Objektes,  im  Subjekt  eine  bestimmte  Wirkung  hervor- 
zubringen oder  eine  solche  auszulösen.  Wenn  wir  hier  von  objektiven  nnd  sub- 
jektiven Momenten  reden,  so  ist  es  angesichts  des  erkenntnistheoretischen  Problems 
der  Realität,  d.  h.  eben  des  Verhältnisses  von  Objekt  zu  Subjekt,  erforderlich,  aus- 
drücklich zu  betonen,  daß  wir  die  Realität  der  Dinge  außer  uns  als  eine  schlechthin 
psychologische  Tatsache  hinnehmen.  Damit  sind  wir  von  jeder  metaphysischen 
Deutung  der  gegebenen  Gegenstände  unabhängig,  wir  haben  den  erkenntnistheo- 
retisch neutralen  Standpunkt  gewonnen  . . .  Das  erkenntnistheoretisch  neutrale  Bild 
ist  die  Wirklichkeit,  wie  sie  dem  normalen  Bewußtsein  gegeben  ist,  ohne  jede 
bewußte  oder  unbewußte  vererbte  Denkzutat').«  Von  diesem  Boden  aus  wollen 
unsere  Untersuchungen  :  objektiver  Tatsachen«  verstanden  werden. 

»Regelmäßigkeit  nun  ist  Übereinstimmung  von  Teilen,  Elementen,  Zügen  eines 
Ganzen.  Und  solche  Übereinstimmung  erleichtert  die  Auffassung  des  Ganzen.« 
Diese  Definition  von  Lipps  •)  scheint   uns  den   Kern   der  Sache   noch   nicht  scharf 


')  A.  a.  O.  S.  49.  Vgl.  auch  Lipps,  Grundlegung  der  Ästhetik,  Hamburg  1904, 
3.  Abschnitt.   1.  Kapitel:  Ästhetische  Mechanik. 

-)  Lipps,  a.  a.  O.  S.  40. 

')  Schmarsow,  a.  a.  O.  S.  49. 

*)  Satz  von  Euler:  Ecken  -\-  Flächen  =  Kanten  +  2;  der  Beweis  in  jedem 
Lehrbuch  der  Stereometrie,  z.  B.  Mehler,  Hauptsätze  der  Elementarmathematik, 
22.  Aufl.,  Beriin  1900,  §  211,  S.  187  ff. 

')  Schmarsow,  a.  a.  O.  S.  49. 

•)  Aloys  Müller,  Das  Problem  des  absoluten  Raumes  und  seine  Beziehung 
zum  allgemeinen  Raumproblem  (»Die  Wissenschaft«  XXXIX.  Heft),  Braunschweig 
1911,  S.  3  und  4. 

')  Lipps,  Grundlegung  der  Ästhetik,  S.  IS. 


BEMEiiKUNGEN.  2ft 


genug  zu  treffen;  was  heiBt  hier  Übereinstimimiiisj?  Sie  l<anii  qiianlitativer,  quali- 
tativer, formaler  oder  inlialtliclier  Art  sein ;  sie  kann  die  Symmetrie  umfassen  so  gut 
wie  das  bloße  Ebenmaß,  das  ästhetische  Gleichgewicht  der  Massen.  Wir  meinen  viel- 
mehr: der  Regelmäßigkeit  liegt  der  Funktionsbegriff  zugrunde,  f^egelmäßigkeit  ist 
der  sinnfällige  Ausdruck  der  Funktion.  Das  aber  heißt:  Jedem  gegebenen  Werte 
oder  Zustand  von  A  entsprechen  bei  Regelmäßigkeit  ganz  bestimmte  Werte  oder 
Zustände  von  B,  C  usw.,  und  ausschließlich  diese!  »Demgemäß  schließt  der  kleinste 
Teil,  dieser  (regelmäßigen)  Gebilde  das  Ganze  in  sich  ').'  Ändert  sich  z.  B.  A  in  A', 
so  ist  die  Regelmäßigkeit  des  Gebildes  solange  aufgehoben,  bis  alle  anderen  Be- 
standteile die  zu  A'  gehörigen  Werte  B',  C  usw.  angenommen  haben.  Hat  diese 
Umwertung  einmal  stattgefunden,  so  ist  die  Regelmäßigkeit  sofort  wieder  hergestellt. 
Es  ergibt  sich  die  wichtige  Folge:  Ist  ein  Bruchteil  des  regelmäßigen  Gebildes, 
z.  B.  eines  regelmäßig  gestalteten  Bauwerkes  gegeben,  so  läßt  sich  in  der  Tat 
das  Ganze  mit  Sicherheit  daraus  rekonstruieren-). 

Der  Regelmäßigkeit  steht  nun  die  Gesetzmäßigkeit  gegenüber.  Um  ein  an- 
schauliches Beispiel  zu  wählen:  Die  mathematische  Parabel  ist  eine  regelmäßige 
Kurve,  sinnfälliger  Ausdruck  der  analytischen  Gleichung  y-  =  2px.  Wird  diese 
mathematische  Kurve  in  die  Wirklichkeit  des  lufterfüllten  Raumes  übertragen,  so 
wird  sie  unter  dem  Einfluß  verschiedener  Naturkräfte  (hierin  also  pflichten  wir 
Schmarsow  bei)  zu  der  gesetzmäßigen  Wurfparabel,  der  ballistischen  Kurve.  Er- 
setzen wir  den  vieldeutigen  Begriff  »Naturkräfte  durch  den  eindeutigen  der  »Ener- 
gien«, so  erkennen  wir,  daß  die  Gesetzmäßigkeit  die  sinnliche  Erscheinungs- 
form der  Energien  ist,  wie  die  Regelmäßigkeit  die  der  Funktion.  Wir  verstehen 
hierbei  unter  Energie  alles  »was  aus  Arbeit  entsteht  oder  was  sich  in  (mechanische) 
Arbeit  verwandeln  kann-  '■').  Während  nun  die  Energien,  unter  deren  Einfluß  ein 
gesetzmäßiges  Gebilde  entsteht,  sowohl  innere  als  auch  ursächlich  verknüpfte  äußere 
Kräfte  sein  können,  ist  die  Regelmäßigkeit  ausschließlich  Ausdruck  von  Funktionen, 
dynamisch  gesprochen  Ausdruck  innerer  Kräfte  allein.  Ein  gegebener  Teil  eines 
gesetzmäßigen  Ganzen  läßt  infolge  der  möglichen  Einwirkung  äußerer  Energien 
einen  unfehlbaren  Schluß  auf  das  Ganze  nicht  zu,  wie  es  bei  dem  regelmäßigen 
Gebilde  der  Fall  ist. 

Mit  der  Zuordnung  der  Regelmäßigkeit  zur  Funktion,  der  Gesetzmäßigkeit 
zur  Energie  erscheint  in  der  Tat  ein  wesentliches  Kennzeichen  dieser  beiden  Begriffe 
gegeben  zu  sein,  ein  im  oben  bezeichneten  Sinne  objektives  Merkmal,  das  un- 
abhängig von  dem  Standpunkt  bloß  subjektiver  Stellungnahme  ist. 

War  soweit  die  begriffliche  Unterscheidung  von  Regelmäßigkeit  und  Gesetz- 
mäßigkeit noch  ziemlich  leicht  zu  gewinnen,  so  würden  die  Schwierigkeiten  ins 
Unendliche  wachsen,  wollten  wir  die  Anwendung  dieser  Begriffe  auf  Erscheinungen 
des  Lebens  selbst  vornehmen.  Denn  in  den  Lebenserscheinungen  herrscht  weder 
die  Funktion  noch  die  Energie  allein,  sondern  das  große  Rätsel  Leben !  Das  zu 
untersuchen  ist  nicht  unseres  Amtes,  da  wir  uns  auf  bauhistorischem  Boden  be- 
wegen. Der  Vollständigkeit  halber  sei  nur  darauf  hingewiesen,  daß  das  Ringen 
um  die  hier  in  Rede  stehenden  Begriffsinhalte  im  wesentlichen  den  methodologischen 

')  Lipps,  a.  a.  O.  S.  251. 

^)  Derartige  Fälle  sind  häufig  bei  archäologischen  Rekonstruktionen;  ein  her- 
vorstechendes Beispiel  die  Auffindung  der  Oeisonecke  vom  Tempel  C  zu  Selinunt. 
Vgl.  Koldewey-Puchstein,  Die  griechischen  Tempel  in  Unteritalien  und  Sizilien, 
Beriin  1899. 

•)  Graetz,  Die  Physik  und  ihre  Anwendungen,  Leipzig  1917,  S.  32. 


288  BKMERKUNGEN. 


Streit  zwischen  Naturwissenschaft  und  Kulturwissenschaft  ausmachen  ').  Für  unsere 
Zwecl<e  lassen  wir  es  uns  genug  sein  an  dem  Gewonnenen  und  bemericen  nur 
noch,  daß  ledigh'ch  von  Regelmäßigi<eit  und  Gesetzmäßigkeit  der  Form  die  Rede 
ist,  insbesondere  der  Form  architelftonischer  Gestaltung,  und  hierauf  allein  kommt 
es  uns  an. 

Wir  fassen  das  Ergebnis  dahin  zusammen:  Die  regelmäßige  Bildung  ist  sinn- 
licher Ausdruck  der  Funktion.  Die  Gesetzmäßigkeit  ist  Ausdruck  von  Energien, 
Symbol  eines  Kräftespiels. 

Damit  ist  ein  Ausgangspunkt  gewonnen  zur  Erkenntnis  der  formalen  Polarität 
hellenisch-klassischer  und  germanisch-nordischer  architektonischer  Gestaltung.  Nur 
ein  Ausgangspunkt  allerdings,  keineswegs  eine  Erschöpfung  des  hier  ruhenden 
Gegensatzes,  über  den  an  anderer  Stelle  noch  zu  sprechen  sein  wird. 


Die  Begrenzung  von  Epos  und  Drama  in  der  Theorie 

Otto  Ludwigs. 

Von 

Friedrich  Kreis. 

Die  theoretischen  Schriften  Otto  Ludwigs  sind  erst  nach  des  Dichters  Tode 
an  die  Öffentlichkeit  getreten;  zunächst  gab  Moritz  Heydrich  Leipzig  1872  unter 
dem  Titel  Otto  Ludwig:  Shakespearestudien,  aus  dem  Nachlasse  des  Dichters  heraus- 
gegeben«: tagebuchähnliche  Aufzeichnungen  des  Dichters  in  chronologischer  Reihen- 
folge heraus.  Diese  Ausgabe,  die  den  größten  und  wichtigsten  Teil  des  handschrift- 
lichen Nachlasses,  allerdings  mit  Ausschluß  der  epischen  Studien,  enthält,  fand  dann 
eine  wertvolle  Ergänzung  in  >Otto  Ludwigs  gesammelten  Schriften  (herausgeget)en 
von  Adolf  Stern  und  Erich  Schmidt;  6  Bände,  Leipzig  o.  J.  (1891  92]).  In  dieser  Aus- 
gabe enthalten  Band  5  und  6  die  Studien  und  kritischen  Schriften  (mit  einem  Vor- 
bericht von  Adolf  Stern).  Band  5  enthält  mit  nur  wenigen  Ergänzungen  die  bereits 
von  Heydrich  veröffentlichten  Shakespearestudien ;  neu  in  dieser  Ausgabe  ist  die 
Anordnung  des  Stoffes.  A.  Stern  hat  den  Versuch  gemacht,  das  ungeheuere,  fast 
chaotische  Material,  das  in  dieser  durchaus  unsystematischen  Gestalt  von  Otto  Ludwig 
selbst  wohl  niemals  veröffentlicht  worden  wäre,  wenn  auch  nicht  in  ein  System  zu 
bringen,  so  doch  nach  gewissen  inhaltlichen  Prinzipien  anzuordnen ;  so  stellt  er  zu- 
sammen die  Shakespearestudien  im  engeren  Sinne,  die  Analysen  einzelner  Dramen 
Shakespeares  und  Schillers,  die  dramaturgischen  Aphorismen,  die  den  Reinertrag  der 
Shakespearestudien  enthalten  sollen.  Wenn  diese  Anordnung  auch  ganz  glücklich 
ist,  so  beweist  sie  anderseits  doch,  daß  sich  die  Shakespearestudien  trotz  ihrer 
inneren  organischen  Einheit  infolge  ihrer  äußeren  formalen  Unabgeschlossenheit,  die 
der  vorzeitige  Tod  des  Dichters  verschuldet  hat,  niemals  mehr  in  ein  System  bringen 
lassen-).  Band  6  enthält  neben  allgemein -ästhetischen  Aphorismen,  Gesprächen 
und  Briefen  die  für  uns  wichtigen  Romanstudien.    Eine  knappe  Zusammenstellung 


')  Vgl.  dazu  die  Arbeiten  von  Rickert,  Lamprecht  u.  a.,  vor  allem  aber  Bem- 
heim,  Lehrbuch  der  historischen  Methode,  3.  Aufl.,  Leipzig  1903,  S.  94  ff. 

')  Neuere  Herausgeber  wie  Bartels  und  Eloesser  haben  denn  auch  an  der 
Sternschen  Anordnung  des  Textes  nichts  mehr  geändert. 


BEMERKUNGEN.  289 


der  tlieoretisclieii  Anscliauiingen  iles  Dicliters  jjibt  Ernst  Wacliler:  Über  Otto  Ludwigs 
ästhetische  Oniiidsätze.     In.-Diss.    Berlin  1897.    30  S. 


Wenn  man  als  die  Voraussetzungen  einer  harmonischen  Gestaltung  der  künst- 
lerischen Persönlichkeit  eine  Ausgeglichenheit  oder  ein  Zusammenspiel  von  schöpferi- 
scher Phantasie  und  diskursiver  Reflexion  annimmt,  so  findet  diese  Tatsache  vielleicht 
ihr  äulierliches,  objektives  Widerspiel  in  der  gegenseitigen  Entsprechung  von  innerer 
Aufgabe  des  Künstlers  und  seiner  Gestalt  gewordenen  Leistung.  Wollen  und  Können 
werden  auch  ihrerseits  übereinstinnnen.  Vielleicht  geht  diese  Übereinstimmung  so 
weit,  daß  man  nun  andererseits  aus  einer  Diskrepanz  von  Wollen  und  Können  zurück- 
schließen kann  auf  eine  intellektuell  bestimmte  und  begrifflich  faßbare  Störung  der 
harmonischen  Persönlichkeit  des  Künstlers.  Wo  jene  vollkommene  Übereinstimmung 
von  Phantasie  und  Verstand,  wollen  wir  einmal  psychologisch  primitiv  sagen,  fehlt, 
ist  auch  für  den  Künstler  die  instinktmäßige  Sicherheit  des  Schaffens  verloren ;  an 
die  Stelle  eines  unbewußten  Zusammenspiels  von  Phantasie  und  Verstand  tritt  deren 
bewußt  getrennte  Eigentätigkeit;  die  Phantasie  des  Künstlers  in  dieser  Isolierung 
bar  jeder  Zügelung  und  Sicherheit  sucht  Hilfe  bei  dem  Verstand,  der  nun  seinerseits 
in  Form  einer  nachträglichen  Reflexion  bestimmend  auf  die  Phantasietätigkeit  einzu- 
wirken versucht.  Eine  solche  Diskrepanz  von  Phantasie  und  Verstand  hebt  die  Ein- 
heit des  künstlerischen  Schaffens  und  damit  die  Einheit  des  Kunstwerkes  auf:  sie 
macht  die  eigentliche  Tragik  eines  Künstlerlebens  ans.  Auch  der  tragische  Zwiespalt, 
der  sich  durch  das  ganze  Leben  Otto  Ludwigs  hindurch  verfolgen  läßt,  scheint  auf 
jene  für  einen  Künstler  so  verhängnisvolle  psychische  Erscheinung  ursächlich  zurück- 
zugehen, ihren  Ausdruck  findet  diese  Tatsache  in  dem  schon  in  der  frühesten  Jugend 
des  Dichters  stark  hervortretenden  unsicheren  Schwanken  zwischen  dem  Berufe  des 
Musikers  und  des  Dichters;  später  aber,  nachdem  die  Entscheidung  zugunsten  des 
Dichters  gefallen  war,  in  dem  aufreibenden  Kampfe  des  Dramatikers  mit  dem  Epiker. 
Diese  Situation  beleuchtet  treffend  ein  Ausspruch  Heinrich  von  Treitschkes,  der  von 
dem  Dichter  sagt:  »Durch  solche  verschwenderische  Kargheit  der  Natur,  die  ihm 
einige  herrliche  Gaben  des  Dramatikers,  einige  Kräfte  des  Epikers,  doch  nicht  die 
Harmonie  des  Genies  schenkte,  wird  das  tiefe  Unglück  dieses  ringenden  Dichter- 
geistes vollauf  erklärt.' 

Es  ist  psychologisch  durchaus  verständlich,  daß  der  Unsicherheit  und  Unaus- 
geglichenheit des  dichterischen  Schaffens  auf  der  einen  Seite  eine  um  so  größere 
Klarheit  und  Treffsicherheit  des  Verstandes  in  seiner  Isolierung  gegenüber  steht ; 
ja,  das  Ist  vielleicht  das  entschieden  tragische  Moment  in  dem  ganzen  Unglück  des 
Dichters,  daß  sein  scharfer  Verstand  in  anhaltender,  selbstvernichtender,  grüblerischer 
Reflexion  ihm  die  größte  Klarheit  über  die  Ursache  und  das  Wesen  der  Mängel 
und  Fehler  seiner  künstlerischen  Produktionen  verschafft,  ohne  ihm  jedoch  bei  der 
Gestaltung  selbst  von  wesentlichem  Nutzen  zu  sein.  So  darf  man  vielleicht  die 
etwas  kühne  Behauptung  aufstellen,  daß  erst  das  tragische  Geschick  des  Dichters 
Ludwig  den  Theoretiker  ermöglichte,  der  mit  feinsinniger  Begabung  in  die  Fülle 
der  Krscheimingen  eindrang,  um  aus  ihr  in  unerhörter  Detailforschuug  das  in  ihr 
geltende,  innnerwährende  Gesetz  zu  eruieren.  So  sind  denn  Otto  Ludwigs  Studien, 
sowohl  die  dramatischen  wie  die  epischen,  nicht  aus  einem  wissenschaftlichen  End- 
zwecke heraus  entstanden,  sondern  aus  der  Not  des  Dichters.  Das  Schwanken  des' 
Dichters  Ludwig  zwischen  Epos  und  Drama,  das  ihn  zu  keiner  großen  Leistung 
kommen  läßt,  führt  den  Theoretiker  zu  einer  wunderbaren  Klarheit  über  das  Wesen 
dichterischer  Gattung  überhaupt:  so  entstehen  seine  Studien  über  das  Drama  und 
ZeitKhr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.   XIV.  19 


290  BEMERKUNGEN. 


in  allerdings  weit  geringerem  Umfange  jene  über  die  epische  Dichtung,  besonders 
über  den  Roman.  In  diesen  Studien  erweist  sich  Otto  Ludwig  als  einer  der  fein- 
sten und  tiefsten  Kenner  beider  Kunstarten,  dessen  eindringende  und  eindring- 
liche Charakterisierungen  des  jeweiligen  besonderen  Gattungscharakters  aller  Kunst 
und  damit  auch  der  Dichtkunst  die  Formulierung  unseres  Themas  gestatten,  im 
Sinne  der  Theorie  Otto  Ludwigs  Dram.i  und  Epos  einander  gegenüberzustellen  und 
damit  beide  Kunstgattungen  voneinander  abzugrenzen.  Hier  erhebt  sich  aber  zu- 
nächst eine  Schwierigkeit:  Wenn  wir  vor  aller  ästhetischen  Untersuchung  Bereits 
von  Epos  und  Drama  sprechen,  so  unterscheiden  wir  damit  zwei  Dinge  voneinander 
in  dem  Bewußtsein,  daß  das  Moment  des  Unterschiedenseins  in  der  Sache 
selbst  enthalten  ist.  Die  Unterscheidung  ist  also  eine  logische  Operation, 
ein  Erkenntnisvorgang,  der  zwei  Dinge  von  der  Kategorie  der  Identität  aus- 
schließt. Sind  nun  jene  Elemente,  die  dem  Erkennen  die  Berechtigung 
geben,  zwei  Dinge  voneinander  zu  unterscheiden,  lediglich  objektiver  Struktur, 
Elemente  der  »Wirklichkeit«,  oder  sind  sie  Elemente  des  bereits  ästhetisch 
geformten  Gegenstandes?  Mit  anderen  Worten:  Ist  das  logische  Urteil,  das  Epos 
und  Drama  voneinander  unterscheidet,  ein  reines  Erkenntnisurteil,  oder  baut  es  sich 
auf  auf  einem  ihm  zugrunde  liegenden  und  es  allererst  rechtfertigenden  ästhetischen 
Urteil?  Es  kann  ja  ganz  leicht  der  Fall  sein,  daß  Dinge,  die  für  unser  Erkennen 
eine  Bedeutung  besitzen,  für  unser  ästhetisches  Verhalten  unerheblich  sind;  daß 
wir  wohl  wissen,  was  episch  und  was  dramatisch  ist,  daß  dieses  Wissen  vom 
Epischen  und  Dramatischen  unser  ästhetisches  Verhalten  aber  gar  nicht  berührt. 
Die  Frage  ist  also  die :  Ist  mit  der  Trennung  von  Epos  und  Drama  neben  der  rein 
begrifflichen  Feststellung  zugleich  für  das  Kunstwerk  eine  ästhetische  Forderung  ge- 
geben, ist  die  Reinhaltung  der  Gattung  ästhetisch  gefordert,  oder  ist  das  Ineinander- 
übergehen  der  Gattungen  im  Kunstwerk  etwa  gleichgültig,  also  erlaubt  oder  gar 
erwünscht?  Schiller  äußert  sich  einmal  über  dieses  Problem  in  einem  Brief  an  Goethe 
vom  29.  Dezember  1797  folgendermaßen'):  »Ihr  jetziges  Geschäft,  die  beiden 
Gattungen  zu  sondern  und  zu  reinigen,  ist  freilich  von  der  höchsten  Bedeutung, 
aber  Sie  werden  mit  mir  überzeugt  sein,  daß,  um  von  einem  Kunstwerk  alles  aus- 
zuschließen, was  seiner  Gattung  fremd  ist,  man  auch  notwendig  alles  darin  müsse 
einschließen  können,  was  der  Gattung  gebührt.  Und  eben  daran  fehlt  es  jetzt.  Weil 
wir  einmal  die  Bedingungen  nicht  zusammenbringen  können,  unter  welchen  eine  jede 
der  beiden  Gattungen  steht,  so  sind  wir  genötigt,  sie  zu  vermischen.  Gab'  es 
Rhapsoden  und  eine  Welt  für  sie,  so  würde  der  epische  Dichter  kerne  Motive  von 
dem  tragischen  zu  entlehnen  brauchen,  und  hätten  wir  die  Hilfsmittel  und  intensiven 
Kräfte  des  griechischen  Trauerspiels  und  dabei  die  Vergünstigung,  unsere  Zuhörer 
durch  eine  Reihe  von  sieben  Repräsentationen  hindurchzuführen,  so  würden  wir 
unsere  Dramen  nicht  über  die  Gebühr  in  die  Breite  zu  treiben  brauchen.  Das 
Empfindungsvermögen  des  Zuschauers  und  Hörers  muß  einmal  ausgefüllt  und  in 
allen  Punkten  seiner  Peripherie  berührt  werden ;  der  Durchmesser  dieses  Vermögens 
ist  das  Maß  für  den  Poeten.«  Also  nach  Schiller  kann  wohl  der  strenge  Gattungs- 
charakter ein  ästhetisch  gefordertes  A\oment  sein;  er  muß  es  aber  nicht  sein;  das 
Gattungsmäßige  ist  eben  doch  kein  apriorisches  Moment  am  reinen  Kunstwerk, 
sondern  etwas,  das  bedingt  ist  durch  das  Verhalten  einer  Welt-  oder  Lebenssphäre 
zur  Kunst.  Gab'  es  Rhapsoden  und  eine  Welt  für  sie,  dann  müßte  die  Kunst  auch 
eine  streng  epische   sein.    Das   Übergreifen  der  einen  Kunstgattung  in  die  andere 


■)  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Goethe  \   Stuttgart  (Cotta)  1881,  1.  Bd. 
S.  351. 


BEMERKUNGEN.  29t 


ist  also  da  möglich,  ja  sogar  (geboten,  wo  das  Erleben  selbst  nicht  mehr  ein  rein 
episches  oder  dramatisches  ist.  Völlig  anders  nun  stellt  sich  die  Lösung  dieses 
Problems  bei  Otto  Ludwig  dar;  für  ihn  ist  das  Gattungsmäßige  gleichsam  eine 
absolute  Eigenschaft  am  Kunstwerk.  Er  führt  Lessing  gegen  Schiller  ins  Feld,  der 
gesagt  habe  »ein  Drama  sei  ein  umso  vollkommeneres  Gedicht,  je  mehr  es  Drama 
sei;  das  Drama  müsse  dramatische  Schönheiten  haben;  was  im  Epos,  im  lyrischen 
Gedichte  höchlich  zu  loben  sei,  das  gereiche,  ins  Drama  verpflanzt,  zum  gerechten 
Tadel,  denn  Schönes  sei  nur  an  der  rechten  Stelle  schön«.  Die  Reinhaltung  der 
poetischen  Gattungen  ist  also  eine  höchste  Forderung  für  das  Kunstwerk,  denn  es 
kann  seine  Bestimmung  nur  in  dem  finden,  was  es  durch  seinen  spezifischen  Gattungs- 
charakter zu  erreichen  imstande  ist.  Epische,  lyrische  und  dramatische  Schönheiten 
sind  voneinander  verschieden  und  nur  ein  tadelnswerter  Dilettantismus  kann  diese 
Schönheiten  vermischen  wollen.  Da  es  keine  über  den  Gattungen  stehende  reine 
Kunst  gibt,  so  ist  der  Gattungscharakter  immer  zugleich  mit  dem  einzelnen  Kunst- 
werk gegeben.  Bei  einer  gegenseitigen  Abgrenzung  von  Drama  und  Epos  wird 
es  also  wohl  kaum  genügen,  sozusagen  die  Schnittlinie  zwischen  den  beiden  Gat- 
tungen aufzuweisen,  sondern  erst  wenn  die  Charakterisierung  beider  Gattungen  be- 
grifflich voll  erschöpft  ist,  ist  auch  die  Abgrenzung  beider  Gebiete  vollendet.  Eine 
stete  Voraussetzung  für  dieses  Unternehmen  bleibt  es  natürlich,  daß  die  Begriffe 
von  Drama  und  Epos  in  der  Tat  ästhetisch  bedeutsame  Elemente  der  Kunst  sind, 
daß  die  Kunst  in  ihren  höchsten  und  reinsten  Realisierungen  tatsächlich  diesen 
Gattungscharakter  aufweist.  Und  so  stellt  sich  uns  nun  die  weitere  Frage  entgegen, 
wie  gelangt  Otto  Ludwig  zu  diesen  Begriffen  von  Drama  und  Epos? 

Mit  vielem  Nachdruck  lehnt  der  Dichter  eine  philosophische  Erörterung  des 
Wesens  des  Dramatischen  ab.  Dem  Philosophen  kommt  es  immer  nur  auf  die 
Erörterung  von  abstrakten  Begriffen  an,  so  kann  er  z.  B.  den  Begriff  des  Tragischen 
in  metaphysische  Formulierungen  fassen,  ohne  im  geringsten  den  anschaulichen 
Charakter,  den  die  Tragödie  dem  Tragischen  verleiht,  irgendwie  zu  respektieren ; 
der  [Philosoph  reicht  sozusagen  mit  seinen  Begriffen  nicht  bis  zum  Kunstwerk  hinab 
und  wo  er  es  erwähnt,  da  dient  es  ihm  lediglich  als  Beispiel ;  umgekehrt  geht  der 
Empiriker  auf  die  anschaulich  gegebene  Tatsache  des  einzelnen  Kunstwerks  aus; 
was  dem  Philosophen  nur  Illustrationsmittel,  ist  ihm  Wesen  und  Ziel  seiner  Unter- 
suchung. Auf  dem  induktiven  Wege  einer  Schritt  für  Schritt  vor  sich  gehenden 
Analyse  gelangt  er  zu  den  Gesetzen  des  Kunstwerks,  in  unserem  Falle  des  Dramas. 
So  zerfasert  Otto  Ludwig  bis  ins  kleinste  Detail  die  Technik  ')  des  Dramas  mit  be- 
wunderungswürdigem Spürsinn  und  unendlicher  Geduld,  und  eine  unerschöpfliche 
Fülle  von  wesentlichen  Beobachtungen  ist  sein  Ertrag.  Aber  eine  Grenze  ist  auch 
der  empirischen  Methode  gezogen,  auf  die  es  hinzuweisen  gilt.  Der  Empiriker  muß 
immer  ausgehen  vom  einzelnen  Kunstwerk,  was  aber  auch  er  sucht,  ist  etwas,  das 
über  das  empirisch  Gegebene  hinausragt,  die  Gesetze  des  Dramas,  des  Epos,  den 
Gattungscharakter,  oder  wie  immer  man  das  benennen  mag,  das  Anspruch  auf 
Geltung  erhebt  und  diesen  Anspruch  niemals  rechtfertigen  und  begründen  kann  in 
der  Herleitung  aus  einem  zufällig  Gegebenen.  Wie  also  kann  man,  so  verengert 
sich  jetzt  die  Problemstellung,  unter  Beibehaltung  des  induktiven  Verfahrens  doch 
zu  Ergebnissen  gelangen,  deren  Wert  unabhängig  ist  von  den  einzelnen  empirischen 
Data,  die  ihrerseits  vielmehr  erst  von  jenen  geltenden   Gesetzen  her  Würde  und 


')  Einen  Beweis  für  das  induktive  Verfahren  findet  Heydrich  (a.  a.  O.  LXX) 
u.  a.  darin,  daß  die  Dialoguntersuchungen  den  Charakferuntersuchungen  zeitlich 
vorausgehen. 


J02  BEMERKUNGEN. 


Bedeutung  erlangen  ?  Zunächst  gelten  solche  Gesetze  ohne  Zweifel  für  das  analysierte 
Drama   selbst,   sofern  nur  unter  den  einzelnen  Gesetzen  kein  innerer  Widerspruch 
besteht;  sie  sollen  jedoch  nicht  nur  immanenten  Geltungscharakter  besitzen,  sondern 
transgredient  sein,  auf  die  Sphäre  des  gesamten  Dramas  ausgehen.    Jedenfalls  läßt 
Otto  Ludwig  keinen  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  die  Regeln,  die  er  für  das  Drama 
findet,  eben  die  dramatischen  Gesetze  sind,  daß  sie  unbeschränkte  Geltung  besitzen 
und   fordern.    Wollen   wir  also  mittels  empirischer  Methode  allgemein  gültige  Ge- 
setze finden,  so  müssen  wir  eine,   aber  eine  entscheidende  Voraussetzung  machen, 
nämlich  die,  daß  wir  sie  an  dem  vollendeten  Kunstwerke  suchen,  in  unserem  Falle 
des   Dramas  dort,   wo  der  Gattungscharakter  des  Dramas  am  vollkommensten  er- 
scheint.   Das  ist  nach  Otto  Ludwig  bei  Shakespeare  der  Fall.    Daß  aber  Shake- 
speare die  Vollendung  des  Dramas  bedeutet,   das  kann  man  mit  Otto  Ludwig  nur 
intuitiv  erfassen,  dafür  gibt   es  keinerlei  Beweise  mehr.     Innerhalb  dieser  einzigen 
Voraussetzung   also   gelten   die   Gesetze,  die  Otto  Ludwig  findet,  unerschütterlich; 
für  den   Skeptiker  aber,  der   hier   nicht   mehr  mitgehen  kann,  der  nicht  weiß,  ob 
Shakespeare  die  absolute  Vollendung  der  Kunst  bedeutet,  für  den  werden  auch  Otto 
Ludwigs  dramatische  Gesetze  keine  absolute,  sondern  nur  relativ  bedingte  Geltung 
besitzen.    So  schränkt  sich  der  Begriff  des  Dramas  bei  Otto  Ludwig  erheblich  ein: 
es  ist  der  Begriff  des  Shakespeareschen  Dramas,  der  Shakespeareschen  Tragödie. 
Sehr  deutlich  sagt  er  einmal  an  einer  Stelle  der  Romanstudien  »ich  spreche  nur  von 
der  Tragödie,   indem   diese   eigentlich   der  Gegensatz  des  Romans  oder  Epos  ist'. 
Shakespeare  zollt  Otto  Ludwig  eine  maßlose  Bewunderung.     Ihm  widmet  er  seine 
Studien '),  um  »aus  dem  eigentümlichen  Zwecke  der  tragischen  Behandlung  Shake- 
speares die  psychologische  Notwendigkeit  und  Zweckmäßigkeit  seiner  dramatischen 
Form  nachzuweisen«.      So  wurde  ihm  Shakespeare  geradezu  die  Norm,  der  Regu- 
lator fürs  deutsche  Drama,  der  feste  Maßstab  seines  dramatischen  Urteils,  der  sicherste 
Weg  der  Fortentwicklung   deutscher   Kunst  usw.«  -).    Auf  dem  Boden  des  Shake- 
spearestudiums erwachsen  ihm  die  ästhetischen  Begriffe,  Anschauungen  und  Forde- 
rungen, die   seine   Polemik  gegen  Schiller  begreiflich  machen.    So  interessant  und 
reizvoll   es   auch   wäre,   so  können   wir  doch   nicht  des   näheren  eingehen  auf  das 
Verhältnis   Ludwigs   zu  Schiller,  doch   sei   mit  wenigen  Worten  einer  Abhandlung 
gedacht,   die   sich   dieses  Verhältnis  zum  Gegenstand  gemacht  haf).     Heß  bemüht 
sich,  den  Gegensatz  von  Schiller  und  Otto  Ludwig  auf  die  Formel  vom  Fabel-  und 
Charakterdrama  zu   bringen  und  hat  es  dann  einigermaßen  leicht,  Otto  Ludwig  ad 
absurdum  zu  führen ;  gilt  es  doch  lediglich  nachzuweisen,  daß  auch  bei  Shakespeare 
der  Handlung  hinsichtlich  der  Entwicklung  des  tragischen  Charakters   eine  Bedeu- 
tung zukommt.    In  der  Tat  jedoch  trifft  die  Formulierung  des  Fabel-  und  Charakter- 
dramas den  hier  vorliegenden  Sachverhalt  nicht;  sie  geht  zurück  auf  den  Irrtum  der 
Stürmer  und  Dränger,  daß  zwischen  Shakespeare  und  den  griechischen  Tragikern  ein 


')  Vgl.  R.  M.  Meyer:  Otto  Ludwigs  Shakespearestudium.  Jahrbuch  der  deutschen 
Shakespearegesellschaft,  37.  Jahrgang  1901,  S.  59  ff.  —  Man  wird  R.  M.  Meyer  ohne 
weiteres  zugeben  können,  daß  angesichts  des  unerschöpflichen  Genies  Shakespeares 
auch  Otto  Ludwig  nicht  den  ganzen  Shakespeare  restlos  erfaßt,  sondern  das  in  ihm 
findet,  was  er  sucht.  Jedoch  geht  Meyer  entschieden  zu  weit  in  der  Annahme,  der 
Theorie  Ludwigs  entspreche  als  sachliches  Substrat  nicht  die  Tragödie  Shakespeares, 
sondern  das  Drama  Ibsens. 

«)  Heydrich  a.  a.  O. 

')  j.  Heß:  Otto  Ludwig  und  Schiller.  Versuch  eines  Ausgleichs  zwischen 
Fabel-  und  Charakterdrama.     Diss.  Cöln  1902. 


BKMERKUNGEN.  293 


prinzipieller  Unterschied  bestehe;  ihn  zu  entdecken  blieb  diesen  Theoretikern  vor- 
behalten, nachdem  Lessing  die  Übereinstininiunü  Shakespeares  mit  Aristoteles 
festgestellt  hatte.  Und  so  definierte  denn  Lenz  in  den  .Anmerkungen  über  das 
Theater^  (1774)  den  Unterschied  zwischen  Fabel-  und  Charakterdrama  mit  den  vagen 
Worten,  dali  in  dem  einen  der  Charakter,  in  dem  anderen  die  Handlung  die  »Haupt- 
sache, seil  Daß  in  dem  Gegensatz  von  Otto  Ludwig  und  Schiller  die  Bedeutung 
von  Charakter  und  Handlung  eine  große  Rolle  spielt,  ist  gewiß.  Doch  verschließt 
man  sich  von  vornherein  dem  Verständnis  Otto  Ludwigs  und  Shakespeares,  wie  er 
ihn  auffaßt,  wenn  man  die  Beziehungen  von  Charakter  und  Handlung  als  ein  ein- 
faches Kausalverhältnis  deutet  in  dem  Sinne,  daß  also  entweder  der  Charakter  die 
Handlung  ursächlich  bestimmt  oder  umgekehrt.  Otto  Ludwig  hat  demgegenüber 
immer  wieder  betont,  daß  sowohl  Handlung  wie  Charakter  von  sich  aus  unab- 
hängige Kausalreihen  ausgehen  lassen,  die  sich  selbst  nie  berühren,  vielmehr 
parallel  nebeneinander  hergehen.  Allerdings  sind  beide  aufeinander  bezogen  (sonst 
könnten  sie  nicht  einmal  parallel  sein),  indem  die  Kausalreihe  der  Handlung  die 
symbolische  Realisierung  der  Kausalreihe  des  Charakters  (des  Idealnexus)  darstellt. 
Lediglich  in  diesem  Symbolcharakter  besteht  die  formale  Abhängigkeit  der  Hand- 
lung vom  Primat  des  Charakters.  Nachdem  es  sich  also  erwiesen  hat,  daß  die 
Beziehungen  von  Charakter  und  Handlung  auf  einer  ganz  anderen  Ebene  liegen, 
als  die  Theorie  des  Charakter-  und  Fabeldramas  glauben  machen  wollte,  dürfte  auch 
einleuchtend  sein,  daß  auf  dieser  Grundlage  aus  ein  billiger  Ausgleich  nicht  mehr 
möglich  ist.  Der  tragische  Charakter  ist  nach  Otto  Ludwig  bei  Shakespeare 
wesentliches  Moment  der  Tragödie ;  er  bestimmt  zwar  nicht  die  Handlung,  aber 
diese  ist  doch  nur  seinetwegen  da  ').  Daß  diese  exzeptionelle  Stellung,  die  dem 
tragischen  Charakter  bei  Shakespeare  zukommt,  nun  weder  auf  Zufall  noch  auf 
Willkür  beruht,  vielmehr  nur  der  Ausdruck  einer  ursprünglichen,  primären  Eigen- 
schaft alles  Dramatischen  ist,  werden  wir  sogleich  sehen. 

Die  erste  und  grundlegende  Eigenschaft  des  Dramas  ist  sein  Charakter  als 
Darstellung  unmittelbarer  Anschauung.  Das  Epos  berichtet,  das  Drama  stellt  dar! 
Was  kann  nun  aber  dargestellt  werden  für  die  unmittelbare  Anschauung  unserer 
Sinne?  Sehen  wir  von  dem  Medium  des  Mimischen  in  der  Darstellung  ab,  so  bleibt 
auch  dem  Drama  wie  dem  Epos  das  Medium  der  Sprache-).  Berichten  kann 
nun  die  Sprache  alles ;  das  stoffliche  Gebiet  des  Epos  ist  daher  unendlich ;  Begeben- 
heiten, Zuständlichkeiten,  die  ganze  Welt  der  Objekte,  die  Natur,  alles  das  kann 
Gegenstand  des  Epos  sein.  Jedoch  unmittelbar  darstellen  kann  die  Sprache  nur 
das,  was  in  der  Wirklichkeit  selbst  die  Modifikationen  seines  Wesens  in  der  Sprache 
zur  sinnlichen  Erscheinung  bringt,  das  ist  die  menschliche  Seele.  Im  Mittelpunkt 
des  Dramas  steht  also  ein  psychisches  Sein,  für  die  Tragödie  übersetzt  ein  Charakter 
und  zwar  ein  tragischer  Charakter.  Dieser  tragische  Charakter  ist  der  einzige  Sinn 
der  Tragödie,  in  ihm  ist  die  Einheit  und  die  Idee  des  Dramas  gefunden.    Die  Ent- 


')  Daß  umgekehrt  bei  Schiller  der  Handlung  eine  wesentliche  und  zwar 
moralische  Struktur  zugehört,  die  Shakespeare  ganz  fremd  ist,  daß  also  in  der  Auf- 
fassung dieser  bedeutsamen  Momente  Otto  Ludwig  ganz  richtig  gesehen  hat,  geht 
eindeutig  hervor  aus  der  lichtvollen  Darstellung  bei  Friedrich  Gundolf :  Shakespeare 
und  der  deutsche  Geist.    Beriin  1911,  S.  286  ff. 

•)  Auch  in  der  Frage  der  Formwirkung  der  Sprache  gehen  die  Anschauungen 
Otto  Ludwigs  und  Schillers  weit  auseinander,  was  Heß  a.a.O.  übersehen  hat; 
darauf  aufmerksam  macht  O.  Walzel:  Formen  des  Tragischen,  eine  Vorstudie.  Inter- 
nationale Monatsschrift  1914,  S.  463  ff.  und  582  ff. 


294  BEMEKKUNGEN. 


Wicklung  der  Handlung  ist  nur  die  symbolische  Realisierung  der  an  sich  selbständig 
angelegten  Entfaltung  des  Charakters.  Die  Handlung  selbst  kann  keinen  unmittel- 
baren Einfluß  auf  das  Wesen  des  tragischen  Charakters  ausüben:  der  Charakter 
wird  nicht  erst  im  Laufe  der  Handlung  durch  irgendwelche  Situation  tragisch,  der 
tragische  Konflikt  ist  vielmehr  ein  ursprünglicher  Kampf  im  Innern  des  Helden,  der 
aus  dem  Widerstreit  einer  großen  Leidenschaft  mit  einem  Affekte  erwächst.  Die 
Leidenschaft  ist  typisch ;  sie  ist  das  allgemein-menschliche,  nichtindividuelle  Moment 
des  Tragischen,  ohne  welches  das  Tragische  überhaupt  nicht  allgemein  mitteilbar, 
überhaupt  nicht  verständlich  wäre.  Aber  dieser  allgemein-menschliche  Charakter 
der  Leidenschaft  hindert  nun  doch  nicht,  daß  der  tragische  Charakter  selbst  gar 
nichts  Allgemeines,  sondern  etwas  durchaus  Singulares,  Einmaliges  ist  Diese  Einzig- 
artigkeit und  Einmaligkeit  des  Charakters  besteht  darin,  daß  er  gebunden  ist  an 
einen  Helden,  der  aus  voller  Freiheit  heraus  in  vollkommener  Unabhängigkeit  von 
der  Situation  den  Widerspruch,  seine  tragische  Schuld,  zur  Entfaltung  bringt  und 
durchführt  bis  zum  Bewußtsein  dieses  Zwiespaltes  als  einer  Verschuldung.  Dieses 
Bewußtsein  schließt  die  Sühne  in  sich  ein.  Schuld  und  Sühne  müssen  daher  in  der 
Tragödie  in  einer  ganz  bestimmten  Proportion  zueinander  stehen,  was  man  auch 
so  formulieren  kann,  daß  man  sagt:  der  Held  ist  der  Mensch,  der  aus  seiner  Leiden- 
schaft heraus  sich  selbst  vernichtet.  Wo  dies  nicht  der  Fall  ist,  fehlt  auch  jedes 
tragische  Moment  im  Charakter.  So  kann  z.  B.  ein  Typus  wie  der  Erbförster  nie 
tragisch  sein;  Otto  Ludwig  hat  es  selbst  ausgesprochen.  Der  Erbförster  ist  kein 
freier,  leidenschaftlicher  und  heldenhafter,  sondern  ein  kleiner,  unfreier,  mit  seiner 
Umgebung  verwachsener  Mensch,  dessen  Verschuldung  keine  große  Leidenschaft, 
sondern  eine  fixe  Idee  ist.  Aber  auch  da  wird  nie  tragische  Wirkung  eintreten,  wo 
der  Vernichtung  eines  Menschen  keine  Schuld  als  ihre  ideale  Vorbedingung  vorher- 
geht, also  dort,  wo  der  blinde  kausale  Verlauf  der  Ereignisse  unerwartet  und  plötz- 
lich ein  Menschenleben  vernichtet.  Gerade  dem,  was  man  im  Sprachgebrauch  des 
täglichen  Lebens  »tragisch«  nennt,  fehlt  gemeinhin  jedes  Kennzeichen  des  wirk- 
lich Tragischen:  die  Beziehung  des  Bewußtseins  zum  Tode').  Vorbedingung  zur 
tragischen  Wirkung  ist  also  immer  die  große  Leidenschaft  eines  Helden  z.  B.  Ham- 
lets ;  in  diesem  Falle  allerdings  eine  passive  Leidenschaft,  eine  Leidenschaft  des 
»Nichthandelnvvollens<.  Daß  wirklich  dies  die  letzte  Quelle  alles  Tragischen  bei 
Shakespeare  ist  und  nicht  doch  etwa  die  aus  der  Handlung  resultierende  Situation 
das  Tragische  bedingt,  kann  man  an  der  Bedeutung  ermessen,  die  dem  Monolog 
in  der  Tragödie  zufällt.  Weit  entfernt  davon,  etwas  Lyrisches  oder  Episches  zu 
sein,  hat  der  Monolog  die  dramatische  Bedeutung,  den  tragischen  Charakter  des 
Helden  zum  Bewußtsein  zu  bringen.  Vergleicht  man  daraufhin  die  vier  Monologe 
Hamlets  miteinander  ohne  Berücksichtigung  der  dazwischenliegenden  Handlung, 
so  wird  man  feststellen,  daß  in  ihnen  jedes  Moment  der  Entwicklung  oder  Ver- 
änderung fehlt.  Schon  im  ersten  Monologe  ist  der  gesamte  Gedankeninhalt  der 
drei  übrigen  Monologe  enthalten.    Das  scheint  doch  in  der  Tat  darauf  hinzuweisen, 


')  Da  Otto  Ludwig  die  Quelle  des  Tragischen  bei  Shakespeare  nicht  im  re- 
flektierenden Bewußtsein,  sondern  in  einer  ursprünglichen  organischen  Leidenschaft 
und  ihrem  Konflikte  mit  einem  ebenso  ursprünglichen  Affekt  gefunden  hatte,  so 
hieße  es  ihn  sicher  mißverstehen,  wollte  man  seinen  Definitionen  der  tragischen 
Schuld  und  Sühne  eine  eng  moralische  Deutung  unterlegen.  Ich  kann  daher  auch 
Gundolf  nicht  zustimmen,  der  a.  a.  O.  meint,  die  Kritik  Ludwigs  an  Schiller  habe 
den  ethischen  Aspekt  selbst  nicht  aufgehoben,  in  dem  alles  Tragische  bei  Schiller 
erscheint. 


^ 


BEMERKUNGEN.  295 


daß  der  tragische  Keim  im  Charakter  des  Helden  latent  enthalten  ist,  ehe  die  Hand- 
lung überhaupt  einsetzt.  Nennen  wir  die  bisher  geschilderten  ideellen  Zusammen-, 
hänge  mit  Otto  Ludwig  den  Idealnexus,  so  wird  dessen  Verwirklichung  sich  voll- 
ziehen in  der  pragmatischen  Verknüpfung  der  Handlung;  mit  ihr  ist  eine  neue, 
zweite  Welt  hinzugekonnnen,  in  der  alle  Erscheinungen  ihre  Parallele  finden;  auf 
der  einen  Seite  also  ergibt  der  Charakter  Schuld  und  Sühne,  auf  der  anderen  be- 
dingt die  Handlung  die  Verschuldung  und  die  Katastrophe.  Die  Handlung  muß 
also  die  Idee  der  Tragödie  zur  Erscheinung  bringen;  ihr  kausales  Geschehen  ist  ein 
Symbol  für  die  innere  Notwendigkeit,  daher  der  Dichter  auch  ihre  Gestaltung  unter 
dem  Gesichtspunkte  der  Zweckmäßigkeit  vollzieht.  Ohne  Zweifel  ist  es  auch  die 
Handlung,  die  den  ersten  Anstoß  zur  Entfaltung  des  Charakters  gibt.  Hamlet  ist 
der  Mensch,  der  nie  handelnd  in  die  Welt  eintreten  wird,  da  erwächst  ihm  aus  der 
Situation  die  Forderung,  doch  zu  handeln,  nämlich  den  Tod  seines  Vaters  zu  rächen. 
Die  richtige  Entfaltung  der  Charaktere  ist  also  eine  wesentliche  Aufgabe  der  Hand- 
lung; dabei  zeigt  sich,  daß  der  tragische  Charakter  durchaus  nicht  immer  sich  im 
Zustande  des  Affektes  befindet;  der  Dichter  läßt  ihn  vielmehr  erscheinen  in  einer 
gleichmäßigen  Ruhe,  die  es  ihm  erst  ermöglicht,  die  Steigerung  in  den  Affekt  vor- 
zunehmen. Das  wichtigste  Mittel,  dessen  sich  die  Handlung  bedient,  ist  die  Moti- 
vierung; sie  ist  nach  Otto  Ludwig  eine  spezifische  Krscheinung  des  Dramas;  motiviert 
wird  die  Katastrophe,  das  Schicksal  des  Helden,  aus  seiner  Schuld,  diese  wieder 
ans  seinem  Charakter.  Dabei  darf  der  Dichter  im  Drama  nichts  geschehen  lassen, 
das  wir  nicht  nach  der  bisherigen  Motivierung  notwendig  erwarten  müssen ;  er  darf 
aber  auch  nicht  eine  Entwicklung  dem  Zuschauer  wahrscheinlich  machen,  die  dann 
tatsächlich  gar  nicht  eintritt.  Die  Zweckmäßigkeit,  unter  der  die  Handlung  im  Drama 
steht,  bedingt  eine  enge  Geschlossenheit,  eine  straffe  Konzentrierung  der  Handlungs- 
elemente, der  die  mannigfachsten  Mittel  dienstbar  sind.  An  erster  Stelle  steht  die 
ideale  Behandlung  von  Raum  und  Zeit.  Der  Zuschauer  tritt  nicht  mit  seiner  Zeit- 
auffassung an  die  Handlung  heran,  wir  erleben  eine  kontinuierliche  Abfolge  von 
Vorgängen,  ohne  sie  auf  den  inzwischen  erfolg[ten  Zeitablauf  zu  beziehen.  Eine 
ähnliche  Oleichgültigkeit  für  die  Geschehnisse  besitzt  der  Ort.  Ein  Mittel,  trotz  der 
Beengung  durch  die  Form  eine  Mannigfaltigkeit  doch  dramatisch  wirken  zu  lassen, 
sind  die  kontrastierenden  Doppelhandlungen,  in  denen  mehrere  Charaktere  in  bezug 
auf  eine  gemeinsame  Eigenschaft  kontrastiert  werden.  Ein  reiches  Mittel  der 
Charakterisierungskunst  ist  dem  Dichter  in  der  Sprache  gegeben;  so  gestaltet  er 
den  Dialog,  dem  eine  Menge  anschaulicher  Mittel  lebhaften,  dramatischen  Charakter 
verleihen. 

Weit  geringeren  Umfangs  sind  Otto  Ludwigs  Aufzeichnungen  über  Epos  und 
Roman ;  allerdings  ist  mit  der  vollständigen  Charakterisierung  des  Dramatischen  auch 
für  die  Abgrenzung  dieses  Begriffes  vom  Epischen  Positives  geleistet  und  für  die 
Charakterisierung  des  letzteren  Vorarbeit  getan.  Den  großen  epischen  Gedichten, 
der  Ilias,  der  Äneis  usw.  entnimmt  Otto  Ludwig  die  Tatsache,  daß  im  Mittelpunkte 
ihres  Interesses  keine  Hauptfiguren,  sondern  Sachen  stehen;  so  bedeute  Helena  nur 
eine  Sache,  um  die  gekämpft  wird.  Der  Roman  ist  ästhetisch  minderwertiger  als 
das  Epos,  seine  Gattung  steht  in  der  Mitte  zwischen  Epos  und  Drama.  Wenn  Otto 
Ludwig  zur  Analyse  des  Dramas  sich  an  Shakespeare  wenden  mußte,  so  tritt  da- 
gegen der  Qattungscharakter  des  Romans  nach  seiner  Auffassung  am  besten  in 
Durchschnittserscheinungen  zutage.  Um  also  die  Gesetze  des  Romans  kennen  zu 
lernen,  muß  man  sich  an  die  Romanschreiber  zweiten  Ranges  und  besonders  an  die 
Engländer  dieser  Klasse  wenden.  Otto  Ludwig  hat  denn  auch  selber  hauptsächlich 
Scott  und  Dickens  analysiert.    Während  im  Drama  ein  Charakter  das  Interesse  des 


296  BEMERKUNGEN. 


Ganzen  bedingte,  wird  das  episclie  Interesse  eingenommen  von  der  Mannigfaltigkeit 
der  Begebenheiten  des  Lebens.  In  dieser  Region  bekommen  daher  auch  jene  oben 
erwähnten  im  populären  Sinne  des  Wortes  »tragischen«  Ereignisse  eine  künstlerische 
Bedeutung.  In  der  Bewegtheit  oder  Zuständlichkeit  des  Lebens  selbst  stehen  die 
Romanfiguren  mitten  inne :  Milieu,  Sitte,  Zeitumstände  drücken  den  Menschen  ihren 
Stempel  auf;  nicht  der  freie  Mensch  gefällt  uns  im  Romane,  sondern  der  Mensch 
in  seiner  Determiniertheit.  Es  findet  zwar  auch  ein  Kampf  im  Roman  statt,  aber 
es  interessiert  uns  nicht  seine  Bedeutung  für  das  Schicksal  eines  einzelnen  Menschen, 
sondern  der  Kampf  selbst,  das  Spiel  der  Ereignisse,  die  alle  eingereiht  sind  in  die 
Kette  des  kausalen  Weltgeschehens,  das  ist  der  Gegenstand  unseres  ästhetischen 
Wohlgefallens,  den  wir  als  die  epische  Breite  des  Romans  bezeichnen.  So  dehnt 
sich  die  inhaltliche  Sphäre  des  Epischen  gegenüber  dem  Drama  fast  ins  Unendliche 
aus.  Alles  was  der  Schatz  der  Sprache  nur  immer  berichten  kann,  mag  episches 
Interesse  für  sich  in  Anspruch  nehmen.  Daher  hat  denn  auch  der  Zufall,  die  nicht 
erkannte  oder  nicht  motivierte  Notwendigkeit,  im  Epos  seine  Bedeutung.  Ebenso 
kann  die  Natur  in  ihren  Wirkungen  auf  dem  Kampfplatz  des  epischen  Geschehens 
erscheinen,  denn  der  Schauplatz  der  Geschehnisse  ist  nicht  wie  im  Drama  das  Innere 
eines  Menschen,  sondern  die  gesamte  äußere  und  innere  Welt.  Was  den  Roman 
dem  Drama  nähert,  ist  das  Moment  der  Spannung  ;  doch  ist  diese  im  Roman  wesent- 
lich verschieden  von  der  dramatischen  Spannung.  Im  Drama  ist  die  Spannung  fest 
bestimmt  durch  das  Interesse  an  dem  tragischen  Charakter;  im  Roman  ist  sie  viel 
allgemeiner  und  weniger  eine  Teilnahme  an  dem  Geschick  eines  Helden  als  eine 
Spannung  der  Neugierde  auf  Begebenheiten.  Diese  Unbestimmtheit  der  Spannung 
im  Roman  bedingt  das  Wohlgefallen  an  dem  unaufhörlich  wechselnden  Spiel  der 
Erscheinungen  und  ist  eine  Voraussetzung  für  das  Verständnis  einer  Fülle  von  Kunst- 
griffen, die  dem  Romane  gegenüber  dem  Drama  zu  eigen  sind. 


11 


Besprechungen. 


Richard  Hamann,  Ästhetik.  2.  Aufl.  (Aus  Natur  und  Oeisteswelt,  345.  Bänd- 
chen.)   Verlag  von  B.  O.  Teubner  in  Leipzig,  1919. 

Über  den  Unterschied  der  neuen  zur  alten  Auflage  sagt  der  Verfasser:  »Die 
erste  Auflage  ging  davon  aus,  daß  es  unabhängig  von  den  vielen  kunstwissenschaft- 
lichen Problemen  ein  spezifisch  Ästhetisches  gebe,  und  daß  der  ästhetische  Zustand 
darin  bestände,  allen  Zweckzusaninienhängen  enthoben  und  als  Erlebnis  isoliert  zu 
sein.  In  der  zweiten  Auflage  wird  das  Problem  wesentlich  enger  gefaßt  und  das 
Problem  des  Wesens  des  Ästhetischen  auf  eine  Untersuchung  der  Kigenbedeutsani- 
keif  der  Wahrnehmung  eingeschränkt.«  Ästhetisch  sind  Wahrnehmungen,  wenn  sie 
aus  dem  Zusammenhang  des  Erkennens  und  Handelns  herausgenommen  werden 
und  trotzdem  bedeutsam  bleiben;  die  musikalischen  Tongebilde  sind  das  beste 
Beispiel.  Es  handelt  sich  dabei  nicht  um  wahrgenommene  Dinge,  sondern  um  un- 
mittelbare Wahrnehmungsinhalte.  Will  man  klarstellen,  inwiefern  solche  Wahr- 
nehmungen Selbstzweck  werden  können,  so  ist  die  psychologische  Untersuchung 
der  ästhetischen  Erlebnisse  kein  geeignetes  Mittel.  »Wir  gehen  deshalb  geistes- 
wissenschaftlich vor,  gehen  von  bestimmten  geistigen  Inhalten,  den  Wahrneh- 
mungsgebilden aus,  und  betrachten  diese  nicht  nach  den  Bedingungen  ihres 
Auftretens,  sondern  nach  ihrer  Bedeutung,  die  sie  haben,  und  den  Bedingungen 
dieser  Bedeutung«  (S.  21).  Das  Verfahren  wird  indessen  nicht  eigentlich  durch- 
geführt. Es  wird  bloß  gezeigt,  wie  das  ästhetische  Gebilde  sich  abschließt  (durch 
Rahmung  z.  B.)  und  wie  es  in  sich  selber  konzentriert  und  komponiert  wird;  da- 
neben stellt  Hamann  als  »Intensivierung  der  dargebotenen  Wahrnehmung«  die 
Aktualität,  die  Neuheit,  das  Sensationelle  und  dergleichen,  obwohl  diese  Dinge  mit 
der  Eigenbedeutsamkeit  der  Wahrnehmung  schwerlich  etwas  zu  tun  haben.  Übrigens 
wird  auch  nicht  deutlich,  inwiefern  die  ästhetische  Seite  der  Dichtkunst  durch  die 
vorgeschlagene  Begriffsbestimmung  gedeckt  werden  könnte.  Der  Verfasser  hätte 
vielleicht  gut  getan,  über  Kant,  Hartmann,  Münsterberg,  Jonas  Cohn  hinaus-  und 
zur  Phänomenologie  fortzuschreiten.  Es  ist  ja  viel  Gutes  in  dem  Büchlein,  das 
dem  Inhalt  nach  dogmatisch  und  der  Form  nach  aphoristisch  gehalten  ist;  immer- 
hin wird  die  eigentliche  Ästhetik  Hamanns  erst  durch  eine  umfassende  Darstellung 
zur  Erscheinung  kommen.  Wir  warten  darauf  in  der  Zuversicht,  daß  hierdurch 
unsere  Wissenschaft  erheblich  bereichert  werden  wird. 

Berlin.  Max  Dessoir. 


Oskar  Katann,  Ästhetisch-Literarische  Arbeiten.    Verlagsanstalt  Tyro- 

lia,  Wien-Innsbruck-München.     1918.    371  S. 

Diese  Sammlung  von  Aufsätzen  wird  durch  eine  Auffassung  von  der  Methode 

ästhetischer  Kritik  zu  einem  einheitlichen  Buche.    Der   Verfasser  betont   den  Wert 

der  Tradition  als  gei.stiger  Macht,   er  fordert  Arbeitsteilung  und  Werkfortsetzung 


298  BESPRECHUNGEN. 


Zusammenarbeit  der  Individuen  und  Generationen,  Verknüpfung  des  Allgemeinen 
und  Bleibenden  mit  dem  Individuellen  und  Wechselnden.  Er  unterschätzt  das 
synthetische  Element  nicht,  das  auch  im  Elektizismus  liegt.  Eine  Wahrheit  verliert 
durch  Wiederholung  nichts  an  ihrem  Wert.  Im  Geiste  dieser  Methode  entwirft 
Katann  eine  neuscholastische  Theorie  des  Schönen,  ein  System  der  Künste,  eine 
Theorie  des  Tragischen  usw.,  sich  überall  mit  der  wissenschaftlichen  Tradition  mit 
Sorgfalt  auseinandersetzend.  Da  diese  Auseinandersetzung  nicht  mit  der  Wieder- 
holung alter  Wahrheiten  endet,  mit  Besonnenheit  und  grosser  Literaturkenntnis 
geführt  wird,  liest  man  sie  mit  Gewinn.  Vielleicht  ist  der  Verfasser  in  seiner 
Verehrung  der  Tradition  auch  manchmal  ein  wenig  zu  weit  gegangen.  Nicht  jede 
historisch  vorliegende  Lösung  eines  Problems  trägt  ja  zu  seiner  systematischen 
Förderung  bei,  und  nur  solche  Lösungen  haben  eigentlich  das  Recht,  weiterge- 
schleppt zu  werden,  die  heute  noch  fruchtbar  sein  können.  Doch  dient  das  histo- 
rische Material  bei  Katann  nie  dazu,  den  Mangel  an  eigenen  Gedanken  zu  ver- 
decken. Seine  Kritik  des  Vorhandenen  ist  nie  kleinlich  mörgelnd,  sondern  selb- 
ständig und  zu  Neuem  führend. 

Merkwürdig  Ist,  daß  der  Verfasser  gerade  in  dem  grundlegenden  Aufsatz  des 
Buches,  dem  Entwurf  einer  neuscholatischen  Theorie  des  Schönen,  eine  historische 
Anmerkung  zu  machen  vergessen  hat,  die  wohl  der  Mühe  wert  gewesen  wäre. 
Man  kann  der  Definition  des  Schönen  als  einer  »naturgemäßen  Betätigung  der  ge- 
samten vom  Objekt  ausgelösten  Erkenntniskräfte«  nicht  lesen,  ohne  an  Kants 
Theorie  vom  Spiel  der  Erkenntnisvermögen  zu  denken.  Bei  aller  Verschiedenheit 
rückt  durch  die  Betonung  des  Begriffs  der  Erkenntnis  in  dieser  Definition  die  neu- 
scholastische  Ästhetik  in  eine  scholastische  Gedankengängen  sonst  recht  fremde 
Nähe  zu  Kantischen  Gedanken,  und  es  wäre  verdienstlich  gewesen,  die  Verwandt- 
schaft und  den  Gegensatz  der  beiden  Theoren  wenigstens  anzudeuten.  —  Daß 
Katann  das  Verfahren  seiner  Ästhetik,  vom  Menschen,  nicht  von  Gott  auszu- 
gehen, iuduktiu  nennt,  ist  wohl  nicht  zu  billigen,  denn  auch  bei  diesem  Beginn 
wäre  noch  ein  anderes  als  induktives  Verfahren  möglich.  Die  Andeutung,  die  er 
am  Schlüsse  über  die  Beziehung  der  Trinitätslehre  zum  Schönheitsbegriff  macht, 
sind  tiefsinnig  und  schön,  aber  sie  zeigen  auch,  daß  eine  Ästhetik,  die  zu  solchen 
Gipfeln  führt,  nicht  induktiv  heißen  kann. 

Auch  die  »synthetische-  Lösung  des  Problems  der  Geltung  des  ästhetischen 
Gefallens  scheint  mir  nicht  ganz  glücklich.  Katann  meint,  jeder  fällt  sein  ästhetisches 
Urteil  nach  dem  Kulturstand  und  seiner  psychischen  Beschaffenheit  —  Insofern  ist 
die  Theorie  der  Relativität  Im  Recht.  Die  Objektivität  aber  wird  dadurch  gewahrt, 
daß  man  ein  typisches.  Ideales,  ästhetisches  Gefallen  annimmt,  dessen  Korrelat  der 
Typus  einer  idealen  Kunst  wäre,  an  deren  Wesen  die  verschiedenen  Werke  der 
Völker,  Zelten  und  Individuen  Anteil  haben.  Auch  auf  dem  Gebiet  der  Kunst  also 
herrscht  das  Gesetz  der  Arbeltsteilung  und  Werkfortsetzung.  —  Ich  möchte  diese 
überschauende  Art  der  Betrachtung  nicht  gering  schätzen.  Aber  mir  scheint,  daß 
hier  entweder  ein  kulturhistorisches  Apercu  für  eine  systematische  Lösung  eintritt, 
oder  daß  die  Lösung  wohl  in  einer  ungenannt  bleibenden  tiefer  liegenden  Schicht 
fundiert  sein  mag,  daß  sie  aber  dann  keine  wissenschaftliche  mehr  helssen  kann, 
denn  diese  Schicht  könnte  nur  die  einer  theologischen  Metaphysik  sein.  Es  Ist 
natürlich,  daß  die  religiös-metaphysischen  Voraussetzungen  des  Verfassers  gerade 
beim  Problem  der  Subjektivität  zum  Vorschein  kommen  mußten.  In  allem  übrigen 
merkt  man  nichts  von  Ihnen,  sondern  findet  voraussetzungslose  Forschung.  Der 
Takt  Katanns  tritt  besonders  in  den  Aufsätzen,  die  ästhetische  Grenzfragen  be- 
handeln, hervor,    wie  in  dem  über   die   Tendenz,    über   Dichtung   und  .Moral,    dis 


BKSl'RECHUNGEN.  209 


Freiheit  der  Künste,  und  besonders  in  der  Verteidigung  der  Dicliterin  Handel- 
Mazetti  gegen  die  Anklage  des  Modernismus  in  ihrem  Jesse  und  Maria-Roman. 

Ein  schönes  Beispiel  synthetischer  Betrachtungsweise  gibt  Katann  in  dem  Auf- 
satz -Zur  Theorie  der  Novelle«.  Daß  er  hierbei  auf  den  noch  nicht  genügend  be- 
achteten Thesencharakter  der  Novelle  hinweist,  scheint  mir  ein  besonderes  Verdienst. 
Dabei  hätte  allerdings  das  Märchen  mehr  Berücksichtigung  finden  dürfen,  denn 
Thesencharakter  besitzt  das  Volksmärchen  sehr  oft.  ~  In  dem  Aufsatz  vom  -Wesen 
der  Literaturwissenschaft  tritt  der  Verfasser  für  eine  erkenntnistheoretische  Fun- 
dierung  der  Ästhetik  im  Sinne  einer  objektivistischen  Weltansicht  ein.  Die  prak- 
tischen Beispiele,  in  denen  er  diese  Forderung  zu  erfüllen  sucht  (in  den  Aufsätzen 
>Wert  und  Wertung«,  »Zur  Technik  des  lyrischen  Gedichts-,  Über  den  Titel  im 
lyrischen  Gedicht«,  »Zu  Ibsens  Gespenstern«),  scheinen  zu  beweisen,  daß  er  einen 
ästhetischen  Objektivismus  etwa  im  Sinne  Dessoirs  erstrebt.  Mag  dieser  ästhetische 
Objektivismus  bei  Katann  auch  von  einem  llieologisch-inetaphysischen  getragen  sein, 
so  bedeutet  das,  wie  seine  Aufsätze  zeigen,  für  die  Arbeitsteilung  und  Werkfort- 
setzung auf  ästhetischem  Gebiet  kein  Hemmnis.  Er  hat  in  den  Analysen  des  Auf- 
baus der  Goetheschen  Gedichte  »Mailiedc  und  »An  den  Mond«,  der  Liebesnacht« 
von  Greif  und  des  vierten  Stücks  von  Schönaich-Carolaths  Fatthöme  Musterstücke 
kunstwissenschaftlicher  Kritik  gegeben.  Der  Weg,  den  er  liier  eingeschlagen  hat 
und  den  heute  erfreulicherweise  schon  eine  ganze  Anzahl  Forscher  beschreiten, 
verspricht  uns  die  schönsten  Ergebnisse  für  eine  immer  tiefer  dringende  Erkenntnis 
der  Kunstform  der  Dichtung. 

Berlin.  Alfred  Baeumler. 


M.  v.  B r o e c k e r ,  Kunstgeschichte  im  O r u  n d  r i  li.  Ein  Buch  für  Schule  und 
Haus.  8.  Auflage,  herausgegeben  von  J.  Ziehen.  Mit  129  Abbildungen  im 
Text  und  4  Farbtafeln.  Leipzig  1917,  Verlag  von  Julius  Klinkhardt.  VIII  und 
224  Selten.    8". 

Die  Kunstgeschichte  im  Grundriß  von  M.  v.  Broecker  liegt  nunmehr  in  8.  Auf- 
lage vor.  Ein  Zeichen,  daß  das  Bedürfnis  nach  diesem  für  Schule  und  Haus  be- 
stimmten Leitfaden  immer  noch  groß  ist,  wenn  auch  das  Buch  als  solches  längst 
durch  bessere  Werke  ähnlicher  Art,  wie  etwa  H.  Bergeners  Grundriß  der  Kunst- 
geschichte, überholt  ist. 

Die  oft  ungleiche  Durcharbeitung  des  Büchleins,  das  in  der  zweckmäßigen  Wahl 
der  Abbildungen  häufig  versagt  und  auch  in  bezug  auf  Einteilung  und  Umfang  der 
Kapitel  manches  zu  wünschen  übrig  läßt,  zeigen  dem  kundigeren  Leser  bald  an, 
daß  ein  Pädagoge,  kein  Kunsthistoriker  vom  Fach,  die  neue  Auflage  übernommen  hat. 

Die  Ausführung  der  Abbildungen  ist  für  einen  Grundriß  außerordentlich  be- 
friedigend. Dagegen  ist  zu  beanstanden,  daß  Raffael  mit  sechs,  Michelagniolo  mit  fünf, 
Dürer  hingegen  nur  mit  vier  Stücken  vertreten  ist.  Das  widerspricht  der  Absicht  des 
Buches,  die  deutsche  Kunst  hervorzuheben.  In  einem  solchen  Buch  sollte  z.  B.  Dürers 
.Apostelbild  nicht  fehlen. 

Auch  sonst  ist  die  Wahl  der  Abbildungen  etwas  willkürlich.  Von  Rembrandt 
sind  drei  Blätter  vorhanden:  das  Hundertguldenblatt,  die  Nachtwache  und  das  Bild 
einer  alten  Frau.  Mir  scheint,  die  Anatomie,  die  im  Thema  dem  Hundertguldenblatt 
ähnliche,  in  seelischer  Hinsicht  aber  sehr  viel  tiefer  empfundene  und  feiner  durch- 
dachte Radierung  des  predigenden  Christus,  und  die  Vision  des  Daniel  oder  der 
Segen  Jakobs  hätten  mit  der  Nachtwache  vereint  ein  viel  charakteristischeres  Bild 
von  Rembrandts  Persönlichkeit  ergeben.    Die  Rokokoabbildungen  beschränken  sich 


300  BESPRECHUNGEN. 


auf  zwei  kleine  Dekorationsstücke  und  ein  Rokokokapitell.  Ich  würde  statt  dessen 
eine  Innenarchitektur  eines  der  berühmten  Rokokoschlösser  und  ein  Bild  Watteaus 
bevorzugt  haben.  Befremdend  wirkt  es  auch,  daß  im  19.  Jahrhundert  Meister  ersten 
Ranges  wie  Feuerbach,  ganz  besonders  aber  Leibl  kaum  erwähnt  werden,  während 
Künstler  dritter  Ordnung  wie  Lessing,  Knaus  und  Defregger  sämtlich  mit  Ab- 
bildungen vertreten  sind.  Eine  solche  Zurücksetzung  erster  Künstler  nuiß  ein  geradezu 
falsches  Bild  des  19.  Jahrhunderts  ergeben.  Ich  bemerke  noch,  daß  bahnbrechende 
Maler  und  Bildhauer  wie  Manet,  Monet  und  Rodin  nur  dem  Namen  nach  aufgeführt 
werden,  während  Magnussen  mit  einer  Büste  Lionardos  und  Corot  mit  einer  Land- 
schaft vertreten  ist. 

Am  meisten  aber  muß  es  auffallen,  daß  bei  der  Schilderung  der  niederländischen 
Malerei  des  15.  Jahrhunderts  lediglich  ein  Bild  des  Dirk  Bouts  gegeben  wird,  während 
man  nach  dem  Genfer  Altar,  nach  Hugo  van  der  Goes  und  Rogier  van  der  Weyden 
vergeblich  sucht. 

Zwar  betont  der  Herausgeber  in  der  Einleitung  ausdrücklich,  daß  es  ihm  mehr 
um  den  Text,  als  um  einen  möglichst  reichen  und  vollständigen  Abbildungsschatz 
zu  tun  sei.  Es  ist  richtig,  nicht  die  Zahl  der  Abbildungen  entscheidet  bei  einem 
Abriß  über  Güte  oder  Ungute,  aber  allerdings  die  Wahl,  lüne  gute  Auswahl  ist 
selbst  schon  Text,  ja,  ist  mehr  als  Text.  Diese  aber  ist  es,  die  wir  bei  dem  vor- 
liegenden Büchlein  in  einigen  wesentlichen  Partien  vermissen.  Die  klassisch-antike 
Kunst  und  die  italienische  Renaissance  sind  mit  zutreffenderen  Abbildungen  versehen. 

Bei  der  Einteilung  der  einzelnen  Kapitel  fällt  auf,  daß  die  italienische  Renaissance 
etwa  40  Seiten,  die  flämische  und  niederländische  Malerei  des  17.  Jahrhunderts  da- 
gegen nur  11  Seiten  umfaßt.  So  genügen  dfui  Herausgeber  zur  Schilderung  Rem- 
brandts  zwei  schmale  Seiten,  während  Raphael  mehr  als  der  fünffache  Spielraum  einge- 
räumt wird. 

Der  Text  des  Buches  paßt  sich  besser  als  die  Abbildungen  seiner  Bestimmung 
an.  Hier  spürt  man  auch  am  deutlichsten  die  bessernde  Hand  des  neuen  Heraus- 
gebers, der  die  allzu  breite,  oft  unangenehm  anekdotenhafte  Art  M.  v.  Broeckers 
abfeilt  und  durch  eine  etwas  präzisere,  auf  eigentliche  Kunstfragen  mehr  eingehende 
Darstellungsweise  ersetzt. 

Ein  letztes  Wort  möchte  ich  noch  über  den  neu  hinzugekommenen  Literatur- 
nachweis sagen.  Er  umfaßt  zwei  enggedruckte  Seiten  und  bringt  eine  ganze  Fülle 
aller  möglichen  Werke.  Allein  auch  hier  fehlt  die  sichtende  Hand.  Werke  ersten 
Ranges  sind  oft  neben  unbedeutenden  Büchern  genannt,  z.  B.  neben  Lipps  und 
Schmarsow  H.  Riegel.  Ich  gestehe,  daß  ich  zunächst  geglaubt  habe,  daß  eine  Ver- 
wechslung mit  A.  Riegl  vorliege.  Es  fehlen  Wölfflins  Kunstgeschichtliche  Grund- 
begriffe. Ebenso  vermißt  man  unter  den  Einzelmonographien  Hamanns  Werk  über 
Rembrandts  Radierungen,  das  beste  Rembrandtbuch  neben  Bodes  Rembrandtskizze. 
Unter  den  kunstwissenschaftlichen  Zeitschriften  fehlt  die  Zeitschrift  für  Ästhetik  und 
allgemeine  Kunstwissenschaft.  Außerdem  wäre  dringend  zu  wünschen,  daß  die 
Titel  der  betreffenden  Werke  genauer,  nämlich  mit  Erscheinungsort  und  -jähr  an- 
gegeben würden. 

Breslau.  Elisabeth  von  Orth. 

Oskar  Walzel,  Wechselseitige  Erhellung  der  Künste.  Ein  Beitrag  zur 
Würdigung  kunstgeschichtlicher  Begriffe.  Philosophische  Vorträge,  veröffent- 
licht von  der  Kantgesellschaft.  Nr.  15.  Berlin,  Reuther  &  Reichard,  1917.  92  8. 
Im   Gegensatz  zu   einer  Kunstbetrachtung,   wie   sie   mit  Meisterschaft  Simmel 

pflegte:  Vordringen   zu  den  innerlichsten  Bedingungen,   zu   den     metaphysischen« 


BESPREUIUNGEN.  301 

Voraussetzun<ien  des  künstlerisclien  Schaffens,  widmet  sicli  heute  eine  Anzahl 
von  Denkern  der  bescheidneren  Aufgabe  der  Erforschung  des  Kunstwerks,  seiner 
»Schale«  sagt  Walzel,  und  sucht  zuerst  einmal  das  Äußere  so  genau  wie  möglich 
zu  bestimmen.  In  der  Erkenntnis  dessen,  was  »Technik«  im  höheren  Sinn  heilien 
könnte,  ist  ja  noch  außerordentlich  viel  zu  erobern.  Der  vorliegende  Vortrag  will 
derartigen  Untersuchungen  einen  methodischen  Unterbau  lieiern.  In  vorsichtig  ab- 
wägender Darstellung  prüft  Walzel  eine  Anzahl  ästhetischer  und  historischer  Arbeiten 
nach  ihrem  Ertrag  in  bezug  auf  die  Frage:  »Ist  es  zweckdienlich,  bei  der  Begründung 
der  künstlerischen  Oestaltiing  von  einer  Kunst  durchgehende  Merkmale  zu  berück- 
sichtigen, die  sich  bei  der  Feststellung  der  künstlerischen  Qestaltungsmöglichkeiten 
einer  anderen  Kunst  ergaben?«  Er  hofft,  dal{  sich  für  dieses  Problem  der  Aus- 
druck >wechselseitige  Erhellung  der  Künste«  einbürgern  werde,  wozu  dieser  mir  in 
der  Tat  recht  wohl  geeignet  scheint.  Hauptsächlich  handelt  es  sich  Walzel  um  die 
Vertauschung  von  Begriffen  der  bildenden  Künste  und  Begriffen  der  Poesie.  Nach- 
dem er  sich  mit  Schniarsow  und  seiner  Schule  auseinandergesetzt  hat,  bleibt  er  bei 
Wölfflins  »Kategorien  stehen,  in  denen  er  wohl  mit  Recht  das  bisher  voll- 
kommenste Beispiel  einer  begrifflichen  Bewältigung  des  Formproblems  innerhalb 
einer  bestimmten  Kunst  erblickt.  Er  ist  der  Ansicht,  daß  wir  für  die  Welt  der 
Dichtung  vor  allem  etwas  brauchen,  das  den  Kategorien  Wölfflins  entspricht.  Und 
zwar  soll  die  Erhellung  der  Betrachtung  von  Werken  der  Poesie  durch  die  bei  Be- 
trachtung von  Bildern,  Bauwerken  usw.  gewonnenen  Begriffe  vorläufig  nur  dem 
einzelnen  Kunstwerk  dienen,  nicht  gleich  auf  historische  Reihenbildung  ausgehen. 
Walzel  weist  Strichs  Versuch,  Wölfflinsche  Kategorien  auf  die  Lyrik  des  17.  Jahr- 
hunderts anzuwenden  deshalb  als  bedenklich  zurück,  weil  ein  solches  Unternehmen 
für  das  lyrische  Gebiet  allein  nichts  Kndgültiges  über  den  Stil  einer  Epoche  zutage 
fördern  kann,  wenn  nicht  gleichzeitig  Epos  und  Drama  der  Zeit  herangezogen 
werden.  Erst  Klarheit  über  die  möglichen  Formbegriffe  überhaupt,  das  ist,  wenn 
ich  recht  verstehe,  seine  Meinung,  dann  erst  ihre  historische  Anwendung  —  diese 
aber  auch  in  aller  Breite,  nicht  an  herausgegriffenen  günstigen  Beispielen. 

Diesen  ersten,  kritischen  Teil  des  Vortrags  zu  lesen  ist  ein  Genuß.  Die  Bau- 
steine des  Themas  werden  gleichsam  mit  Eleganz  zusammengefügt  und  prüfend 
gesichtet.  Weniger  glücklich  scheint  mir  der  Verfasser  im  zweiten  Teil,  der  «er- 
kenntnistheoretische  Arbeit«  leisten  möchte.  Walzel  will  bei  bloßen  >Stininuings- 
vergleichen«  nicht  stehen  bleiben.  Nur  wirklich  gemeinsame  Formeigentümlichkeiten, 
sachliche  Übereinstimmung  der  Künste,  gestattet  den  Austausch  der  Forschungs- 
mittel. Er  will  die  Begriffe  streng  logisch  erfassen  und  durchführen.  Bei  dieser 
in  den  Einzelheiten  sich  bewährenden  Feinfühligkeit  für  methodische  Dinge  wun- 
dert man  sich,  daß  Walzel  ganz  darauf  verzichtet,  sein  Problem  in  den  großen 
Aufgabenkreis,  zu  dem  es  gehört,  einzustellen.  Sollte  hier  nicht  ein  wenig  Ab- 
neigung gegen  »Philosophie  mitspielen?  Er  verzichtet  »mit  Absicht«  auf  jede 
»Deduktion^.  Aber  das  Einstellen  eines  Problems  in  den  systematischen  Zusammen- 
hang, in  den  es  gehört,  ist  keine  Deduktion,  und  wer  über  die  Erhellung  der  Künste 
durcheinander  spricht,  dürfte  an  dem  Zentralproblem  der  künstlerischen 
Objektivität  überhaupt  nicht  vorübergehen.  Ich  glaube  bei  Walzel,  wie 
übrigens  auch  bei  Wölfflin,  eine  gewisse  Zurückhaltung  in  den  eigentlich  prin- 
zipiellen Fragen  zu  bemerken,  die  sich  bei  dem  letzteren  wenigstens  —  gelegent- 
lich mit  etwas  Mißtrauen  gegen  »philosophische«  Behandlung  verbindet.  Nun  ist 
ja  der  Historiker  gewiß  nicht  zur  Systematik  verpflichtet.  Ja  er  tut  als  Historiker 
völlig  recht  daran,  sich  von  Systemgedanken  fernzuhalten.  Strebt  er  aber  über  das 
Historische  so  energisch  hinaus,  wie  es  Wölfflin  und  Walzel  tun,  die  doch  weit 


302  BESPRECHUNGEN. 


mehr  geben  wollen  als  eine  Analyse  historischer  Kunstfornien,  strebt  er  also  zum 
Objekt  überhaupt,  so  wird  ihm  die  Besinnung  auf  die  Prinzipien  der  Objekt- 
gestaltung notwendig  und  er  wird  die  Rücksichtnahme  auf  systematische  Grund- 
fragen nicht  umgehen  können.  Es  ist  hier  die  rein  kritische  Systematik,  keinerlei 
willkürliche  metaphysische  oder  sonstwie  philosophische  Voraussetzung  gemeint. 
Philosophisch  heißt  ja  nicht  eine  deduktive,  sondern  eine  die  Einzelprobleme  im 
systematischen  Problemzusammenhang  erblickende  Betrachtungsweise,  die  eine  ins 
einzelne  gehende,  unbefangene,  »induktive  Forschung  nicht  ausschließt,  sondern 
fordert.  Walzels  Problem  gehört  zu  dem  der  kunstwissenschaftlichen  Begriffsbildung. 
Man  könnte  fragen,  welchen  Wert  denn  die  Einstellung  in  dieses  umfassende  Pro- 
blem für  die  Behandlung  einer  Einzelfrage  haben  könnte.  Darauf  ist  zu  antworten, 
daß  dieser  Zusammenhang  bei  Behandlung  einer  konkreten  Einzelfrage  nicht  ver- 
mißt wird,  daß  man  aber  methodologische  Probleme  niemals  außerhalb  des 
Zusammenhangs  behandeln  kann.  Hier  hängt  eins  am  andern,  und  das  scheinbar 
entlegenste  Problem  ist  noch  mit  dem  Mittelpunkt  verbunden. 

Mit  diesen  Bemerkungen  soll  nicht  gesagt  sein,  daß  Walzel  das  methodologische 
Problem  nicht  gefördert  habe.  Mir  scheint  aber,  daß  er  durch  eine  systematische 
Behandlung  seinen  Gedanken  mehr  Halt  und  auch  eine  größere  Präzision  zu  geben 
vermocht  hätte.  Wie  dieser  systematische  Hintergrund  seiner  in  allen  Einzelheiten 
treffenden  Untersuchung  zu  denken  sei,  das  auch  nur  anzudeuten  ist  hier  nicht 
Raum.  Es  soll  nur  noch  auf  den  Reichtum  dieses  Vortrags  an  guten  kritischen 
Bemerkungen  hingewiesen  werden.  Vortrefflich  ist  die  Auseinandersetzung  der 
Schwierigkeiten,  die  sich  ergeben,  wenn  man  auf  Werke  einer  Kunst  Ausdrücke  an- 
wendet, die  dieser  Kunst  selbst  entnommen  sind  (z.  B.  den  Begriff  des  malerischen 
auf  Werke  der  Malerei,  um  einen  besonderen  Stil  zu  bezeichnen).  Wenn  Walzel 
daraus  den  Schluß  zieht,  daß  die  Vermeidung  solcher  Schwierigkeiten  durch  Ver- 
wendung von  Fachausdrücken,  die  einem  andern  Kunstgebiet  entnommen  sind,  ein 
Beweisgrund  für  den  Wert  der  wechselseitigen  Erhellung  der  Künste  sei,  wird 
man  ihm  gerne  zustimmen.  Etwas  zu  zurückhaltend  scheint  es  mir  aber,  weqn  er 
es  »dahingestellt«  lassen  will,  ob  die  Scheidung  von  Epos,  Lyrik  und  Drama  an 
Schärfe  und  Überzeugungskraft  mit  der  von  Malerei,  Plastik  und  Architektur  wett- 
eifern könne.  Ich  dächte,  wer  nicht  einmal  so  große  Formgruppen  völlig  objektiv 
bestimmen  zu  können  glaubt,  wie  sollte  der  noch  Hoffnung  hegen,  bestimmte 
feinere  Unterschiede  innerhalb  der  verfließenden  Gruppen  zu  treffen  und  durch  Ver- 
gleiche mit  anderen  Künsten  erhellen  zu  können?  Dieser  nebenbei  geäußerte 
Skeptizismus  in  einer  so  wichtigen  Frage  hängt  vielleicht  mit  der  erwähnten  Zu- 
rückhaltung in  systematischen  Fragen  zusammen :  denn  mit  der  Scheidung  des 
dichterischen  Objektgedankens  in  den  der  lyrischen,  epischen,  dramatischen  Form 
müßte  wohl  jede  Formsystematik  der  Dichtkunst  beginnen. 

Berlin.  Alfred  Baeumler. 


Steinberg,   S.D..   Ferdinand  Hodler,   ein   Platoniker  der  Kunst.    Mit 

Abbildungen.  Zürich,  Rascher  &  Cie. 
Widmer,  Dr.  Johannes,  Von  Hodlers  letztem  Lebensjahr.  Mit 
4  Kunstdrucktafeln.  Zürich,  Rascher  &  Cie. 
'Ferdinand  Hodler,  ein  Platoniker  der  Kunsts  lautet  die  Aufschrift  eines  Heftes, 
das  der  Verfasser  als  einen  Versuch  bezeichnet  hat.  Er  will  nur  eine  subjektive 
Auffassung  und  Deutung  der  Hodlerschen  Kunst  geben.  Dieser  Vorbehalt  kann 
den  Kritiker  nicht  entwaffnen,  wenn   das  Gebotene  vielfach  in  nicht  persönlichen 


BESPRECHUNGEN.  303 


Deutungen  und  hymnischen  Ergüssen  besieht.  Daneben  finden  sich  freilich  gute 
Beobachtungen  und  manches  von  nicht  bloß  persönlicher,  sondern  allgemeinerer 
Geltung. 

Der  junge  Hodler  ist  Realist,  sein  ideal  die  Wahrheit;  dann  entgleitet  er  dem 
Oenrehaften  und  der  Anekdote,  die  Liebe  zum  Portrait  wird  kühler,  aber  er  ver- 
fällt nicht  der  Oedankenmalerei,  nicht  der  Allegorie,  sondern  erhebt  sich  zum 
stimmungsmäßigen  Symbol.  Von  dem  Bilde  ^Zwiesprache  mit  der  Natur«  —  nackter 
Jüngling  in  Wiesenlandschaft  —  sagt  der  Verfasser:  »Die  Figur  des  Jünglings 
verrät  durch  Gebärde,  Stellung  und  Oesichtsausdruck  bereits  den  liefen  Wunsch 
des  jungen  Künstlers,  über  die  Wiedergabe  des  Greifbaren  und  Wägbaren  hinaus- 
zudringen  und  einzutreten  in  das  unerkannte  und  geheimnisvolle  Gebiet  des  Geisligen 
und  der  Seele.«  Weiterhin  wächst  der  Künstler  über  den  Kreis  des  Individuellen 
in  den  umfassenderen  der  Gemeinschaft;  der  vielerörterte  Parallelismus  und  das 
Motiv  der  Wiederholung  drücken  das  Gemeinsame  einer  Vielheit  aus.  Hodler  hat 
den  Einzelfall  überwunden,  die  Gestalten  werden  zeit-  und  raumlose  Menschen- 
brüder. »Hodler  nimmt  aus  ihrer  Hand  den  Stock,  von  ihrem  Kopf  den  Hut, 
er  entkleidet  sie  modischer  Tracht  und  umhüllt  sie  mit  Gewändern,  die  zeitlos 
sind,  wie  die  Figuren  selbst.  Die  Wände  des  Zimmers,  die  sie  umgrenzten, 
schrumpfen  zusammen,  die  Welt  ist  um  sie  herum.  Nicht  fünf  Leidende,  nicht 
fünf  Enttäuschte  und  Lebensmüde  sitzen  vor  uns:  die  Enttäuschung,  die  Müdigkeit 
selbst  steht  vor  uns  und  erschüttert  uns.«  Daher  «Platoniker«,  Gestalter  von  Ideen. 
Der  Verfasser  zitiert  das  Wort  Heinrich  Heines:  »Wer  mit  den  einfachsten  Sym- 
bolen das  Meiste  und  Bedeutendste  ausspricht,  der  ist  der  größte  Künstler.« 

Ähnlich  erklärt  Steinberg  die  Abkehr  von  der  Farbe  in  den  »Darstellungen 
des  Allgemein-Gültigen«  im  Gegensätze  zu  den  Landschaften;  sie  bedeutet  ja  zweifel- 
los eine  gewisse  Abstraktion,  ohne  daß  man  mit  dem  Verfasser  gerade  eine  Not- 
wendigkeit dafür  wird  anerkennen  können.  Denn  daß  das  >Wechselspiel  der  Farbe, 
das  Licht  des  Augenblicks,  die  Buntheit  einer  bestimmten  Stunde«  bei  »Darstellungen 
des  Ewigen  nicht  paßt,  leuchtet  wohl  ein,  aber  daß  die  Bilder  über  die  Dinglich- 
keit der  Welt  hinauswachsen  (d.  h.  rein  seelische  Stimmungen  verkörpern),  ist 
noch  kein  Grund  gegen  eine  stärkere  Farbigkeit;  soviel  könnte  man  immerhin  von 
den  Expressionisten,  bei  aller  wünschenswerten  Vorsicht  ihnen  gegenüber,  theo- 
retisch lernen.  Hodler  wird  eben  in  jenen  Darstellungen  rein  zeichnerisch,  und 
seine  farbige  Haltung  ist  da  weniger  platonisch  als  protestantisch.  Die  weißen  oder 
kaltgetönten  zeitlosen  Mäntel  der  Gestalten  erinnern  an  die  kalkige  Frostigkeit 
mancher  protestantischen  Kirchenräume ;  beide  Male  liegt  der  Grund  des  Verzichts 
auf  Farbe  in  einem  Streben  nach  reiner  Geisligkeit. 

Die  Darstellung  einer  historischen  Idee  mit  ihrer  Beschränkung  auf  das 
Wesentliche  hat  der  Verfasser  in  dem  Auszuge  der  Jenenser  Freiwilligen  hübsch 
aufgezeigt:  »Man  sieht  es  deutlich  vor  sich,  wie  es  ein  anderer  etwa  gemalt  hätte: 
Ein  Stadtbild  mit  deutschen  Giebeln,  bemalten  Fensterscheiben,  winkligen  Gassen ; 
blumengeschmückte  Jünglinge  füllen  erregt  Straßen,  Müller,  Bräute  und  Schwestern 
tragen  Waffen  nach,  winken  mit  Tüchern  und  Händen  oder  stehen  niedergebeugt 
von  innerem  Schluchzen,  in  liefer  Not  verloren.  Ein  gewalliger  .^pparat  von  Dingen 
und  Menschen  hätte  auf  uns  Wirkung  ausüben,  lärmende  Umständlichkeit  uns  er- 
greifen sollen.«  Dagegen  Hodler:  »Was  bedeutet  ihm  der  Zufall  eines  Ortes,  wo 
das  Ereignis  abrollt,  was  kann  ihm  die  Nebensächlichkeit  unwesentlicher  Umstände 
sein  vor  der  Idee  des  historischen  Geschehens  .  .  .  Nur  so  erklärt  es  sich,  daß  wir 
diese  machtvollen  Werke,  die  doch  gegenständlichste  Wirklichkeit  festhallen,  durch 
abstrakte   Begriffe    umschreiben  können.    So  dürfte   man  unter  den  ^Auszug  der 


304  BESPRECHUNGEN. 


Jenenser  Freiwilligen«  das  eine  Wort:  Begeisterung  setzen,  unter  den  .Teil«  :  Be- 
freiung, unter  den  »Rückzug  von  Marignano« :  Heldentrotz;  die  zweite  Fassung  des 
Hannoveraner  Reforniationsbildes  nannte  Hodler  selbst  -  und  wie  bezeichnend  ist 
das  —  »Einmütigkeit«  und  erliärtete  dadurch,  daß  sein  Bild  nicht  ein  historisches  Er- 
eignis, sondern  einen  historischen  Gedanken  wiedergeben  soll.»  Das  ist  durchaus  zu- 
treffend, ohne  daß  man  gerade  von  Piatonismus  sprechen  müßte.  Man  könnte 
statt  Gedanken  auch  Gefühl  sagen,  wie  denn  die  Begriffe  Begeisterung,  Befreiung, 
Heldentrotz,  Einmütigkeit  Affekte  bezeichnen.  Das  Wesentliche  ist  nicht  die  be- 
grifflich sprachliche  Form  der  möglichen  Bildtitel,  sondern  ihr  Inhalt.  Und  so  dürfte 
sich  denn  auch  —  in  dieser  Hinsicht  —  der  Expressionismus  auf  Hodler  berufen. 
Walzel  sagt  über  die  neue  »Ausdruckskunst«  in  der  Dichtung  (in  »Deutsche  Dich- 
tung seit  Goethes  Tod«):  »Sie  löst  den  Menschen  los  von  dem  Alltag  seiner 
Umgebung.  Sie  befreit  ihn  von  gesellschaftlichen  Banden,  von  Familie,  Pflicht, 
Sittlichkeit.  Er  soll  nur  noch  Mensch,  er  hört  auf,  Bürger  zu  sein.«  Man  darf  aber 
bei  Hodler  auch  an  andere  künstlerische  Welten  denken,  an  die  Monumentalkunst 
der  Giotto,  Masaccio,  Michelangelo,  mit  der  seine  Dramendarstellungen  ebenfalls 
die  Einfachheit  des  Schauplatzes  teilen.  Sie  entspricht  dem  monumentalen  Stil  über- 
haupt.    Im  übrigen  seien  noch  einige  ergänzende  Bemerkungen  gestattet. 

Hodler  erreiclit  seine  stärksten  Wirkungen  keineswegs  immer  bei  allge- 
meinen Inhalten.  Der  Auszug  der  Jenenser  Studenten  oder  der  Rückzug  von 
Marignano  machen  doch  wohl  größeren  Eindruck  als  die  verzückten  oder  nach 
innen  (und  oft  auch  nach  außen,  d.  h.  aus  dem  Bilde  heraus)  lauschenden  Bruder- 
schaften und  Schwesternschaften  der  »Lebensmüden«  oder  der  ^heiligen  Stunde«  usw. 
Und  Hodler  gibt  auch  in  einer  einzigen  Figur  oft  mehr  Symbolik,  mehr  geistigen 
imd  seelischen  Gehalt  als  anderwärts  in  mehreren.  Die  beiden  einzelnen  Lebens- 
müden z.B.  von  1887  greifen  wenigstens,  nach  meinem  Urteil,  stärker  an  das  Ge- 
fühl als  die  Sitzung  der  Vereinigung  von  fünf  Lebensmüden  aus  1891  mit  ihrer 
starren  Symmetrie,  die  mehr  die  Anerkennung  ihrer  Bedeutung«  vom  Betrachter 
zu  heischen  scheinen.  Man  kann  auch  nicht  sagen,  daß  die  Häufung  von  mehreren 
Trägern  derselben  Stimmung  gerade  das  einfachste  Mittel  im  Sinne  jenes  Heine- 
Wortes  wäre.  Hodler  gibt  eben  nicht  Typen,  d.  h.  nicht  besonders  ausgeprägte 
Individuen,  sondern  er  ersetzt  gleichsam  den  Typus  durch  Darstellung  einer  An- 
zahl einzelner  Exemplare:  und  wesentlich  dadurch,  daß  er  in  den  verschiedenen 
Figuren  dieselbe  Stimmung  gibt,  betont  er  die  Meinung  durch  Wiederholung,  durch 
den  -Parallelismus  der  Empfindung«  wie  er  selber  einmal  gesagt  hat.  Er  verwendet 
immer  wieder  das  Motiv  der  Reihung,  das  eines  der  ältesten  Elementarmotive  aller 
Kunst  ist;  er  drängt  also  nicht  zusammen,  sondern  gibt  ein  Nebeneinander;  seine 
Konzentration  besteht  nicht  so  sehr  in  der  seelischen  Vertiefung  des  einzelnen 
Kopfes  und  der  einzelnen  Gestalt,  als  in  dem  Weglassen  des  für  den  Ausdruck 
jener  gemeinsamen  Stimmung  Unwesentlichen.  Er  gibt  keine  Charakterköpfe, 
sondern  Ausdrucksköpfe,  die  nur  keine  heftigen  Affekte,  sondern  mehr  gleichmäßige 
Gefühle  ausdrücken.  Als  Persönlichkeiten  sind  diese  Menschen  nicht  besonders  stark 
erhöht,  sondern  sie  sind  lediglich  von  der  Seite  einer  jeweiligen  Stimmung  her  auf- 
gefaßt und  insofern  eindrücklich.  In  manchem  Bilde  einer  einzelnen  Gestalt  da- 
gegen, namentlich  im  »Tell< ,  stilisiert  er  einen  Menschen  ins  Heroische  und  Mo- 
numentale, und  es  ist  kein  Zweifel  möglich,  daß  dies  eine  höhere  Leistung  ist. 

Die  Wiederholung  und  der  Parallelismus  bringen  freilich  einen  spezifischen 
Ausdruck  des  kollektiven  Zusammenseins  hervor,  doch  ist  meines  Erinnerns  kaum 
je  ausgesprochen  worden,  daß  gerade  in  dieser  »Gemeinschaft«  ein  oft  besonders 
starker  Eindruck  der  Einsamkeit  entsteht.    Die  Figuren,  die  formal  so  intim  auf 


BESPRECHUNGEN.  3Q5 

einander  abgestimmt  sind,  daß  sie  für  sich  allein  formal  gar  nicht  verstanden  würden^ 
bleiben  innerlich  dabei  doch  oft  vollkommen  für  sich,  den  Nachbarn  fremd,  ohne 
innere  Verbindung  mit  ihnen,  als  wüßten  sie  nichts  von  ihnen;  und  so  entbehrt  das 
Ganze  häufig  der  inneren  Geschlossenheit,  ja  der  inneren  Form.  Eine  Anzahl  von 
Bildern  bietet  einen  Gegensatz  dazu  und  stellt  diese  Eigentümlichkeit  anderer  Werke 
ins  Licht.  So  ist  das  frühe  >Turnerbankett>  von  1877  noch  durchaus  gesammelt, 
und  zwar  durch  eine  Handlung,  da  einer  spricht  und  alle  andern  ihn  ansehen; 
auch  der  Schwingerumzug»  von  1882  stellt  eine  Handlung  dar,  ebenso  der  >Rück- 
zug  von  Marignano-,  der  >Jenenser  Auszug«  und  das  Hannoversche  Reforma- 
tionsbild. Und  das  sind  doch  wohl  sehr  beträchtliche  Höhepunkte  Im  Werk^ 
Hodlers,  aber  bei  aller  Ideendarstellung,  die  man  auch  ihnen  zusprechen  kann,  doch 
etwas  grimdsätzlich  Anderes  als'dle  stimrnimgshaften  oder  philosophischen  Bilder 
der  Lebensmüden  oder  der  Enttäuschten  oder  der  heiligen  Stunde  oder  der 
Eurhythniie.  In  dem  Oruppenbilde  des  »neuen  Rütü«  von  1887  haben  wenigstens 
die  einzelnen  Gruppen  lebendige  Beziehung  untereinander,  dank  dem  realen  Vor- 
gang der  Begrüßung  (von  der  in  diesem  Falle  fragwürdigen  symbolischen  Ge- 
staltung sehe  ich  hier  ab).  Dagegen  fehlt  in  der  Gruppe  des  ^Calvin  im  Hofe  d?i; 
Genfer  Hochschule-  von  1884  ein  inneres  Verbundensein  der  Gestalten.  Es  ist,  als 
ob  jeder  für  sich  von  einem  besonderen  Geist  ergriffen  wäre.  In  der  »Nacht«; 
vollends  von  1800  ist  nun  das  Einsame,  die  innere  Entfernung  der  zusammen- 
geordneten,  formal  mit  einander  In  Verbindung  gebrachten  Gruppen  und  Einzel« 
gestalten  sehr  deutlich.  Vielleicht  daß  die  »Lebensmüden«  in  einem  leisen  Ein- 
verständnis nn'teinander  sind;  auch  die  »Eurhythmie<  läßt  die  Annahme  einer 
stillen  inneren  Übereinstimmung  zu ;  aber  z.  B.  in  der  Heiligen  Stunde»  lebt  jede 
Gestalt  bloß  für  sich.  Es  braucht  natürlich  nicht  Immer  eine  Handlung  zu  sein, 
was  die  innere  Verbundenheit  feststellt,  weder  ein  dramatischer  noch  ein  epischer 
Inhalt,  es  genügt  ebensogut  eine  Stimmung;  aber  auch  eine  bewußt  gemeinsame 
Stimmung  fehlt  eben  bei  Hodler  oft;  es  ist  wohl  Stimmungseinheit  da,  doch  keine 
Stimmungsgemeinschaft.  Er  zeigt  gern  mehrere  Ausdrucksfiguren  zusammen,  die 
jedoch  kein  Gefühl  des  Beisammenseins  zu  haben  scheinen.  Wenn  er,  wie  er- 
wähnt, einmal  von  einem  »Parallelisinus  der  Empfindung«  gesprochen  hat,  so  gibt 
er  in  der  Tat  nicht  selten  auch  innerlich  bloße  Parallelen,  die  sich  nicht  schneiden; 
und  nicht  zuletzt  deshalb  behalten  solche  Bilder  etwas  Kaltes.  iV\an  mag  sagen, 
sie  gestalten  Ideen.  Aber  vielleicht  ist  nirgends  so  stark  wie  bei  Hodler  -^  gerade 
in  diesen  starken  künstlerischen  Bindungen  einer  gewissen  Gemeinsamkeit  —  dar- 
gestellt worden,  daß  jede  Seele  immer  allein  bleibt.  Bisweilen  wird  er  das  gewollt 
haben,  etwa  in  den  Lebensmüden«  oder  in  den  »Enttäuschtens  in  anderen  Wer- 
ken aber  wird  es  problematisch  und  in  manchen  zum  Mangel,  zum  Widerspruche 
zwischen  innerer,  isolierender  und  äußerer,  bindender  Form.  Jedenfalls  haben  die 
Figuren  oft  innerlich  keinen  Bezug  zueinander,  keine  innere  Fühlung,  sie  sehen  ins 
Leere  oder  sonstwie  aus  dem  Bild  hinaus,  sprechen  wohl  lebhaft  zu  dem  Betrachter, 
doch  untereinander  scheinen  sie  stunmi  und  taub. 

Manchen  von  ihnen  geht  dadurch,  daß  sie  sich  besonders  lebhaft  an  den  Be- 
trachter wenden,  die  künstlerische  Geschlossenheit  des  völligen  Insichruhens  ver- 
loren. Es  ist  bezeichnend,  daß  in  dem  Bilde  »Blick  ins  Unendliche«  der  Mann,  der 
hoch  auf  einem  Felsen  steht,  der  Unendlichkeit,  der  Hochgebirgslandschaft,  den 
Rücken  wendet  und  den  Beschauer  ansieht.  Abgesehen  davon  ist  auch  die  Pose 
in  ihrer  brnstweitend  gemeinten  Bedeutung  nur  eine  Anweisung  an  die  Vorstel- 
lung, aber  keine  Darstellung  tiefen  Atmens  oder  gesteigerten  Lebensgefühls.  Es 
muß  gesagt  werden  und  es  darf  gesagt  werden,  ohne  die  ragende  Größe  dieses 
Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg  Kunstwissensch.ift.    XIV.  20 


306  BESPRECHUNGEN. 


Künstlers  in  Frage  zu  stellen,  daß  seine  Gebärden  überhaupt  nicht  sehen  schematisch 
lind  ein  wenig  leer  sind.  Das  eigentümh'ch  Inbrünstige  und  Ergreifende  der 
Hodierschen  Kunst  liegt  weniger  in  den  Gesten  und  im  Qesichtsausdruck,  als  in 
einzelnen  Linien,"  sei  es  am  Körper,  im  Gewand  oder  in  der  Landschaft.  In- 
sofern ist  Hodler  in  gewissem  Sinne  Vorläufer  des  Expressionismus,  der  ebenfalls 
auf  die  einfachsten  und  abstrakten  Elemente  der  Sichtbarkeit  zurückgeht.  Eine 
Hodlersche  Gestalt  rührt  oder  erschüttert  oft  durch  die  Lage  einer  Hand,  einer 
Schulter,  oder  sie  sprüht  von  Leben  in  einem  Fuß,  ohne  daß  die  Figur  als  Ganzes 
überzeugend  oder  auch  nur  glaubhaft  zu  sein  braucht.  Die  Oesamthaltung  scheint 
oft  mehr  nach  den  Anforderungen  der  formalen  Komposition  als  nach  inneren  Aus» 
drucksgeboten  gedreht  oder  geschraubt  zu  sein.  Auf  diese  Art  bleibt  in  manchen 
Bildern  etwas  Gewolltes  oder  Gemachtes  zurück.  Der  außerordentliche  Wert  auch 
solcher  Werke  liegt  dann,  abgesehen  von  den  einzelnen  Formelementen,  in  der 
ganz  großen  Bildkomposition,  die  gelegentlich  ebenfalls  etwas  errechnet  wirken 
mag,  fast  immer  aber  den  Stil  des  monumentalen  Wandbildes  besitzt. 

Im  gleichen  Verlage  wie  das  Heft  über  Hodler  den  Platoniker  ist  kurz  darauf 
ein  anderes  »Von  Hodlers  letztem  Lebensjahr«  erschienen.  Sein  Verfasser 
ist  Dr.  Johannes  Widmer,  der  dem  großen  Künstler  persönlich  besonders  nahe 
gewesen  ist.  Feh  hebe  zunächst  einige  Stellen  heraus,  die  an  den  Gedankengang 
der  anderen  Schrift  anklingen.  Hodler  hat  in  den  letzten  Lebensjahren  vornehmlich 
Landschaften  gemalt,  die  wir  in  Deutschland  infolge  des  Krieges  noch  nicht  kennen 
und  auf  die  wir  nach  Widmers  Mitteilungen  besonders  begierig  sein  dürfen.  Diese 
Landschaften  waren  nach  der  Überzeugung  des  Künstlers  anders  als  seine  früheren, 
nämlich  »rf«  iiaysages  pianäairesi^,  planetcrische  Landschaften.  »Sehen  Sie,  wie 
da  drüben  alles  in  Linie  und  Raum  aufgeht?  Ist  ihnen  nicht,  als  ob  sie  am  Rande 
der  Erde  stünden  und  frei  mit  dem  All  verkehrten?  Solches  werde  ich  fortan 
malen.«  Der  Verfasser  sagt  dazu:  Im  Anfang  (dieser  letzten  Zeit)  waren  seine 
Landschaften  noch  irdisch,  gegenständlich  nah,  in  einem  gewissen  Grade  noch  von 
der  Art  des  Naturschnittes.  Auf  den  folgenden  Bildern  aber  trat  das  Einzelne 
mehr  und  mehr  vor  dem  Gesamten,  der  Berg  vor  dem  Gebirge,  das  Gebirge  vor 
dem  All  zurück.  Zwar  verleugnete  die  Sache  ihre  Wahrheit  nirgends.  Die  Än- 
derung betraf  die  Einstellung:  die  Erde  wurde  von  der  Höhe  her  betrachtet.  Sie 
wich.  Ein  Bergrücken  erstand  am  anderen,  wie  Wellen  aufeinanderfolgen.  Und 
er  gab  sich  der  unermeßlichen  Herrlichkeit  und  Klarheit  der  blauen  Wölbung  hin, 
die  sich  über  die  endlosen  Wellenberge  schwang,  aus  dem  Unbekannten  erstieg 
und  ins  Unerforschliche  hinübergriff.  Als  trage  ihn  ein  sieghaftes  Flugzeug,  so 
schuf  er  um  diese  Zeit.  Die  Erde  trat  seinem  sinnenden  und  bildenden  Geiste 
mehr  denn  je  im  Kosmos  entgegen.  Da  waren  sie,  die  planetarischen  Landschaften.« 
Das  ist  freilich  mehr  religiös  als  platonisch.  Auch  Menschen  hat  er  so  gemalt. 
»Die  alte  Besorgnis  um  die  äußere  Ähnlichkeit  entschwand  noch  ganz.  Eine  über- 
wältigende innere  Ähnlichkeit,  die  überpersönliche  Wahrheit  der  Menschenform, 
trat  an  den  Tag.«  Der  Verfasser  sagt  sehr  schön  von  dieser  Kunst,  »der  es  ge- 
geben ist,  das  Vielzuviele  zu  schlichten  und  die  Wirrnis  der  Welt  aufzuhellen:  Was 
war  das  für  eine  Seele,  die  eine  so  krause  Außenwelt  so  heiter  sah  und  ihre 
Rätsel  malend  löste?«  Eine  gute  Unterscheidung  zwischen  Handlungsgeste  und 
Ausdrucksgebärde  findet  sich  gelegentlich  des  großen  Schlachtenbildes  »Murten«, 
dessen  architektonische  Gestaltung  es  erlaubt  hat,  die  einzelnen  Figuren  mit  Be- 
deutung auszustatten:  »Selbstverständlich  heißt  hier  Bedeutung  etwas  anderes  als 
in  Jena.  Wir  stehen  mitten  in  der  Schlacht,  und  jene  gedankentiefen  Gebärden, 
die  Vorgefühle  vor  dem  Kampfe  vergegenwärtigen,   würden  hier  nicht  am  Platze 


% 


BESPRECHUNGEN,  307 


sein.«  Es  ist,  wenn  man  will,  wieder  der  Unterschied  von  dramatischer  nnd  ex. 
pressiver  Darstellung;  bemerl<enswert  bleibt  aber,  daß  das  verhältnismäßig  Expres- 
sionistische nicht  allein  das  letzte  Stadium  der  Hodierschen  Kunst  war,  sondern  daß 
ein  großes  dramatisches  Schlachtenbild  sinnvoll  am  Ende  dieser  Laufbahn  des 
größten  Monumentalmalers  der  letzten  Jahrzehnte  steht. 

Ein  wundervolles  Selbstbildnis  von  1917  geleitet  das  Heft,  kein  früheres  kommt 
ihm  gleich  und  tritt  dem  Betrachter  menschlich  so  nahe:  humorhaft,  leicht  im  Ver- 
gleich mit  den  gespannten  Sehnen  und  Mienen  früherer  Selbstporträts,  in  der  Form 
fest  und  doch  gelöst,  der  Bart  flockig,  —  der  Kopf  eines  Götz  von  Berlichingen, 
ohne  jede  Spur  von  Verfall. 

Das  kleine  Buch  ist  mit  großer  persönlicher  Liebe  geschrieben,  doch  ohne  Ver- 
himmelung,  in  trefflicher  kernhafter  Sprache,  die  an  sich  schon  Genuß  bereitet,  in 
jenem  meisterhaften  Deutsch,  das  dem  Reichsdeutschen  so  oft  an  guten  Schweizer 
Autoren  auffällt.  Die  geistige  Stimmung  und  Haltung  der  Schrift  aber  ist  ein  Wert 
für  sich,  vielleicht  der  schönste,  und  er  kommt  nicht  minder  auf  Rechnung  des  Ver- 
fassers wie  des  Künstlers.  Widmer  kündigt  eine  Charakterstudie  über  Hodler  an. 
Darauf  darf  man  sich  freuen. 

Leipzig.  Erich  Everth. 

Ernst  Cohn-Wiener,  Die  Entwicklungsgeschichte  der  Stile  in  der 
bildenden  Kunst.  Zweite  Auflage,  Leipzig-Berlin  1917.  Verlag  von  B.  G. 
Teubner.  I.  Vom  Altertum  bis  zur  Gotik  (122  S.).  IL  Von  der  Renaissance 
bis  zur  Gegenwart  (105  S.)    Aus  Natur-  und  Geisteswelt,  Band  317  und  318. 

In  seiner  Entwicklungsgeschichte  der  Stile  in  der  bildenden  Kunst,  die  nunmehr 
in  zweiter  Auflage  vorliegt,  hat  Cohn-Wiener  den  Versuch  gemacht,  aus  der  An- 
schauung und  Analyse  der  Kunstwerke  in  Architektur,  Plastik,  Malerei  und  Kunst- 
gewerbe heraus  das  Wesen  der  verschiedenen  Stile  abzuleiten  und  klarzulegen.  Es 
handelt  sich  also  nicht  um  eine  biographische  Charakterisierung  der  einzelnen  Kunst- 
epochen, sondern  ausschließlich  um  die  Feststellung  ihres  Kunstwollens  —  vom 
Altertum  bis  zur  Gegenwart. 

Es  wird  dem  Laien  hierdurch  nicht  nur  die  Möglichkeit  gegeben,  die  in  den 
Kunsthandbüchern  weit  auseinandergezogenen  und  auf  viele  Bände  verteilten  Kunst- 
epochen einmal  im  Zusammenhang  zu  überschauen,  sondern  er  gewinnt  auch,  und 
das  ist  vielleicht  die  Hauptsache,  eine  Anschauung  von  den  eigentlich  künstlerischen 
Problemstellungen.  Gleichzeitig  lernt  er  das  einzelne  Kunstwerk  als  einen  Organismus 
begreifen,  es  als  Ganzes,  aber  auch  in  seinen  einzelnen  Teilen  verstehen,  und  es 
vor  allem  nicht  nur  isoliert,  sondern  aus  dem  Kunstwollen  einer  ganzen  Epoche 
heraus,  die  gerade  diesen  Stil  und  keinen  anderen  wählte,  betrachten.  Er  wird  ferner 
zu  einer  objektiven  Wertung  der  einzelnen  Stile  angeregt,  indem  ihm  immer  wieder 
die  Lehre  entgegentritt,  daß  jeder  Stil  seine  Daseinsberechtigung  hat.  Endlich  wird 
er  durch  eine  feine  und  sorgfältige  Analyse  einzelner  Kunstwerke  zu  einem  genauen 
Sehen  und  zu  einem  Nachempfinden  der  Absichten  des  Künstlers  erzogen.  Ich  weise 
hier  nur  auf  die  Beschreibung  eines  hellenischen  Gefäßes  des  schwarzfigurigen  Stils, 
Michelagniolos  Erschaffung  des  Menschen  oder  Schlüters  Reiterdenkmal  des  Großen 
Kurfürsten  hin. 

Die  alte  Einteilung  des  Büchleins  in  zwei  Bände,  von  denen  der  erste  vom 
Altertum  bis  zur  Gotik,  der  zweite  von  der  Renaissance  bis  zur  Gegenwart  reicht, 
ist  in  der  neuen  Auflage  beibehalten  worden.  Auch  die  Zahl  der  Kapitel  und  die 
Kapitelüberschriften  sind  dieselben  geblieben.  Außer  kleinen  stilistischen  und  in- 
haltlichen Verbesserungen   ist  auch  an  dem  Text,  soweit  ich  sehe,   nichts  Wesent- 


308  BKSPRECHUNGEN. 

liches  geändert  worden;  nur  das  Schlußkapitel  des  zweiten  Bandes:  Das  Wesen  des 
Sliiwerdens  und  die  historische  Stellung  der  gegenwärtigen  Kunst,  ist  umgearbeitet 
und  in  seinen  Grundtendenzen  schärfer  charakterisiert  worden.  Die  Zahl  der  Ab- 
bildungen ist  beträchtlich  vermehrt  worden,  wobei  gleichzeitig  einige  Abbildungen 
der  ersten  Auflage  durch  bessere  ersetzt  worden  sind. 

Zur  Sache  selbst  ist  folgendes  zu  bemerken.  Man  kann  eine  Stilgeschichte 
auf  den  Erscheinungen  aufbauen,  die  den  jedesmaligen  Stil  am  klarsten  und  ein- 
deutigsten verkörpern.  Dadurch  treten  die  Gegensätzlichkeiten  der  einzelnen  Stile 
scharf  hervor,  und  es  ist  möglich,  die  Kunstgesinnungen  der  verschiedenen  Epochen 
reinlich  voneinander  zu  scheiden. 

Daneben  steht  eine  zweite  Betrachtungsweise,  die  das  Hauptgewicht  nicht  auf 
die  Stilhöhen,  sondern  auf  die  Stilübergänge  legt.  Um  es  ganz  kurz  an  einem  Beispiel 
zu  erläutern:  die  erste  Betrachtungsweise  würde  das  Kunstwollen  der  italienischen 
Renaissance  in  Raphael  gipfeln  lassen  und  ihm  dann  im  Barock  etwa  einen  Meister 
wie  Rubens  als  scharfen  Widerpart  gegenüberstellen ;  die  zweite  Art  der  Darstellung 
würde  die  Renaissanceideen  durch  die  Spätwerke  Michelagniolos  unmerklich  in  das 
barocke  Kunstwollen  überleiten.  Diese  Auffassung  beherrscht  den  Entwurf  von 
Cohn- Wiener. 

Sie  hat  ihre  unverkennbaren  Vorzüge.  Indessen  hat  sie  auch  ihre  Bedenken, 
besonders  in  einer  Stilgeschichte,  die  sich  in  erster  Linie  an  den  Laien  wendet. 
Denn  dem  Laien  fällt  es  ohnehin  schon  schwer,  die  einzelnen  Stile  so  weil  zu  über- 
sehen, daß  er  sie,  wenigstens  in  ihren  Hauptzügen,  voneinander  scheiden  kann. 
Findet  er  nun  die  Gegensätze  verwischt  und  statt  ihrer  die  Übergänge  betont,  so 
sieht  er  sich  einer  ungegliederten  Masse  ineinander  zerfließender  Kunstanschauungen 
gegenüber,  auf  die  der  Kantische  Ausspruch  zutrifft:  Anschauungen  ohne  Begriffe 
sind  blind. 

Aber  Cohn-Wiener  geht  noch  weiter.  Er  wünscht  die  Aufhebung  unserer  bis- 
herigen Stilbezeichnungen  zugunsten  von  drei  Kategorien,  die  als  antike,  mittelalter- 
liche und  neuzeitliche  Stilbewegung  bisher  getrennte  Epochen  als  einheitlich  in  ihrem 
Kunstwollen  zusammenfassen.  Jede  dieser  drei  Epochen  würde  dann,  wenn  auch 
in  veränderter  Form,  dasselbe  Bild  dreier  Entwicklungsstufen  aufweisen.  Die  erste 
Stilstufe  ist  die  der  tektonischen  Form.  Sie  bezeichnet  einen  Stil,  der  bestimmt  wird 
durch  das  Gesetz  der  Zweckmäßigkeit  auf  der  einen,  der  Gesetzlichkeit  auf  der 
anderen  Seite.  Die  Zweckkünste,  Architektur  und  Kunstgewerbe,  sind  die  eigent- 
lichen Künste  dieser  Epoche;  Malerei  und  Plastik  werden  als  freie  Künste  nicht 
gepflegt,  sondern  dienen  nur  zum  Schmuck  und  zur  Bereicherung  der  Architektur, 
in  deren  Dienst  sie  gestellt  werden.  Der  Zweckgedanke  beherrscht  die  gesamte 
Kunstübung.  Man  baut  jeden  einzelnen  Bau  streng  dem  Zweck  gemäß,  für  den  er 
bestimmt  ist,  und  zwar  erstreckt  sich  der  Zweckgedanke  auf  den  Außen-  wie  auf 
den  Innenbau,  bis  auf  die  einzelnen  Teile.  Das  Prinzip  der  Gesetzmäßigkeit  spricht 
sich  in  der  natürlichen  Verwendung  der  Formen  aus.  Man  setzt  beispielsweise 
nicht  willkürlich  beliebige  Schmuckformen  auf,  sondern  läßt  diese  organisch  aus  den 
betreffenden  Bauteilen  herauswachsen.  Man  empfindet  Wand  und  Decke  als  Raum- 
begrenzung und  sucht  sie  nicht  durch  plastische  oder  malerische  Tiefendarstellungen 
ihres  ursprünglichen  Sinns  zu  berauben.  Die  Säule  wird  ihrer  Bestimmung  gemäß 
vor  allem  als  Träger  empfunden,  wie  man  denn  überhaupt  die  einzelnen  Funktionen 
der  Bauteile,  das  Tragen  und  Lasten,  das  Begrenzen  und  Ordnen  in  peinlicher  Klar- 
heit zum  Ausdruck  bringt. 

Freier  verfährt  die  zweite  Stilstufe,  die  pathetisch  bewegte  Form.  Ihr  Element 
ist  die  Bewegung,  mittels  der  sie  nicht  nur  die  einzelnen  Teile  eines  Baues  zu- 


BJ£.SPBpCHVNGEN.  309 


einander,  sondern  den  ganzen  Bau  selbst  zu  seiner  Umgebung  in  riiythniische  Be- 
ziehung zu  setzen  sucht.  »Der  Bau  ist  kein  Ausschnitt  aus  dem  Weltraum  mehr, 
sondern  ein  Teil  seiner  Ausdehnung.  ...  So  ist  der  Bau  selbst  über  seine  Grenzen 
in  den  Raum  erweitert,  um  mit  ihm  zusammenzuwirken,  durch  ansteigende  Gewölbe, 
lichte  Kuppeln  oder  Kaumtiefe  vortäuschende  Deckengemälde  im  Innern,  durch 
Vasen,  Statuen  und  Türme  über  der  Dachlinie  gegen  den  Luftraum  und  durch  Stufen- 
bauten, Arkaden  und  Alleen  mit  seiner  Umgebung  zusammengeschlossen.  Zugrunde 
liegen  Gefühle,  die  durch  die  Kunst  seelischen  Stinnnungen  Ausdruck  geben  wollen. - 

Die  dritte  Stufe,  die  richtungslos  bewegte  Form,  »treibt  diesen  Reichtum  ins 
Phantastische».  Die  Bewegung  wird  mit  allen  Mitteln  ins  Ungeniessene  gesteigert, 
»Hemmungen  durch  den  Zweck  oder  die  Disziplin  bestehen  nicht  mehr  ,  und  so 
entspricht  jeder  Kurve  eine  Gegenkurve,  jede  Tiefe  hebt  eine  Höhe  auf,  Bewegungen 
verflechten  sich  und  lösen  sich  in  Wirbeln».  Das  gleiche  Spie!  wird  mit  dem  kunst- 
gewerblichen Gerät  getrieben,  bei  dem  jeder  Zweckgedanke  völlig  ausgeschieden 
ist,  um  einem  Spiel  mit  Ornamenten,  mit  malerischen  Gegensätzen  aller  Art,  schließ- 
lich mit  dem  Material  selbst  zu  weichen. 

Cohn-Wiener  ordnet  der  ersten  Form  den  dorischen  Stil  des  griechischen  Alter- 
tums, den  romanischen  des  Mittelalters  und  den  frühesten  Renaissancestil  in  Italien 
ein.  Dieser  konstruktive  Stil  entsteht,  wie  er  bemerkt,  jedesmal  aus  einer  dumpfen 
Vorform,  die  schon  das  tektonische  Gefühl,  aber  noch  keine  tektonische  Gliederung 
hat,  die  Teile  schon  sondert  und  festhält,  aber  noch  nicht  funktionell  durcharbeitet. 
Dahin  gehören  der  Dipylonstil,  der  frühchristliche  Stil,  und  die  Profangotik  in 
Italien«. 

Der  zweiten,  pathetisch  bewegten  Form  ordnet  er  den  hellenistischen  Stil  mit 
dem  frühen  römischen,  die  hohe  Gotik  und  das  Barock  zu.  Der  dritten,  richtungslos 
bewegten  Form  endlich  fügt  sich  der  spätantike  Stil,  die  Spätgotik  und  das  Rokoko  ein. 

Indessen,  so  großartig  der  Gedanke  an  sich  ist,  das  unübersehbare  Vielerlei 
der  bisherigen  Stilbestimmungen  in  drei  große  Kategorien  umzuwandeln,  die  zudem 
so  gefaßt  sind,  daß  sie  sich  wie  eine  große  Wellenbewegung  Hmmer  wiederholen, 
so  scheint  mir  dieser  Gedanke  doch  kaum  in  der  hier  vorgeschlagenen  Form  und 
wahrscheinlich  überhaupt  nicht  praktisch  durchführbar  zu  sein.  Wenigstens  nicht 
ohne  eine  außerordentliche  Vergewaltigung  des  Kunstwollens  selber.  Und  doch 
ist  es  gerade  diese,  die  der  Verfasser  durch  seine  neue  Stilbestimmung  zu  über- 
winden hofft. 

Allein  das  Unzureichende  seiner  eigenen  Kategorien  zeigt  sich  vor  allem  darin, 
daß  zwar  allenfalls  die  Früh-  niemals  aber  die  italienische  Hochrenaissance  sich  einer 
derselben  einfügen  läßt.  Der  Verfasser  macht  auch  gar  nicht  erst  einen  solchen 
Versuch,  sondern  geht  stillschweigend  über  dieses  Versagen  hinweg. 

Ferner  läßt  sich  auch  schon  die  Malerei  der  Frührenaissance  nicht  mehr  unter 
den  Begriff  der  tektonischen  Form  bringen,  da,  von  allem  anderen  ganz  abgesehen, 
doch  schon  Masaccio  mit  seinen  Fresken  eine  Wanddurchbrechung  und  Tiefen- 
wirkung gibt,  wie  sie  der  von  dem  Verfasser  selbst  gegebenen  Erläuterung,  daß 
»die  Wand  in  diesem  Stil  Fläche  bleibts  nicht  entspricht. 

Endlich  aber  scheint  mir  auch  die  hohe  Gotik  nicht  in  die  Kategorie  der 
pathetisch  bewegten  Form  zu  passen,  denn  wenn  auch  zuzugeben  ist,  daß  der  Be- 
wegung in  diesem  Stil  sehr  viel  Freiheit  gelassen  wird  und  daß  er  seelischen 
Stimmungen  Ausdruck  verleiht,  so  darf  man  doch  keinen  Augenblick  übersehen, 
daß  die  Architektur  der  Gotik  niemals  ihre  Bauten  wie  das  Barock  zielbewußt  mit 
der  ganzen  Umgebung  zusammenpaßt  oder  gar  die  Umgebung  danach  anlegt,  und 
daß  die  Malerei  der  Gotik  eine  Tiefenwirkung  im  Sinne  des  Barocks  gar  nicht  kennt. 


310  BESPRECHUNGEN. 

Zusammenfassend  möchte  ich  noch  bemerken,  daß  die  Kategorien  des  Ver- 
fassers streng  genommen  nur  für  die  Architektur,  dagegen  meist  sehr  wenig  für  die 
Plastik  und  oft  gar  nicht  für  die  Malerei  der  betreffenden  Stile  passen.  Denn  um 
nur  ein  Beispiel  herauszugreifen,  so  wird  man  sich  unter  einer  richtungslos  bewegten 
Form  beim  Anblick  Watteauscher  Gemälde  schwerlich  etwas  denken  können. 

Noch  bedenklicher  scheint  mir  der  ausdrückliche  Verzicht  des  Verfassers  auf 
jede  Art  von  künstlerischer  Wertung,  wie  er  sich  in  folgenden  Sätzen  ausspricht. 
>Wenn  uns  eine  Periode  als  Aufstieg  und  eine  andere  als  Niedergang  erscheint,  so 
trägt  allein  unsere  Abhängigkeit  vom  eigenen  Geschmack  die  Schuld.  Wertet  man 
objektiv,  so  ist  die  Kunst  jeder  Periode  als  Ausdruck  ihres  besonderen  Schönheits- 
gefühls der  jeder  anderen  gleichwertig.«  Eine  solche  Behauptung,  die  das  Chaos 
an  die  Stelle  der  Sichtung  und  Ordnung  setzt,  hat  ihren  Sinn  nur  als  Antithese. 

Schließlich  möchte  ich  noch  darauf  hinweisen,  daß  der  Verfasser  selbst  tat- 
sächlich wertet,  indem  er  die  zweckbestimmten  Stile,  wie  also  etwa  den  dorischen, 
sehr  entschieden  über  die  mehr  aus  dem  Gefühl  heraus  schaffenden  Stile  der  helle- 
nistischen und  gotischen  Kunst  stellt  und  in  diesem  Zusammenhang  der  helle- 
nistischen Kunst  sogar  die  Erregung  von  lüsternen  Gefühlen  als  ausdrückliche  Ab- 
sicht unterschiebt.  Ebenso,  wenn  er  von  einer  ästhetischen  Vierteilung  spricht, 
die  das  Auge  dadurch  erleiden  soll,  daß  in  den  gotischen  Domen  das  Hauptporta! 
und  der  Innenraum  auf  das  Mittelschiff,  die  Türme  hingegen  auf  die  Seitenschiffe 
hinweisen. 

In  Hinsicht  auf  den  Satzbau  ist  zu  bemerken,  daß  er  in  einer  Reihe  von  Fällen 
an  Klarheit  zu  wünschen  übrig  läßt.  Indessen  bleibt  das  Büchlein  trotz  allem  ein 
sehr  bemerkenswerter  Versuch,  sich  auf  künstlerische  Hauptfragen  einzustellen  und 
auch  den  Untersuchungen  eines  Wölfflin,  Riegl,  Furtwängler  und  Wickhoff  gegen- 
über die  volle  Selbständigkeit  des  Urteils  zu  wahren. 

Breslau.  Elisabeth  von  Orth. 


Charlotte  Bühler,  Das  Märchen  und  die  Phantasie  des  Kiirdes. 
Beihefte  zur  Zeitschrift  für  angewandte  Psychologie,  17.  Leipzig,  J.  Anibr. 
Barth.    1918.    82  S. 

Von  der  Erwägung  ausgehend ,  daß  wir  bei  der  Erforschung  der  höheren 
Seelenvorgänge  des  Kindes  ganz  auf  objektive  Methoden  angewiesen  sind  und  da- 
her jedes  Material  willkommen  heißen  müssen,  das  uns  irgendwelchen  Aufschluß 
verspricht,  untersucht  die  Verfasserin  die  Literatur  des  Kindes  (vom  4.-8.  Lebens- 
jahre etwa):  das  Märchen.  Ihre  Frage  lautet:  was  lehrt  uns  das  Märchen  über 
die  kindliche  Phantasie?  Ich  will  kurz  andeuten,  was  für  die  Leser  dieser  Zeit- 
schrift aus  dieser  psychologischen  Arbeit  von  Interesse  sein  könnte. 

Das  Volksmärchen  legt  eine  große  Mißachtung  der  Verstandesklugheit  zutage. 
Nicht  nur  kommt  immer  der  Dumme  zu  Ehren,  auch  in  der  Erzählungsweise  fehlt 
fast  ganz  die  Kombination,  das  eigentliche  Verstandeselement.  Das  Märchen  ist 
typische  Anschauungsliteratur;  es  kennt  keine  eingehende  Zustandsschilderung  und 
keine  Dramatik  —  beides  setzt  kombinatorisches  Denken  voraus.  Der  Handlung 
fehlt  das  Zielbewußte.  Der  Erzähler  schaltet  nach  Belieben,  und  ebenso  willkürlich 
darf  der  Hörer  auffassen.  Die  Abstraktionsfähigkeit  des  Kindes  ist  gering;  nur 
durch  die  schärfste  Betonung  (durch  den  Gegensatz)  wird  es  zur  Beachtung  einer 
Eigenschaft  gezwungen.  Daher  die  polare  und  das  Extreme  bevorzugende  Charak- 
teristik, das  Typische  der  Märchenpersonen.  Die  Umgebung  der  Personen  ist  nur 
angedeutet.  Wir  haben  keinen  Grund  zu  der  Annahme,  das  Kind  spinne  sich  nun 
diese    .ingedeuteten  Situationen   weiter  aus.     Es   haftet  zwar  am   einzelnen ,  aber 


BESPRECHUNGEN.  31 1 

nicht  an  der  ruhigen,  sciiilderndeii  Eiiizeiiieit,  sondern  nur  an  der  •jefiihlsbetonten. 
Vereinfachungen,  Wiederholungen  zeigen  an,  dal?  alles  nach  dem  Willen  des  Er- 
zählers, nicht  nach  den  Gesetzen  des  Lebens  abläuft.  Die  Darstellung  ist  rein  episch 
explizierend.  F^rophezeiungen,  Warnungen  und  Verbote  erleichtern,  als  Dispositionen 
gleichsam,  die  Auffassung.  Der  gedankliche  Verlauf  ist  immer  in  anschauliche  Vor- 
gänge umgesetzt,  emotionale  Erlebnisse  werden  durch  ihre  äußeren  Kennzeichen 
festgehalten.  Sehr  hübsch  sagt  die  Verfasserin:  es  heißt  nicht,  das  kleine  Mädchen 
\yar  traurig,  sondern:  es  weinte.  Nicht  das  kombinatorische  Denken,  sondern 
die  Analogiebildung,  deren  Bedeutung  für  das  volkstümliche  Denken  W.  Stern  dar- 
getari  hat,  charakterisiert  die  kindliche  Phantasie.  Sie  kennt  keine  Ruhe.  Alles 
wird  in  Sukzession  aufgelöst.  Das  Umschlagen  der  Situation,  der  szenische  Wechsel, 
bildet  den  Kern  jeder  echten  Märchenhandlung.  Krasse  Proportionsunterschiede 
(Riesen  und  Zwerge)  sind  für  Kinder  offenbar  lustbetont. 

Die  Kritik  der  vorliegenden  Arbeit  muß  vor  allem  betonen,  daß  das  Thema 
weit  mehr  Schwierigkeiten  enthält,  als  die  Verfasserin  angenommen  zu  haben 
scheint.  Der  an  sich  schöne  und  einleuchtende  Gedanke,  vom  Märchen  auf  die 
Phantasie  der  Kinder  zu  schließen,  erweckt  bei  näherer  Überlegung  doch  einige 
Bedenken.  So  wie  uns  das  Märchen  der  Brüder  Grimm  vorliegt,  ist  es  eben 
doch  ein  Kunstwerk,  so  gut  wie  die  Gesänge  Homers,  und  bevor  man  aus  diesem 
Kunstwerk  Schlüsse  auf  den  Urheber  ziehen  darf,  müßte  man  einmal  die  Kunst- 
form des  Märchens  vorurteilslos  untersuchen.  (Über  das  den  Kern  der  Schwierig- 
keiten bildende  Problem  des  Verhältnisses  von  Volksseele  und  Kinderseele  ist  di«.- 
Verfasserin  fast  ganz  hinweggegangen.)  Man  würde  aber  das  Märchen  nicht  auf 
seine  Form  hin  analysieren  können,  ohne  zu  fragen,  ob  sich  nicht  ähnliche  Form- 
eigentümlichkeiten auch  in  anderen  Dokumenten  finden  lassen.  Da  wäre  zunächst 
die  Sage  heranzuziehen,  mit  der  ja  das  Märchen  eng  verwandt  ist.  Aber  noch 
ganz  andere  Produkte  kämen  in  Betracht:  ein  Teil  der  sogenannten  Unterhaltungs- 
romane und  der  ganze  Volksroman.  In  der  sogenannten  Schundliteratur,  die  in 
Wahrheit  die  Literatur  des  Volkes  ist,  wie  das  Märchen  die  des  Kindes,  finden  sich 
fast  alle  wesentlichen  Züge  des  Märchens  wieder:  Vereinfachung,  Übertreibung, 
Gegenüberstellung  von  Extremen,  plötzliches  Umschlagen  der  Situation,  karge  Schil- 
derung der  Umwelt,  das  gute  Ende  usw.  Die  »Unreife«,  den  Wunsch  des  Hörers 
für  die  Entwicklung  der  Handlung  entscheidend  werden  zu  lassen,  die  die  Ver- 
fasserin eine  einzig  im  Märchen  zu  beobachtende  Eigenheit  der  Darstellungstechnik 
nennt,  ist  in  Wahrheit  eine  charakteristische  Eigenschaft  der  erwähnten  Volksliteratur. 
Wie  viele  Frauen  lesen  noch  heute  kein  Buch,  von  dem  sie  sich  nicht  vorher  über- 
zeugt haben  (ganz  wie  jenes  Bübchen,  von  dem  die  Verfasserin  erzählt),  daß 
es  nicht  traurig  ausgeht,  d.  h.  daß  sie  sich  kriegen?  Und  wie  viele  Romane 
werden  mit  Rücksicht  auf  diesen  Wunsch  geschrieben?  --  Nun  enthält  der  Unter- 
haltungsroman und  der  Volksroman  reichlich  kombinatorisches  Denken,  eine  ganz 
andere  Umwelt  als  das  Märchen  usw.  Er  gehört  mehr  zur  Literatur  der  auf  das 
Märchenalter  folgenden  Lebensepoche.  Aber  in  dieser  erhält  sich  eben  das 
Märchenelemcnt  immer  noch  in  gewissem  Grade.  Die  eigentlich  märchenhaften 
Züge  sind  aber  aus  einem  ganzen  Geflecht  erst  herauszulösen  und  dem  Märchen 
nicht  so  ohne  weiteres  zu  entnehmen.  Erst  nach  der  Untersuchung  des  Märchens 
auf  seine  spezifischen  Märchenzüge  hin  könnte  man  daran  gehen,  die  Beziehung 
zur  Kindesphantasie  festzustellen,  obgleich  auch  dann  innner  noch  die  Hauptschwierig- 
keit übrig  bliebe.  Die  Phantasie  des  Kindes  ist  die  gesuchte  Unbekannte.  Wäre 
das  Märchen  ein  reines  Produkt  dieser  Phantasie,  so  wäre  die  Gleichung  leicht. 
In  Wirklichkeit  aber  ist  das  Märchen  zwar  für  die  Kinder,  aber  nicht  von  Kindern 


312  BESPRECHUNGEN. 


etzählt.    Es  ist  nur  indirekt  durch  das  Kind  bestimmt,  und  das  erschwert  die  Rechnung 
in  jedem  Falle  bedeutend. 

Der  Gewinn  der  Arbeit  Charlotte  Bühlers  scheint  mir  hauptsächlich  in  der  An- 
regung zu  liegen,  die  Kunstform  des  Märchens  einmal  einwandfrei  festzustellen. 
Als  Studie  zu  diesem  Zwecke  ist  die  Arbeit  verdienstlich. 

Berlin. 

Alfred  Baeumler. 

Karl  With,  Buddhistische  Plastik  in  Japan.  Bis  in  den  Beginn  des  S.Jahr- 
hunderts n.  Chr.  Textband  mit  28  Abbildungen,  Tafelband  mit  224  Tafeln 
nach  eigenen  Aufnahmen  des  Herausgebers,  gr.  4''.  Wien,  Kunstverlag  Anton 
Schroll  &  Co.,  1919. 

Unser  Interesse  für  die  asiatische  Kunst  ist  bis  in  das  20.  Jahrhundert  hinein 
ein  durchaus  oberflächliches  gewesen.  Es  waren  fast  ausschließlich  die  Erzeugnisse 
eines  freilich  hochentwickelten  Kunstgewerbes,  die  es  anregten.  Die  klassische 
buddhistische  Bildnerei  blieb  fast  ganz  unbeachtet.  Die  Funde  einer  gräzisierenden 
Plastik  in  Nordwest-Indien  erregten  allerdings  beinahe  Sensation.  Aber  daß  es 
auch  eine  künstlerisch  weit  höher  stehende  national-indische  Kunst  gegeben  habe, 
war  so  wenig  anerkannt,  daß  Havell  diese  Behauptung  noch  vor  einem  Jahrzehnt 
in  beredten  Büchern,  als  sei  sie  ein  Paradoxon,  vertreten  mußte. 

Um  diese  Zeit  herum,  vielleicht  durch  jene  Gandharafunde  veranlaßt,  begann 
man  sich  mehr  mit  der  buddhistischen  Kunst  auch  außerhalb  des  nordwestlichen 
Indiens  zu  beschäftigen.  1909  veröffentlichte  Chavannes  die  Resultate  einer  archäo- 
logischen iVlission,  eine  große  Anzahl  von  Aufnahmen  religiöser  f^lastik  wesentlich 
aus  nordchinesischen  Höhlentempeln.  —  In  den  1912  erschienenen  Epoclis  of 
Chinese  and  Japanese  Art',  worin  die  reichen  Erfahrungen  des  1908  verstorbenen 
Kunstkommissars  der  japanischen  Regierung,  Ernest  Fenollosa,  niedergelegt  waren, 
wurde  ein  allerdings  noch  recht  unscharfes  Bild  der  chinesisch-japanischen  heiligen 
Kunst  mit  starker  Betonung  ihrer  vermeintlichen  Beziehungen  zur  gräko-buddhisti- 
schen  entworfen.  —  Im  selben  Jahre  begann  die  Ostasiatische  Zeitung  zu  erscheinen, 
die  nun  ihre  Spalten  mit  Vorliebe  diesem  Thema  öffnete  und  schon  im  ersten 
Jahrgange  einen  Aufsatz  William  Cohns  brachte,  der  die  Bildnerei  der  Naraperiode, 
der  Blütezeit  fernöstlicher  Plastik,  einer  kunstwissenschaftlichen  Untersuchung  unter- 
zog. Im  selben  Jahre  wiederum  wurde  die  ostasiatische  Abteilung  des  kunsthisto- 
rischen Institutes  der  Universität  Wien  unter  Leitung  Prof.  Strzygowskis  gegründet. 
In  seinem  Auftrage  reiste  anfangs  Januar  1913  Karl  With  nach  Japan;  seine  Auf- 
gabe war,  einen  allgemeinen  Überblick  der  japanischen  Kunst  zu  geben.  Sehr  im 
Interesse  der  Wissenschaft  engte  er  diesen  für  die  kurze  Dauer  einer  solchen 
Expedition  zu  umfangreichen  Plan  ein,  und  suchte  durch  genaueres  Studium  der 
früheren  Denkmäler  eine  sichere  Basis  für  weitere  Forschungen  zu  schaffen.  Von 
dem  Zentrum  altbuddhistischer  Lehre  und  Kunst,  Nara,  ausgehend,  konnte  er  in 
Tcaum  Jahresfrist  das  kostbare  JVlaterial  zusammenbringen,  das  uns  nun  in  den  beiden 
Bänden  der    Buddhistischen  Plastik  in  Japan«  vorliegt. 

With  beginnt  seine  Untersuchungen  mit  der  ältesten  sicher  datierten,  in  Japan 
befindlichen  Skulptur,  der  Shaka-Trinität  des  Tori  Busshi  von  623,  und  schließt  sie 
mit  Werken  der  Ton-  und  Trockenlack(Kanshitsu)plastik,  die  in  der  ersten  Hälfte 
des  8.  Jahrhunderts  entstanden.  Der  behandelte  Zeitraum  umfaßt  demnach  die 
ersten  anderthalb  Jahrhunderte  nach  Einführung  des  Buddhismus  in  Japan.  Ver- 
gegenwärtigen wir  uns,  daß  die  neue  Religion  dort  ganz  primitive  Kulturzustände 
vorfand,  daß  insbesondere  eine  wirkliche  nationale  Kunstbetätigung  noch  nicht  vor- 


BESPRECHUNGEN.  3]^ 


banden  war,  so  verstehen  wir,  daß  die  technisch  schon  hoch  entwickelten  Werke 
zunächst  nur  aus  China  und  Korea  eingeführt  oder  von  Meistern  dieser  Länder  in 
Japan  gefertigt  sein  konnten.  Diese  Meister  haben  dann  dort  ohne  Zweifel  Schüler 
herangebildet,  aber  von  einer  national-japanischen  i^lastik  kann  in  diesen  Früh- 
zeiten keine  Rede  sein.  Höchstens  entdeckt  man  hie  und  da  die  ersten  Spuren 
japanischer  Auf fassungs weise. 

Da  nun  aber  in  den  beiden  erwähnten  Kulturländern  nur  sehr  wenige  Bild- 
werke aus  dem  hier  behandelten  Zeiträume  bekannt  sind  (abgesehen  von  den  zwar 
typologisch  interessanten,  aber  ziemlich  rohen  Steinskulpturen  der  chinesischen  Felsen- 
tempel), so  ist  die  Durcharbeitung  der  in  Japan  vorhandenen  Frühplastik  auch  für 
die  Kunstgeschichte  Chinas  und  Koreas  von  großem  Interesse. 

Die  unentbehrliche  Grundlage  einer  stilkritischen  Untersuchung  fernöstlicher 
Bildnerei,  von  der  weder  Abgüsse  noch  wichtige  Originale  in  Europa  vorhanden 
sind,  ist  eine  besonders  umfangreiche  Sammlung  von  für  den  besonderen  Zweck 
gefertigten  Abbildungen.  Die  ganz  vortrefflichen  japanischen  Aufnahmen  genügen 
insofern  nicht,  als  sie  meist  nur  Frontansichten  geben  und  bei  weitem  nicht  alle 
vom  Autor  herangezogenen  Werke  umfassen.  With  hat  mit  großem  (jeschick  die 
Aufgabe  gelöst,  alle  ihm  wichtig  scheinenden  Skulpturen  in  allen  Ansichten,  die 
seine  Erörterungen  verdeutlichen  konnten,  hinreichend  groß  und  vortrefflich  zu 
photographieren.  Auch  bekanntere  Objekte  erscheinen  so  dem  Sachkenner  wörtlich 
unter  ganz  neuen  (jesichtspunkten.  Zahlreich  sind  die  Erstaufnahnieii,  so  daß  auch 
die  wenigen  Besitzer  der  großen  japanischen  Abbildungswerke  des  Neuen  über- 
genug finden  werden.  Höchst  dankbar  anzuerkennen  und  vorbildlich  für  den  Westen 
ist  die  Liberalität  der  japanischen  Museums-  und  Tempelbehörden,  die  fast  unbe- 
grenztes Photographieren  zuließen. 

An  die  Bearbeitung  des  großen  von  ihm  gesammelten  Materials  ging  With  zu- 
nächst mit  den  Augen  des  exakten  Kunstforschers,  der  durch  subtile  stilkritische 
Untersuchungen  Ordnung  in  das  Chaos  zu  bringen,  innere  und  äußere  Zusammen- 
hänge klarzulegen  strebt.  Aber  die  Lösung  dieser  mehr  formalen  Aufgaben  ist 
ihm  nur  das  Mittel  zu  dem  Zwecke,  der  allen  Kulturvölkern  gemeinsamen  allmählichen 
Wandlung  einer  intuitive  Vorstellungen  möglichst  rein  ausdrückenden  Kunst  in  eine 
auf  Sinnesimpressionen  aufgebaute  nun  auch  im  Kreise  der  fernöstlichen  Welt 
nachzugehen. 

Hier  dem  Verfasser  auf  seinen  Pfaden  zu  folgen,  ist  ein  großer  Genuß.  Der 
Leser  erlebt  die  Entdeckerfreude  mit,  in  ganz  eigener  Art  die  Gegensätze  und  Ent- 
wicklungsbedingungen idealistischer  und  realistischer  Kunst  besonders  rein  in  einem 
ihm  bisher  ziemlich  fremden  Kulturkreise  ausgeprägt  zu  finden.  Der  Referent  muß 
sich  begnügen,  Gang  und  Resultat  der  Untersuchungen  in  kurzen  Zügen  wieder- 
zugeben. 

With  teilt  den  von  ihm  behandelten  Zeitraum  in  drei  Abteilungen.  Die  erste 
entspricht  etwa  der  Suikozeit  und  umfaßt  die  erste  Hälfte  des  7.  Jahrhunderts,  die 
zweite,  die  zweite  Hälfte  desselben  einnehmend,  der  Hakuhozeit,  die  dritte,  die  in 
die  erste  Hälfte  des  8.  Jahrhunderts  hineinreicht,  dem  Beginne  der  Tempyozeit. 

Die  Suikoperiode  ist  die  Blütezeit  des  archaischen  Stils.  Der  Buddhismus  war 
erst  seit  kurzem  eingeführt,  noch  kaum  in  Sekten  gegliedert.  »Über  dem  Wirken 
dieser  Zeit  liegt  die  wahrhaft  keusche  Ergriffenheit  und  unzerteilte  Kraft  früher, 
unverbrauchter  Ehrfurcht  (S.  26).  Die  Form,  »die  sich  der  Idee  unmittelbar  an- 
schließt, ohne  auf  die  äußere  Naturgesetzlichkeit  Rücksicht  zu  nehmen«  (S.  29)  ent- 
spricht noch  dem  inneren  Erlebnisse.  Der  erste  namhafte  Meister,  der  diesem  Er- 
lebnisse  eine   deutliche    Prägung   gab,  der   Chinese  Tori  Busshi,   schließt    sich    in 


314  BESPRECHUNGEN. 

seiner  Bronzeteclinik  deutlich  an  die  Steinplastik  an,  wie  sie  in  Cliina  vor  der  glor- 
reichen Tangzeit  (618—907)  geübt  wurde:  »Block-  und  Flächenschiclitung,  Aufbau 
in  geschlossener  Kontur  oder  Auflösung  in  lineare  Silhouetten,  schärfste  Abwink- 
lung  der  Seitenansichten,  klare  Profilwirkung  und  Sichtbarkeit  aller  Beziehungen 
(S.  61).  Von  bekannteren  Werken  gehören  dieser  Gruppe  außer  der  Shakatrinität 
des  Tori  (T.  1  —  5)  die  Yumedono-Kwannon  (T.  15  u.  16)  und  der  Yakushi  des 
Horinji  ( T.  33—37)  an. 

Gegen  Ende  der  Periode  durchdringt  eine  mehr  malerische  Behandlung  den 
^architektonischen«  Stil.  In  dem  Kokuzo  (?  vielleicht  Kwannon)  des  Horyuji  (T.  38 
bis  44)  typisiert  sich  diese:  gegenüber  dem  Block  der  Toriwerke  steht  eine  Säule, 
die  Masse  wird  durch  Steigerung  der  Höhenverhältnisse  entkörpert,  der  einem 
Stamme  gleichende  Rundkern  ist  selbständig,  die  Gliedmaßen  lösen  sich  los.  Nach 
japanischer  Tradition  stammt  diese  Statue  aus  dein  holzreichen  Korea,  und  With 
steht  nicht  an,  eine  Reihe  ähnlich  gearteter  Holzfiguren  und  auch  Kleinbronzen 
unter  dem  Namen  »Koreanischer  Stil«  zusammenzufassen,  so  die  Shitenno  des 
Horyuji  (T.  45— 53)  und  den  Kokuzo  des  Horinji  (T.  62-65).  Von  den  beiden 
folgenden  Gruppen,  dem  »frühchinesischen  Mischstil  und  dem  »reifen  SuikostiU 
charakterisiert  sich  die  erstere  als  Versammlung  von  Arbeiten  provinzieller  Schulen, 
die  ältere  Formen  länger  konservierten,  oder  in  denen  ein  besonderes  den  alten 
Stilgesetzen  nicht  homogenes  Empfinden  sich  bemerkbar  macht,  unter  ihnen  der 
hier  wohl  zuerst  reproduzierte  höchst  merkwürdige  Kasho-Butsu  des  Daigoji  (T.  83 
bis  86)  mit  dem  Ahasvergesicht,  das  alles  menschliche  Dasein  immer  wieder  über- 
lebt und  durchschaut«  (S.  94),  ein  Vorläufer  der  späteren  so  überaus  charakteristi- 
schen Patriarchenbildnisse.  Die  andere  Gruppe  stellt  die  höchste  Vollendung  des 
fernöstlichen  archaischen  Stils  dar,  in  dem  sich  das  innere  Erlebnis  so  rücksichts- 
los frei  nach  außen  projiziert,  wie  in  der  herrlichen  Nyoirin-Kwannon  des  Chuguji 
(T.  111—116). 

Die  zweite  Abteilung  gliedert  sich  in  drei  Gruppen.  Die  erste  als  Taikwastil 
nach  dem  Nengo  Taikwa  (645—649)  benannt,  faßt  diejenigen  Werke  zusammen, 
'die  noch  lebendig  mit  dem  Suikoslil  in  Verbindung  stehen,  diesen  fortwährend 
unter  den  Gesichtspunkten  der  nunmehr  aktuell  werdenden  Wirklichkeitsprobleme 
erweitern  und  zu  neuen  Formproblemen  verdichten«  (S.  111).  Ihr  Hauptwerk  ist 
wiederum  eine  Nyoirin-Kwannon,  die  dem  Koryuji  angehört  (T.  125—129),  eine 
Holzplastik  höchsten  Ranges.  »Ein  leidenschaftliches  Schönheitsideal  tritt  an  Stelle 
der  alten  Ideale  der  überweltlichen  Wirklichkeit  und  Stille.  Das  künstlerische  Bild 
gewinnt  an  äußerer  Macht  und  Dynamik  des  Ausdruckes,  verliert  aber  die  ferne 
zurückhaltende  Majestät«  (S.  110). 

Die  zweite  Gruppe,  der  chinesische  Tangstil  der  Hakuhozeit,  zeigt  uns  eine 
Reihe  von  Werken  staunenerregender  Größe,  »die  gegen  das  Formerbe  der  Suikc- 
zeit  offen  Sturm  laufen«  (S.  124),  wie  die  Yakushitrinität  des  Yakushiji  (T.  135—148) 
und  der  Shaka  des  Kanimanji  (T.  153— -156),  die  in  ihrer  Vollendung  eine  lange 
Entwicklung  voraussetzen,  für  deren  Formmomente  die  Suikowerke  keine  Analogie 
liefern.  »Die  Bildform  ist  nicht  mehr  ausschließliche  Gestaltgebung  der  Phantasie, 
sondern  eine  ideale  Verkörperung  erschauter  und  verdichteter  Natürlichkeit«  (S.  127). 
Das  archaische  Stilbewußtsein  tritt  gegenüber  dem  naturalistischen  in  den  Hinter- 
grund. Eine  neue  mächtige  Einflußwelle  muß  von  China  her  um  diese  Zeit  sich 
nach  Japan  ergossen  haben.  Ihr  Ursprung  liegt  wohl  in  der  Konsolidierung  des 
mächtigen  Tangreiches,  das  mit  Öffnung  der  chinesischen  Grenzen  und  dem  inter- 
nationalen Ausbau  der  Verkehrsverbindungen  Zentralasien,  Nordindien  und  Persien 
als  Komponenten   seiner  Kultur  heranzog.     Das   Resultat   war  eine  Höhe   künstle- 


BESPRECHUNGEN.  315 


rischeil  Scliaffciis,  die,  in  iliier  Art  einzig  in  der  Kiinslgescliiclitc  aller  Völker  da- 
stehend, auch  in  Japan  ihre  Wirkung  äußerte.  «Die  neuen  Formen  bilden  von  nun 
ab  den  unumgänglichen  Bestandteil  aller  weiteren  Entwicklung.  Damit  ist  das  rein 
archaische  Zeitalter  mit  seiner  ungeheueren  Phantastik  und  seiner  gewaltigen  Sehn- 
sucht nach  einer  wirklichkeitsfreien  Totalität  vorüber«  (S.  140). 

Die  dritte  Gruppe,  der  archaisierende  Hakuhostil,  läßt  sich  kurz  als  Reaktion 
der  eingeborenen  Künstlerschaft  im  Sinne  des  Suikostils  bezeichnen.  Das  Haupt- 
werk ist  der  Schrein  der  Tachibana  Fnjin  mit  der  Amidatrinität  (T.  159—166). 

F^ie  dritte  AbteiWing  leitet  uns  hinüber  zum  Tempyostil,  der  das  ganze  8.  Jahr- 
hundert beherrscht.  Es  geschieht  das  an  Hand  der  Tonfiguren  der  Horyuji-Pagode 
(T.  189  201),  des  Bonten  und  Taishakuten  in  Holz  und  Ton  (T.  204— 211),  einer 
meines  Wissens  noch  unpublizierten  Amidatrinität  in  Kanshitsu  ans  Horyuji  (T.  218 
bis  224)  u.  a.  Aus  des  Verfassers  Erörterungen  greifen  wir  folgende  Sätze  heraus 
(S.  197):  Nur  soviel  soll  noch  gesagt  werden,  daß  dieser  Tempyostil  alle  diejenigen 
Formen  und  Motive,  die  unter  dem  Ausdrucke  der  Aktivität,  der  Handlung,  der 
plastischen  Oreifbarkeit  und  der  sinnlich-dekorativen  Pracht  fallen,  lieber  anwendet 
und  vollkommener  meistert,  als  jene  Formen,  die  zum  Ausdrucksbereich  der  Stille, 
der  Versunkenheit,  mit  einem  Worte  der  inneren  Wesenheit  gotterfüllter  Träume 
gehören.  Es  fehlt  den  Künstlern  dieser  Zeit  die  große  innerliche  Ergriffenheit  von 
Träumern,  Weisen  und  Propheten;  dafür  aber  sind  sie  tiefer  ins  wirkliche  Dasein 
herabgestiegen,  erfüllt  von  der  Kraft  und  der  Schönheit  des  tätigen  Lebens,  mit 
einem  klaren  Bewußtsein  für  das,  was  dem  Menschen  nottut.« 

Im  vorstehenden  suchte  ich  den  sachlichen  Inhalt  des  Buches  in  aller  Kürze, 
wo  angängig  mit  den  eigenen  Worten  des  Verfassers  zu  skizzieren.  Dem  mit  fern- 
östlicher Kunst  Vertrauten  wird  die  Angabe  der  hauptsächlichen  behandelten  Kunst- 
werke genügen,  um  sich  einen  Begriff  von  dem  zu  machen,  was  hier  geboten  wird. 
Wie  es  geboten  wird,  erscheint  noch  wichtiger,  aber  der  Raum  gestattet  nicht,  auch 
nur  an  einem  Beispiel  den  Reiz  und  Wert  der  Arbeit  klarzustellen,  die  hier  in  der 
Stilanalyse  jeder  einzelnen  Skulptur  aufgewandt  ist.  Sie  scheint  nn'r  vorbildlich  zur 
Erreichung  des  Zieles,  dem  Leser  das  innerlich  nachschaffendc  Begreifen  des  Kunst- 
werkes zu  ermöglichen.  Die  sorgfältigste  Untersuchung  aller  den  Stil  ausmachen- 
den Komponenten  konnte  nur  dann  ein  lebendiges  Bild  ergeben,  wenn  auf  Schritt 
und  Tritt  die  Nachprüfung  am  Objekte  möglich  war.  Diese  Möglichkeit  wird  durch 
die  Ausgiebigkeit  der  Nachbildungen  fast  so  gut  gewährleistet,  wie  durch  die  Gegen- 
wart des  Originals.  Wenn  es  auch  für  den  Leser  eine  mühsame  Arbeit  ist,  von 
mehr  als  hundert  Kunstwerken  aufs  genaueste  jede  Bewegungsäußerung,  jedes 
Faltenmotiv,  Haltung,  Silhouette  und  vieles  andere  auf  ihren  Ausdruckswert  zu 
prüfen,  so  erfrischt  immer  wieder  der  gehaltene  Unterton  der  Begeisterung  des 
Autors  für  seine  Sache.  Und  ist  es  schon  im  höchsten  Grade  spannend,  den 
tragischen  Kampf  der  aus  religiös  tief  erregtem  Gemüte  heraus  schaffenden  Kunst 
gegen  den  impressionistischen  Naturalismus  mitzuerleben,  so  wird  diese  Spannung 
noch  dadurch  erhöht,  daß  das  Feld,  auf  dem  sich  der  Kampf  abspielt,  noch  fast 
nnbeackert  ist. 

Bei  aller  Anerkennung  der  großen  Leistung  kann  der  Kritiker  nicht  umhin, 
einige  kleine  Mängel  und  Unvollkommenheiten  zu  erwähnen,  die  zum  Teil  aller- 
dings ihre  Ursache  in  den  für  Bearbeitung  und  Drucklegung  überaus  schwierigen 
Zeitverhältnissen  haben. 

Zunächst  ist  diesem  Umstände  zuzuschreiben,  daß  die  Schreibung  japanischer 
Worte  sehr  ungleich  und  mehrfach  direkt  fehlerhaft  ist.  Der  Verfasser,  der  als 
Offizier  im  Felde  stand,  mußte  eben  vielfach  ohne  literarische  Hilfsmittel  arbeiten 


316  BESPRECHUNGEN, 


und  die  Korrekturen  Freunden  überlassen,  die  nicht  Fachmänner  im  engeren  Sinn« 
waren.  Wenn  ich  auf  solche  Fehler  und  Unsicherheiten  größeres  Gewicht  lege,  so 
geschieht  es,  weil  die  Ungleicheit  der  Transskriptionsmethoden  sich  in  der  Sinologie 
zu  einem  wahren  Elend  ausgewachsen  hat  und  die  Benutzung  nicht  nur  wissen- 
schaftlicher Werke  sehr  erschwert.  Es  wäre  sehr  wünschenswert,  wenn  die  ein- 
fachen Regeln  der  japanischen  »Gesellschaft  für  römische  Schriftzeichen«  (Vokale 
geschrieben  wie  im  Italienischen  oder  Deutschen,  Konsonanten  wie  im  Englischen) 
in  der  Japanologie  allgemein  beachtet  würden. 

Dann  ist  der  Verfasser  bei  der  Benennung  der  einzelnen-  Bildwerke  mehr  der 
Tradition  als  der  Ikonographie  gefolgt,  welch  letztere  ja  allerdings  noch  sehr  un- 
vollkommen bearbeitet  ist.  Er  gibt  mehrfach  den  Klassennamen,  wo  die  Artbestim- 
mung  für  die  Physiognomik  wertvolle  Anhaltspunkte  liefern  würde.  Und  gerade 
diese  ist  bei  den  archaischen  Werken  oft  besonders  zart  behandelt.  Die  beiden 
Figuren  auf  T.  158  stellen  Kwannon  und  Seishi  dar,  die  beiden  Begleiter  Amidas, 
die  dessen  Haupteigenschaften,  unendliche  Güte,  sowie  Weisheit  und  Kraft  ver- 
körpern. Hier  prägt  Seishi  (rechts)  der  milden  Kwannon  gegenüber  in  Größenmaß, 
lebhafterer  Bewegung,  soweit  der  kleine  Maßstab  zuläßt,  gut  seine  männliche  Natur 
aus.  --  Die  Skulpturen  der  Tafeln  87  und  91  sind  durch  Fingerhaltung  und  kleine 
Scheiben  über  der  Stirn  als  Nikko  und  Qwakko  (»Sonnenglanz«  und  Mondglanz<) 
gekennzeichnet,  die  beiden  Bodhisattva,  die  den  »irdischen  Heiland«  Yakushi  be- 
gleiten. Er  erhellt  mit  ihrem  tröstenden  Lichte  unser  trauriges  Dasein.  Nun  ver- 
gleiche man  die  schönen  Abbildungen  der  Tafeln  89  und  93  und  wird  leichter  das 
Verständnis  des  fast  mystisch  tiefen  Ausdruckes  erlangen. 

Es  versteht  sich  von  selbst,  daß  auch  ü^er  die  Unterbringung  einzelner  Werke 
in  den  Gruppen  verschiedene  Meinungen  bestehen  können.  Ihre  Diskussion  bleibt 
wohl  besser  den  Fachblättern  überlassen. 

Nur  wenige  Spezialisten  wissen,  welche  Bereicherung  aus  den  Schätzen  des 
fernen  Osten  unserem  Kunstfühlen  erwachsen  kann.  Ich  kenne  kein  Reproduktions- 
werk, das  auch  dem  Laien  diesen  Reichtum  so  eindringlich  vor  Augen  führte.  Möge 
es  seine  werbende  Kraft  auf  die  weitesten  Kreise  ausüben  und  der  fernöstlichen 
Kunst  ihren  Platz  in  der  allgemeinen  Kunstwissenschaft  erobern  helfen! 

Bremen-Horn. 

Hermann  Smidt. 

Oswald  Spengler,  Der  Untergang  des  Abendlandes,  Bd.  1.  Wien  und 
Leipzig,  Wilh.  Braumüller,  1918.    XVI  u.  639  S. 

Es  genügt  nicht,  von  einem  Buche  zu  sagen,  es  stehe  darin:  so  ist  es  und  so, 
sondern  man  muß  zuerst  fragen,  in  welchem  Sinne  dieses  »es  ist  so^^  gemeint  sei; 
denn  es  gibt  einen  vielfachen  Sinn  —  den  des  psychologischen  Aufgezeigtseins,  den 
des  naturwissens'chaftlichen  Festgestelltseins,  den  des  —  nach  richtig  oder  falsch  — 
Gewertetseins  und  den  des  mit  logischer  Notwendigkeit  als  Voraussetzung  (Kant: 
als  a  priori)  Gefordertseins. 

Eine  solche  erkenntnistheoretische  Frage  nach  der  Methode  der  Geschichts- 
philosophie hat  sich  der  Verfasser  nicht  vorgelegt.  Seine  Seele  gehört  dem,  von 
dem  nur  im  ersten  Sinne  gesprochen  werden  kann,  dem  Triebhaften  im  Handeln, 
dem  ästhetischen  und  religiösen  Erieben;  da  gibt's  kein  richtig  oder  falsch,  da  gibt's 
nur  ein  Aufzeigen  des  Erlebnisses,  wie  es  aus  innerem  Zwang,  aus  »schicksalhafter 
Notwendigkeit«  kam.  Groß  ist  sicher  der  Faktor  des  Triebhaften  auf  dem  ganzen 
Gebiete  der  Kultur,  aber  es  wird  ein  verzerrtes  Geschichtsbild,  wenn  man  setzt:  eine 
Kultur  beschreiben   heißt  das  notwendige  Schicksal  eines   großen  Triebhaften  auf' 


•I 


r 


HKSPiBlitCHUNGEN.  317 


zeigen.  Dies  aher  ist  der  Kern  des  Buches;  es  verzichfet  grundsätzlich  auf  alles 
Werten :  auch  an  Mathematik,  an  Naturwissenschaft,  Ethik,  Pohtik,  Philosophie  darf 
nicht  die  Frage  gestellt  werden,  ob  sie  richtig  sind  oder  falsch,  wir  haben  nur  zu 
versuchen,  sie  aus  der  großen  Triebgesetzlichkeit  ihrer  Schöpfer  als  gerade  so  not- 
wendig zu  begreifen.  »Eine  physikalische  Theorie  ist  ein  intellektueller  Mythus« 
(S.  613).  An  diesen  Abschnitten  sieht  man  nnt  peinlicher  Deutlichkeit,  wohin  eine 
Oeschichtsphilosophie  führt,  die  in  den  Menschen  und  Völkern  nur  das  Triebhafte 
nicht  auch  das  freie  Wählen  nach  Gesichtspunkten  des  Richtigen  als  geschichts- 
bildendes  Element  erkennen  will.  In  der  Methode  hat  also  Herr  Spengler  große 
Ähnlichkeit  mit  Hegel,  im  Ergebnis  geht  er  weit  über  ihn  hinaus:  nicht  eine 
Kultur  ist  über  die  Erde  gegangen  von  ihrer  Kindheit  in  Asien  bis  zum  Greisenalter 
in  Deutschland,  sondern  eine  Reihe  solcher  ist  sich  gefolgt,  die  ägyptische,  indische, 
antike,  arabisch-byzantinische,  abendländische,  in  deren  Greisenalter  wir  stehen, 
während  die  nächste,  die  russische,  bereits  erwacht  zu  sein  scheint.  Jede  dieser 
Kulturen  hat  einen  bestimmten  triebhaften,  sie  tragenden  Charakterzug,  ihren  ^StiU  — 
die  antike  das  Vordergrundhafte  (Apollinische),  die  arabische  das  Magische,  die 
abendländische  das  Faustische;  die  Kindheit  aller  aber  unter  sich  ist  weitgehend 
vergleichbar,  ebenso  jede  spätere  Epoche  bis  zum  Tode,  so  daß  aus  der  Analogie 
zu  den  bereits  abgelaufenen  Kulturen  die  Zukunft  der  unsrigen,  die  Art  ihres  not- 
wendigen Hinsterbens  in  Zivilisation  mit  Sicherheit  vorausbeschrieben  werden  kann 
(S.  516).  >Jede  Kultur  hat  .  .  .  ihre  eigene  Art  zu  sterben  ...  Deshalb  sind 
Buddhismus,  Stoizisiiuis,  Sozialismus  morphologisch  gleichwertige  Phänomene.« 

S.  157:  »Jede  Kultur  hat  ihre  Kindheit,  ihre  Jugend,  ihre  Männlichkeit  und  ihr 
Oreisentum.  Eine  junge,  verschüchterte,  ahnungsschwere  Seele  offenbart  sich  in  der 
Morgenfrühe  der  Romanik  und  Gotik  .  .  .  Kindheit  spricht  ebenso  und  in  ganz  ver- 
wandten Lauten  ans  der  frühhomerischen  Dorik,  aus  der  altchristlichen,  d.  h.  früh- 
arabischen Kunst  und  aus  den  Werken  des  mit  der  4.  Dynastie  beginnenden  Alten 
Reiches  in  Ägypten  ...  Je  mehr  sich  eine  Kultur  der  Mittagshöhe  ihres  Daseins 
nähert,  desto  männlicher,  herber,  beherrschter,  gesättigter  wird  ihre  endlich  ge- 
sicherte Formensprache  ...  Im  vollen  Bewußtsein  der  gereiften  Gestaltungskraft, 
wie  sie  die  Zeitalter  des  Sesostris,  der  Peisistratiden,  Justinian  I,  der  spanischen 
Weltmacht  Karl  V.  zeigen,  erscheint  jede  Einzelheit  des  Ausdrucks  gewählt,  streng, 
gemessen,  von  einer  wunderbaren  Leichtigkeit  und  Selbstverständlichkeit.  Hier  finden 
sich  überall  Momente  von  einer  leuchtenden  Vollkommenheit,  Momente,  in  denen 
der  Kopf  Amenemhets  III.  (die  Hyksossphinx  von  Tanis),  die  Wölbung  der  Hagia 
Sophia,  die  Gemälde  Tizians  ent.standen  sind.  Noch  später,  zart,  beinahe  zerbrech- 
lich, von  der  wehen  Süßigkeit  der  letzten  Oktobertage  sind  die  knidische  Aphrodite 
und  die  Korenhalle  des  Erechtheion,  die  Arabesken  an  sarazenischen  Hufeisenbögen, 
der  Dresdener  Zwinger,  Watteau  und  Mozart.  Zuletzt,  im  Oreisentum  der  an- 
brechenden Zivilisation,  erlischt  das  Feuer  der  Seele  . . .. 

Berlin-Pankow.  Christoph  Schwantke. 

Deutsche  Bühne,   Jahrbuch  der  Frankfurter  Städtischen  Bühnen.   Herausgegeben 
von  Georg  J.   Plotke.    Erster  Band.     igiQ.     Literarische    Anstalt    Rütten    u. 
Loening  in  Frankfurt  a.  M.    8».    403  S. 
Dieser  Samnielband,   vortrefflich   zusanmiengestellt  von   dem   leider  inzwischen 
verstorbenen  Plotke,  enthält  Aufsätze  über  das  Drama,  die  Bühnenkunst  und  einige 
mit  der  Oper  verknüpfte   musikalische   Probleme.    Zur   letzten  Gruppe   gehören  — 
abgesehen  von  einer  Übersicht   über  das   Spieljahr  1917/18  des  Frankfurter  Opern- 
hauses       eine  Studie  Paul  Bekkers  zur  Kritik  der  modernen  Oper,  insbesondere 


3 1 8  BESPRECHUNGEN. 


Franz  Schrekers,  ein  von  Bernhard  Diebold  geschriebener  Lebenslauf  der  »Ariadne« 
lind  zwei  Aufsätze  der  Kapellmei^er  Roltenberg  und  Brecher. 

Bekker  erweist  von  neuem  seine  Fähigkeit,  das  einzelne  in  einen  großen  Zu- 
sammenhang einzufügen  und  gedanklich  zu  durchdringen  ;  er  bewährt  daneben  die 
Gabe,  durch  Geschmeidigkeit  des  sauber  gehaltenen  Ausdrucks  dem  einzelnen  seine 
Besonderheit  zu  lassen,  die  von  jener  zuerst  erwähnten  Fähigkeit  her  bedroht  wird. 
So  gelingt  es  ihm,  den  Dichter-Komponisten  Franz  Schreker  mit  Wagner  zu  ver- 
knüpfen, ohne  ihn  zu  einem  Wagnerianer  zu  machen.  Bei  Schreker  nämlich  wieder- 
holt sich,  so  meint  Bekker,  der  für  Wagners  Werk  entscheidende  tiefere  Zusammen- 
h.ing  textlicher  und  musikalischer  Gestaltung.  Dieser  Zusammenhang  entsteht  aus 
einer  ursprünglichen  musikalischen  Ergriffenheit,  die  zur  dramatischen  Form  und 
damit  zur  Dichtung  drängt;  alles  andere  im  -Gesamtkunstwerk«:  ist  Außeriichkeit 
oder  Theorie.  Während  nun  bisher  gewisse  Seiten  des  Worttondramas  fortgebildet 
wurden  (in  der  Märchen-Oper  Humperdincks ,  der  Festspiel-Oper  Pfitzners ,  der 
Musizier-Oper  Straußens,  der  Theater-Oper  d'Aiberts),  ist  Franz  Schreker  das  gleiche 
Phänomen  wie  Wagner,  »nur  in  ganz  anderer,  die  Verwandtschaft  der  Art  auf  den 
ersten  Blick  kaum  erkennenlassender  Verkörperung«.  Über  diese  Wertung  Schrekers 
kann  ich  nicht  urteilen,  da  ich  zu  wenig  von  ihm  kenne,  aber  zu  der  Auffassung 
Wagners  möchte  ich  bemerken,  daß  sie  mir  eine  nach  rückwärts  gewendete  Kon- 
struktion zu  sein  scheint;  will  man  Wagner  nicht  von  der  Gegenwart  her,  sondern 
aus  sich  selber  verstehen,  so  darf  man  schweriich  seine  Dichtung,  Bühne,  Philo- 
sophie aus  einer  Allmacht  der  in  ihm  lebenden  Musik  ableiten,  sondern  man  muß 
ihm  schon  eine  ursprüngliche  Vielfalt  der  Begabungen  zuerkennen.  —  Der  Kapell- 
meister Rottenberg  bringt  einige  Aphorismen,  sein  Amtsgenosse  Brecher  einen  Bei- 
trag zu  der  Frage ,  ob  das  Publikum  den  Dirigenten  auch  sehen  muß ,  um  vollen 
Genuß  von  einer  Orchesteraufführung  zu  haben.  Die  letzte  Frage  möchte  Ich  — 
nach  meinen  persönlichen  Erfahrungen  —  bejahen.  Auf  die  Dauer  ist  das  bloße 
Hören  anstrengend,  wirkt  die  Einschränkung  auf  den  einen  Sinn  lähmend,  und 
schon  deshalb  wünsche  ich  bei  reiner  Instrumentalmusik  den  Kapellmeister  oder 
den  Solisten  sehen  zu  können,  so  oft  es  mir  beliebt ;  außerdem  jedoch  tragen  die  Aus- 
drucksbewegungen des  Künstlers  zur  Erhellung  seiner  Absichten  aufs  reizvollste  bei, 
es  scheint  mir  theoretische  Engherzigkeit,  wenn  man  auf  ihre  Mithilfe  beim  Nach- 
leben der  Musik  verzichten  will.  Ein  Umstand  freilich,  auf  den  Brecher  hinweist; 
ohne  ihn  mit  dem  Problem  zu  verkoppeln,  stört  bei  der  Beobachtung  des  Diri- 
genten: das  »Vorschlagen«.  Zwar  muß  jeder  Musizierende  beim  Spielen  die  sich 
anschließenden  musikalischen  Gebilde  voraussehen,  teils  um  dem  augenblicklich  Ge- 
spielten den  rechten  Ausdruck  zu  sichern,  teils  aus  technischen  Gründen  (Wahl  des 
Fingersatzes  u.  dgl.),  aber  der  Leiter  eines  Orchesters  muß  Zeichen  geben,  und 
diese  Zeichen,  die  sich  auf  Einsatz,  Stärkegrad,  Empfindung  beziehen,  müssen  vor- 
zeitig erfolgen,  um  ihre  Wirkung  auszuüben.  So  kommt  es,  daß  man  während  des 
lautesten  Orchesterklanges  beschwichtigende  Bewegungen  sieht  oder  beim  Anfang 
der  Manfred-Ouvertüre  wegen  des  »Vorschlagens«  nicht  zur  Auffassung  der  Syn- 
kopen gelangt.  Der  Kundige,  zumal  wenn  er  selbst  einmal  im  Orchester  gesessen 
hat,  zieht  das  alles  in  Rechnung,  der  technisch  weniger  geschulte  musikalische 
Hörer  wird  dadurch  gestört. 

Ein  »literarischer  Teil«  des  Sammelbandes  beschäftigt  sich  mit  Theatergeschichte 
und  dramatischer  Dichtkunst.  Im  Anschluß  an  Max  Herrmanns  grundlegende  Ar- 
beiten wird  Theaterwissenschaft  bestimmt  als  »die  Wissenschaft  von  der  Gesamtheit 
der  Künste,  wie  sie  das  moderne  Theater  beansprucht,  also  ebensosehr  Schauspieler- 
analyse wie  Kostümkunde  und  Geschichte  der  Architektur  und  Malerei».    Offenbar 


I 


BESPRECHUNGEN.  3|g 


soll  Beschaffenheit  und  Zweck  eines  geschichtlich  gewordenen  Gebildes  den  Inhalt 
einer  Wissenschaft  «mgrenzen.  Natürlich  i<ann  in  den  Begriff  einer  Architektur- 
wissenschaft zusammengefalM  werden,  was  der  werdende  Baumeister  von  Stilunter- 
ßchiedeii,  Kunstgeschichte,  Hygiene,  Mathematik,  Rechtsprechung  im  Hinblick  auf 
seinen  Beruf  lernen  niiili,  und  ebenso  kann  als  Theaterwissenschaft  die  Beschreibung 
und  Erklärung  alles  dessen  angesehen  werden,  was  nun  einmal  zur  Bühne  gehört. 
Indessen,  die  strengere  Auffjissung  von  Wissenschaft  überhaupt  fordert  einen  Kern- 
punkt, in  dem  der  Gegenstand  seiner  Eigentümlichkeit  nach  und  mit  einer  aus  ihm 
fließenden  Methode  ergriffen  wird.  Hierfür  genügt  nicht  das  Zusammenraffen  eines 
tatsächlich  verbundenen  Mannigfachen.  Unter  den  vielen  Beiträgen  zur  literari- 
schen Dramaturgie  sei  zunächst  ein  Aufsatz  von  Ernst  Blaß  hervorgehoben.  Er 
will  die  unverkennbare  Abstraktheit  in  Paul  Ernsts  dramatischer  Kunst  dadurch 
rechtfertigen,  daß  er  dem  Dichter-Denker  einen  besonders  geschärften  Sinn  für  die 

apriorische  Dranienform«  zuschreibt.  Je  reiner  und  nackter  die  Handlung  eines 
Dramas  ist,  desto  stärker  gibt  sie  das  Wesentliche;  da  aber  die  Leibhaftigkeit  aus 
dem  Personendrama  und  der  Bühne  nicht  auszumerzen  ist,  so  bleibt  als  Aufgabe 
für  den  Dramatiker:  »eine  Handlung  unter  Menschen,  deren  intelligible  Rolle  sich 
mit  ihrem  empirischen  Sein  decken  muß  .  Ein  grundsätzlicher  Gegensatz  muß 
zwischen  lebendigen  Menschen  ausgekämpft  werden,  Wille  des  Schicksals  und  Wille 
des  Menschen  müssen  zusammentreffen,  damit  die  dramatische  Form  ihrer  Haupt- 
aufgabe gerecht  wird,  durch  sinnfällige  Handlung  ein  Geistiges  zu  veranschaulichen. 
Dies  der  Grundgedanke.  Man  sieht  leicht,  daß  er  mit  einer  durch  den  besonderen 
Fall  verhängten  Zuspitzung  beginnt  und  in  ein  stumpfes  Ende  ausläuft :  der  Gebrauch 
von  Begriffen  wie  apriorisch  und  intelligibel  —  die  übrigens  mit  größerer  Vorsicht 
verwendet  werden  sollten,  auch  im  Falle  Paul  Ernst  —  bereitet  nur  den  Weg  zur 
alten  idealistischen  Lehre.  —  Der  neue  Idealismus  tritt  ans  Licht  mit  einer  gehalt- 
vollen Abhandlung,  die  Julius  Bab  dem  expressionistischen  Drama  widmet.  Sie 
beginnt  mit  dem  Gedanken,  daß  impressionistische  und  naturalistische  Kunst  Aus- 
druck war  für  das  Gefühl  der  Abhängigkeit  des  Menschen  von  der  Umgebung,  und 
zeigt  dann,  wie  die  neue  Kunst  des  Glaubens  lebt,  daß  geheimnisvolle  Kräfte  im 
Menschen  es  sind,  die  die  Welt  überhaupt  erst  bilden.  Des  Dichters  Aufgabe  ist: 
Wesensmenschen  oder  seelische  Grundfiguren  zu  zeichnen,  wobei  allerdings  auch 
der  Körper  glaubhaft  bleiben  muß.  Bab  wiederholt  die  geschickten  Worte,  in  die 
der  junge  Dichter   Paul  Kornfeld   den  Sinn   des  Expressionismus  eingefangen   hat: 

ilst  der  Mensch  Mittelpunkt  der  Welt,  so  ist  er's  nicht  um  seiner  Talente  willen, 
er  ist's,  weil  er  Spiegel  und  Schatten  des  Ewigen,  weil  er,  zwar  erdgeboren,  doch 
Verwalter  des  Göttlichen  ist  .  .  .  (Sache  der  Selbsterkenntnis  soll  sein)  sich  dessen 
bewußt  zu  werden,  was  unzeitlich  in  uns  ist,  und  also  in  höherem  Sinne  sich  zu 
erleben,  statt  in  niedrigerem  Sinne  sich  zu  begucken  .  .  .  Die  Psychologie  sagt  vom 
Wesen  des  Menschen  ebensowenig  aus  wie  die  Anatomie.-  Über  die  eigentümliche 
Fornuing,  die  das  Drama  von  hier  erhält,  gibt  Bab  leider  nur  Andeutungen;  er  hebt 
hervor,  daß  zwischen  die  lebendigen  Menschen  in  jedem  Augenblick  Gestalten 
treten  können,  die  nur  geträumt  sind,  daß  der  Gefühlsausdruck  in  der  Sprache  über- 
gangslos hervorspringt,  daß  die  Wechselrede  rhythmisch  klar  gegliedert  wird.  Aber 
es  müßte  noch  weit  mehr  an  Einzelheiten  aufgezeigt  werden,  um  zu  erweisen,  daß 
Theorie  und  Praxis  nicht  nebeneinander  hergehen,  sondern  aus  demselben  eigen- 
tümlichen Kunstgefühl  hervorwachsen. 

Ich  übergehe  eine  Reihe  von  Aufsätzen  —  darunter  eine  Studie  Gustav  Lan- 
dauers über  »Troilus  und  Cressida«  —  und  beschränke  mich  auf  ein  paar  Bemer- 
kungen zu  dem  von  Richard  Weichert  behandelten  Gegenstand:  Regisseur  und  Dar- 


320  BESPRECHUNGEN, 


steller.  Gern  pflichte  ich  der  Forderung  bei,  daß  der  Geist  der  Dichtun<j  höchste 
Autorität  bleiben  muß,  aber  ich  sehe  nicht  im  Wort  »das  Wesentliche  des  Theaters« 
noch  in  der  Bühne  »eine  akustische  Anstalt- .  Das  Besondere  der  Biihnenkunst  liegt 
doch  darin,  daß  die  ebenso  besondere  Einbildungskraft  des  geborenen  Res^isseurs 
Anblick  der  Szene,  Sprache,  Geste,  Bewegung,  Kostüm  unter  der  Leitung  des  Dichter- 
wortes zu  einer  Ganzheit  vereinigt  —  nur  eine  so  aufgebaute  Vorstellung  hat  Stil, 
wie  der  Verfasser  selber  gesteht.  Und  eine  weitere  Eigenschaft  des  Regisseurs 
steckt  in  der  Fähigkeit,  dem  Schauspieler  das  erwünscht  Scheinende  wirklich  klar 
machen  zu  können,  wozu  dann  noch  andere  pädagogische  Gaben  sich  gesellen 
müssen.  Das  ist  ein  weites  Feld.  Es  sollte  einmal  von  einem  philosophischen 
Nachfolger  H.  Th.  Roetschers  beackert  werden,  sofern  er  genügende  Bühnenerfah- 
rung besitzt. 

Berlin.  JVlax  Dessoir. 


31» 


XI. 

Der  Begriff  des  Kunstwollens% 

Von 
Erwin  Panofsky. 

Es  ist  der  Fluch  und  der  Segen  der  Kunstwissenschaft,  daß  ihre 
Objekte  mit  Notwendigkeit  den  Anspruch  erheben,  anders  als  nur 
historisch  von  uns  erfaßt  zu  werden.  Eine  rein  historische  Betrachtung, 
gehe  sie  nun  Inhalts-  oder  formgeschichtlich  vor,  erklärt  das  Phäno- 
men Kunstwerk  stets  nur  aus  irgendwelchen  anderen  Phänomenen, 
nicht  aus  einer  Erkenntnisquelle  höherer  Ordnung:  eine  bestimmte 
Darstellung  ikonographisch  zurückverfolgen,  einen  bestimmten  Form- 
komplex typengeschichtlich  oder  aus  irgendwelchen  besonderen  Ein- 
flüssen ableiten,  die  künstlerische  Leistung  eines  bestimmten  Meisters 
im  Rahmen  seiner  Epoche  oder  sub  specie  seines  individuellen  Kunst- 
charakters erklären,  heißt  innerhalb  des  großen  Gesamtkomplexes 
der  zu  erforschenden  realen  Erscheinungen  die  eine  auf  die  andere 
zurückbeziehen,  nicht  von  einem  außerhalb  des  Seins-Kreises  fixierten 
archimedischen  Punkte  aus  ihre  absolute  Lage  und  Bedeutsamkeit 
bestimmen:  auch  die  längsten  »Entwicklungsreihen«  stellen  immer  nur 
Linien  dar,  die  ihre  Anfangs-  und  Endpunkte  innerhalb  jenes  rein 
historischen  Komplexes  haben  müssen. 

Die  politische  Geschichte,  als  Geschichte  des  menschlichen 
Handelns  gefaßt,  wird  sich  mit  einer  solchen  Betrachtungsweise  zu- 
frieden geben  müssen  —  und  auch  zufrieden  geben  können:  das 
Phänomen  der  Handlung  muß  seinem  Begriffe  nach,  d.  h.  als  bloße 
Verschiebung,  nicht  formende  Bewältigung  der  Wirklichkeitsinhalte*), 
durch  rein  historische  Erforschung  voll  erschöpfbar  sein,  ja  einer  nicht 
historischen  Betrachtung  widerstreben.  Die  künstlerische  Tätigkeit  aber 
unterscheidet  sich  insofern  von  dem  allgemeingeschichtlichen  Geschehen 


')  Diese  Ausführungen  bilden  in  gewisser  Hinsicht  die  Fortsetzung  zu  dem  in 
der  Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  aiig.  Kunstwissenschaft,  Jahrg.  X,  S.  460  ff.  erschienenen 
Artikel  des  Verfassers  über  »Das  Problem  des  Stils  in  der  bildenden  Kunst«,  dessen 
Schlußabsatz  in  ihnen  näher  erläutert  wird. 

')  Vgl.  Schopenhauers  schöne  Unterscheidung  zwischen  »Taten€  und  »Werken« 
(Aphor.  zur  Lebensweisheit,  Kap.  IV). 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  all£.  Kunstwissenschaft.    XIV.  21 


322  ERWIN  PANOFSKY. 


(und  berührt  sich  insofern  mit  der  Erkenntnis),  als  ihre  Leistungen 
nicht  Äußerungen  von  Subjel<ten  darstellen,  sondern  Formungen  von 
Stoffen,  nicht  Begebenheiten,  sondern  Ergebnisse.  Und  damit  erhebt 
sich  vor  der  Kunstbetrachtung  die  Forderung  —  die  auf  philosophi- 
schem Gebiete  durch  die  Erkenntnistheorie  befriedigt  wird  — ,  ein 
Erklärungsprinzip  zu  finden,  auf  Grund  dessen  das  künstlerische  Phä- 
nomen nicht  nur  durch  immer  weitere  Verweisungen  an  andere  Phä- 
nomene in  seiner  Existenz  begriffen,  sondern  auch  durch  eine 
unter  die  Sphäre  des  empirischen  Daseins  hinabtauchende  Besinnung 
in  den  Bedingungen  seiner  Existenz  erkannt  werden  kann. 

Diese  Forderung  bedeutet,  wie  gesagt,  Fluch  und  Segen:  Segen, 
weil  sie  die  Kunstwissenschaft  in  einer  dauernden  Spannung  erhält, 
ständig  die  methodologische  Überlegung  herausfordert  und  uns  vor  allem 
immer  wieder  daran  erinnert,  daß  das  Kunstwerk  Kunstwerk  ist,  nicht 
ein  beliebiges  historisches  Objekt,  —  Fluch,  weil  sie  eine  schwer  er- 
trägliche Unsicherheit  und  Zersplitterung  in  die  Forschung  hinein- 
tragen mußte,  und  weil  das  Streben  nach  der  Aufdeckung  von  Ge- 
setzmäßigkeiten vielfach  zu  Resultaten  geführt  hat,  die  entweder  mit 
dem  Ernste  einer  wissenschaftlichen  Anschauung  nicht  zu  vereinen 
sind  oder  aber  dem  Einzigkeitswert  des  individuellen  Kunstwerkes  zu 
nahe  zu  treten  scheinen:  zu  einem  puritanischen  Rationalismus  im 
Sinne  der  normativen  Ästhetik,  zu  einem  Völker-  oder  einzelpsycho- 
logischen Empirismus  im  Sinne  der  Leipziger  Schule  und  der  zahl- 
reichen Theoretiker  des  »künstlerischen  Schaffensprozesses«,  zu  einer 
willkürlich  konstruktiven  Spekulation  im  Sinne  Worringers  oder  zu 
unklarer  Begriffsverschlingung  im  Sinne  Burgers.  Kein  Wunder  daher, 
wenn  nicht  die  Schlechtesten  unter  den  neueren  Methodologen  der 
Kunstwissenschaft,  skeptisch  geworden,  endgültig  das  einzige  Heil  in 
der  rein  historischen  Betrachtungsweise  erblickten  ^)  —  kein  Wunder 
aber  auch,  wenn  auf  der  anderen  Seite  Forscher  auftraten,  die  sich, 
mit  Gewissenhaftigkeit,  philosophischem  Kritizismus  und  auf  Grund 
umfassendster  Materialkenntnis  der  Aufgabe  unterzogen,  trotz  allem 
zur  mehr-als-phänomenalen  Erfassung  der  Kunsterscheinungen  vorzu- 
dringen. 

Der  bedeutendste  Vertreter  dieser  ernsten  Kunstphilosophie  dürfte 
Alois  Riegl  sein.  Durch  seine  zeitliche  Stellung  sah  dieser  große  Forscher 
sich  jedoch  genötigt,  bevor  er  sich  der  Erkenntnis  der  dem  künstle- 
rischen Schaffen  zugrunde  liegenden  Gesetzmäßigkeiten  zuwenden 
konnte,  zunächst  die  dabei  vorauszusetzende,  zu  seiner  Zeit  aber  durch- 
aus nicht  anerkannte  Autonomie  desselben  gegenüber  den  vielfältigen 


')  Hans  Tietze,  Die  Methode  der  Kunstgeschichte,  1Q13. 


^ 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS. 


323 


Abhängigkeitstheorien,  vor  allem  gegenüber  der  materialistisch-techno- 
logischen Auffassung  Gottfried  Sempers,  sicherzustellen.  Dieses  tat 
er  durch  die  Einführung  eines  Begriffes,  der  im  Gegensatz  zu  der  be- 
ständigen Betonung  der  das  Kunstwerk  determinierenden  Faktoren 
(des  Materialcharakters,  der  Technik,  der  Zweckbestimmung,  der  histo- 
rischen Bedingungen)  die  Summe  oder  Einheit  der  in  demselben  zum 
Ausdruck  gelangenden,  es  formal  wie  inhaltlich  von  innen  heraus 
organisierenden  schöpferischen  Kräfte  bezeichnen  sollte:  des  Be- 
griffes »Kunstwollen<. 

Dieser  Begriff,  vielleicht  der  aktuellste  der  modernen  kunstwissen- 
schaftlichen Forschung,  ist  nun  aber  nicht  ungefährlich  wegen  seiner 
Zuspitzung  auf  das  psychologisch  Willensmäßige,  —  einer  Zuspitzung, 
die  sich  freilich  aus  dem  Protest  gegen  jene  anderen  Theorien  des  späteren 
IQ.  Jahrhunderts  (die  man  als  »Theorien  des  Müssens«  bezeichnen 
könnte)  historisch  erklären  läßt;  und  er  bedarf  daher,  wie  wir  glauben, 
der  methodologischen  Erörterung  ebensosehr,  wie  sein  nicht  minder 
geläufiger  Parallelbegriff,  der  Begriff  der  »künstlerischen  Absicht«,  der 
sich  nur  konventionell,  nämlich  nach  dem  Umfang  seines  Anwendungs- 
gebietes, von  ihm  zu  unterscheiden  scheint,  indem  man  den  Ausdruck 
»Kunstwollen«  vorwiegend  auf  künstlerische  Gesamterscheinungen, 
auf  das  Schaffen  einer  Zeit,  eines  Volkes  oder  einer  ganzen  Persön- 
lichkeit zu  beziehen  pflegt,  während  der  Ausdruck:  »künstlerische 
Absicht«  meist  mehr  zur  Charakterisierung  des  Einzelkunstwerks 
Verwendung  findet.  Denn,  wenn  wir  vom  »Kunstwollen«  der  Re- 
naissance, der  spätantiken  Plastik,  des  Bernini  oder  des  Correggio 
reden,  wenn  wir  innerhalb  des  Einzelkunstwerks  in  der  Anordnung 
bestimmter  Linien-  oder  Flächenkombinationen,  in  der  Wahl  bestimmter 
Farbenzusammenstellungen,  in  der  Disposition  bestimmter  Bauglieder 
eine  »künstlerische  Absicht«  zu  erkennen  glauben,  so  sind  wir  zwar 
einhellig  davon  überzeugt,  damit  etwas  Objektives  und  für  das  Wesent- 
liche der  künstlerischen  Erscheinungen  Bezeichnendes  auszusagen  — 
aber  keine  Einigkeit  herrscht  über  die  tatsächliche  Bedeutung  einer 
solchen  Konstatierung,  d.  h.  darüber,  in  welchem  Sinne  das 
»Kunstwollen«  oder  »die  künstlerische  Absicht«  ein  mög- 
licher Gegenstand    kunstwissenschaftlicher    Erkenntnis   sei. 


Die  verbreitetsten  Auffassungen  der  genannten  Begriffe  (Auf- 
fassungen übrigens,  die  von  ihren  Vertretern  durchaus  nicht  immer 
ausdrücklich  und  bewußt  akzeptiert  zu  sein  brauchen,  sondern  oft 
nur  de  facto  von  ihnen  betätigt  werden)  sind  psychologistisch  und 
lassen   sich   in   folgende   drei  Unterarten   sondern:  1.  die   individual- 


324 


ERWIN  PANOFSKY. 


historisch  orientierte  künstlerpsychologische  Deutung,  die  die 
künstlerische  Absicht  oder  das  Kunstwolien  ohne  weiteres  mit  der 
Absicht  oder  dem  Wollen  des  Künstlers  identifiziert  —  2.  die 
kollektivgeschichtlich  eingestellte  zeitpsychologische  Deutung, 
die  das  in  einer  künstlerischen  Schöpfung  wirksame  Wollen  so  be- 
urteilen will,  wie  es  in  den  Menschen  der  gleichen  Epoche  lebendig 
war  und,  bewußt  oder  unbewußt,  von  ihnen  aufgefaßt  wurde  — 
3.  die  rein  empirisch  verfahrende  apperzeptionspsychologische 
Deutung,  die  —  von  der  Analyse  und  Erklärung  des  »ästhetischen 
Eriebnisses«,  d.  h.  der  in  der  Psyche  des  kunstgenießenden  Be- 
schauers sich  abspielenden  Vorgänge  ausgehend  —  die  im  Kunst- 
werk sich  aussprechende  Tendenz  ohne  weiteres  aus  der  Wirkung 
erschließen  zu  können  glaubt,  die  es  in  uns  Betrachtenden  hervorruft. 
1.  Die  durch  die  normale  Bedeutung  des  Wortes  »Absicht«,  ebenso 
wie  die  des  Wortes  »Wollen«  am  meisten  nahegelegte,  aber  dennoch 
mißverständliche  Deutung  ist  die  künstler-psychologische,  d.h. 
diejenige,  die  die  künstlerische  Absicht,  das  künstlerische  Wollen,  als 
den  psychologischen  Akt  des  historisch  greifbaren  Subjektes  »Künstler« 
betrachtet.  Es  bedarf  kaum  der  Erörterung,  daß  eine  solche  Auf- 
fassung —  die  also  dem  empirischen  Individuum  Giotto  oder  Rem- 
brandt  alles  das  als  Produkt  einer  psychologisch  faßbaren  Willens- 
regung zuschiebt,  was  uns  in  der  giottesken  oder  rembrandtischen 
Kunst  als  Ausdruck  eines  besonderen  kompositioneilen  oder  expres- 
siven Prinzips  zutage  zu  treten  scheint  —  unmöglich  zutreffen  kann, 
wenn  anders  die  Begriffe  »künstlerische  Absicht«  oder  »Kunst- 
wollen« einen  objektiven  und  das  Wesentliche  des  durch  die  Kunst 
Ausgedrückten  treffenden  Inhalt  haben  sollen.  Entweder  sehen  wir 
uns  —  denn  die  Prozesse,  die  sich  in  der  Seele  des  Künstlers  ab- 
spielen, sind  ja  der  objektiven  Erforschung  notwendig  entzogen  — 
über  seine  wirklichen  psychologischen  Absichten  nicht  anders  als 
durch  seine  uns  vorliegenden  Werke  (die  aber  ihrerseits  doch  erst 
wieder  aus  diesen  Absichten  erklärt  werden  sollen)  unterrichtet:  dann 
müssen  wir  den  Gemütszustand  des  Künstlers  aus  eben  diesen  Werken 
erschließen,  womit  wir  nicht  nur  Unbeweisbares  behaupten,  sondern 
auch  dem  circulus  vitiosus  verfallen,  das  Kunstwerk  auf  Grund  von 
Erkenntnissen  zu  interpretieren,  die  wir  selbst  erst  einer  Interpretation 
des  Kunstwerks  verdanken  —  oder  aber  es  sind  uns  in  bestimmten 
Fällen  positive  Aussagen  reflektierender  Künstler  überiiefert,  denen  die 
eigene  künstlerische  Absicht  bewußt  geworden  ist:  dann  nützt  uns 
diese  Kenntnis  auch  nicht  viel,  denn  es  erweist  sich  hierbei  mit  Not- 
wendigkeit, wie  wenig  das  intellektuell  geformte,  bewußt  gewordene 
Wollen  des  Künstlers  dem  entspricht,  was  sich  uns  als  die  wahre 


^ 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS.  325 

Tendenz  seines  Schaffens  aufzudrängen  scheint.  Der  Wille  kann 
sich  —  im  Gegensatz  zum  Trieb  —  nur  auf  Bei<anntes  richten,  auf 
einen  Inliait,  den  wir  zu  »bestimmen«,  d.  h.  in  seiner  besonderen 
Wesensart  von  anderen  Inhalten  zu  unterscheiden  vermögen.  Der 
Wiilensakt  besitzt  mit  anderen  Worten  stets  den  Charakter  einer  Ent- 
scheidung: nur  da  kann  man  mit  Sinn  von  einem  »Wollen«  reden, 
wo  nicht  ein  einheitlicher  Trieb  unweigerlich  ein  bestimmtes  Ergebnis 
erzwingt,  sondern  wo  im  Subjekte  mindestens  zwei  Zielvorstel- 
lungen Potential  lebendig  sind,  zwischen  denen  es  zu  wählen  hat. 
Bewußte  Bejahung  bestimmter  künstlerischer  Ziele,  und  damit  eine 
bestimmte  kunsttheoretische  Stellungnahme,  wird  also  nur  solchen 
Künstlern  (oder  Epochen)  möglich  sein,  in  denen  neben  ihrem  eigent- 
lichen schöpferischen  Urtrieb  zum  mindesten  noch  eine  zweite,  ent- 
gegengesetzt gerichtete  Tendenz  latent  ist,  und  durch  ein  >Bildungs- 
erlebnis«  (etwa  durch  die  Berührung  mit  der  Antike  oder  irgend  einem 
anderen  künstlerischen  Phänomen)  wachgerufen  wird:  erst  wenn  sich 
auf  diese  Weise  verschiedene  Möglichkeiten  des  Schaffens  vor 
dem  Bewußtsein  wechselseitig  erhellen  können,  sieht  dieses  sich 
befähigt  und  genötigt,  zu  unterscheiden,  abzuwägen  und  sich  zu  ent- 
schließen. So  hat  Dürer  theoretisiert,  nicht  Grunewald;  Poussin,  nicht 
Velasquez;  Mengs,  nicht  Fragonard:  erst  die  Renaissance  konnte  und 
mußte  theoretisieren  im  Gegensatz  zum  Mittelalter,  erst  die  helleni- 
stisch-römische Zeit  im  Gegensatz  zur  Epoche  der  Phidias  und  Po- 
lygnot ').  Daher  ist  jede  Künstlerästhetik  mit  einer  gewissen  Notwen- 
digkeit in  sich  antagonistisch  und  zwar  mit  der  Maßgabe,  daß  gerade 
die  nicht  ursprüngliche,  erst  durch  das  Bildungserlebnis  wachgerufene 
Tendenz,  als  die  reflektierbarere,  in  ihr  den  schärferen,  programma- 
tischeren Ausdruck  findet:  wohl  spiegelt  sie  eine  Uneinheitlichkeit,  die 
auch  in  der  Kunst  des  betreffenden  Meisters  zutage  treten  wird,  —  aber 
sie  spiegelt  sie  in  dem  Sinne,  daß  sie  gerade  diejenige  Tendenz,  die  künst- 
lerisch die  minder  schöpferische,  sekundäre,  ja  retardierende  genannt 
werden  muß,  theoretisch  häufiger,  grundsätzlicher  und  mit  postulativer 
Geltung  zum  Ausdruck  bringt.  Es  zeigt  sich  also  hier  mit  Deutlich- 
keit, was  solche  Aussprüche  theoretisierender  Künstler  für  das  Ver- 
ständnis ihrer  Kunst  bedeuten  können:  es  ist  nicht  so,  daß  sie  als 
solche  bereits  das  »Kunstwollen«  des  betreffenden  Künstlers  unmittel- 


')  Das  oben  Gesagte  gilt  natürlich  nur  für  die  Theorie  über  die  Kunst. 
Eine  Theorie  für  die  Kunst  (Proportions-,  Perspektiv-  oder  Bewegungslehre)  ist 
prinzipiell  auch  in  einheitlich  disponierten  Epochen  möglich.  Eine  Sonderstellung 
gegenüber  anderen  Künstler-Theoretikern  nimmt  Lionardo  da  Vinci  insofern  ein,  als 
er  weniger  als  theoretisierender  Künstler,  denn  als  ein  künstlerisch  tätiger  Welt- 
begreifer aufzufassen  ist. 


326  ERWIN  PANOFSKY. 


bar  bezeichneten,  sondern  sie  dokumentieren  es  nur.  Wovon 
einem  Künstler  reflel<tierte  Aussprüche  über  seine  Kunst  oder  über 
die  Kunst  im  allgemeinen  erhalten  sind,  bilden  sie  (gleich  unrefiek- 
tierten  Äußerungen,  wie  sie  etwa  in  den  Gedichten  Michelangelos 
oder  in  Raffaels  Briefstelle  über  die  Certa  idea  vorliegen)  in  ihrer 
Totalität  ein  der  Deutung  fähiges  und  bedürftiges  Parallelphänomen 
zu  seinen  künstlerischen  Schöpfungen,  nicht  aber  im  einzelnen  deren 
Erklärung  — ,  Objekte,  nicht  Mittel  der  sinngeschichtlichen  Inter- 
pretation').  Am  wenigsten  aber  darf  denjenigen  Künstlern,  die,  mit 
sich  und  ihrer  Zeit  im  Einklang  stehend,  eine  bestimmte  Möglichkeit 
des  künstlerischen  Schaffens  verwirklichten,  und  denen  wir  theore- 
tische Reflexionen  nicht  nachweisen  können,  ein  bewußtes  Wollen  im 
Sinne  der  intellektuellen  Ablehnung  anderer  Möglichkeiten  imputiert 
werden.  Es  ist  historisch  wie  philosophisch  gleich  unhaltbar,  wenn 
neuerlich  behauptet  werden  konnte:  »eine  Frage  des  Könnens  gibt  es 
in  der  Kunstgeschichte  nicht,  sondern  nur  die  des  Woliens  ...  Polyklet 
hätte  einen  borghesischen  Fechter  bilden,  Polygnot  eine  naturalistische 
Landschaft  malen  können,  aber  sie  taten  es  nicht,  weil  sie  sie  nicht 
schön  gefunden  hätten  2).«  Ein  solcher  Ausspruch  ist  deshalb  unrichtig, 
weil  sich  ein  »Wollen«  eben  nur  auf  ein  Bekanntes  richten  kann,  und 
weil  es  daher  umgekehrt  auch  keinen  Sinn  hat,  da  von  einem  Nicht- 
Wollen  in  der  psychologischen  Bedeutung  des  Ablehnens  (des  Noile, 
nicht  des  Non-velle)  zu  reden,  wo  eine  von  dem  »Gewollten«  abwei- 
chende Möglichkeit  dem  betreffenden  Subjekt  gar  nicht  vorstellbar  war: 
Polygnot  hat  eine  naturalistische  Landschaft  nicht  deshalb  nicht  gemalt, 
weil  er  sie  als  »ihm  nicht  schön  erscheinend«  abgelehnt  hätte,  son- 
dern weil  er  sie  sich  nie  hätte  vorstellen  können,  weil  er  —  kraft 
einer  sein  psychologisches  Wollen  vorherbestimmenden  Notwendig- 
keit —  nichts  anderes  als  eine  unnaturalistische  Landschaft  wollen 
konnte;  und  eben  deshalb  hat  es  keinen  Sinn,  zu  sagen,  daß  er  eine 
andersartige  gewissermaßen  freiwillig  zu  malen  unterlassen  hätte  3). 

')  Die  Umkehrung,  die  die  Bedeutung  der  das  Schaffen  eines  Künstlers  tat- 
sächlich beherrschenden  Prinzipien  in  seiner  Theorie  erfährt,  erhellt  besonders  deut- 
lich aus  der  Ästhetik  Berninis,  dessen  theoretische  Aussprüche  mit  ganz  wenigen 
und  minder  programmatisch  formulierten  Ausnahmen  einen  durchaus  objekti- 
vistisch-idealistischen Standpunkt  vertreten;  vgl.  hierzu  einen  Aufsatz  des  Verfassers 
im  Jahrbuch  der  Preuß.  Kunstsammlungen,  1919,  Heft  IV,  dem  die  obigen  Sätze 
zum  Teil  entnommen  sind.  Ein  weiteres  ebenso  gutes  Beispiel  böte  die  Ästhetik 
Albrecht  Dürers,  die  ebenfalls  im  allgemeinen  mit  der  italienischen  Renaissance- 
Anschauung  mitgeht  und  nur  an  wenigen  Stellen  die  subjektivistische  und  indivi- 
dualistische Richtung  des  großen  deutschen  Künstlers  verrät. 

2)  G.  Rodenwald   in  Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft  XI,  S.  123. 

ä)  Umgekehrt  würde  uns  die  Konstatierung  eines  bloßen  Non-velle  den  Phä- 
nomenen um  keinen  Schritt  näherbringen. 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS. 


327 


2.  Aus  dieser  Überlegung  ergeben  sich  nun  zugleich  die  Einwen- 
dungen gegen  die  zeitpsychologische  Auffassung  der  künstlerischen 
Absicht.  Auch  hier  erleben  wir  entweder  unbewußt  wirksame,  nicht 
in  der  Form  irgendeiner  dokumentarischen  Überlieferung  niederge- 
schlagene Strömungen  oder  Wollungen,  die  nur  aus  eben  denselben 
künstlerischen  Phänomenen  erschließbar  sind,  die  ihrerseits  durch  sie 
erklärt  zu  werden  verlangen  (so  daß  der  »gotische  Mensch«  oder  der 
»Primitive«,  aus  dessen  vermeintlichem  Wesen  wir  ein  bestimmtes  Kunst- 
produkt erklären  wollen,  in  Wahrheit  nur  die  Hypostasierung  eines  Ein- 
drucks ist,  den  wir  von  eben  diesem  Kunstprodukt  empfingen)  —  oder 
aber  es  handelt  sich  um  die  bewußt  gewordenen  Absichten  oder 
Wertungen,  wie  sie  in  der  zeitgenössischen  Kunsttheorie  oder  Kunst- 
kritik ihre  Formulierung  finden,  —  dann  können  diese  Formulierungen, 
ganz  wie  die  individuellen  theoretischen  Äußerungen  der  schaffenden 
Künstler  selbst,  wiederum  nur  ein  Parallelphänomen  zu  den  künst- 
lerischen Hervorbringungen  der  Epoche  bilden,  nicht  aber  bereits  ihre 
Deutung  enthalten.  Und  auch  hier  wird  dieses  Parallelphänomen 
in  seiner  Ganzheit  zwar  ein  außerordentlich  interessantes  Objekt  der 
geisteswissenschaftlichen  Forschung  darstellen,  im  einzelnen  aber  keines- 
wegs ein  methodologisch  faßbares  Kunstwollen  unmittelbar  zu  be- 
zeichnen vermögen:  ebenso  wie  die  selbstanalytischen  oder  allgemein- 
theoretischen Aussprüche  der  einzelnen  Künstler  ihr  eigenes  Kunstwollen, 
wird  auch  eine  die  künstlerische  Produktion  einer  Zeit  im  ganzen  be- 
gleitende Kunstbetrachtung  das  Kunstwollen  dieser  Zeit  zwar  in  sich 
zum  Ausdruck  bringen,  nicht  aber  es  für  uns  mit  Namen  nennen. 
Sie  wird,  ihrerseits  der  Interpretation  ebenfalls  erst  bedürftig,  bei  sinn- 
gemäßer Deutung  für  die  Erkenntnis  der  in  der  betreffenden  Zeit 
herrschenden  Tendenzen  und  damit  für  die  Beurteilung  ihres  Kunst- 
wollens  von  eminenter  Bedeutung  sein  können,  aber  niemals  kann 
die  Erkenntnis  dessen,  was,  »im  Sinn  eines  bestimmten  Ausdrucks« ') 


')  WölKIin,  Sitzungsberichte  der  Kgl.  preuß.  Akad.  d.  Wissensch.  1912,  S.  576. 
Wir  haben  in  unserem  Aufsatz  in  der  Zeitschr.  f.  Ästhetik  usw.  X,  S.  463  Anm. 
bereits  darauf  hingewiesen,  daß  eine  solche  zeitgenössische  Auffassung  künstle- 
rischer Absichten  für  ihre  objektive  Beurteilung  nicht  maßgebend  sein  kann.  —  Die 
Meinung,  es  sei  bei  der  Beurteilung  von  Kunstwerken  der  >Eindruck  der  Zeit- 
genossen«, nicht  der  unsere,  ausschlaggebend,  ist  neuerdings  mit  starker  Übertrei- 
bung von  D.  Henry  verfochten  worden  (Die  weißen  Blätter  1919,  S.  315  ff.)  —  in 
einem  Aufsatz,  der  auch  durch  die  völlige  Identifizierung  Riegis  mit  Worringer  zu 
Mißverständnissen  Anlaß  geben  kann.  Es  kann  nicht  genug  betont  werden,  daß 
Riegis  Ansichten  bei  Worringer  sehr  stark,  und  nicht  zum  Besseren, 
verändert  sind.  Wenn  Riegl  sagt:  »Jede  Kunst  will  ihre  Welt  darstel  len«  —  so 
sagt  Worringer:  »Die  Kunst  will  entweder  (als  .organische')  die  Welt  darstellen, 
oder  sie  will   sie  (als  .abstrakte')  nicht  darstellen.«     Riegl  hat  also  den  Begriff 


328  ERWIN  PANOFSKY. 


auf  die  Zeitgenossen  wirkend,  nach  ihrer  Meinung  den  Inhalt  der 
künstlerischen  Absichten  auszumachen  schien,  bereits  der  Einsicht  in 
das  Wesen  des  in  den  betreffenden  Werken  objektiv  verwirklichten 
Kunstwollens  gleichgeachtet  werden.  Auch  die  kunstkritischen  oder 
kunsttheoretischen  Äußerungen  einer  ganzen  Epoche  werden  die  in 
dieser  Epoche  hervorgebrachten  Kunstwerke  nicht  unmittelbar  deuten 
können,  sondern  erst  mit  ihnen  zusammen  von  uns  gedeutet 
werden  müssen. 

3.  Was  aber  endlich  die  von  der  modernen  »Ästhetik«  zumeist 
betätigte  apperzeptionspsychologische  Auffassung  des  Kunst- 
wollens angeht,  so  muß  gesagt  werden,  daß  Urteile,  die  auf  dieser 
Auffassung  fußen,  d.  h.  sich  mehr  oder  minder  eingestandenermaßen 
nicht  sowohl  auf  ein  historisches  Objekt,  als  vielmehr  auf  das  Ein- 
druckserlebnis eines  modernen  Beschauers  (oder  einer  Vielheit  moderner 
Beschauer)  beziehen,  weniger  für  die  Erkenntnis  der  in  dem  beurteilten 
Kunstwerke  verwirklichten  künstlerischen  Absichten,  als  für  die  Psycho- 
logie des  urteilenden  Betrachters  Bedeutung  haben  werden.  Bezogen 
nicht  auf  eine  historische  Gegebenheit,  sondern  auf  ihre  Spiegelung 
in  einem  modernen  Bewußtsein  haben  solche  Urteile  —  mögen  sie 
im  Einzelfalle  auch  noch  so  viel  Feingefühl  und  Geist  verraten  —  als 
ihr  eigentliches  Objekt  weder  das  Kunstwerk  noch  den  Künstler,  son- 
dern die  Psyche  eines  heutigen  Betrachters,  in  der  sich  die  Neigungen 
des  persönlichen  Geschmacks  mit  den  durch  Erziehung  und  Zeitströ- 
mung bedingten  Vorurteilen,  ja  oft  genug  mit  den  vermeintlichen 
Axiomen  der  rationalistischen  Ästhetik  werden  kreuzen  müssen '). 


einer  »Natur  schlechthin«,  die  die  Kunst  entweder  nachahmt  oder  nicht  nachahmt, 
beseitigt,  und  hat  es  dadurch  erreicht,  jeder  Kunst  eine  eigene  Weltvorstellung  oder 
Vorstellungswelt  zu  vindizieren,  d.  h.  den  alten  Gegensatz  zwischen  naturähnlicher 
und  naturentstellender  Kunst  mit  der  Wurzel  auszumerzen  —  Worringer  ver- 
ewigt im  Grunde  diesen  alten  Gegensatz,  nur  daß  er  die  »Unnatürlichkeit'  be- 
stimmter Stile  statt  aus  dem  Nicht-Können  aus  dem  »Nicht-Wollen«  herleitet  und 
dadurch  zu  einer  Vertauschung  der  Wertakzente  gelangt.  Gerade  im  Sinne  Riegls 
darf  man  nicht  mit  Worringer  sagen:  dieser  Stil  abstrahiert  von  »der«  natürlichen 
Wirklichkeit,  sondern  es  müßte  heißen:  die  Wirklichkeit  dieses  Stils  entspricht 
nicht  unserem  Begriff  vom  Wesen  des  Natürlichen«. 

')  Als  ein  Beispiel  dieser  Methode  darf  das  in  seiner  Art  gewiß  bewunderns- 
werte Werk  von  Theodor  Lipps  (Ästhetik  1903—1906)  zitiert  werden,  das  mit  der 
apperzeptionspsychologischen  Einstellung  durchaus  klassizistische,  ja  puritanische 
Wertungen  verbindet  (Ablehnung  z.  B.  der  plastischen  Gruppen  aus  selbständigen 
Einzelgestalten,  der  realistischen  Augendarstellung,  wie  sie  das  Altertum,  zuerst  in 
Ägypten,  durch  Einlassung  von  Halbedelsteinen  oder  Glaspasten  durchgeführt  hat, 
der  Karyatiden,  insofern  solche  Figuren  nicht,  wie  die  des  Erechtheion,  als  un- 
mittelbare Stellvertreter  der  tektonischen  Stützen  auftreten  usw.).  Interessant  ist 
die  Begründung,  mit  der  Lipps  (1,  S.  2  ff.)  diese  Verquickung  der  psychologistischen 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS.  329 

II. 

Das  Gefühl  für  die  Unzulänglichkeit  der  im  vorigen  angedeuteten 
Auffassungen  hat  denn  auch  bereits  hier  und  da  der  psychologisti- 
schen  Ausdeutung  des  Kunstwoilens  bis  zu  einem  gewissen  Grade 
entgegengewirkt.  Die  Erkenntnis  bricht  sich  Bahn,  daß  die  in  einem 
Kunstwerk  verwirklichten  künstlerischen  Absichten  von  den 
gemütszuständlichen  Absichten  des  Künstlers  ebenso  streng  ge- 
schieden werden  müssen,  wie  von  der  Spiegelung  der  Kunsterschei- 
nungen im  Zeit-Bewußtsein  oder  gar  von  den  Inhalten  der  Eindrucks- 
erlebnisse, die  das  Kunstwerk  einem  heutigen  Betrachter  vermittelt: 
daß,  kurz  gesagt,  das  Kunstwolien  als  Gegenstand  möglicher 
kunstwissenschaftlicher  Erkenntnis  keine  (psychologi- 
sche) Wirklichkeit  ist. 

Es  ist  nun  kein  Wunder,  wenn  das  Kunstwollen  in  derjenigen 
kritischen  Untersuchung,  die,  wenn  auch  gleichsam  nur  im  Vorbei- 
gehen, diese  Tatsache  zuerst  betont  und  damit  eine  Abkehr  von  der 
psychologistischen  Auffassung  eingeleitet  hat '),  zunächst  als  ein  bloßes 
Abstraktum  gedeutet  wird:  ist  doch  das  Abstraktum  die  einfachste, 
sozusagen  in  geradlinigem  Gegensatz  zur  Wirklichkeit  erfaßbare  Form 
des  Nicht-Wirklichen.  Allein  die  Definition  in  diesem  Sinne  (Kunst- 
wollen ist  die  »Synthese  aus  den  künstlerischen  Absichten  einer  Zeit») 
scheint  uns  die  methodologische  Bedeutung  dieses  Terminus  noch  nicht 
voll  auszuschöpfen.  Einmal  deswegen,  weil  eine  bloße  diskursive 
Zusammenfassung,  wie  sie  durch  eine  »Synthese«  geleistet  wird,  ledig- 
lich die  gleichsam  von  außen  konstatierbaren  Stilmerkmale  unter  einen 
gemeinsamen  Oberbegriff  würde  subsumieren  können,  also  nur  zu 
einer  phänomenalen  Klassifizierung  der  einzelnen  Stile  zu  führen  ver- 
möchte, nicht  aber  zur  Aufdeckung  von  prinzipiellen  Stilgesetzen,  die, 

mit  der  normativen  Ästhetik  rechtfertigt:  »Gesetzt  ich  l<enne  die  Bedingungen  für 
die  Erzeugung  des  Schönheitsgefühls,  .  .  .  dann  kann  ich  auch  ohne  weiteres  sagen, 
welche  Bedingungen  erfüllt  sein  müssen,  und  was  zu  vermeiden  ist,  wenn  das  frag- 
Hche  Schönheitsgefühl  ins  Dasein  gerufen  werden  soll,  d.  h.  die  Einsicht  in  den 
tatsächlichen  Sachverhalt  ist  zugleich  eine  Vorschrift.«  Das  Trügerische  dieser  Be- 
gründung liegt  nun  darin,  daß  jener  »tatsächliche  Sachverhalt«  seinerseits  ein  durch 
tausend  Umstände  determiniertes  subjektives  Phänomen  darstellt:  das  durch  Ge- 
schmack, Erziehung,  Milieu,  Zeitströmungen  bedingte  Eindruckserlebnis  eines 
empirischen  Subjekts  oder  einer  Mehrheit  empirischer  Subjekte  —  das  Erlebnis 
einiger  Menschen,  nicht  die  Eriebnisbedingung  des  Menschen  schlechthin; 
und  es  bedarf  keiner  Erörterung,  daß  diese  letzlere,  deien  Erkenntnis  allein  die 
Grundlage  für  allgemeine  normative  Sätze  bilden  könnte,  einer  reinen  Erfahrungs- 
wissenschaft, wie  es  die  apperzeptionspsychologische  Ästhetik  ist  und  sein  will, 
niemals  zugänglich  werden  kann. 
')  Tietze  a.  a.  O.  S.  13  f. 


B. 


330  ERWIN  PANOFSKY. 


allen  diesen  Merkmalen  zugrunde  liegend,  den  formalen  und  gehalt- 
lichen Charakter  des  Stils  von  unten  her  erklären  würden  —  sodann, 
weil  eine  Definition  des  Kunstwollens  im  Sinne  begrifflicher  Synthese 
der  Anwendungsmöglichkeit  dieses  Ausdrucks  auf  die  nicht  epochal 
begrenzten  Kunsterscheinungen,  insonderheit  auf  das  Einzelkunstwerk, 
nicht  gerecht  werden  kann.  Wenn  Riegl  nicht  nur  von  einem  barocken, 
sondern  auch  von  einem  holländischen,  Amsterdamer,  ja  rembrandti- 
schen  »Kunstwollens  spricht,  wenn  wir  in  der  Komposition  eines  ein- 
zelnen Gemäldes,  Bildwerks  oder  Baukomplexes  in  genau  dem 
gleichen  Sinne  eine  »künstlerische  Absicht«  konstatieren  wollen,  so  kann 
uns  eine  Auffassung  des  Kunstwollens  nicht  befriedigen,  die  es  rein 
diskursiv  als  die  Synthese  aus  den  Äußerungen  einer  Zeit  begreifen 
will.  Vielmehr  muß  der  Inhalt  des  Kunstwollens  oder  der  künstlerischen 
Absicht  durch  einen  Begriff  bezeichnet  werden  können,  der  aus  jeder, 
wie  immer  begrenzten,  künstlerischen  Erscheinung,  sei  es 
nun  das  Oesamtschaffen  einer  Zeit,  eines  Volkes  oder  einer  bestimmten 
Gegend,  sei  es  das  Oeuvre  eines  besonderen  Meisters  oder  sei  es  end- 
lich ein  beliebiges  Einzelkunstwerk,  unmittelbar  herausgewonnen  werden 
kann:  durch  einen  Begriff,  der  nicht  als  ein  durch  Abstraktion  ge- 
fundener Gattungsbegriff  die  phänomenalen  Charakteristika  der  betreffen- 
den Erscheinung  bezeichnet,  sondern  als  ein  die  eigentlichste  Wurzel 
ihres  Wesens  bloßlegender  Grundbegriff  ihren  immanenten  Sinn 
enthüllt.  Damit  ist  die  Definition  angedeutet,  die  unseres  Erachtens 
das  Kunstwollen  methodologisch,  d.  h.  soweit  es  als  möglicher  Gegen- 
stand der  kunstwissenschaftlichen  Erkenntnis  in  Frage  kommt,  einiger- 
maßen zutreffend  bestimmen  dürfte:  das  Kunstwollen  kann  —  wenn 
anders  dieser  Ausdruck  weder  eine  psychologische  Wirklichkeit, 
noch  einen  abstrahierten  Gattungsbegriff  soll  bezeichnen  dürfen  — 
nichts  anderes  sein,  als  das,  was  (nicht  für  uns,  sondern  ob- 
jektiv) als  endgültiger  letzter  Sinn  im  künstlerischen  Phäno- 
mene »liegt«!).  Von  ihm  aus  können  dann  die  formalen  wie  gehalt- 
lichen Charakteristika  des  Kunstwerks  nicht  sowohl  eine  begriffliche 
Zusammenfassung,  als  vielmehr  eine  sinngeschichtliche  Erklärung  finden 
—  die  freilich  nicht  mit  der  genetischen  Erklärung  zu  verwechseln 
ist,  wie  sie  uns  die  psychologistische  Auffassung  des  Kunstwollens 
trüglicherweise  in  Aussicht  stellte.  Denn  das  Eine  setzt  ja  der  Ge- 
brauch wie  die  Bestimmung  des  Begriffes  Kunstwollen  voraus:  daß 
jedes  künstlerische  Phänomen  für  eine  auf  seine  innere  Bedeutsamkeit 

')  Um  das  Rodenwaldsche  Beispiel  aufzunehmen,  würden  wir  in  dieser  Ter- 
minologie sagen:  Polygnot  kann  die  Darstellung  einer  naturalistischen  Landschaft 
weder  gewollt  noch  gekonnt  haben,  weil  eine  solche  Darstellung  dem  imma- 
nenten Sinn  der  griechischen  Kunst  des  5.  Jahrhunderts  widersprochen  hätte. 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS.  331 

abzielende  Interpretation  als  eine  Einheit  erfaßbar  sei:  daß  »formale« 
und  »imitative«  Elemente  —  entgegen  der  Wölfflinschen  Lehre  von 
einer  »doppelten  Wurzel  des  Stils«  —  nicht  auf  gesonderte  und  ihrer- 
seits irreduzible  Begriffe  gebracht  zu  werden  brauchen,  sondern  als 
die  verschiedenen  Äußerungen  einer  gemeinsamen  Grundtendenz  be- 
griffen werden  können,  einer  Tendenz,  die  als  solche  zu  erfassen  eben 
die  Aufgabe  wirklicher  »Grundbegriffe  der  Kunstgeschichte«  ist'). 

Ein  Vergleich  aus  der  Erkenntnistheorie  mag  die  Bedeutung  dieser 
Definition  zunächst  erläutern:  nehme  ich  irgendeinen  Urteilssatz,  z.  B. 
den  durch  Kants  Prolegomena  berühmt  gewordenen:  »die  Luft  ist 
elastisch«  als  gegeben  an,  so  bieten  sich  mir  bei  seiner  Betrachtung 
die  unterschiedlichsten  Methoden  dar:  historisch  kann  ich  die  Um- 
stände feststellen,  unter  denen  dieser  Satz  in  unserem  besonderen 
Falle  ausgesprochen  oder  niedergeschrieben  wurde;  psychologisch 
kann  ich  die  subjektiven  Voraussetzungen  ins  Auge  fassen,  unter 
denen  er  zustande  gekommen  ist  oder  zustande  kommen  kann  —  die 
Funktionen  der  Wahrnehmung,  den  Ablauf  des  Denkprozesses,  die 
Art  des  Gemütszustandes,  aus  dem  heraus  ein  solches  Urteil  fällbar 
war;  grammatikalisch-diskursiv  kann  ich  seine  Natur  als  Aussage 
oder  Fragesatz,  Konditional-  oder  Koflsekutivkonstruktion  bestimmen; 
logisch-diskursiv  kann  ich  ihn  nach  seinen  formalen  Kriterien  als 
positiven  oder  negativen,  allgemeinen  oder  spezialen,  assertorischen 
oder  apodiktischen  ansprechen.  Und  endlich  kann  ich  fragen,  ob  ein 
analytisches  oder  synthetisches,  ein  Wahrnehmungs-  oder  ein  Erfah- 
rungsurteil in  ihm  ausgesprochen  sei.  Und  indem  ich  nun  diese  letzte, 
transszendental-philosophische  Frage  an  ihn  stelle,  enthüllt  sich 
mir  etwas,  was  ich  das  erkenntnistheoretische  Wesen  des  Satzes 
nennen  könnte:  das,  was  abgesehen  von  seinem  formal-logischen  Auf- 
bau und  abgesehen  von  seiner  psychologischen  Vorgeschichte,  ja  abge- 
sehen von  dem,  was  der  Urteilende  selbst  »gemeint«  hat,  an  reinem  Er- 
kenntnisinhalt in  ihm  liegt,    indem  ich  feststelle,  daß  er,  so  wie  er 


')  Wenn  Wölfflin  (Kunstgesch.  Grundbegriffe  1915,  S.  18)  hierauf  erwidert, 
daß  die  formale  Entwicklung  ihre  eigenen  festen  Gesetze  habe  (so  daß  die  plastische 
Stufe  der  malerischen  mit  Notwendigkeit  vorangehe  und  nicht  etwa  umgekehrt),  so 
ist  das  ohne  weiteres  zuzugeben;  allein  es  wurde  ja  nicht  bestritten,  daß  die  Ent- 
wicklung der  »Darstellungsmodi«  eine  gesetzliche  sei,  sondern  daß  die  Gesetz- 
lichkeit dieser  formalen  Entwicklung  von  der  Gesetzlichkeit  der  inhaltlichen  unab- 
hängig wäre:  die  Entwicklung  des  »Imitativen«  vollzieht  sich  ja  mit  ebenderselben 
Notwendigkeit,  wie  die  der  ^ Darstellungsmodi«,  und  zwar  in  völlig  paralleler  Weise, 
so  daß  z.  B.  eine  Epoche  der  Landschaftsdarstellung  ebenso  eine  Epoche  der  reinen 
iV\enschendarstellung  voraussetzt,  wie  die  malerische  Stufe  die  plastische;  und  eben 
dahin  gilt  es  zu  gelangen,  daß  diese  beiden  Gesetzmäßigkeiten  als  Ausdruck  eines 
und  desselben  Prinzipes  erkannt  werden. 


332  ERWIN  PANOFSKY. 


dasteht,  nur  ein  Urteil  enthält,  in  welchem  »die  Wahrnehmungen  sich 
nur  gewöhnlich  verbunden  finden«,  d.  h.  nur  durch  ihr  gleichzeitiges 
Lebendig-Sein  in  einem  individuellen  Bewußtsein,  nicht  aber  durch  den 
reinen  Verstandesbegriff  der  Kausalität  »in  einem  Bewußtsein  überhaupt« 
verknüpft  erscheinen,  ergibt  sich  mir  die  Einsicht,  daß  der  Satz  »die  Luft 
ist  elastisch«  zunächst  noch  kein  Erfahrungs-  sondern  nur  ein  Wahr- 
nehmungsurteil in  sich  schließt:  seine  Geltung  ist  die  einer  Aussage 
über  das  tatsächliche  Verknüpftsein  der  Vorstellungen  Luft  und  Elasti- 
zität in  dem  denkenden  Selbst  des  Urteilenden,  nicht  aber  die  eines 
objektiven,  allgemeingültigen  Gesetzes,  nach  welchem  die  eine  Vorstel- 
lung die  andere  mit  Notwendigkeit  bedingt.  Eine  Geltung  dieser 
letzteren  Art  würde  dem  Satz  vielmehr  nur  dann  zugekommen  sein, 
wenn  wir  in  ihm  die  beiden  Vorstellungen  statt  durch  das  Band  der 
psychologischen  Koexistenz  durch  das  Band  des  Kausalitätsbegriffes 
zur  Einheit  einer  Erfahrung  zusammengeschmiedet  gefunden  hätten. 
—  Indem  ich  also  nachprüfe,  ob  dies  der  Fall  ist  oder  nicht  (und 
wenn  es  der  Fall  gewesen  wäre,  hätte  unser  Satz  etwa  lauten 
müssen:  »wenn  ich  den  Druck  auf  eine  Luftmenge  verändere,  so  be- 
dingt das  auch  eine  Veränderung  ihrer  Ausdehnung«),  besitze  ich  ein 
Mittel,  um  —  ohne  im  übrigen  8en  mir  gegebenen  Satz  mit  außerhalb 
seiner  liegenden  Daten  vergleichen  zu  müssen  —  das  in  ihm  und 
durch  ihn  Gültig-Gewordene  zu  erkennen.  Und  zwar  haben  mich 
weder  Überlegungen  historischer  oder  psychologischer  Natur,  noch 
ein  Subsumptionsverfahren,  durch  das  ich  die  formalen  Kriterien  des 
in  Frage  stehenden  Satzes  mit  denen  anderer  Sätze  verglichen  hätte, 
zu  dieser  Erkenntnis  geführt,  sondern  einzig  und  allein  die  Betrachtung 
des  gegebenen  Satzes  selbst  —  eine  Betrachtung  freilich,  der,  in 
Gestalt  des  Kausalitätsbegriffes  —  ein  das  Ja  oder  Nein  der  Erfah- 
rungseinheit entscheidender  Bestimmungsmaßstab  zugrunde  lag,  gleich- 
sam ein  a  priori  gegebenes  Reagenz,  das  das  zu  untersuchende  Objekt 
veranlaßt,  durch  sein  positives  oder  negatives  Verhalten  zu  ihm  über 
sein  eigentlichstes  Wesen  Aufschluß  zu  geben. 

Kehren  wir  nun  zu  der  Frage  nach  der  Erfassung  der  künstle- 
rischen Absicht  oder  des  Kunstwollens  zurück!  Ganz  wie  dem  Satz 
»die  Luft  ist  elastisch^  ein  bestimmtes  erkenntnistheoretisches  Wesen 
zukommt,  das  sich  der  Betrachtung  sub  specie  des  Kausalitätsbegriffes 
(und  nur  dieser  Betrachtung)  entschleierte,  so  kann  auch  in  den  Objekten 
der  Kunstwissenschaft,  in  den  weiter  oder  enger,  epochal,  regional  oder 
individuell  begrenzten  künstlerischen  Erscheinungen,  ein  immanenter 
Sinn  —  und  damit  ein  Kunstwollen  in  nicht  mehr  psychologischer,  son- 
dern gleichsam  auch  transzendental-philosophischer  Bedeutung  —  er- 
schlossen werden,  wenn  sie  nicht  durch  Beziehung  auf  etwas  außerhalb 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS.  333 

ihrer  Liegendes  (historische  Umstände,  psychologische  Vorgeschichte, 
stilistische  Analogien),  sondern  ausschließlich  in  ihrem  eigenen  Sein  be- 
trachtet werden;  betrachtet  jedoch  wiederum  sub  speäe  von  Bestim- 
mungsmaßstäben, die,  mit  der  Kraft  apriorischer  Grundbegriffe,  sich  nicht 
auf  das  Phänomen  selbst  beziehen,  sondern  auf  die  Bedingungen 
seines  Daseins  und  So-Seins,  und  die  sich  daher  zu  allgemeinen  Sub- 
sumptionsbegriffen,  wie  »plastisch«  und  »malerisch«,  und  zu  den  bloß 
formalen  Klassifikationen  von  der  Art  der  Wölfflinschen  »Darstellungs- 
modi« (flächenhaft-tiefenmäßig  usw.)  ungefähr  so  verhalten  müßten,  wie 
der  Begriff  der  Kausalität  zu  dem  Begriff  des  formallogischen  Hypo- 
thesis-  oder  des  grammatikalischen  Konditional -Verhältnisses.  So 
gewiß  es  für  die  Kunstwissenschaft  Aufgabe  ist,  über  das  historische 
Verständnis,  die  inhaltliche  Erklärung  und  die  formale  Analyse  der 
künstlerischen  Erscheinungen  hinaus  das  in  ihnen  verwirklichte  und  allen 
ihren  stilistischen  Eigenschaften  zugrunde  liegende  »Kunstwollen«  zu 
begreifen,  und  so  gewiß  wir  feststellten,  daß  dieses  Kunstwollen  not- 
wendigerweise nur  die  Bedeutungeines  dem  Kunstwerk  immanenten 
Sinnes  haben  kann  —  so  gewiß  muß  es  auch  Aufgabe  der  Kunstwissen- 
schaft sein,  a  priori  geltende  Kategorien  zu  schaffen,  die,  wie  die  der 
Kausalität  an  das  sprachlich  formulierte  Urteil  als  Bestimmungsmaßstab 
seines  erkenntnistheoretischen  Wesens,  so  an  das  zu  untersuchende 
künstlerische  I^hänomen  als  Bestimmungsmaßstab  seines  immanenten 
Sinnes  gewissermaßen  angelegt  werden  können  —  Kategorien  nun  aber, 
die  nicht  wie  jene  die  Form  des  erfahrungsschaffenden  Denkens,  son- 
dern die  Form  der  künstlerischen  Anschauung  würden  bezeichnen 
müssen.  —  Der  gegenwärtige  Versuch,  der  keineswegs  die  Deduktion 
und  Systematik  solcher,  wenn  man  so  sagen  darf  transzendental- 
kunstwissenschaftlicher, Kategorien  unternehmen  will,  sondern  rein 
kritisch  den  Begriff  des  Kunstwollens  gegen  irrige  Auslegungen  sichern 
möchte,  um  die  methodologischen  Voraussetzungen  einer  auf  seine 
Erfassung  gerichteten  Tätigkeit  klarzustellen  i),  kann  nicht  beabsichtigen, 
Inhalt  und  Bedeutung  derartiger  Grundbegriffe  des  künstlerischen 
Anschauens  über  diese  Andeutungen  hinaus  zu  verfolgen;  immerhin 
werden  dieselben  die  Richtung  bezeichnen  können,  in  der  sich  eine 
derartige  systematische  Untersuchung  zu  bewegen  haben  würde.  Nur 
das  eine  darf  bemerkt  werden,  daß,  soweit  wir  sehen,  bisher  (von  den 
unmittelbar  durch  ihn  beeinflußten  Forschern  abgesehen)  wiederum 
Alois  Riegl  derjenige  ist,  der  bei  der  Aufstellung  und  Anwendung  von 
Grundbegriffen  der  vorbezeichneten  Bedeutung  am  weitesten  gekom- 


')  Verfasser  hofft  jedoch,  bei  —  vielleicht  sehr  viel  —  späterer  Gelegenheit 
auf  das  hier  angeschnittene  Thema  zurückzukommen. 


334  ERWIN  PANOFSKY. 


men  sein  dürfte:  wie  der  Begriff  des  Kunstwollens  selbst  von  ihm 
geschaffen  wurde,  so  hat  er  auch  bereits  Kategorien  entdeci<t,  die  zur 
Erfassung  desselben  in  hohem  Maße  geeignet  sind  ').  Zielen  schon 
seine  Begriffe  »optisch«  und  »taktisch«  (in  besserer  Form:  »haptisch«) 
trotz  ihrerallerdings  noch  psychologisch-empiristischen  Formulierung  dem 
Sinne  nach  bereits  durchaus  nicht  mehr  auf  die  Gewinnung  genetischer 
Erklärungen  oder  phänomenaler  Subsumptionen,  sondern  auf  die  Klar- 
stellung eines  den  künstlerischen  Erscheinungen  immanenten  Sinnes, 
den  er  durch  die  Beziehung  auf  zwei  grundsätzliche  Möglichkeiten 
des  äußerlich  anschauenden  Verhaltens  von  Fall  zu  Fall  charakte- 
risieren zu  können  glaubte  (Wölfflin  wird  daher  den  genannten  Be- 
griff spaaren  nicht  gerecht,  wenn  er  sie,  die  doch  die  Begriffe  »pla- 
stisch« und  »malerisch«  fundieren  wollen,  nur  als  neue  Termini  für 
diese  selben  Begriffe  bezeichnet^)),  so  ist  das  später  entwickelte  Be- 
griffspaar »objektivistisch«  und  »subjektivistisch«  als  Ausdruck  für  die 
mögliche  geistige  Einstellung  des  künstlerischen  Ich  dem  künstle- 
rischen Gegenstand  gegenüber,  zweifellos  dasjenige,  das  einer  kate- 
gorialen  Geltung  in  dem  oben  gekennzeichneten  Sinn  bis  jetzt  weitaus 
am  nächsten  zu  kommen  scheint.  Die  Schrift,  in  der  Riegl  diese 
Begriffe  des  Objektivismus  und  des  Subjektiv'smus  entwickelt  und 
zuerst  zur  Anwendung  gebracht  hat,  die  Arbeit  über  das  holländische 
Gruppenporträt  ^),  zeigt  an  der  Behandlung  eines  ganz  bestimmten 
künstlerischen  Problems,  mit  welcher  Eindringlichkeit  und  Elastizität 
schon  mit  Hilfe  dieser  Begriffe  der  immanente  Sinn  der  Kunsterschei- 
nungen —  von  einem  national  und  epochal  begrenzten  Gesamtphä- 
nomen bis  zu  dem  einzelnen  Kunstwerk  eines  bestimmten  holländischen 
Malers  —  aufgefaßt  und  klargestellt  werden  kann  *).    Damit  soll  selbst- 


')  Die  Begriffsbildung  August  Schmarsows  ist  ebenso  wie  die  des  ihm  nahe- 
stehenden Oskar  Wulff  trotz  mannigfacher  Berührung  mit  Riegischen  Gedanken- 
gängen im  Grunde  noch  wesentlich  psychologisch-ästhetisch  orientiert. 

2)  Rep.  XXXI,  p.  356  f.  Eine  Fundierung  der  bisher  wegen  ihrer  methodo- 
logischen Vieldeutigkeit  nur  mit  mancherlei  Gefahren  verwendbaren  Begriffe  des 
Plastischen  und  Malerischen  ist  neuerdings  auch  durch  B.  Schweitzer,  Zeitschrift 
für  Äsihetik  usw.  XIII,  S.  259  ff.  versucht  worden. 

')  Jahrb.  d.  Kunstsamml.  des  Allerhöchsten  Kaiserhauses  XXIU,  S.  71  ff.  Die 
erwähnten  Begriffe  spielen  auch  in  den  posthumen  Veröffentlichungen  Riegischer 
Kolleg-Notizen  (Filippo  Baldinuccis  Vita  des  Oio.  Lorenzo  Bernini  mit  Übers,  u. 
Komm,  von  Alois  Riegl,  ed.  Burda  und  Pollak,  1912,  und  Die  Entstehung  der  Barock- 
kunst in  Rom,  1908)  eine  bedeutende  Rolle,  während  die  frühere  Arbeit  über  die 
spätrömische  Kunstindustiie  nur  erst  mit  den  Begriffen  optisch  und  taktisch  operiert. 

')  Mit  diesen  Ausführungen  will  ich  natürlich  nicht  bestreiten,  daß  sich 
die  Kunstbetrachtung  nicht  auch  ohne  Deduktion  und  Gebrauch  apriorischer  oder 
wenigstens  a  priori  fundierbarer  Grundbegriffe,  gewissermaßen  ohne  methodische 
Bewußtheit,  mit  Glück  um  die  Erfassung  eines  dem  Kunstwerk  immanenten  Sinnes 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS.  335 

verständlich  nicht  behauptet  werden,  daß  nicht  auch  diese  Begriffe 
einer  weiteren  Deduktion  fähig  und  bedürftig  wären,  und  noch  weniger, 
daß  sie  bereits  ohne  weiteres  alle  künstlerischen  Erscheinungen  er- 
schöpfend zu  charakterisieren  vermöchten.  Die  durch  die  beiden  Pole 
»Objektivismus«  und  »Subjektivismus«  bezeichnete  Linie  bildet  vielmehr 
nur  eine  gleichsam  eindimensionale  Achse,  auf  der  durchaus  nicht  alle 
Punkte  einer  Ebne  liegen  können;  die  anderen  lassen  sich  von  dieser 
Achse  aus  nur  negativ  bestimmen,  indem  man  sie  als  außerhalb 
ihrer  liegende  anerkennt  und  sich  mit  der  bescheidenen  Feststellung 
begnügt,  an  welcher  Stelle  dieses  »außerhalb«  von  Fall  zu  Fall 
anzunehmen  ist:  die  Kunst  des  Mittelalters,  Rembrandts,  Michelangelos 
wird  man  z.  B.  nur  dadurch  kennzeichnen  können,  daß  man  ihre  —  je- 
weils besondere —  Stellung  außerhalb  der  Linie  Objektivismus-Sub- 
jektivismus zu  qualifizieren  sucht. 

Es  ist  ohne  weiteres  zuzugeben,  daß  eine  derartige,  sinngeschicht- 
lich eingestellte  Kunstwissenschaft  die  künstlerischen  Objekte  »auf  be- 
stimmte, von  vornherein  festgelegte  Begriffe  abhören«  muß;  aber  es 
ist  keineswegs  notwendig,  daß  sie  deswegen,  wie  man  befürchtet  hat, 
dazu  führen  müßte,  »die  Kunstgeschichte  rein  nur  als  Problem- 
geschichte zu  behandeln»  ').  Eine  Methode,  wie  Riegl  sie  inauguriert 
hat,  tritt  —  richtig  verstanden  —  der  rein  historischen,  auf  die  Er- 
kenntnis und  Analyse  wertvoller  Einzelphänomene  und  ihrer  Zusammen- 
hänge gerichteten  Kunstgeschichtsschreibung  ebensowenig  zu  nahe, 
wie  etwa  die  Erkenntnistheorie  der  Philosophiegeschichte:  die  »Not- 
wendigkeit«, die  auch  sie  in  einem  bestimmten  historischen  Prozesse 
feststellt,  besteht  ja  —  vorausgesetzt,  daß  der  Begriff  des  Kunstwollens 
methodologisch  berichtigt  ist  —  nicht  darin,  daß  zwischen  mehreren 
zeitlich  aufeinander  folgenden  Einzelerscheinungen  ein  kausales  Ab- 
habe bemühen  können  (wie  umgekehrt  auch  die  noch  so  methodisch  auf  Erforschung 
dieses  Sinnes  gerichtete  Darstellung  wohl  nie  der  Gefahr  entgeht,  gelegentlich, 
mindestens  in  der  Ausdrucksweise,  ins  Psychologische  oder  Historische  abzugleiten): 
auch  bevor  Kant  die  kategoriale  Bedeutung  des  Kausalitätsbegriffes  erkannte,  sind 
die  tiefgehenden  Wesensunterschiede  der  Urteilsarten  gefühlt  und  mehr  oder  minder 
deutlich  ausgesprochen  worden;  nur  wird  solchen  Untersuchungen  stets  die  Sicher- 
heit fehlen,  mit  der  es  das  Phänomenale,  historisch  oder  psychologisch  Genetische 
vom  Sinnhaften  zu  unterscheiden  gilt.  So  bietet  z.  B.  eines  der  schönsten  Bücher 
in  deutscher  Sprache,  Vöges  »Anfänge  des  monumentalen  Stils«,  in  dem  der  Wesens- 
unterschied zwischen  gotischem  und  romanischem  Kunstwollen  exemplarisch  dar- 
gestellt wird,  dadurch  dem  Angriff  eine  Blöße,  daß  der  Verfasser,  nicht  geneigt, 
es  bei  der  vorbildlichen  Sinninterpretation  seiner  Beispiele  bewenden  zu  lassen, 
zwischen  ihnen  zum  Teil  auch  historisch-genetische  Zusammenhänge  konstruiert, 
die  der  Kritik  nicht  standgehalten  haben. 

')  Ernst  Heidrich,  Beiträge  zur  Geschichte  und  Methode  der  Kunstgeschichte, 
1917,  S.  87. 


336  ERWIN  PANOFSKY. 


hängigkeitsverhältnis  konstatiert  würde,  sondern  darin,  daß  innerhalb 
ihrer,  als  in  einem  künstlerischen  Oesamtphänomen,  ein  einheitlicher 
Sinn  erschlossen  wird.  Nicht  die  genetische  Begründung  des  Tat- 
sachenablaufs als  einer  notwendigen  Aufeinanderfolge  so  und  so  vieler 
einzelner  Begebenheiten,  sondern  die  sinngeschichtliche  Deutung 
desselben  als  einer  ideellen  Einheit  zu  unternehmen,  ist  die  Absicht '). 
Und  wenn  hier  einer  derartigen  »transzendental-kunstwissenschaftlichen« 
Betrachtungsweise  das  Wort  geredet  wird,  so  geschieht  das  keines- 
wegs, um  sie  etwa  an  Stelle  der  rein  historisch  vorgehenden  Kunst- 
geschichtsschreibung anzupreisen,  sondern  nur  um  ihr  ein  Vorzugs- 
recht auf  den  Platz  an  ihrer  Seite  zu  vindizieren:  es  soll  ledig- 
lich gezeigt  werden,  daß  die  »sinngeschichtliche«  Methode  —  weit 
entfernt,  die  rein  historische  Arbeit  verdrängen  zu  wollen  —  die 
einzig  berufene  ist,  sie  zu  ergänzen,  berufener  jedenfalls  als  die 
psychologisierenden  Überlegungen,  die,  das  geschichtliche  Bild  nur 
scheinbar  vertiefend,  in  Wahrheit  Künstler  und  Kunst,  Subjekt  und 
Objekt,  Wirklichkeit  und  Idee  miteinander  vermengen. 

III. 

Das  Kunstwollen,  so  wie  wir  es  vom  Wollen  des  Künstlers  wie 
vom  Wollen  seiner  Zeit  unterscheiden  mußten,  findet  also  in  der  das 
Kunstwerk  literarisch  (oder  auch  durch  anschauliche  Wiedergabe) 
interpretierenden  Überlieferung  keineswegs  seine  ohne  weiteres  an- 
nehmbare, das  Phänomen  direkt  erklärende  Formulierung,  sondern 
kann  nur  von  apriorischen  Kategorien  aus  durch  eine  Ausdeutung  der 
Phänomene  erfaßt  werden;  dennoch  ist  jene  Überlieferung,  wie  wir 
sie  unter  dem  Namen  der  »Dokumente«  zusammenfassen  können,  als 
heuristisches  Hilfsmittel  bei  einer  derartigen  Sinndeutung  von  höch- 
stem Wert,  ja  oftmals  unentbehrlich:  nicht  zwar  als  unmittelbarer 
Hinweis  auf  den  Sinn  selbst,  wohl  aber  als  Quelle  derjenigen  Ein- 
sichten, ohne  die  die  Erfassung  desselben  oft  genug  unmöglich  ist.  — 
Wenn   das   erkenntnistheoretische  Wesen  des  in   einem   sprach- 


')  Wo  Riegl  und  seine  Nachfolger  ein  Anderes,  d.  h.  eine  wirkliche  kausale 
Begründung  bestimmter  historischer  Abläufe  anzustreben  scheinen,  handelt  es  sich 
um  eine  terminologische  Unvollkommenheit,  die  damit  zusammenhängt,  daß  Riegl 
—  wie  schon  bemerkt  —  sowohl  das  Kunstwollen,  als  die  von  ihm  zu  seiner  Er- 
fassung geschaffenen  Begriffe  noch  vielfach  psychologistisch  auffaßte  (wie  denn  z.  B. 
die  von  ihm  eingeführten  Begriffe  »nahsichtig«  und  »fernsichtig«,  vor  allem  in 
bezug  auf  Rembrandts  Kunst  gebraucht,  geradezu  bedenklich  sind):  infolge  seiner 
eigenen  historischen  Stellung  konnte  er  selbst  sozusagen  noch  nicht  vollkommen 
erkennen,  daß  er  eine  die  bisherige  rein  genetische  Methode  weit  hinter  sich 
lassende  Transzendentalphilosophie  der  Kunst  begründet  hatte. 


I 


DER  BEGRIFF  DES  KUNSTWOLLENS.  337 

lieh  formulierten  und  textmäßig  überlieferten  Satze  Ausgesagten  er- 
mittelt werden  soll,  so  ist  hierfür  die  erste  Voraussetzung,  daß  das 
in  ihm  Ausgesagte  selbst,  der  positive  Inhalt  des  Satzes,  richtig 
verstanden  worden  sei.  Dieses  Verständnis  kann  aber  durch  man- 
cherlei Umstände  getrübt  oder  verhindert  werden,  die  sich  ebenso 
als  objektive  wie  als  subjektive  darstellen  können:  durch  einen 
Druck-  oder  Schreibfehler  oder  durch  eine  nachträgliche  Korrektur 
kann  der  ursprüngliche  Wortlaut  des  Satzes  an  und  für  sich  entstellt 
worden  sein;  ein  darin  vorkommender  Ausdruck  kann  (gerade,  wenn 
es  sich  um  einen  alten  Text  handeH)  seine  Bedeutung  gewechselt 
haben;  und  endlich  kann  ein  Lese-  oder  Gedächtnisfehler  des  auf- 
nehmenden Subjektes  die  richtige  Erfassung  des  Satzinhaltes  unmög- 
lich machen.  Genau  entsprechend  muß  auch  das  Kunstwerk,  dessen 
immanenten  Sinn  es  zu  erkennen  gilt,  zunächst  in  der  sachlichen  und 
formalen  Bedeutung  seiner  diesen  Sinn  in  sich  tragenden  phänome- 
nalen Erscheinung  verstanden  worden  sein,  und  genau  entsprechend 
können  sich  auch  hier  einem  solchen  Verständnis  Hindernisse  in  den 
Weg  legen;  ja  die  Umstände,  die  solche  Hindernisse  zu  bilden  ver- 
mögen, sind  sogar  den  vorhin  angedeuteten  insofern  völlig  analog, 
als  die  richtige  Auffassung  des  künstlerischen  Denkmals,  genau  so 
wie  die  des  sprachlichen  Textes,  durch  die  gleiche  Dreiheit  von  Irr- 
tümern oder  Täuschungen  gestört  werden  kann:  durch  Irrtümer  über 
die  ursprüngliche  Beschaffenheit  des  Objektes,  wenn  sach- 
liche Veränderungen  desselben  vorgekommen  sind,  durch  Irrtümer 
über  die  ursprüngliche  Wirkung  des  Objektes,  wenn  ein  Wechsel 
in  der  allgemeinen  Kunstanschauung  eingetreten  ist,  und  endlich  durch 
Irrtümer  über  die  gegenwärtige  Beschaffenheit  des  Objektes, 
wenn  es  durch  Zufall  hinsichtlich  seiner  positiven  Daten  verkannt 
wurde.  Wie  der  sprachliche  Text  durch  fehlerhafte  Wiedergabe  oder 
nachträgliche  Korrektur  seines  ursprünglichen  Inhaltes  verlustig  ge- 
gangen sein  kann,  so  kann  auch  das  Kunstwerk  durch  irgendwelche 
aus  ihm  selbst  nicht  mehr  erkennbare  spätere  Veränderungen  (Um- 
bau, Übermalung,  inadäquate  Ergänzung)  seine  objektive  Erscheinung 
einbüßen;  wie  eine  bestimmte  Vokabel  durch  eine  Wandlung  des 
Sprachgebrauches  ihre  Bedeutung  gewechselt  und  dadurch  den  ganzen 
Tenor  des  sprachlichen  Satzes  verändert  haben  kann,  so  kann  auch 
innerhalb  des  künstlerischen  Gesamtorganismus  irgendeine  Einzelheit 
(man  denke  z.  B.  an  ein  plastisches  Monument,  das  an  einer  bestimmten 
Stelle  ursprünglich  als  dekorative  Skulptur  mit  einem  Gebäude  zu- 
sammenbezogen wurde,  heute  aber  als  selbständiges  Mal  aufgefaßt 
wird)  in  der  Gegenwart  völlig  anders  als  in  der  Vergangenheit  ge- 
deutet werden  und  dadurch  die  formale  Wirkung  des  Ganzen  für  uns 

Zeittchr.  f.  Ästhetik  u.  ailg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  22 


338  ERWIN  PANOFSKY. 


mißverständlich  maciien;  und  wie  endlich  das  Textverständnis  durch 
einen  subjel<tiven  Lese-  oder  Oedächtnisfehler  unmöglich  werden  kann, 
so  kann  auch  das  Verständnis  eines  künstlerischen  Phänomens  durch 
einen  materiellen  Irrtum  über  seine  Maße,  seine  Farbe,  seine  stoffliche 
Bedeutung  oder  seine  Zweckbestimmung  in  Frage  gestellt  oder  gänz- 
lich verhindert  werden.  Und  hier  nun  ist  die  Stelle,  wo  auch  die 
auf  Erkenntnis  des  immanenten  Sinnes  ausgehende  Bemühung  der 
Hilfe  der  »Dokumente«  bedarf,  um  zunächst  das  rein  phänomenale 
Verständnis  der  gegebenen  künstlerischen  Erscheinung  sicherzustellen: 
die  Dokumente,  seien  es  nun  urkundliche  Belege,  kunstkritische 
Würdigungen,  kunsttheoretische  Erörterungen  oder  endlich  bildmäßige 
Wiedergaben,  vermögen  jene  objektiven  und  subjektiven  Täuschungen 
zu  berichtigen,  und  zwar  ist  diese  ihre  berichtigende  Funktion,  wie 
ohne  weiteres  ersichtlich  wird,  von  dreierlei  Art:  das  Dokument  berichtigt 
erstens  rekonstruktiv,  wenn  es  durch  urkundliche  Beglaubigung 
oder  bildmäßige  Überlieferung  einen  verlorenen  ursprünglichen  Zustand 
des  zu  betrachtenden  Kunstwerkes  wieder  herzustellen  ermöglicht  — 
zweitens  exegetisch,  wenn  es  durch  Kundgabe  einer  bestimmten 
ästhetischen  Auffassung  (äußere  sie  sich  nun  in  irgendwelchen  kriti- 
schen oder  theoretischen  Formen  oder  etwa  iii  Gestalt  einer  das 
Objekt  im  Sinne  eines  bestimmten  künstlerischen  Eindrucks  wieder- 
gebenden Darstellung)  den  Beweis  dafür  erbringt,  daß  ein  Bedeutungs- 
wechsel der  Formkomponenten  die  Wirkung  des  Kunstwerks  auf  uns 
Heutige  verändert  hat  —  und  endlich  korrektiv,  wenn  es  uns  durch 
Hinweise  irgendwelcher  Art,  die  wiederum  sowohl  in  schriftlichen 
Bemerkungen  als  in  bildlicher  Wiedergabe  bestehen  können,  dazu  ver- 
anlaßt, eine  irrige  Ansicht  über  die  positiven  Daten  zu  rektifizieren, 
die  die  Erscheinung  des  Kunstwerks  als  solche  bestimmen.  Hinzu- 
zufügen wäre  nur  das  eine,  daß  die  rekonstruktive  oder  korrek- 
tive Berichtigung  einer  künstlerischen  Vorstellung  stets  ohne  weiteres 
auch  deren  exegetische  Berichtigung  in  sich  schließt,  da  die  Be- 
seitigung eines  Irrtums  über  die  tatsächliche  Beschaffenheit 
des  Kunstwerkes  naturgemäß  auch  eine  Berichtigung  seines  Ein- 
drucks bedingen  muß. 

In  allen  diesen  Fällen  aber  sichern,  um  es  zum  Schluß  noch  ein- 
mal zu  sagen,  die  Dokumente,  mögen  sie  nun  rekonstruktiv,  exegetisch 
oder  korrektiv  berichtigend  wirken,  nur  die  Voraussetzung  zur  Er- 
kenntnis des  Kunstwollens,  nämlich  das  phänomenale  Verständnis  der 
künstlerischen  Erscheinungen;  sie  ersparen  uns  nicht  das  Bemühen 
um  die  unter  die  Sphäre  der  Erscheinungen  hinuntergreifende  Er- 
kenntnis des  Kunstwollens  selbst,  wie  es  —  in  Gestalt  eines  den 
Phänomenen  immanenten  Sinnes  —  nur  von  a  priori  deduzierten  Grund- 


^ 


DER  BEGRIFF  DES  .KUNSTWOLLENS. 


339 


begriffen  aus  erfaßt  zu  werden  vermag.  Daß  aber  die  Kunstwissen- 
schaft —  im  Gegensatz  zur  Geschichte  der  Handlungen  —  nicht  nur 
die  Aufgabe,  sondern  auch  die  Möglichkeit  hat,  zu  solchen  Grund- 
begriffen vorzuschreiten,  das  darf  (und  dadurch  erscheint  ihr  Ver- 
gleich mit  der  Erkenntnistheorie  ex  post  gerechtfertigt)  von  vornherein 
als  ausgemacht  erscheinen:  die  Kunst  ist  nicht,  wie  eine  den  Wider- 
spruch gegen  die  Imitationstheorie  überspannende  Ansicht  heute  viel- 
fach glauben  machen  will,  eine  subjektive  Gefühlsäußerung  oder 
Daseinsbetätigung  bestimmter  Individuen,  sondern  die  auf  gültige  Er- 
gebnisse abzielende,  verwirklichende  und  objektivierende  Auseinander- 
setzung einer  formenden  Kraft  mit  einem  zu  bewältigenden  Stoff. 


I 


■ 


XII. 

Der  Bau  der  Gedichte  Hölderlins. 

Von 

Karl  Victor. 

In  der  sogenannten  Stiluntersuchung  hat  die  moderne  Literatur- 
wissenschaft eine  komplizierte  Methode  ausgebildet,  mit  der  sie  den 
sprachlichen  Träger  der  Dichtung  zu  analysieren  und  zu  bestimmen 
sucht.  Die  Zahl  derartiger  Untersuchungen  ist  Legion,  aber  man  kann 
nicht  sagen,  daß  ihre  Ergebnisse  die  Wissenschaft  dem  Ziele  wesent- 
lich näher  gebracht  hätten,  das  sie  heute  mehr  und  mehr  lockt:  der 
Erkenntnis  des  Zusammenhangs  zwischen  dem,  was  man  dichterische 
Form  und  was  man  Inhalt  der  Dichtung  nennt.  Diese  nur  be- 
grifflich herzustellende  Trennung  wird  vom  Betrachter  zu  gern  in  das 
Wesen  des  Kunstwerks  selbst  verlegt,  dadurch  arbeitet  die  ganze 
Untersuchung  unter  einer  grundfalschen  Voraussetzung,  und  die  Er- 
gebnisse sind  nichts  weiter  als  Teilergebnisse,  die  man,  unkundig  des 
geistigen  Bandes,  in  ratloser  Hand  hält.  Manche  derartige  Unter- 
suchung begnügt  sich  gar  mit  der  bloßen  Feststellung  von  Eigen- 
tümlichkeiten der  Dichtung,  ohne  diese  Vorarbeit  erst  sinnvoll  zu 
machen  durch  den  weiteren  Schritt,  der  zu  der  Frage  führen  würde: 
was  sagt  diese  Beobachtung  aus  über  die  besondere  Beschaffenheit 
der  betrachteten  Dichtung,  was  über  das  individuelle  Wesen  der  dichte- 
rischen Persönlichkeit,  aus  deren  schöpferischer  Totalität  sie  floß?  Es 
muß  verlangt  werden,  daß  diese  Art  feststellender  Analyse  aufge- 
geben wird  zugunsten  einer  neuen  Art,  die  sich  ihren  Stoffkreis  viel- 
leicht kleiner  zieht,  aber  dann  nicht  an  der  Peripherie  bleibt,  sondern 
es  unternimmt,  zum  Zentrum  des  betreffenden  Kunstwerks,  endlich 
in  das  der  Persönlichkeit  seines  Schöpfers  vorzudringen. 

Das  kann  aber  nur  gelingen,  wenn  die  Bedingungen  der  sogenannten 
dichterischen  Form  aus  dem  sogenannten  Gehalt  abgeleitet  werden, 
und  wiederum  der  Zusammenhang  zwischen  dem  wechselnden  Kunst- 
werk und  der  konstanten  künstlerischen  Individualität  des  Dichters 
hergestellt  wird.  Der  Weg  des  analytischen  Verfahrens  geht  dabei  von 
Außen  nach  Innen:  aus  den  Einzelbeobachtungen  an  den  Trägern  der 
dichterischen  Idee  ergeben  sich  Aufschlüsse,  die  in  synthetischer  Ver- 


1 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS. 


341 


bindung  mit  einer  Darlegung  des  ideellen  Gehalts  das  Bild  der  dichte- 
rischen Persönlichkeit  zu  gestalten  gestatten.  Über  die  Methode  kann 
man  dabei  verschiedener  Meinung  sein;  nicht  aber  darüber,  daß  nur 
dieser  Weg  und  nicht  der  über  das  biographische  Material  zum  Zentrum 
der  dichterischen  Persönlichkeit  führt. 

Daß  selbst  die  Untersuchung  eines  einzelnen  Trägers  des  Kunst- 
werks solche  Ergebnisse  haben  kann,  will  der  folgende  Aufsatz  zeigen, 
der  wenigstens  in  der  Themastellung  etwas  Neues  bringen  wird.  Die 
Untersuchung  ist  einer  zusammenhängenden  Arbeit  über  das  gesamte 
lyrische  Werk  Hölderlins  entnommen,  in  der  die  Erforschung  des  Baus 
der  Gedichte  nur  einer  der  Schnitte  ist,  welche  durch  den  Organismus 
des  Kunstwerks  gelegt  wurden.  War  die  Sonde  richtig  angesetzt, 
so  muß  dieser  Schnitt,  wie  die  andern,  durch  die  Mitte  des  kom- 
plexen Kunstwerks  laufen  und  in  seinem  Ergebnis  von  den  andern 
Schnitten  bestätigt  werden.  Wiedergegeben  ist  hier  nur  der  Teil  der 
Untersuchung,  welcher  die  breite  Masse  der  reimlosen  Gedichte  aus 
Hölderlins  fruchtbarsten  Jahren  zum  Gegenstand  hat.  Die  Hymnen  in 
freien  Strophen  (bekannter  unter  dem  willkürlichen  Namen  »Nacht- 
gesänge >)  konnten  ausgeschieden  werden,  weil  ihr  Bau  sich  nur  als 
jeweils  verschiedener,  dithyrambischer  Tanz  bestimmen  läßt. 


Die  ersten  Gedichte  Hölderlins  in  antiken  Strophenformen  zeigen 
gegenüber  den  bis  dahin  von  ihm  gepflegten  Reimgedichten,  den  klassi- 
zistischen Hymnen  und  Elegien,  außer  der  metrischen  Verschieden- 
heit und  den  sich  daraus  ergebenden  Umbildungen  des  sprachlichen 
Materials,  auch  einen  ganz  neuen  Bau.  Die  veränderte  Einstellung 
des  Dichters,  der  jetzt  nicht  mehr  der  poetische  Ausmaler  einer  enthu- 
siastisch erfaßten,  aber  abstrakten  Idee  ist;  sondern  ein  von  höchst- 
persönlichen Erlebnissen  Bewegter  und  die  umgebende  Welt  sinnlich 
Erfassender,  läßt  jede  Wendung,  die  den  Ablauf  des  Gedichtes  be- 
stimmt, aus  einem  als  unmittelbar  gegenwärtig  geschilderten  Vorgang 
und  der  Reaktion  des  Dichters  darauf  entstehen.  Da  ergibt  sich  gleich 
bei  den  ersten  Gedichten  dieser  neuen  Art  die  bis  dahin  ungewöhn- 
liche Erscheinung:  daß  der  Ablauf  sich  in  der  Folge  von  Thema, 
Gegenthema  und  einer  Synthese  beider  vollzieht.  Die  Ode  »Der 
Sonnengott«  (17Q7)  z.  B.  zeigt  diese  Struktur:  Geschildert  wird  rück- 
blickend (Perfekt)  der  Untergang  der  Sonne;  das  Gegenthema  wird 
herangeführt  durch  Apostrophierung  der  Erde  (Präsens)  aus  dem  Ge- 
meinschaftsgefühl heraus,  das  den  Dichter  mit  ihr  verbindet.  (V.  Q. 
Dich  lieb  ich  Erde  . .  .);  und  die  Vereinigung  beider  wird  vollzogen 
durch  die  Aussicht,  daß  der  gemeinsame  Geliebte,  der  Sonnengott, 


342  KARL  VIKTOR. 


wiederkehren  werde.  Der  hier  zuerst  faßbare  dreiteilige  Aufbau  ist  in 
größeren  Gedichten  dieser  Zeit  ebensowohl  festzustellen,  wenn  er  hier 
auch  nicht  so  klar  herauskommt;  z.  B.  der  Mensch  (1798):  I.  Thema  1 
bis  17:  epische  Erzählung  der  Schöpfung  (Imperfekt).  II.  Oegen- 
thema  17 — 36:  Verhältnis  des  Menschen  zur  Natur  (gnomisches  Präsens, 
erklärend:  denn,  V.  18,  20) 

1.  17—24:  Lust  und  Trauer  sind  in  ihm  vereint; 

2.  25—36:  folgernd  (darum,  V.  25),  daher  seine  Unrast. 

III.  Verbindung  37—48:  begründende  Definition. 
Wesen  des  Menschen:  selig-unsehg. 

Logisch-antithetische  Konjunktionen  leiten  stets  weiter;  jeder  Kon- 
statierung folgt  ein  begründendes  >denn«  (V.  18,  20,  37),  »darum« 
(V.  25),  oder  ein  antithetisches  »doch«  (V.  32,  46).  Ganz  deutlich  ist 
der  dreiteilige  Bau  ausgebildet  in  den  kurzen  Gedankengedichten, 
welche  die  Hauptmasse  der  Lyrik  dieser  Periode  ausmachen.  Das 
Gedicht  Vanini  (17Q8)  z.  B.  stellt  sich  in  seinem  Bau  so  dar: 

1 — 3  Historische  These  (Ausruf,  entrüstete  Feststellung,  dann  im- 
perfektischer Bericht), 

4 — 8  Frage  nach  den  Gründen  dieser  historischen  Tatsache, 

Q — 12  Antwort,  gnomisches  Präsens:    rechtfertigende    Erklärung 
(»doch«,  aufgenommen  durch  »wie  du«). 

Hier  trägt  die  Aufeinanderfolge  der  beiden  Themen  schon  deut- 
lich antithetischen  Charakter:  erschütternde  Tatsache—  erstaunte 
Frage,  Reaktion;  und  die  Lösung  ist  eine  Synthese,  deren  Inhalt  eine 
Resignation  ist:  Gutes  und  Böses  ist  vereint  im  Frieden  der  Natur. 
In  manchen  Gedichten  geht  diese  dreigeteilte  Struktur  bis  in  den  ein- 
zelnen Vers  hinunter;  »Sokrates  und  Alcibiades«  z.  B.  gliedert  sich 
äußerlich  als  dialogischer  Monolog  (Präsens)  in  Frage  und  Antwort 
(je  eine  Strophe),  und  in  der  diesmal  ohne  Konjunktionen  vorgenom- 
menen Entgegenstellung  scheint  sich  das  äußere  Bild  zu  erschöpfen. 
Aber  über  jeder  antithetischen  Setzung  schwebt  eine  im  sprachlichen 
Material  nicht  ausgedrückte,  geistige  Synthese. 

Wer  das  Tiefste  gedacht,  liebt  das  Lebendigste, 
Hohe  Tugend  versteht,  wer  in  die  Welt  geblickt, 
Und  es  neigen  die  Weisen 
Oft  am  Ende  zu  Schönem  sich. 

Tiefstes-Lebendigstes,  Tugend-Welt,  Weisheit- Schönheit  werden 
hier  durch  die  vorausgegangene  Strophe,  die  diese  Sentenz  zu  einer 
Erfahrung  des  Sokrates  macht,  verbunden  in  drei  Einheiten,  deren  Ge- 
meinsames sich  abstrakt  etwa  so  sagen  ließe:  das  Zentrum  will  zur 
Peripherie,  zum  Zentrum  kommt,  wer  in  der  Peripherie  war  (Tugend- 


I 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS.  343 

Tiefstes:  Zentrum,  Lebendiges-Welt:  Peripherie).  Eine  ähnliche  letzte 
Verfeinerung  des  logischen  Baus  in  der  Strophe  »Der  gute  Glaube« 
(1798): 

Schönes  Leben!  du  liegst  krank  und  das  Herz  ist  mir 

Müd  vom  Weinen,  und  schon  dämmert  die  Furcht  in  mir; 

Doch,  doch  kann  ich  nicht  glauben, 

Daß  du  sterbest,  so  lang  du  liebst. 

Auf  den  Bericht  des  Befundes  antwortet  die  schmerzliche  Emp- 
findung des  Dichters,  die  mit  einer  heftig  erzwungenen  Synthese 
(doch,  doch)  überwunden  wird.  Wo  die  Antithese  eine  polemische 
Bedeutung  hat,  tritt  sie  nicht  gern  dogmatisch  auf,  sondern  ist  meist 
eingeschränkt  durch  ein  »vielleicht«  oder  »bald<  (An  die  jungen  Dich- 
ter) ;  oder  ist  statt  in  schroffe  Verneinung,  in  Frageform  gebracht  (An 
die  Deutschen).  Eine  derartige  Vorsicht  ist  charakteristisch  für  Ge- 
dichte, die,  wie  das  schon  in  dem  an  die  zweite  Person  der  Mehrzahl 
gerichteten  Aufruf  liegt,  aus  dem  persönlichen  Bezirk  heraustreten  und 
die  sich  an  die  menschliche  Gemeinschaft  wenden.  Auch  wo  er 
schroff-polemisch  gegen  die  Umwelt  empfindet,  schränkt  Hölderlin  seine 
Worte  aus  Demut  und  Verantwortlichkeit  ein. 

In  Gedichten,  die  Formungen  von  Ich-bezüglichen  Erlebnissen 
sind,  vollzieht  sich  der  Ablauf  dagegen  völlig  in  dem  dreigeteilten 
Rhythmus  von  Thesis-Antithesis-Synthesis;  Lebenslauf  (17Q8): 

Thesis:  Hochauf  strebte  mein  Geist, 

Antithesis:  aber  die  Liebe  zog 

Bald  ihn  nieder;  das  Leid  beugt  ihn  gewaltiger; 
Synthesi's:  So  durchlauf  ich  des  Lebens 

Bogen  und  kehre,  woher  ich  kam. 

Aus  der  Feststellung  der  Vergangenheit  (Imperfekt)  und  der 
Gegenwart  (Präsens)  ergibt  sich  eine  beide  vereinende  Erkenntnis,  die 
das  Gestern,  das  Heute  und  auch  das  Morgen  zu  einem  ungeteilten 
Organismus  verbindet  und  damit  »sich  ins  rechte  denkt«.  Die  Art, 
wie  die  Wendungen  eingeführt  sind,  entspricht  meist  derjenigen  der 
formalistischen  Logik,  und  geschieht  durch  »doch«  und  »aber«.  Diese 
logisch-gegensätzliche  Anknüpfung  wird  zuweilen  auch  da  benutzt, 
wo  inhaltlich  nur  eine  Steigerung  vorliegt;   Ehmals  und  jetzt  (17Q8): 

In  Jüngern  Tagen  war  ich  des  Morgens  froh. 

Des  Abends  weint  ich;  jetzt,  da  ich  älter  bin, 

Beginn'  ich  zweifelnd  meinen  Tag,  doch 

Heilig  und  Heiter  ist  mir  sein  Ende. 

Die  Synthesis  beginnt  eigentlich  schon  mit  »jetzt«,  und  an  Stelle 
des  »doch«  erwartet  man  ein  »und«.  Umgekehrt  »Ihre  Genesung«, 
1:  Deine  Freundin,  Natur!  leidet  und  schläft,  und  du  Allbelebende 
säumst?  ...  Hier  steht  ein  einfaches  parataktisches  »und«,  wo  dem 


344  KARL  VIETOR. 


Sinne  nach  eine  antithetische  Wendung  einsetzt,  die  nach  dem  ge- 
wöhnlichen Gebrauch  durch  ein  »doch«  eingeleitet  sein  müßte.  Ebenso 
»Abbitte«: 

O  vergiß  es,  vergib !  gleich  dem  Oewölke  dort 

Vor  dem  friedliciien  Mond  geh'  ich  dahin^und  du 

Ruhst  und  glänzest  in  deiner 

Schöne  wieder,  du  süßes  Licht! 

Hier  ist  alles  schon  positiv  genommen,  auch  die  Antithesis;  daher 
knüpft  die  Auflösung  ruhig  mit  »und«  an  >).  Aber  trotz  solcher  Ver- 
schiebungen im  Ablauf  bleibt  der  Dreischritt  auch  da  unverkennbar, 
wo  logische  Ausgleichungen  stattfinden  und  jede  konjunktionale  An- 
knüpfung vermieden  wird;  z.B.  »Die  Heimat«  (1798): 

Thesis:  1.  und  2:  Bild, 

Antithesis:  3.  Ich- Wendung:  Gleichheit  mit  dem  Bild,  4.  Un- 
gleichheit damit, 

Synth esis:  Str.  2  Doppelfrage  nach  der  Möglichkeit  des  Aus- 
gleichs der  Ungleichheit. 

Sehr  fein  ist  hier  der  Gang:  Wendung  von  Außen  nach  Innen: 
Außen  ist  Glück  und  Heiterkeit,  Innen  Leid,  also  zurück  nach  Außen. 
Aber  die  Hoffnung  ist  nicht  fest,  sondern  zage,  die  Lösung  nicht 
positiv,  sondern  zweifelnd.  So  offenbart  sich  im  Gange  des  Gedichts 
erschütternd  der  tiefste  Konflikt  des  Dichters.  Oft  ist  die  Synthesis 
schwankend  und  zweifelnd,  während  sie  ganz  aufrecht  und  positiv 
gelingt,  wo  es  sich  nicht  um  Zuversicht  für  die  Lösung  der  eigenen, 
sondern  fremder  Zerrissenheit  handelt  (Diotima,  ed.  Böhm  II,  150). 
Vereinzelt  wird  der  gewohnte  Ablauf  auch  verkehrt,  ohne  daß  dabei 
der  typische  dreiteilige  Bau  verloren  ginge.  In  dem  Gedicht  »An  ihren 
Genius«  {17Q8)  ist  die  Thesis  in  die  Antithesis  hineinverarbeitet  und 
erscheint  erst  in  der  zweiten  Hälfte  des  Gedichts.  Der  logische  Gang 
ist  so: 

T. :  Diotima  lebt  in  einer  fremden,  unverständigen  Umwelt. 

A.:  Bitte  an  ihren  Genius,  mit  seinen  Gaben  sie  darüber  hinwegzubringen. 

S. :  Bis  sie  im  jenseits  mit  den  Ihren  vereint  sein  wird. 

Der  tatsächliche  Gang  des  Gedichtes  ist  aber: 

A.:  Bitte  an  den  Genius. 

T.:  Denn  Diotima  lebt  in  einer  fremden  Welt. 

S.:  Bis  sie  im  Jenseits  . .  . 

Dieser  dreiteilige  Bau  wird  mehr  und  mehr  zu  einem  Charakte- 
ristikum der  Hölderlinschen  Gedichte.    Am  klarsten  ist  er  zu  erkennen 


')  Ein  ähnlicher  Gebrauch :  Menons  Klage  45,  An  Eduard  9,  Brot  und  Wein  46, 
121,  Empedokles  1. 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS.  345 

in   denjenigen  Oden  der  Jaiire  17QQ,1800,  die  den  Ciiarakter  intimer 
lyrischer  Dichtung  haben;  so  z.  B.  in  »Des  Morgens«: 

Thesis   (Str.  1    und   2):   die   Natur   als   etwas   unbeirrt   Voran- 

eiiendes. 
Antithesis    (Str.  3   und   4):    dagegen    die   Gebundenheit    des 

Dichters. 
Synthesis:  der  erste  Versuch  ihrer  Herstellung  (V.  9  ff.)  durch 
die  Bitte  an  die  bewegte  Natur,  verweilend  sich  der  mensch- 
lichen Determiniertheit  anzupassen,  erscheint  als  abgewiesen 
durch  den  unbeirrten  Fortgang  des  Naturereignisses   (aber, 
V.  15).     Die  Beruhigung  gelingt  endlich  (V.  16—20)  durch 
eine  Art  Selbstironie  und  Bescheidung  auf  menschliches  Tun, 
wozu  denn  die  Natur  helfen  mag. 
Den  gleichen  Ablauf  hat  das  Kontrastgedicht,  die  »Abendphantasie«, 
wo  nach  einer  die  Ruhe  der  Natur  malenden  Einleitung  die  Wendung 
zum  Subjekt  das  ruhelose  Ich  einführt  (»aber«,  versteckt  V.  Q),  welches 
sich   endlich  durch  Erkenntnis  seiner  Beschränkung  zu  einer,  wenn 
auch   stark  resignierenden,   Synthese  durchfindet.     Diese   Beruhigung 
gelingt  auch  erst  nach  zweimaligem  Ansatz:  der  Versuch  einer  Lösung 
des  Kontrastes  durch  geistiges  Aufgehen  in  der  Natur  scheint  von  ihr 
selbst  zurückgewiesen  zu  werden,  und  so  muß  der  Schlaf  als  gegen- 
wärtige, und  das  friedliche  Alter  als  zukünftige,  irdische  Lösung  gelten'). 
Scharf  prägt  sich   in  diesen   beiden  Oden    die  kontradiktorische 
Entgegensetzung    des    menschlichen    Geistes   gegen    die    außer    ihm 
seiende  Natur  aus.     Und  die  Art  der  Synthese  offenbart,  wie  in  dem 
Gedicht  »Der  Zeitgeist«,  wieder  den  demütigen  Sinn  des  Dichters: 
Thesis  (Str.  1  und  2):  der  Dichter  bricht  unter  der  Macht  des 

Zeitgeistes  zusammen. 
Antithesis  (Str.  3):  sonst  tat  ihm  derselbe  Gott  nur  Gutes,  so 

möge  er  auch  diese  Erschütterung  zum  Segen  wenden. 
Synthese  (Str.  4  und  5):  Überwindung  der  Furcht  durch   Er- 
kenntnis und  Lobpreis  des  Geistes;  er  ist  nicht  brutal,  son- 
dern stark. 

Der  Inhalt  dieses  zunächst  formal  deutlichen  Dreischritts  ist,  wenn 
auch  im  wesentlichen  auf  das  konkrete  Erlebnis:  Idyll  in  der  Natur, 
Ruhelosigkeit  des  Ich,  Beruhigung  durch  Bescheidung  zu  reduzieren, 
nicht  eindeutig  formulierbar.  Der  Geist  erlebt  sich  als  gegensätzlich 
zur  Natur,  empfindet  aber  In  diesem  antithetischen  Prozeß  zugleich 
schon  eine  Bewegung  auf  die  Synthese  hin,  und  muß  diesem  Triebe 


')  Eine  ähnliche  Bescheidung  auf  eine  irdische  Lösung  ist  »Unter  den  Alpen 
gesungen«. 


346  KARL  VIETOR. 


folgen,  so  oft  er  sich  dichterisch  ausspricht.  In  dem  kleinen  Gedicht, 
>Die  Entschlafenen«  ist  diese  Bewegung  besonders  deutlich;  das  hier 
zugrunde  liegende  Erlebnis  sieht  etwa  so  aus:  der  Dichter  lebt  im 
Liebesverband  der  Seinen,  aber  der  Tod  entreißt  sie  ihm.  Doch  im 
treuen  Gedenken  des  überlebenden  Dichters  ist  ihnen  eine  irdische, 
und  in  der  Seligkeit  eine  himmlische  Unsterblichkeit  gesichert. 

Einen  vergänglichen  Tag  lebt'  ich  und  wuchs  mit  den  Meinen, 
Eins  ums  andere  schon  schläft  mir  und  fliehet  dahin. 
Doch,  ihr  Schlafenden,  wacht  am  Herzen  mir,  in  verwandter 
Seele  ruhet  von  euch  mir  das  entfliehende  Bild. 
Und  lebendiger  lebt  ihr  dort,  wo  des  göttlichen  Geistes 
Freude  die  Ahemden  all,  alle  die  Toten  verjüngt. 

Der  ganz  knapp  gegebenen  antithetischen  Themastellung  folgt, 
da  hierauf  der  Nachdruck  des  Gedichtes  ruht,  eine  breitere  Ausmalung 
der  Synthese.  Wie  hier,  erscheint  die  Erfüllung  immer  mehr  in  der 
Zukunft  zu  liegen  (z.  B.  auch  in  »Ermunterung«).  Gelingt  sie  schon 
gegenwärtig,  so  wird  fast  stets  eine  Resignation  daraus i);  und  sie 
klingt  nur  heiter  und  hell,  wo  sie  auf  ein  bürgerlich-behagliches  Da- 
sein beschränkt  bleibt  (epischer  Einschlag)  ^).  Das  Problem  der  Schuld 
an  dem  allesentzweienden  Zwiespalt  zwischen  Geist  und  Materie,  die 
doch  ihrem  Wesen  und  Ursprung  nach  eine  Einheit  sind,  bleibt  für 
Hölderlin  eine  quälende  Unbegreiflichkeit.  Aber  niemals  erscheint  an 
Stelle  der  noch  so  resignierenden  Synthese  ein  Wort  der  Empörung 
oder  Anklage.  Auch  wo  er  nicht  begreift,  beugt  sich  der  Dichter  dem 
göttlichen  Walten'). 

So  sehr  ist  Hölderlin  in  diesem  stets  gleichartigen  Ich-Erlebnis 
befangen,  daß  sich  selbst  in  einem  Widmungsgedicht  (An  die  Prin- 
zessin Auguste  von  Homburg)  die  gewohnte  antithetische  Einstellung 
findet^).  Ein  den  besonderen  Zwecken  der  Ode  entsprechender  Ein- 
gang und  ein  galanter  Schluß  umrahmen  den  Dreischritt,  der  über  die 
Antithese  zwischen  dem  geheimnisvoll  gärenden  Zeitalter  und  der 
Beschränktheit  des  Dichters  hinführt  zu  einer  Synthese  in  der  Be- 
hauptung seiner  Würde  als  eines,  dem  ein  Gott  die  Sprache  gab. 
Dabei  sind  Eingang  und  Schluß  aber  organisch  mit  dem  Hauptteil 
verbunden;  ersterer  durch  konjunktionale  Anschließung  mit  einem  vage 
antithetischen  »doch«  (V.  9),  das  aber  erst  in  die  Thesis  führt;  der 
Schluß  durch  Weiterführung  des  synthetischen  Gedankens  vom  Be- 
sondern zum  Allgemeinen. 


')  Z.  B.  »Rückkehr  in  die  Heimat«. 
2)  Der  Winter. 
')  Vgl.  auch  »An  Eduard«. 

*)  Der  Dichter  schließt  die  Ode  mit   einem  Wunsche  für  sich   selbst,  nicht 
etwa  für  die  Prinzessin,  der  ja  die  Vollkommenheit  zugeteilt  wird. 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS.  347 

Die  Weiterleitung  von  einer  Stufe  zur  andern  geschieht  auch  sonst, 
wie  schon  früher,  meist  durch  Konjunktionen,  durch  >aber,  doch, 
denn«.  Letzteres  wird  vor  allem  auch  —  und  dieser  Gebrauch  ist 
geradezu  ein  besonderes  Charakteristikum  der  gedanklichen  Abwick- 
lung in  Hölderlins  Gedichten  —  zur  Überleitung  vom  Bedingten 
zum  Unbedingten,  vom  Anekdotischen  zum  Gnomischen  benutzt,  etwa 
wie  in  der  Ode  »An  die  Fürstin  von  Dessau«: 

»O  theuer  warst  du,  Priesterin!  da  Du  dort 

Im  Stillen  göttlich  Feuer  behütetest; 

Doch  theurer  heute,  da  du  Zeilen 

Unter  den  Zeitlichen  segnend  feierst. 

Denn  wo  die  Reinen  wandeln,  vernehmlicher 
Ist  da  der  Geist,  und  offen  und  heiter  blühn 
Des  Lebens  dämmernde  Gestalten 
Da,  wo  ein  sicheres  Licht  erscheinet.« 

In  dieser  Funktion  findet  sich  das  zu  einer  allgemeingültigen  Er- 
kenntnis überleitende  »denn«  fast  in  jedem  Gedicht  dieser  Periode. 
Häufig  werden  solche  Konjunktionen  auch  in  der  Konstruktion  ver- 
steckt; Gesang  der  Deutschen,  V.  Q: 

»Du  Land  des  hohen  ernsteren  Genius! 
Du  Land  der  Liebe:    Bin  ich  der  deine  schon, 
Oft  zürnt'  ich  weinend,  daß  du  immer 
Blöde  die  eigene  Seele  läugnest;« 

hier  ist  der  logische  Gang:  wenn  ich  auch  der  deine  bin,   dennoch 
zürnt'  ich  oft  weinend,  daß  usw. 

In  derartigen  hymnischen  Gedichten  gelingt  die  Synthese  nicht 
immer  so  rein  wie  in  dem  angeführten,  wo  sich  das  verkannte  Deutsch- 
land sogar  dem  strahlenden  Hellas  gegenüber  behauptet,  und  ein  letzter 
Zweifel  des  Dichters  sich  nur  in  demütiger  rhetorischer  Frage  kund- 
zutun wagt.  In  dem  andern  vaterländischen  Gedicht  »An  die  Deut- 
schen«, kommt  aus  der  gleichen  Antithese  eine  Synthese  überhaupt  nicht 
zustande,  und  die  Trauer  behauptet  sich  zum  Schluß.  Solche  ganz 
negativ  ausklingenden  Gedichte  bilden  zwar  durchaus  eine  Ausnahme, 
aber  es  gibt  doch,  bei  formal  gleichbleibendem  Dreischntt,  einige 
Synthesen,  deren  Inhalt  nicht  viel  positiver  ist.  Die  Ode  »Mein  Eigen- 
tum« bringt  es  von  der  Gegensätzlichkeit  der  in  ihrer  Fruchtbarkeit 
freudigen  Landschaft  und  der  Verlassenheit  des  Dichters  nur  zu  einer 
Bitte  an  die  Götter,  ihn  wenigstens  nicht  geringer  zu  bedenken  als 
andere  Menschen.  Ähnlich  schließt  die  zweite  Fassung  von  »Die  Heimat« 
mit  einer  fast  fatalistischen  Ergebung  in  den  unbegreiflichen  Willen  der 
Götter.  Diese  Gedichte  stammen  sämtlich  aus  der  an  Depressionen 
reichen  Zeit  vom  Herbst  17Q9  bis  zu  dem  des  Jahres  1800  und  zeugen 
von  dem  harten  Schicksal,  das  den  Dichter  gerade  zu  dieser  Zeit  heim- 


348  KARL  VIETOR. 


suchte.  —  Gelegentlich  hat  der  Bau  der  Gedichte,  wenn  er  auch  drei- 
teilig bleibt,  keinen  synthetischen  Charakter.  So  in  »Die  Götter<,  wo 
zwischen  zwei  gleichen,  nur  im  Inhalt  gesteigerten  Sätzen,  ein  anti- 
thetischer (moll)  Zwischensatz  steht.  Oder  in  der  Ode  »Der  gefesselte 
Strom«,  wo  Aufforderung,  Erfüllung  und  hymnische  Deutung  sich  in 
gleichmäßiger  Steigerung  folgen.  Um  diese  ganze  Erscheinung  richtig 
einzuschätzen,  ist  es  notwendig  zu  wissen,  ob  der  Bau  der  Oden  Hölder- 
h'ns  als  bewußte  Gruppierung  eines  konstruierenden  Geistes  zu  gelten 
hat  oder  als  spontaner  Ablauf  eines  Gefühlserlebnisses,  das  sich  stets 
gleichmäßig  bildet  und  sich  vollzieht,  in  gleichartiger  Bewegung  über 
die  antithetische  Stellung  des  dichterischen  Subjekts  gegen  die  objek- 
tive Welt,  bis  zu  einer  Synthese,  in  der  das  Gedicht  gipfelt? 

Es  ist  bekannt,  daß  die  Ode  eine  der  wenigen  lyrischen  Kunst- 
formen in  der  Geschichte  der  deutschen  Dichtung  ist,  für  welche  die 
theoretische  und  produktive  Tradition  einen  bestimmten  Aufbau  for- 
derte, während  z.  B.  beim  Liede  dem  Dichter  darin  völlige  Freiheit 
gestattet  war.  Eine  Konvention  für  den  Bau  der  Gedichte,  die  man 
Oden  nannte,  gab  es  schon  im  17.  Jahrhundert ').  Die  als  Kunstdich- 
tung par  excellence  geltende  »pindarische  Ode«  mußte  stets  dreiteilig 
gebaut  sein;  Strophe,  Antistrophe  und  Epode  folgten  sich-).  Dieser 
Odentypus,  nach  dem  Vorbild  der  französischen,  zeitgenössischen  Lyrik, 
vor  allem  dem  Ronsards  gebildet,  fand  in  Andreas  Gryphius  seinen 
klassischen  Dichter.  Er  führte  parallel  mit  der  metrischen  Gliederung 
eine  syntaktische  ein;  derart,  daß  eine  in  gehäuften  Vordersätzen- mit 
»sofern,  wann«  ausgesprochene  Bedingung  in  einem  unverhältnismäßig 
kurzen  Schluß  ihre  Lösung  findet  ^).  Bei  der  Erneuerung  dieser  in 
der  Hofdichtung  des  18.  Jahrhunderts  verflachten  Form  durch  Gott- 
sched und  seinen  Kreis  ')  wurde  die  starre  Folge  gelockert  und  er- 
setzt durch   einen  Ablauf,    der  mehr  dem   aus   spontanem   Affekt   in 

')  Dabei  ist  allerdings  zu  bedenken,  daß  Begriff  und  Typus  der  Ode  im  17.  Jahr- 
hundert einigermaßen  verschieden  von  denen  um  1800  waren.  Opitz  verstand  dar- 
unter noch  ein  in  Lied-Strophen  abgeteiltes  Gedicht,  das  nur  durch  kunstvollere 
Reimstellung  und  gehobene  Diktion  als  Ode  gekennzeichnet  w^ar. 

'')  Opitz,  deutsche  Poeterey,  49. 

^)  Diese  Manier  wurde  von  Christ.  Weise  (Der  grünenden  Jugend  überflüssige 
Gedanken,  Neudruck  242,  122),  Menantes  und  Joh.  Georg  Neukirch  (vgl  auch  seine 
Ablehnung  dieser  Dichtung  der  »Pedanten«  in  den  »Anfangs-Oründen  zur  Reinen 
Teutschen  Poesie«,  Halle  1724,  878  f.)  parodiert.  Vgl.  Keppeler,  Die  pindarische 
Ode  in  der  deutschen  Poesie  des  17.  u.  18.  Jahrh.  Diss.  Tübingen  1911,  S.  1  f. 

*)  Oden  der  Deutschen  Gesellschaft  in  Leipzig  1728.—  Das  Muster  war  auch 
hier  wieder  ein  Franzose,  Houdart  de  la  Motte,  dessen  *Discours  siir  la  poesie  en 
gene'ral  et  sur  l'ode  en  particuUert  (Amsterdam  1707)  der  Sammlung  in  einer  Über- 
setzung von  Joh.  Fr.  May  voranstand. 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS.  349 

kühner  Diktion  {»hardlesse  du  langage*)  zum  Erhabenen  (»subämet) 
emporsteigenden  Gefühl  angepaßt  war:  an  Stelle  der  klassischen  Drei- 
teilung tritt  eine  beliebig  ausgedehnte  Folge  von  breiten  Reimstrophen, 
und  der  innere  Ablauf  vollzieht  sich  so,  daß  einem  aus  rhetorischen 
Fragen  bestehenden  erregten  Eingang  die  Ausmalung  des  zu  be- 
singenden Objekts  folgt,  an  der  sich  die  Begeisterung  des  Dichters 
neu  entzündet;  sie  besinnt  sich  aber  auf  einen  ersten  Höhepunkt  (»Wie 
ist  mir?«)  und  eilt  dann  zur  höchsten  Steigerung  hin,  mit  der  die  Ode 
schließt.  Hier  bestand  der  Bau  also  aus  einer  dynamischen  Ver- 
schiebung, da  sie  bestimmt  wurde  durch  den  größeren  oder  geringeren 
Grad  des  Enthusiasmus. 

Dieser  modifizierte  Typus  der  pindarischen  Ode  zeigt  deutlich  den 
Einfluß  einer  Theorie,  die  in  der  Lockerung  des  Baus  noch  weiter 
gegangen  war  und  einen  »beau  desordre<!^  geradezu  für  den  feinsten 
Reiz  dieser  lyrischen  Form  erklärt  hatte.  Dieser  glücklich  formulierte 
Gedanke  Boileaus  i)  hat  bis  weit  in  das  18.  Jahrhundert  hinein  dem 
Odentypus  und  seiner  Theorie  die  Richtung  gewiesen.  Die  Geschichte 
dieses  Begriffs  gipfelt  in  der  Auslegung  von  Moses  Mendelssohn 
anläßlich  seiner  Kritik  der  Karschinschen  Gedichte ''),  wo  dargelegt 
wird:  die  Ordnung  aller  andern  lyrischen  Kunstdichtung  sei  im  wesent- 
lichen vom  Intellekt  bestimmt,  möge  sie  nun  historisch,  topisch  oder 
lehrhaft  sein.  Die  Ordnung  der  Ode  hingegen  sei  die  der  begeisterten 
Einbildungskraft.  »So  wie  in  einer  begeisterten  Einbildungskraft  die 
Begriffe  nacheinander  den  höchsten  Grad  der  Lebhaftigkeit  erlangen: 
ebenso  und  nicht  anders  müssen  sie  in  der  Ode  aufeinander  folgen.« 
Die  schöne  Unordnung  entstehe  nun  daraus,  daß  der  Odendichter  die 
Mitfelbegriffe,  »welche  die  Glieder  miteinander  verbinden,  aber  selbst 
nicht  den  höchsten  Grad  der  Lebhaftigkeit  besitzen«,  überspringt. 

Der  dynamische  Charakter  der  Odenstruktur  ist  hier  erweitert 
durch  ein  rhythmisches  Element.  Es  kommt  nicht  mehr  allein  auf 
ein  Anschwellen  des  Enthusiasmus  bis  zu  einem  Höhepunkt  hin 
an;  sondern  vor  allem  auch  auf  die  in  deutlichen  Einschnitten  spür- 
baren Sprünge,  welche  dem  Enthusiasmus  eine  progressive  Steigerung 
geben.  Mendelssohn  denkt  sich  aber  auch  diesen  Ablauf  als  das  Er- 
gebnis eines  konstruktiv  vorgehenden  Geistes.  Die  Schwierigkeit  für  den 
Odendichter  liegt  für  ihn  darin,  das  »Werk  der  Begeisterung«  mit  dem 
vernunftmäßig  zurechtgelegten  Plan  der  Ode  zu  vereinen.  Somit  stellt 
sich  der  Charakter  der  in  diese  Tradition  gehörigen  Ode  in  ihrer  rhyth- 
misch-dynamischen Struktur  wesentlich  als  ein  architektonischer 


')  Art  Poetique,  II.  Gesang. 

•)  275.    Literaturbrief,  Ges.  Sehr.  1844.    4,  M.    431. 


350  KARL  VIKTOR. 


dar,  der  das  Zeichen  der  konstruierenden  Vernunft  deutlich  in  sich  trägt. 
Lessings  prosaische  Odenentwürfe  sind  ihr  klassisches  Beispiel. 

Man  erkennt  sofort,  daß  es  sich  bei  Hölderlin  um  eine  grund- 
sätzlich andere  Art  des  lyrischen  Ablaufs  handelt.  Hier  treibt  sich  nicht 
ein  in  seiner  Richtung  stets  gleichbleibender  Enthusiasmus  in  stetig 
wachsenden  Sprüngen  zu  einem  Höhepunkt  empor;  sondern  aus 
einem  Thema  löst  sich  ein  anderes,  zum  ersten  kontrastierenden,  bis 
endlich  ein  drittes  Thema  beide  zu  einer  Einheit  bindet.  Das  dyna- 
mische Verhältnis  dieses  Schlusses  zu  den  beiden  vorangehenden  Teilen 
ist  jeweils  verschieden:  er  kann  Jubel  und  Feier,  aber  auch  Resignation 
oder  Trauer  sein.  Ein  derartiger  Ablauf  wird  bestimmt  durch  har- 
monische Verschiebungen,  nicht  durch  rhythmisch-dynamische.  Es 
kommt  dabei  nicht  auf  dynamische  Differenziertheit  an,  sondern  auf 
eine  der  Gefühlsfärbung.  Nicht  folgt  ein  stärkeres  Element  einem 
schwächeren,  und  leitet  zu  dem  nächsten  wiederum  stärkeren  über; 
sondern  ein  positives  wird  abgelöst  durch  ein  negatives,  ein  trauriges 
durch  ein  heiteres,  ein  chaotisches  durch  ein  geformtes,  bis  eine  Syn- 
these beide  vereinigt,  den  Kontrast  löst  und  so  das  Gedicht  beschließt 
Dabei  hebt  sich  jeder  Teil  formal  und  inhaltlich  rein  vom  andern  ab, 
selbst  dort,  wo  unmerkliche  Übergänge  weiterleiten  i).  Ihrem  Wesen 
nach  ist  diese  Struktur  musikalisch.  Daß  der  dreiteilige  Ablauf 
sich  inhaltlich  immer  gleichartig  darstellt,  liegt  im  Wesen  Hölderlins  be- 
gründet. So  decken  sich  hier  das  dichterische  Erlebnis  und  seine  sinn- 
liche Form  so  vollkommen,  wie  es  nur  im  höchsten  Kunstwerk  gelingt. 

Für  die  Gattung  der  Ode  war  damit  ein  vollkommener  Typus 
erreicht.  Die  ursprünglich  streng  objektive  lyrische  Form  war  schon 
in  der  Hand  Klopstocks  zu  einem  Ausdrucksmittel  völlig  subjektiver, 
intimer  Erlebnisse  geworden;  aber  der  allzu  eigenwillige  Enthusiasmus 
sprengte  hier  schließlich  die  traditionelle  Bindung,  anstatt  sie  zu  ent- 
wickeln und  zu  ihrer  Höhe  zu  führen,  so  daß  auf  dem  Höhepunkt 
von  Klopstocks  Dichten  eine  neue,  hymnische  Form  von  größerer 
Lockerkeit  sie  ersetzte,  und  die  Ode  nur  noch  in  der  beschreibenden, 
und  trotz  aller  Emphase  wesentlich  gedanklichen  Form  weiterlebte, 
wie  sie  Ramler  und  Voß  nach  dem  Muster  des  Horaz  pflegten.  Erst 
Hölderlin  nimmt  die  Bemühungen  Klopstocks  wieder  auf  und  führt 
die  reine  Ode  hinauf  zu  einem  Typus,  der  seine  Vollendung  darin 
hat,  daß  eine  objektiv  geschlossene  Form  zum  völlig  konformen  dich- 
terischen Ausdrucksmittel  eines  ganz  subjektiven  Erlebnisses  wird. 
Darin  hat  ihn  kein  deutscher  Dichter  übertroffen,  auch  Platen  nicht. 


1)  Das  bemerkte  schon  Volkelt  (Im  neuen  Reich  1880.  II,  385)  richtig. 


I 


I 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS  351 

Neben  der  Ode  entwickelte  Hölderlin  jetzt  vor  allem  eine  weitere 
lyrische  Kunstform,  zu  der  gleichfalls  in  der  vorhergehenden  Periode 
die  ersten  Ansätze  gemacht  Worden  waren:  die  Elegie.  Daß  diese 
sehr  umfangreichen  Gedichte,  die  einen  von  der  Ode  völlig  verschie- 
denen gefühlsmäßigen  und  formalen  Charakter  haben,  auch  einen 
andersartigen  Bau  zeigen,  versteht  sich  von  selbst.  Epische  und  lyrische 
Elemente  lösen  sich  hier  ab,  der  Erzählung  eines  Hergangs  folgt  ein 
Oefühlsausbruch,  der  wieder  zu  objektiven  Partien  überleitet.  In  großen 
Abschnitten,  die  teilweise  selbst  von  Hölderlin  numeriert  sind,  breitet 
sich  das  Gedieht  aus;  jeder  Teil  steht  zum  Ganzen  in  dem  Verhältnis 
eines  gesonderten,  aber  von  einem  gemeinsamen  Zentrum  ausgehenden 
Strahles.  Zwar  stellen  oft  Konjunktionen,  wie  in  den  Oden,  äußerlich 
einen  logischen  Fortgang  her  (»aber,  denn,  so«)').  Aber  ebenso  oft 
knüpft  eine  epische  Erzählung  ruhig  an,  oder  springt  ein  Ausruf  auf 
einen  neuen  Teil  über.  In  Wirklichkeit  setzt  meist  jeder  Abschnitt  an 
einem  ganz  anderen  Punkte  des  gleichen  Erlebniskomplexes  ein,  und 
zwar  so,  daß  jedes  neu  hinzukommende  Glied  aus  einem  andern  Be- 
zirk der  sinnlichen  Welt  oder  des  Gefühls  neue,  innerlich  aber  ver- 
wandte Elemente  hinzuträgt.  Diese  Form  —  in  der  Geschichte  der 
Elegie  durchaus  neu  —  entspricht  völlig  der  musikalischen  Kunstform, 
wie  sie  in  der  Sonate  oder  in  der  Symphonie  vorliegt,  die  ebenfalls  in 
an  sich  verschiedenartigen  und  auch  äußerlich  getrennten  Sätzen  ein 
zusammengehöriges  Erlebnis  zyklisch  umfaßt. 

Die  umfangreichen  Erlebniskomplexe  dieser  zyklischen  Ge- 
dichte Hölderlins  sind  in  kompliziertem  Aufbau  gegliedert.  Wie  zu 
erwarten,  zeigen  auch  sie  den  gleichen  Fortgang  von  der  Thesis  über  die 
Antithesis  zur  Synthesis,  nur  daß  hier  diese  dreifache  Gliederung  nicht 
so  augenscheinlich  ist  wie  in  den  durchsichtigeren  Oden.  Die  Gegen- 
sätzlichkeit von  Natur  und  Geist,  die  sich  endlich  beruhigt,  ist  der 
immer  gleiche  Kern  von  Hölderlins  Erlebnissen,  und  wo  er  sich  dichte- 
risch formt,  scheint  überall  dieses  Zentralproblem  durch.  Die  neun 
Sätze  von  »Menons  Klagen«  stellen  sich,  von  innen  gesehen,  so  dar: 

Einleitung.     1.  Ruheloses  Umherirren  des  trauernden  Dichters. 

2.  Resignation  will  nicht  gelingen,  da  die  Hoffnung 
wach  geblieben  ist. 

Überleitung.  3.  Denn  das  Bild  des  vergangenen  Glückes  leuchtet 
ihm  auch  jetzt  noch. 

Thesis.        4.  Schilderung  des  Liebesidylls.    Daran  wird  die  leid- 
volle Gegenwart  von  neuem  deutlich. 


')  S.  Menons  Klagen  V.  43,  73,  109;  Archipelagus  V.  54,  86,  104,  125,  136,  179, 
241,  278;  Stutgard  V.  19,  37,  55,  73;  Brod  und  Wein  V.  109. 


352  KARL  VIETOR. 


5.  Grund  seines  Unglücks:  die  Isoliertheit. 
Antithesis.  6.  Doch  selbst  die  Oötterlosen   wird  einst  die  gött- 
liche Gewalt  zu  schönerem  Leben  erwecken. 

7.  Diotima.     Anrufung  und  Klage. 

8.  Ihre  Vollkommenheit  ist  unwandelbar,  an  ihr  richtet 
sich  des  Dichters  Enthusiasmus  auf. 

Synthesis.  Q.  Begeisterter  Ausblick,  Vision  einer  glücklichen  Zu- 
kunft. 
Man  sieht,  jeder  der  drei  Hauptabschnitte  ist  untergeteilt  in  je  zwei 
Themen,  die  miteinander  kontrastieren,  so  daß  überall  eine  lebhafte  Be- 
wegung zustande  kommt. 

Noch  kunstvoller  verläuft  das  wieder  von  der  Thesis  über  die 
Antithesis  zur  Synthesis  sich  bewegende  Gedicht  in  der  größten  lyri- 
schen Dichtung  Hölderlins,  dem  »Archipelagus«.  Hier  ist  vor  allem 
die  breit  ausholende  Thesis,  welche  das  Heldenleben  des  griechischen 
Volkes  erzählt,  sehr  fein  aufgebaut;  das  Thema  wird  abgelöst  durch 
ein  antithetisches  Gegenthema,  es  folgt  ein  schwerwiegender  Mittel- 
satz, um  den  dieser  ganze  Teil  gruppiert  ist;  und  den  Beschluß  macht 
das  erste  Thema,  jetzt  aber  bedeutend  verstärkt.  Das  große  Gedicht 
ist  nicht,  wie  alle  andern  symphonischen  Dichtungen,  vom  Dichter  selbst 
in  Abschnitte  eingeteilt;  aber  die  einzelnen  Teile  heben  sich  sehr  deutlich 
voneinander  ab^),  und  das  Ganze  stellt  sich  in  seinem  Aufbau  so  dar: 
Einleitung.         1.  Ewige  Jugend  des  Archipelagus. 

2.  Immer  junge  Götterkräfte  nähren  ihn. 
Überleitung.      3.  Doch  klagt  der  Einsame  um  seinen  verstorbenen 

Herrn. 
Thema.  4.  Das  glückliche  Griechenland. 

Gegenthema.     5.  Die  Perser. 
6.  Ihr  Anzug. 
Mittelsatz.  7.  Salamis. 

8  \ 
„  ^       ']  Neue  Blüte  Griechenlands. 

Thema  verst.     9.  J 

Antithesis.    10.  Totenklage  des  Dichters. 

11.  Chaos  der  Gegenwart. 

Synthesis.     12.  Hoffnung  auf  schönere  Zukunft. 

Ausklang.        13.  Bis  dahin  möge  Griechenland  schlafen  und  der 

Archipelagus  sei  Bürge  seiner  Wiederkehr. 

Wie  in  »Menons  Klagen«  beginnt  das  Gedicht  nicht  unmittelbar 

mit  der  Thesis,  sondern  ist  eingeleitet  mit  einem  breiten  lyrischen  Satz; 


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')  Die  Hellingrathsche  Ausgabe  deutet  die  einzelnen  Sätze  durch  Zwischen- 
räume an.    Ein  weiterer  Absatz  ist  vor  V.  241  und  246  zu  machen. 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS.  353 

und  lyrisch  ist  auch  der  Ausklang.  Typisch  für  die  Gleichförmigkeit 
des  Hölderiinschen  Erlebnisses  ist  der  Umstand,  daß  die  Wendung, 
welche  das  dichterische  Subjekt  als  selbständiges  Element  einführt, 
antithetischen  Charakter  hat;  aber  nicht  auf  das  Ich  beschränkt 
bleibt,  sondern  —  so  sehr  ist  jedes  wichtige  Erlebnis  jetzt  eines  der 
Gemeinschaft  —  die  ganze  zeitliche  und  menschliche  Gemeinschaft, 
weicher  der  Dichter  angehört,  mit  hineinzieht.  Ähnlich,  und  noch  klarer, 
ist  der  Bau  der  »Heimkunft«  und  von  »Brod  und  Wein«,  während 
der  überwiegend  epische  Charakter  von  »Stutgard«  (Herbstfeier)  einen 
wesentlich  andern  Aufbau  zur  Folge  hat: 

1.  Schönes  Wetter  nach  dem  Regen. 

2.  Verlangen  nach  der  Herbstfeier. 

3.  Aufbruch  dazu. 

4.  Die  Wanderung. 

5.  Ankunft  in  Stutgard. 

6.  Die  Feier. 

In  rein  erzählendem  Fortschreiten  werden  hier  nacheinander  immer 
neue  Objekte  des  Enthusiasmus  herangezogen  (Heimat,  Freunde, 
Heroen,  Götter)  und  in  ihrer  Versammlung  erreicht  er  seinen  Höhe- 
punkt. Die  Lösung  aller  Gegensätzlichkeit  erspart  die  Bemühung  um 
eine  Synthese,  und  so  wird  das  Gedicht  von  einer  Heiterkeh  und 
Leichtigkeit  getragen,  die  bei  Hölderlin  durchaus  ungewöhnlich  isi 

Der  dreiteilige  Bau  ist,  wie  gezeigt  wurde,  sehr  charakteristisch 
für  die  Kunstform  der  Gedichte  Hölderlins,  und  die  Aufzeigung  seiner 
Inhalte  gibt  außerordentliche  Aufschlüsse  über  die  Psyche  des  Dichters. 
Die  Wichtigkeit  dieser  Erscheinung  wurde  bisher  nur  von  Wilh.  Michel 
(Fr.  Hölderlin,  München  1Q12,  S.  45—51)  erkannt,  der  dem  Dreischritt, 
welchen  er  an  Gedichten  aus  der  Spätzeit  (1800)  feststellt,  einen  wesent- 
lichen pantheistischen  Grund  und  Inhalt  gibt:  Form-Chaos-Friede  des 
Alls.  Man  wird  dafür  besser  Natur-Geist  und  vollkommene  Einheit 
beider  als  Inhalte  dieses  zunächst  formal  deutlichen  Dreischrittes  setzen. 
Jedes  Erlebnis  in  der  Welt  außer  ihm  zieht  den  Dichter  nicht  mit 
in  Befreiung,  sondern  wirft  ihn  auf  sein  Leben  zurück,  das  sich 
nicht  in  Einigkeit  mit  der  Empirie  empfindet  und  doch  keine  andere 
Sehnsucht  hat,  als  die  nach  Einigkeit  mit  allem  Sein  (für  Hölderlin  = 
Natur).  Das  ist  für  ihn  keine  Aufgabe  der  Erkenntnis,  der  Bruch  ist 
nicht  auf  spekulativem  Wege  zu  heilen;  sondern  ein  impulsives  Be- 
dürfnis seiner  Psyche  verlangt  immer  wieder  nach  einer  Versöhnung 
mit  dem  außer  ihm  Seienden.  Auffallend  aber  ist,  wie  sehr  dieser  im 
Bau  des  einzelnen  Gedichtes  sich  zeigende,  immer  wiederholte  Ablauf 
des  zur  Form  werdenden  Erlebnisses  der  Formel  gleicht,  welche  die 
dialektische  Methode  der  zeitgenössischen  Philosophie  für  die  Selbst- 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  23 


354  KARL  VIKTOR. 


bewegung  der  Begriffe  fand.  Diese  Erl<lärung  stellte  den  Versuch  dar, 
die  Widersprüche  des  Denkens  dadurch  zu  beseitigen,  daß  man  sie 
geradezu  als  die  es  bewegende  Kraft  ausgab,  und  damit  identisch  mit 
sich  selbst  machte.  Sie  bildet  bekanntlich  den  Kern  der  Hegeischen 
Methode  zur  Erkenntnis  schlechthin.  Kants  Antinomieniehre  faßte 
schon  das  Problem  des  Widerspruchs  in  ähnlichem  Sinne,  und  bei 
Fichte  fand  es  zuerst  seine  klassische  Formel:  Thesis-Antithesis-Syn- 
thesis.  Bei  ihm  stehen  sich  Thesis  und  Antithesis  freilich  noch  un- 
verbunden  gegenüber,  nicht  auseinander  deduziert,  sondern  als  selb- 
ständige Prinzipien  gegeben;  seine  Herstellung  der  Synthese  durch 
syntaktische  Vereinigung  der  beiden  Thesen  in  einem  Doppelsatz  er- 
möglichte zwar  eine  widerspruchslose  Verbindung,  doch  blieb  sie  sehr 
schwankend  und  ohne  letzte  Auflösung.  Schelling  glaubte  den  seiner 
Ansicht  nach  nur  scheinbar  existierenden  Widerspruch  durch  Ein- 
fügung des  entsprechenden  Mittelbegriffs  beseitigen  zu  können.  Bei 
Hegel  aber  wurde  der  Widerspruch  als  Element  der  begrifflich-anti- 
thetischen Bewegung  selbst  gefaßt;  er  wird  absolut  identisch  mit  sich 
selbst,  und  so  ist  jeder  Gegensatz  überwunden.  Der  Begriff  als  al- 
leinige Substanz  vollführt  mit  seiner  Selbstbewegung  den  einzigen 
Prozeß  des  Geistes,  der  sich  sogar  objektiv  vor  dem  Bewußtsein  des 
denkenden  Subjekt  abspielt,  und  zwar  in  der  Folge:  von  der  Thesis 
über  die  Antithesis  zur  Synthesis').  Hölderlin  hatte  in  Jena  Fichte 
gehört  -)  und  war  mit  dessen  Dialektik  vertraut^*).  Er  wird  die  philo- 
sophische Überzeugung  mitgenommen  haben,  daß  unsere  Denktätigkeit 
sich  in  der  Bahn:  Satz,  Gegensatz,  Zusammenschluß  vollzieht;  Hegel, 
der  in  diesem  Punkte  offenbar  Fichtes  Schüler  war,  zeigt  die  Grund- 
lage seiner  Dialektik  in  seiner  Jenaer  Zeit  deutlich  ausgebildet^)  und 
im  philosophischen  Gespräch  mit  Hölderlin  hat  dieser  Kern  seines 
Systems  zweifellos  schon  die  größte  Rolle  gespielt. 

Zwischen  diesem  dialektischen  Charakter  der  zeitgenössischen 
Philosophie  und  dem  gleichartigen  Bau  Hölderlinscher  Gedichte  be- 
steht sicherlich  eine  wichtige  Beziehung.  Wie  in  der  Form  ist  seine 
Dichtung  der  Philosophie  auch  verwandt  in  den  inhaltlichen  Bedingt- 


')  Vgl.  E.  V.  Hartmann:  Über  die  dialekt.  Methode,  Berlin  1868.  Diithey: 
Jugendgesctiichte  Hegels,  S.  52  ff.;  vgl.  auch  Georg  Lassen:  Was  heißt  Hegelianis- 
mus?, Berlin  1916. 

2)  Vgl.  seine  Briefe  an  Neuffer,  19.  Jan.  1895,   Hegel  26.  Jan.  1895,  den  Bruder 
13.  April  1895. 

')  Die  wichtigsten  hierhergehörigen  Stellen  in  Fichtes  Schriften  sind:  Sämtl. 
Werke  1845  1.  113,  115,  224  ff.,  336  f. 

*)  Vgl.  Hegels  erstes  System,  herausg.  von  Ehrenberg  und  Link,  Heidelberg 
1915.  —  Die  hier  veröffentlichten  Entwürfe  stammen  zwar  erst  aus  der  Jenaer  Zeit, 
aber  ihre  Grundlagen  reichen  zweifellos  weiter  zurück. 


DER  BAU  DER  GEDICHTE  HÖLDERLINS.  355 

heiten.  Für  die  zeitgenössische  Philosophie  waren  es  im  wesentlichen 
diese:  der  giücic-  und  leidlosen,  weil  ungeistigen  Natur,  wird  der  Geist 
als  Gegenpart  gegenüber  gestellt,  der  im  Gegensatz  leidempfindlich  ist, 
und  der  es  in  der  sittlich-religiösen  Freiheit  zu  einer  Synthese  von 
Natur  und  Geist  bringen  muß.  Das  war  auch  für  Hölderlin  der  Kon- 
flikt und  die  aufgegebene  Lösung').  Natur  war  ihm  im  Grunde  alles 
außer  ihm  Seiende.  Er  liebte  sie,  verehrte  sie  mit  religiöser  Scheu; 
aber  er  empfand  auch  in  allen  Erlebnissen  den  quälenden  Zwiespalt 
zwischen  sich  und  ihr,  den  zu  lösen  ein  schon  einmal  Geleistetes  er- 
reichen hieß:  das  griechische  Menschheitsideal.  Für  ihn,  wie  für 
Schiller  war  hier  in  Griechenland  bei  völliger  Synthese  von  Natur  und 
Geist  eine  bisher  unerhörte  und  späterhin  verlorene  Totalität  erreicht 
worden''').  Die  Gegenwart  ist  durch  diesen  Zwiespalt  zerrissen  und 
darum  Chaos,  während  Griechenland  alle  Gaben  der  göttlichen  Har- 
monie halte.  Der  immer  mehr  mit  seiner  Zeit  und  der  vaterländischen 
Gemeinschaft  empfindende  Dichter  versucht  stets  von  neuem  zu  einer 
Synthese  zu  gelangen  zwischen  diesen  beiden  Erlebnissen,  die  sich 
doch  aufeinanderhin  zu  bewegen  scheinen.  Meist  scheint  die  Lösung 
nur  individuell  durch  den  Enthusiasmus  möglich  zu  sein,  der  sich 
eine  Vereinigung  beider  in  goldener  Zukunft  ausmalt.  Aber  abgesehen 
von  dem  wechselnden  Ideengehalt  nimmt  Hölderlins  Wesen  fast  in 
jedem  Gedicht  die  gleiche  dreiteilige  Bewegung,  welche  ebenso,  wie 
aus  der  gedanklichen  Analyse,  aus  den  formalen  Trägern,  hier  aus 
dem  Bau,  sichtbar  wird;  und  so  erkennen  läßt,  daß  der  charakteristische 
dreiteilige  Ablauf  seiner  lyrischen  Gedichte  nicht  die  bewußte  Kon- 
struktion eines  intellektualistischen  Geistes  ist  (wie  etwa  bei  Lessing  oder 
gelegentlich  bei  Schiller);  sondern:  daß  aus  einem  stets  gleich- 
artigen Erlebnisse,  dem  der  Gegensätzlichkeit  von  Na- 
tur und  Geist,  Chaos  und  Form  und  ihrer  Synthese  als 
einer  ewigen  Aufgabe  seines  Wesens,  ihm  die  spontane 
Nötigung  zu  einer  derartigen  dichterischen  Form  immer 
wieder  erwuchs. 

An  dieser  Einsicht  wird  der  notwendige  Zusammenhang  der  Ge- 
dichtform Hölderlins  mit  seinem  individuellen  Wesen  besonders 
deutlich. 


')  Vgl.   dazu  Zinkernagel:   Entwicklungsgeschichte  von  Hölderlins  Hyperion, 
Straßburg  1907,  S.  202;  vor  allem  S.  205  f. 

')  Über  diese  Idee  im  Hyperion,  vgl.  Zinkernagel,  a.  a.  O.  S.  199. 


XIII. 

Die  Grade  der  lyrischen  Formung. 

Von 
Friedrich  Sieburg. 

Dem  Andenken  Norberts  von  Hellingrat h. 

Das  Wesentliche  meiner  Aufgabe,  das  Gedicht  zu  erklären,  um 
damit  Einsichten  ins  Formproblem  überhaupt  zu  gewinnen,  liegt  vor 
allem  in  der  Beschränkung  auf  das,  was  wir  als  das  eigentliche 
dichterische  Element  ansehen,  auf  das  Wort.  Von  den  vielen  Ver- 
suchen, das  Wesen  des  Dichterischen  zu  deuten,  ist  dieser  der  nächst- 
liegende, wenn  auch  ungebräuchlichste.  Die  Gründe  hierfür  sind  zahl- 
reich und  liegen  in  der  Art  heutiger,  ästhetischer  und  geschichtlicher 
Arbeit  überhaupt.  Der  wissenschaftliche  Apparat  hat  eine  solche 
Durchbildung  erfahren,  daß  er  beinahe  zum  Selbstzweck  geworden 
ist  und  seine  eigentlichen  Objekte  und  Zwecke,  die  Gestalten  und 
Gebilde,  fast  zu  Anlässen  herabgesunken  sind.  Hält  man  den  Um- 
stand dazu,  daß  diese  Vermischung  und  Verwechslung  von  Wesen 
und  Beziehung  weitaus  am  stärksten  in  der  Geschichte  und  Erkenntnis 
der  Dichtung  herrscht,  so  wird  man  sagen  müssen,  daß  im  deutschen 
Bewußtsein  das  Gefühl  für  die  Absolutheit  des  Wortes  als  des  dichte- 
rischen Elementes  den  gebührenden  Platz  nicht  einnimmt. 

Die  Entwicklung. 

Freilich  liegen  die  Gründe  hierfür  in  der  Entwicklung  der  deut- 
schen Versdichtung  überhaupt.  Der  deutsche  Geist  hat  sich  seinen 
Sprachkörper,  der  heute  als  etwas  Selbstverständliches  vor  uns  liegt, 
erst  in  harter,  bewußter  Arbeit  erobern  müssen.  Seitdem  man  durch 
Luthers  Tat  überhaupt  von  einer  einheitlichen  deutschen  Sprache 
reden  konnte,  gingen  Jahrhunderte  mühsamer  Tätigkeit  dahin,  in  denen 
brave  Handwerker,  kritische  Ordner  und  wohl  auch  seltene,  schwach 
durchklingende  Sänger  durch  Schaffung  einer  Literatur  den  Boden  für 
den  dichterischen  Sprachkörper  vorbereiteten.  Das  Verdienst  der  so 
öde  anmutenden  barocken  und  rationalistischen  Jahrhunderte  darf  nicht 


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DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG. 


357 


unterschätzt  werden.  Freilich,  die  große  Gestalt,  das  große  Erlebnis 
werden  wir  in  dieser  Zeit  vergebens  suchen.  Die  beiden  wichtigsten 
Repräsentanten  dieses  Bildungszeitalters  waren  nicht  von  innen  heraus 
durch  ein  Erlebnis  in  Bewegung  gesetzt,  das  sie  sich  zu  entwickeln 
zwang.  Ihnen  genügte  es,  nach  außen  zu  greifen  und  einzubeziehen, 
was  schon  geformt  bei  den  Fremden  vorlag,  zu  ordnen,  was  nach 
dem  Verlust  des  lebendigen  Mittelpunktes  durcheinander  wirbelte.  Sie 
hatten  es  nicht  mit  dem  Leben,  sondern  mit  der  Literatur  zu  tun,  sie 
suchten  nicht  das  Lebendige,  sondern  die  Regel.  Opitz  und  Gott- 
sched waren  keine  Gestalten,  sondern  lediglich  Köpfe,  die  nicht  durch 
Begeisterung,  sondern  durch  Vernunft  bewegt  wurden.  Verstreute 
einsame  Poeten,  Paulus  Gerhardt,  Flemming,  Angelus  Silesius,  Günther, 
die  einen  unmittelbaren,  seelischen  Kontakt  mit  dem  Leben  hatten, 
konnten  keine  Repräsentanten  werden  und  blieben  Einzelfälle.  Zwi- 
schen Seele  und  Welt  stand  bergehoch  ein  Wust  von  halbfertiger 
Bildung,  nachbarlichem  Einfluß,  barocken  Ornamenten  und  rationali- 
stischen Vorstellungen.  Kein  dichterischer  Charakter  stand  auf,  der, 
vom  Erlebnis  erschüttert,  Kraft  gehabt  hätte,  diesen  Wust  zu  ver- 
wandeln und  die  Welt  zu  formen.  Was  blieb  übrig,  als  diese  Lebens- 
und Bildungswildnisse  zu  ordnen,  und  durch  Aufstellung  von  Gesetz, 
Regel  und  Muster  eine  Beziehung  zu  gewinnen.  So  konnte  denn 
auch  mangels  des  Grunderlebnisses  keine  lebendige  Sprachform  ge- 
boren werden.  Aber  an  Stelle  organischen  Wachstums  traten  große 
mechanische  Gewinne.  Die  Bildungssprache  gewann  durch  Begren- 
zung, Ordnung  und  Vergleich  an  Ausdrucksfähigkeit,  Reinheit  und 
Biegsamkeit  im  reichsten  Maße.  Freilich,  das  Göttliche,  das  nicht  da 
war,  konnte  durch  keine  noch  so  gründliche,  kritische  Arbeit  aus  dem 
Vorhandenen  abstrahiert  werden,  und  so  blieb  die  Entwicklung  der 
Sprache  im  Rahmen  des  Rhetorischen,  wie  die  ganze  mühevoll  ge- 
schaffene Literatur  nur  Allegorie  blieb  und  ein  relatives  Dasein  hatte. 
Erst  bei  Klopstock  bricht  das  Erlebnis  durch,  das  ihn  befähigte,  die 
rhetorische  Sprache  in  eine  lebendig  dichterische  zu  verwandeln.  Dia- 
lektisch angebahnt  durch  Bodmer  und  Breitinger,  setzte  sein  Auftreten 
die  Begeisterung,  die  dichterische  Bewegung,  das  Weltgefühl  wieder 
in  ihr  ewiges  Recht  ein.  Sein  religiöses  Seelenerlebnis  einerseits  und 
sein  antikes  Formerlebnis  anderseits  befruchtete  das  Wort  mit  leben- 
digem Feuer.  Mit  Klopstock  beginnt  die  neue  Form.  Er  erschuf  den 
dichterischen  Sprachkörper;  er,  dem  die  Antike  nicht  ein  Bildungs- 
anhängsel, sondern  ein  Element  seines  Wesens  und  Erlebens  war, 
machte  die  deutsche  Sprache  fähig,  organisches  Wachstum  zu  treiben, 
Verkörperung  und  Wesen  zu  leisten  und  Gebilde  ewiger  Geltung 
hervorzubringen.    Er  hinterließ  ein  sprachliches  Niveau,  das  noch  heute 


358  FRIEDRICH  SIEBURG. 


gültig  ist.  Das  Erlebnis  der  griechischen  Form  war  bei  dieser  Tat 
ausschlaggebend,  wie  es  auch  seinen  größeren  und  bewußteren  Nach- 
folger, Hölderlin,  endgültig  bestimmte.  Dieser  bildet  in  seiner  äußersten 
Anspannung  des  Sprachmöglichen,  in  seiner  radikalen  Handhabung 
des  einzelnen  Wortes  als  dichterischer  Einheit  den  Gipfel,  den  der 
lyrische  Stil  nach  raschem  Aufstieg  erreichte.  Schwankungen  blieben 
mit  dem  Wechsel  weltanschaulicher  Bewußtseinsinhalte  nicht  aus.  Die 
Romantik  schon  verlies  diese  aus  dem  antiken  Erlebnis  gewonnene 
Tradition  gemäß  ihrer  christlichen  Ideologie,  indem  sie  durch  die 
Hervorholung  der  gotischen  Vorstellungswelt  einerseits  und  des  Volks- 
liedes anderseits ')  auch  den  lyrischen  Stil  lockerte  und  die  große 
Form  entsprechend  ihrer  auflösenden  Tendenz  zurückdrängte.  Hölderlin 
und  der  reife  Ooethe  auf  der  einen  Seite  und  die  Romantik  auf  der 
anderen  Seite  können  als  Typen  für  den  Widerstreit  innerhalb  des 
dichterischen  Sprachgeistes  überhaupt  gelten.  Der  Kampf,  notwendig 
durch  Weltanschauung  und  Temperament,  der  natürlich  auf  der  un- 
gleich breiteren  Grundlage  des  antiken  oder  christlichen  Lebensgefühls 
überhaupt  geführt  wurde,  ist  nie  verstummt,  wobei  er  in  unseren 
Tagen  durch  Nietzsche  seine  deutlichste  Formulierung  erhielt.  Diesem 
Bewußtseinsstreit  parallel  laufend  hat  sich  der  Sprachleib  entwickelt 
und  abgestuft  und  zwar  von  Klopstock,  Goethe  und  Hölderlin  über 
die  Romantiker,  Eichendorff,  Platen,  Hebbel,  die  Annette  und  C.  F.  Meyer 
zu  Stefan  George,  bis  endlich  die  jüngste,  die  expressionistische  Lyrik 
ganz  neue  sprachliche  Probleme  stellte. 


Das  Objekt  der  Formung. 

Um  den  wichtigsten  Begriff  der  Untersuchung,  das  Wesen  des 
Wortes  als  des  dichterischen  Elementes,  klarzustellen,  ist  es  nötig  weit 
auszuholen.  Wobei  man  sich  hüten  muß,  Technik  und  Material  zu 
verwechseln.  Ich  setze  Material  gleich  mit  dem  künstlerischen  Element, 
während  der  übliche  Begriff  des  Materials  für  mich  gleich  Technik  ist. 
Geht  eine  Technik  über  das  Material  hinaus,  ist  der  Bannkreis  der 
Kunst  durchbrochen.  Dies  ist  die  Gefahr  alles  Barocken.  Mit  der 
Gestaltung  des  Materials  ist  alle  künstlerische  Arbeit  getan.     Darüber 


')  Schon  Herder  inaugurierte  eine  einseitige  Vorstellung  von  Lyrik,  auf  die 
im  wesentlichen  noch  immer  die  übliche  populäre  Anschauung  zurückgeht.  Er  pries 
als  Kennzeichen  der  wahren  Dichtung  das  naturmäßig  Unbewußte  und  Ungebundene 
und  zwang  auch  der  strengsten  Kunstform  diese  Merkmale  auf,  indem  er  in  Pindar, 
Dante  usw.  das  Dunkle,  Rauschartige  auf  Kosten  des  Geformten  in  den  Vorder- 
grund rückte. 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  359 

hinaus  wirken  hieße  aus  der  Kunst  ein  Spiel,  aus  der  Notwendigkeit 
eine  Not  oder  aus  der  Freiheit  eine  Willkür  machen.  Man  muß  sich 
hüten,  in  diesen  Gedankenkreis  einen  psychologischen  Begriff  hinein- 
zutragen, die  Verwirrung  nähme  sonst  kein  Ende.  Die  Begriffe  des 
Materials  (d.  h.  des  künstlerischen  Elementes)  und  der  Geformtheit 
(d.  h.  des  geformten  Elementes)  müssen  genügen.  Das  Wesen  des 
Gedichtes  also  definiert  sich  folgendermaßen:  das  Wort  ist  das  Material 
des  Dichterischen,  d.  h.  das  dichterische  Element,  seine  Technik  ist 
die  Syntax. 

Das  Gedicht  ist  die  Gestaltung  des  Wortes,  also  nicht  etwa  des 
Erlebnisses.  Die  Gestaltung  eines  Erlebnisses  setzt  immer  eine  Distanz 
voraus  zwischen  dem  Subjekt  und  dem  Objekt,  zwischen  Seele  und 
Erlebnis,  zwischen  Wille  und  Welt.  Diese  Distanz  besteht  aber  beim 
lyrischen  Dichter  nicht.  Dem  Lyriker  eignet  die  glücklichste  und 
primitivste  Form  des  Schaffenden,  schaltet  doch  seine  Kunst  von 
vornherein  jeden  Abstand  zum  Erlebnis  aus.  Das  Chaos  als  Objekt 
existiert  für  ihn  nicht.  Der  Lyriker  ist  an  sich  formhaft,  sein  seelischer 
Zustand  ist  bereits  geformt,  seine  Bereitschaft  fällt  mit  dem  Besitz 
zusammen.  Die  ungeheure  Arbeit,  sich  der  Welt  zu  bemächtigen  oder 
die  Welt  zu  durchdringen,  die  noch  Dante  und  Shakespeare  leisten 
mußten,  fällt  für  ihn  fort.  Er  spürt  die  Welt  nur,  insofern  sie  in  ihm 
ist  oder  als  Anstoß  auftritt,  um  sein  Ich  in  Vibration  zu  versetzen. 
Wieviel  von  der  Welt  in  ihm  ist,  das  bestimmt  seinen  Wert,  je  mehr 
er  draußen  fühlt  als  Problem,  als  Ungeformtes,  als  Lebensrätsel,  als 
Frage  nach  Gott,  das  bestimmt  den  Grad  seiner  inneren  Geformtheit. 
Deshalb  blieb  es  erst  dem  Lyriker  vorbehalten,  den  vom  Altertum  bis 
zur  Renaissance  gehenden  Zwiespalt  zwischen  Erlebnis  und  Bild 
dadurch  aufzuheben,  daß  er  beides  gleich  setzte.  Während  dort  noch 
ausschließlich  das  Gewordene,  das  Sein  in  Frage  stand,  wird  hier  das 
Werden,  die  Bewegung  selbst  wesentlich.  Von  eigentlicher  Lyrik  kann 
man  deshalb  auch  erst  mit  dem  Abschluß  des  Rokoko  sprechen.  Dort 
erst  wurde  es  dem  Dichter  möglich,  sein  bewegtes  Ich  zum  Mittel- 
punkt zu  machen,  da  ja  mit  der  endgültigen  Lockerung  des  gefügten 
Kultur-  und  Weltbildes  das  Gewordene  wieder  zum  Werden,  das  Sein 
wieder  zur  Bewegung  wurde.  Die  erst  gebundene  (Renaissance),  dann 
erstarrte  (Rokoko)  Welt  löste  sich  wieder  auf,  im  Bewußtsein  strömte 
die  Welt  wieder  in  alter  Unbegrenztheit  im  gleichen  Fluß  wie  das 
bewegte  Ich.  Nun  auch  konnte  die  Sprache  wieder  im  eigenen  Geiste, 
der  ja  die  Bewegung  ist,  tönen.  Keine  Welt  drängte  sich  mehr  da- 
zwischen und  machte  Bilder  zu  ihrer  Bewältigung  notwendig ').   Lyrik 


')  Die  eigentliche  lyrisciie  Bilderwelt  hat  anderen  Sinn.    Da  bedeutet  das  Bild 


360  FRIEDRICH  SIEBURG. 


in  eigentlicher  Bedeutung  ist  also  erst  möglich  geworden  in  der 
Moderne,  die  Klopstock  einleitet.  Diese  ganze  Entwicklung  ist  freilich 
nur  dann  zu  verstehen,  wenn  man  sich  die  Tatsache,  daß  die  lyrische 
Bereitschaft  immer  schon  Form  sei,  lebendig  hält.  Eine  Weh  land- 
läufiger Vorstellungen  wird  hiermit  weggeräumt:  nicht  das  Erlebnis 
ist  der  Stoff,  sondern  die  Bewegung  des  Dichters  als  Sprache.  Das 
apriorische  Verhältnis  des  Ich  zum  Erlebbaren,  nicht  was  erlebt  wird, 
sondern  wie  erlebt  wird,  nicht  weshalb  die  Seele  bewegt  ist,  sondern 
wie  sie  bewegt  ist:  das  ist  der  Stoff  des  lyrischen  Gedichtes.  Schon 
deshalb  ist  es  untunlich,  auf  die  Gestaltungsarbeit  des  Dichters,  vom 
Dichter  her  gesehen,  also  psychologisch,  einzugehen.  Die  Fragestel- 
lung nach  der  seelischen  Verfassung  des  Dichters  muß  ja  immer  mit 
der  nach  dem  Gedicht  selbst  zusammenfallen.  Da  er  selbst  schon 
die  Form  ist,  müßte  die  Frage  nach  ihm  immer  auch  gleichzeitig  die 
Frage  nach  dem  Gedicht  sein.  Da  das  Wortgebilde  nicht  geformte 
Welt  sondern  geformte  Bewegung,  nicht  geformtes  Erlebnis  sondern 
geformtes  Verhältnis  ist,  so  führt  uns  das  Forschen  nach  dem  For- 
mungsprozeß auf  den  formenden  Faktor:  den  Rhythmus,  dessen  Be- 
griff man  vorläufig  hinnehmen  mag.  Das  Verhältnis  von  Rhythmus 
zu  Wort  ist  also  der  eigentliche  Kernpunkt. 

Das  Wort  als  dichterisches  Element. 

Das  Wort  ist  ein  zweifaches  Phänomen.  Man  kann  durch  das 
Wort  etwas  mitteilen.  Man  kann  im  Wort  etwas  verkörpern.  Das 
Wort  ist  ein  so  selbstverständliches  Verkehrsmittel,  eine  so  unbewußte 
Möglichkeit,  sich  mitzuteilen,  daß  seine  Eigenschaft  als  Naturphänomen 
kaum  ins  Bewußtsein  tritt.  Und  das  ist  zum  Verständnis  des  Dichte- 
rischen nicht  wesentlicher,  als  einzusehen,  daß  das  Wort  ebensosehr 
eine  selbständige  Tatsache  ist,  deren  bloßes  Dasein  ein  Leben,  eine 
Natur  bedeutet.     Die  Getrenntheit  dieser  beiden  Erscheinungen ')   ist 


keinen  Umweg  des  Gefühls  zur  Welt,  sondern  ist  lediglich  eine  Form  der  Schwingung. 
Daher  ist  sie,  auch  wo  sie  ihre  Umrisse  aus  fertigen  Kulturen  nimmt,  immer  im 
Subjekt  des  Dichters  gegeben.  Hölderlins  griechische  Bilderwelt  ist  eben  deshalb 
ureigen,  weil  Hölderlin  sie  aus  griechischem  Erlebnis  gebar.  Er  sah  mit  griechi- 
schem Auge,  nicht  durch  die  griechische  Brille.  Seine  Bilder  sind  nicht  Objekte, 
sondern  Formen  seiner  antikischen  Bewegtheit  schlechthin.  Anders  der  hellenisti- 
sche Vorstellungsapparat  des  Rokoko.  Während  die  Renaissance  ihre  Bilder  erlebte 
und  Hölderlin  sie  gebar,  hat  das  Rokoko  sie  erlernt.  Sie  dienten  ihm  zur  Ver- 
zierung, als  Ornament,  als  Beziehung,  während  sie  Hölderlin  Gestalt,  Daseinsform, 
Wesen  waren. 

')  Es   kann  hier  nicht  untersucht  werden,  welche  von   beiden  Erscheinungen 
die  genetische  Priorität  besitzt.    Doch  wäre  eine  geschichtliche  Untersuchung  über 


4 


4  DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  361 

unüberbrückbar.  Für  die  Erfassung  des  Dichterischen  gibt  es  kein 
wichtigeres  Gefühl  als  dieses,  daß  mit  dem  gesellschaftlichen  Wort 
etwas  bezeichnet  sei,  mit  dem  dichterischen  Wort  aber  etwas  ver- 
körpert sei.  Nur  mit  diesem  Wort,  dem  Wort,  das  Leib  ist,  haben 
wir  zu  tun ').  Nicht  zufällig  klingen  hier  religiöse  Vorstellungen  an. 
Der  wahre  Charakter  des  Verses  ist  eben  religiös,  seine  Bewegung 
hat  die  Kraft  der  Beschwörungsformel,  die  den  Dämon  bannen  soll. 
Der  gebundene  Dionysos  und  das  Wort,  das  Fleisch  geworden  ist, 
sind  im  ganzen  Reiche  des  Geistigen  die  einzigen  Parallelerscheinungen 
zur  künstlerischen  Form.  Der  künstlerische  und  der  religiöse  Leib 
ist  das  gleiche  Bild,  vor  dem  die  Hellenen  beteten.  Der  Künstler 
sucht  immer  Gott  und  findet  immer  das  Bild.  Im  dichterischen  Wort 
ist  das  raumlose  Denken  zum  räumlichen  Sein,  der  Begriff  zur  Ange- 
schautheit  geworden.  Die  Immanenz  des  Wortes  hat  absoluten  Sinn, 
der  nicht  aufs  Menschliche  zurückzudeuten  oder  aufs  Göttliche  hinaus- 
zudeuten braucht.  In  beiden  Fällen  saugt  das  Wort  das  Erlebnis  end- 
gültig auf,  im  ersten  so,  daß  nichts  mehr  aus  der  schöpferischen  und 
erleberischen  Sphäre  ins  Gebilde  hineinragt,  im  zweiten  so,  daß  noch 
nichts  den  bildlichen  Guß  zu  zersprengen  sucht,  um  eines  transzen- 
dierenden  Gefühles  willen.  Wo  der  wahre  Charakter  des  dichterischen 
Wortes  begriffen  wird,  wird  die  restlose  Verkörperung  nie  gestört, 
das  würde  der  Charakter  des  Wortes  nicht  zulassen,  wohl  aber  treten 
Verschiebungen  nach  dem  ^rieben  (dem  Psychologischen)  hin  ein, 
und  ebenso  über  das  Vollendete  hinaus  nach  dem  Göttlichen  (Trans- 
zendenten) hin  ein  und  zwar  durch  den  Rhythmus  (dichterische  Be- 
wegung). 

Das  Gebilde  steht  also  zwischen  zwei  Sphären.  Unter  ihm  liegt 
das  Bereich  des  Erlebens,  das  typisch  Menschliche.  Es  ist  das  Bereich 
des  ungeordneten  Daseins,  dessen  sinnloses  Durcheinander  und  Neben- 
einander aller  Dinge  und  Gefühle  voll  schweifender  und  ungebundener 
Sehnsucht  zur  Gestaltung  drängt.  Hier  im  Gemüt  ist  das  Leid  zu 
Hause,  diese  Sphäre  und  ihre  Kategorien  meiden  wir,  um  der  Psycho- 
logie zu  entgehen.  Über  dem  Gebilde  liegt  das  Bereich  der  Hin- 
gebung, das  typisch  Göttliche.  Es  ist  das  Bereich  der  Ideen,  in  dem 
ebensowenig  Ordnung  herrschen   kann,   weil  dort  die  Dinge  keinen 


den  gesellschaftlichen  oder  mystisch-religiösen  Ursprung  der  Sprache  wichtig.  Viel- 
leicht würde  diese  Untersuchung  die  prähistorische  Kongruenz  dieser  Sphären  lehren. 
Lazarus  Geiger  hat  Untersuchungen  nach  dieser  Richtung  hin  angestellt. 

')  Der  Begriff  »Leib«  in  seiner  prägnanten  Bedeutung  stammt  von  Friedrich 
Qundolf,  dessen  lebendiger  Begriffsbildung  ich  stark  verpflichtet  bin,  was  hier  ein 
für  allemal  dankbar  festgehalten  sei.  Ich  verweise  auf  seine  beiden  Hauptwerke 
»Shakespeare  und  der  deutsche  Geist«,  Berlin  1911  und  »Goethe«,  Berlin  1917. 


362  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Sinn  mehr  haben.  Denn  die  Einmündung  ins  Grenzenlose  will  aller 
Dinge  entkleidet  sein.  Aber  es  gibt  auch  kein  Bedürfnis  mehr  nach 
Ordnung,  weil  die  Ordnung  schon  überwunden  ist.  Dort  im  Geist 
ist  das  Glück  zu  Hause.  Diese  Sphäre  und  ihre  Kategorien  meiden 
wir  ebenfalls,  um  der  Metaphysik  zu  entgehen.  Wir  haben  allein  zu 
tun  mit  der  Ästhetik,  deren  Gegenstand  das  Zwischenreich  ist,  das 
Reich  der  Form,  des  typisch  Künstlerischen.  Es  ist  das  Bereich  des 
Leibes,  in  dem  das  wirre  Leben  spurlos  zur  Ordnung  verkörpert,  in 
dem  es  weder  Sehnsucht  noch  Hingebung  gibt,  sondern  nur  stolzes 
Aufsichselbstberuhen  im  Gleichgewicht  aller  Kräfte.  Hier  ist  die 
Größe  zu  Hause.  Diese  Sphäre  hat  ihre  eigenen  Gesetze,  die  eine 
eigene  Welt  beherrschen,  eine  Welt  neben  unserer  Welt,  ein  Leben 
neben  unserem  Leben.  Nur  dieser  Welt  kann  das  dichterische  Wort 
angehören,  weil  sein  geschlossener  und  absoluter  Charakter  aller 
Grenzenlosigkeit  nach  innen  und  außen  spottet. 

Der  Rhythmus. 

Wir  sind  somit  zur  Kenntnis  der  dichterischen  Sphäre  und  des 
Materials,  des  Wortes  heraufgerückt  und  fragen  nun,  wodurch  dies 
Material  aus  seiner  Bereitschaft  herausgehoben  und  zum  Werke,  zum 
Gedicht  zusammengerückt  wird. 

Die  an  sich  unbeweglichen  Bestandteile  des  Gedichtes  verlangen 
zu  ihrer  letzten  Formung  natürlich  eine  Bewegtheit,  und  auch  .vorhin 
wurde  schon  angedeutet,  daß  die  verschiedenen  Gestaltungsschichten 
nuanciert  werden  durch  eine  Bewegung,  welche  den  Schwerpunkt 
innerhalb  des  geformten  Bildes  zu  verschieben  sucht.  Die  antike 
Mythologie  bringt  dieses  von  uns  begrifflich  zu  bestimmende  Phänomen 
vollkommen  zur  Anschauung.  Sie  erzählt,  daß  Amphion  die  Baublöcke- 
durch  sein  Saitenspiel  bewegt  und  zur  Mauer  gefügt  habe.  In  der 
Tat  gibt  es  keine  klarere  Veranschaulichung  für  die  Funktion,  die 
unser  neues  Phänomen,  der  Rhythmus,  inne  hat.  Der  Rhythmus  ist 
das  Korrelat  der  dichterischen  Bewegung,  welche  nicht  nur  die  Wort- 
elemente zur  Einheit  verbündet,  sondern  auch  das  Eigentümliche  jedes 
einzelnen  Gedichtes  ausmacht.  Der  Charakter  der  dichterischen  Be- 
wegung ist  also  ein  formender,  und  zwar  in  der  Weise,  daß  er  die 
Worte  aus  ihrer  generellen  Absolutheit  heraushebt  und  ihnen  die  Mög- 
lichkeit gibt,  in  verschiedenen  Gebilden  verschiedenes  Gewicht  zu 
haben.  Denn  an  sich  ist  das  Wort  in  seiner  Selbständigkeit  unwandel- 
bar und  kann  als  solches  nur  einem  apriorischen  Gedicht,  dem  Ge- 
dicht an  sich,  zum  Material  dienen.  Die  dichterische  Bewegung 
(Rhythmus)  aber  ist  ein  Ordnen  im  Reich  des  Wortes,  welche  die  Ele- 


Tj 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG. 


363 


menfe  in  ein  bestimmtes,  tausendfach  wandelbares  und  unerschöpf- 
liches Verhältnis  zueinander  setzt  und  so  den  originalen  (persönlichen) 
Charakter  des  Gedichtes  hervorbringt.  Diese  spezialisierende  und 
ordnende  Tätigkeit  des  dichterischen  Rhythmus  zeigt  deutlich,  daß  sie 
eine  Verwechslung  mit  dem  musikalischen  Rhythmus  nicht  zuläßt. 
Durch  Schopenhauer  sind  wir  genügend  über  das  Wesen  der  Musik 
unterrichtet,  um  einzusehen,  daß  der  musikalische  Rhythmus  niemals 
ordnet  und  spezialisiert,  sondern  die  Geschlossenheit  des  Bildes  durch- 
bricht. Der  musikalische  Rhythmus  öffnet  das  Bild  und  gestaltet  ein 
Hin-  und  Widerfluten  zwischen  dem  Bild  und  jener  Welt,  wo  die 
Urformen,  noch  nicht  Ding  geworden,  schlummern.  Die  Selbstsicher- 
heit der  Gestalt,  das  runde. Vollendetsein  wird  aufgelöst  und  an  den 
Abgrund  der  Universalität  getrieben,  d.  h.  der  heroische  Charakter  des 
Bildes  wird  tragisch  gelockert.  Nietzsche  hat  vom  Walten  des  Musi- 
kalischen innerhalb  der  künstlerischen  Gebilde  bahnbrechend  ge- 
sprochen. Freilich  stellte  er  nicht  das  Tragische  als  Form  sondern  als 
Weltzustand  und  Lebensgefühl  dar,  und  somit  wurden  seine  Resultate 
keineswegs  ästhetische,  sondern  metaphysische  und  psychologische, 
wobei  er  dann  allerdings  Erkenntnisse  gewann,  deren  ungeheure  Trag- 
weite noch  lange  nicht  völlig  ins  Bewußtsein  gedrungen  ist.  Immer- 
hin hat  er  ganz  eindeutig  verkündet,  daß  alles  Bildhafte  (Apollinische) 
durch  den  Geist  der  Musik  gefährdet  wird  und  dies  genügt  uns, 
um  darauf  zu  dringen,  daß  die  wesentliche  Verschiedenheit  von  musika- 
lischem und  dichterischem  Rhythmus  klar  bleibe.  Zwar  zeigt  sich, 
daß  das  Gleichgewicht  der  Form  den  größten  Verschiebungen  unter- 
worfen ist,  wodurch  die  Nuancen  der  »Art«  entstehen,  daß  aber  diese 
Verschiebungen  immer  innerhalb  des  Gebildes  verharren,  der  absolute 
Charakter  des  Wortes  also  gewahrt  bleibt,  während  der  musikalische 
Rhythmus  ihn  zerstört. 


Die  Plastik  des  Wortes. 

Man  darf  die  Erkenntnis  von  der  Bildhaftigkeit  des  Wortes  nicht 
ins  Stoffliche  übertragen.  Es  wäre  ein  Irrtum,  zu  glauben,  daß  das 
Wort  als  Leib  gleichzeitig  auch  eine  möglichst  deutliche  Bildhaftigkeit 
der  Vorstellung  im  Leser  hervorrufen  müsse.  Die  Verleibungstätigkeit 
des  Dichters  beruht  keineswegs  darin,  sein  Erlebnis  nun  auch  mög- 
lichst augenhaft  darzubieten.  Man  vergesse  nicht,  daß  nicht  etwa  das 
Auge  das  wesentliche  Organ  zur  Erfassung  lyrischer  Gebilde  ist,  son- 
dern das  Ohr.  Nicht  auf  die  Erzeugung  von  Bildern  kommt  es  an 
durch  Vermittlung  des  Wortes,  sondern  auf  Sichtbarmachung  von  Be- 
wegung innerhalb  des  Wortes.     Oder,  mit  modernen   Schlagworten 


364  FRIEDRICH  SIEBURG. 


ausgedrückt:  es  handelt  sich  nicht  um  Impression,  sondern  um  Ex- 
pression. Wohl  gemeri<t,  es  steht  hier  immer  nur  der  Idealtypus  des 
Gedichtes  in  Rede.  Genaue  Betrachtung  wird  ergeben,  daß,  je  wesen- 
loser das  Wort  in  der  dichterischen  Reihe  steht,  um  so  farbiger,  optisch 
erfaßbarer  die  flüchtige  Impression  des  augenblicklichen  Naturzustandes 
ist.  Im  Mittelpunkt  meiner  Erwägungen  steht  der  gedachte  Extrakt 
aller  ins  Individuelle  gebrochenen  Besonderheiten  und  Unzulänglich- 
keiten: das  Gedicht  an  sich,  dessen  Vorstellung  aus  einer  möglichst 
breiten  Kenntnis  der  gesamten  Masse  des  Lyrischen  gewonnen  wird. 
Damit  sollen  keineswegs  ästhetische  Postulate  oder  Rezepte  aufge- 
stellt werden,  sondern  nur  wesentliche  und  lebendige  Gesetze,  durch 
die  der  geschichtliche  und  ästhetische  Ablauf  seinen  tieferen  Sinn 
offenbart.  In  der  ganzen  Fülle  des  wirklich  Vorhandenen  erfährt 
gerade  dieser  Begriff  der  Bildlichkeit  des  Wortes  seine  weitgehenden 
Veränderungen.  Da  die  Formung  durch  den  Rhythmus  geschieht,  und 
nicht  vom  Auge  her,  so  kann  ihr  Ziel  schlechterdings  nicht  auch  gleich- 
zeitig die  Plastizierung  eines  von  außen  her  in  den  Sprachfluß  hinein- 
gerissenen Stückes  Welt  sein.  Plastik  der  Sprache  ist  eine  Eigen- 
schaft eben  der  Sprache,  deren  Wesen  Bewegung  ist.  Ihr  Sinn  kann 
nicht  Hervorrufung  außersprachlicher  Bilder  sein.  Wir  erfahren  z.  B. 
bei  Lenau  und  Eichendorff,  von  denen  später  gezeigt  wird,  wie  wenig 
primär  das  Gefühl  für  Absolutheit  des  Wortes  in  ihnen  wohnt,  daß 
gerade  bei  ihnen  die  augenmäßige  Bildlichkeit  ganz  besonders  freudig 
quillt,  daß  sie  mit  allen  Mitteln  zur  Versichtbarung  ihres  Zustandes 
Impressionen  von  großer  Eindringlichkeit  hervorbringen,  aber  eben 
nicht  innerhalb  der  Wortmöglichkeit,  sondern  rein  optisch,  augenhaft, 
farbig,  eindrucksmäßig.  Nein,  Bildlichkeit  der  Sprache  ist  etwas 
anderes.  Bildlichkeit  der  Sprache  entsteht  da,  wo  der  Dichter  imstande 
ist,  das  Wort  selbst  als  Zweck  zu  begreifen  und  mit  Sinnlichkeit  zu 
füllen ').  Die  Stücke  der  Palatinischen  Anthologie  stellen  viel  mehr 
sehbare  und  ergreifbare  Bilder  vor  unsere  Augen  als  die  Epinikien, 
aber  an  Pindar  gemessen  ist  der  alexandrinische  Sprachgeist  doch 
schon  abgeleitet  und  degeneriert.  Das  Bestreben  des  noch  nicht 
völlig  erblühten  oder  schon  abklingenden  Sprachgefühls  geht  dahin, 
den  sprachlichen  Ablauf  von  der  Zeit  in  den  Raum  zu  versetzen, 
hoffend,  daß  in  der  räumlichen  Sphäre  jene  Bildhaftigkeit,  die  das  Ich 

')  Wohl  gemerkt  wird  Sinnlichkeit  hier  in  anderem  Sinne  gebraucht,  als  sie 
von  Th.  A.  Meyer  bekämpft  wird,  der  darunter  das  empirisch  Vorstellungsmäßige 
versteht.  Meyers  Buch  (Das  Stilgesetz  der  Poesie,  Leipzig  IQOl)  macht  den  Ge- 
danken, daß  der  Charakter  des  poetischen  Wortes  überanschaulich  und  die  Sprache 
kein  Vehikel  für  Sinnenbilder  sei,  zur  Grundidee  scharfsinniger  und  radikaler  Aus- 
führungen. 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  365 

noch  nicht  oder  nicht  mehr  inne  hat,  sich  einstelle,  weil  der  Kategorie 
»Raum«  das  dreidimensionale,  das  malerisch  plastische  Bild  ja  investiert 
ist.  Die  geistige  Gebundenheit  des  Sprachleibes  ajjer  wird  dadurch 
gelockert,  und  die  impressionistische  Erzeugung  bewegt  sich  außerhalb 
des  Wortes.  Plastik  der  Sprache  beruht  in  der  restlosen  Erfassung 
des  Wortes  als  Einzelwesen,  in  der  völligen  Erschöpfung  der  inneren 
Wortbedeutung  selbst,  kurzum  im  Gefühl  für  die  Sprache  als  Zweck 
und  Stoff,  nicht  als  Mittel,  für  die  Absolutheit  des  Wortes.  Dilthey^) 
hat  eine  Erklärung  gegeben,  die  natürlich  von  seinem  Beispiele,  Höl- 
derlin, dem  äußersten  Sprachplastiker,  aufs  allgemeine  ausdehnbar  ist 
und  der  nicht  viel  hinzugefügt  werden  kann:  »So  ist  die  erste  Auf- 
gabe innerhalb  der  Zergliederung  der  Form  eines  Dichters,  die  Mittel 
zu  erfassen,  durch  die  er  Worte  wirksam  zu  machen  weiß.  Hölderlins 
lyrische  Kunst  wirkt  zunächst  dadurch,  daß  sie  durch  eine  eigene 
Sparsamkeit  mit  dem  Wort  jedem  einzelnen  Wort  einen  stärkeren  Eigen- 
wert gibt.  Wenn  wir  in  der  Regel  beim  Lesen  forteilend  das  einzelne 
Wort  nur  als  Zeichen  für  den  Zusammenhang  des  ganzen  Wort- 
gefüges  benützen,  so  läßt  uns  hier  die  Sparsamkeit  des  Ausdruckes 
bei  den  Worten  verweilen.  Das  Gefühl  tritt  hinter  seiner  schlichten 
Bezeichnung  gleichsam  nackt  heraus.«  Das  ist  es,  »das  Wort  wirksam 
machen,«  es  als  Eigenbild  bestehen  lassen,  seine  ihm  innewohnende 
Bildkraft  in  sich  selbst  auswirken  lassen,  nicht  das  Wort  wirkungslos 
machen  und  dafür  etwas  anderes,  die  Impression,  zur  Wirkung  bringen, 
für  die  die  Worte  nur  Mittel  sind!  Und  Rudolf  Borchardt  sagt  in 
seinem  grundlegenden  »Gespräch  über  Formen«  '^):  »Wem  zehn  Worte, 
die  als  das  was  sie  sind,  so  und  nicht  anders  im  Verse  beieinander 
stehen,  wem  diese  Unwiderruflichkeit  der  Formen  nicht  sinnliches, 
geliebtes  Dasein  schlechtweg  sind,  der  glaube  nicht  zu  leben.'<  Und 
er  ruft  weiter  warnend  aus:  »Liebe  ich  denn  an  einem  Vers  etwas, 
was  außerhalb  seines  Gefüges  noch  da  wäre!«  Und  dies  ist  umso- 
mehr  richtig,  da  ja  die  Sprache  als  Material,  ebenso  die  Syntax  als 
Technik,  für  alle  menschliche  Bewegung  den  angemessensten  Gestal- 
tungsraum bietet,  weil  sie  ja  mit  dem  menschlichen  Geist  identisch 
sind,  weil  sie  dem  menschlichen  innewohnt,  nicht  erst,  wie  die  anderen 
Materiale,  wie  Raum  und  Maß,  durch  Vorstellung  erzeugt  werden 
muß,  um  in  der  Bewegung  des  Geistes  wirksam  zu  werden. 


')  Dilthey,  »Das  Erlebnis  und  die  Dichtung«. 

■)  Rudolf  Borchardt,  »Piatons  Lysis  deutsch  und  das  Gespräch  über  Formen« 
(Leipzig  1905). 


366  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Der  artende  Rhythmus. 

Um  nun  in  die  Arten  des  lyrischen  Gebildes  selbst  einzudringen, 
erinnern  wir  uns  zunächst  an  das,  was  vom  Rhythmus  als  formender 
Funktion  gesagt  wurde.  Das  Gedicht,  so  hieß  es,  ist  ein  Zustand, 
der  durch  das  Walten  des  Rhythmus  geformt  und  geartet  wird.  Die 
Art  und  der  Grad  der  Formung,  das,  was  den  besonderen  Cha- 
rakter des  Gedichtes  in  jedem  einzelnen  Falle  ausmacht,  wird  durch 
den  Rhythmus  hervorgerufen.  Die  Worte,  d.  h.  die  dichterischen 
Elemente,  werden  durch  den  Rhythmus  gefügt.  Nächstes  Problem 
ist  das  VerhäHnis  von  Rhythmus  zu  Wortfügung.  Wir  stellen  fest, 
daß  der  Rhythmus  erstens  nicht  jedes  einzelne  Wort  durchdringt,  daß 
also  die  Reihe  oder  gar  die  Strophe  über  den  Rhythmus  Gewalt  be- 
kommt, zweitens  ein  völliges  Gleichgewicht  von  Rhythmus  und  Wort- 
fügung vorliegt,  daß  also  Rhythmus  und  Wort  oder,  genauer,  Wort- 
gruppe (was  ja  dem  Charakter  der  deutschen  Sprache  als  einer  Sprache 
voll  Partikel,  Pronomina  usw.,  d.  h.  von  Worten  verschiedener  Schwere, 
gemäß  ist)  sich  gegenseitig  gleichmäßig  durchdringen,  daß  drittens 
der  Rhythmus  stärker  ist  als  die  Wortfügung,  daß  er  diese  durch- 
bricht und  so  die  Worte  auseinander  reißt  und  isoliert.  Dies  ist  zu- 
nächst der  Tatbestand,  der  sich  rein  äußerlich  darstellt,  wenn  man 
fragt,  was  eigentlich  Heines  Lied  und  Platens  Gedicht  und  Hölderlins 
Hymne  zueinander  in  Gegensatz  setzt.  Daß  diesen  Gegensätzen  auch 
entsprechend  unterschiedene  geistige  Inhalte  parallel  laufen,  zeigt,  sich 
bei  tieferem  Eindringen.  Wobei  uns  zu  Hilfe  kommt,  daß  Norbert 
von  Hellingrath  drei  fundamentale  stilistische  Begriffe  des  Dionysius 
von  Hallicarnaß  (>^De  compositione  verborumi^)  in  einzigartiger  Weise 
wieder  lebendig  gemacht  hat  ^).  Er  ergreift  die  drei  lyrischen  Stufen, 
die  eben  von  der  rhythmischen  Seite  her  aufgezeigt  wurden,  von  der 
Wortfügung  her  und  nennt  sie  glatte  Fügung,  wohltemperierte  Fügung, 
harte  Fügung.  Nehmen  wir  diese  drei  Begriffe,  deren  Sinn  wohl 
schon  im  wesentlichen  geahnt  werden  kann,  vorläufig  hin,  erkennen 
wir  endlich  diese  drei  Stufen  unter  dem  Namen  von  »Lied«,  »Gedicht« 
und  »Hymne«,  so  haben  wir  einen  dreifachen  Ausgangspunkt  für  die 
endgültige  Klärung  und  Formulierung  unseres  Systems. 

Das  Lied. 

Das  Lied  zeigt,  wie  gesagt,  zunächst  seine  Eigentümlichkeit  im 
Verhalten  des  Rhythmus.   Betrachten  wir  auf  der  einen  Seite  die  Worte 


')  Norbert  von  Hellingrath,  Hölderlins  Pindarübertragungen.    Prolegomena  zu 
einer  Erstausgabe,  Jena  1911. 


I 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  367 

und  auf  der  anderen  Seite  den  Rhythmus,  so  finden  wir,  daß  der 
Rhythmus  das  einzelne  Wort  nicht  durchdringt,  nicht  im  kräftigen  Auf 
und  Ab  in  jedes  einzelne  Wort  aus-  und  einströmt,  sondern  gleichsam 
dünner  und  bedeutungsloser  als  dieses  unter  der  Fügung  hinfließt. 
Der  Rhythmus  weist  nicht  auf  das  Wort  hin,  um  ihm  Zwang  und 
Notwendigkeit  zu  verleihen,  sondern  lenkt  im  Gegenteil  von  ihm  ab. 
Die  innere  Bewegung  reicht  nicht  aus,  um  dem  Wort  die  unerbittliche 
Notwendigkeit  seines  Soseins  an  Ort  und  Stelle  zu  verleihen.  Sie  ist 
nicht  stark  genug,  um  jedes  einzelne  Element  zum  Tönen  zu  bringen: 
ganze  Reihen  haben  nur  einen  Ton.  Die  Bewegung  wird  außerhalb 
der  Worte  wirksam,  nicht  jedesmal  im  einzelnen  dichterischen  Ele- 
ment, sondern  meist  erst  in  der  ganzen  Reimreihe,  ja  sogar  oft  erst 
innerhalb  mehrerer  Reihen  ').  Der  geringere  Grad  innerer  Geformtheit, 
der  notwendig  damit  verknüpft  ist,  liegt  zweifellos  in  der  seelischen 
Beschaffenheit  des  Lyrikers.  Sein  Ich  ist  nicht  in  dem  Maße  formhaft, 
daß  seine  Bewegung  das  Material  restlos  zu  durchdringen  imstande 
wäre.  So  erklärt  sich  auch,  daß  gerade  die  romantische  Poesie  fast 
durchweg  diese  Eigentümlichkeit  für  sich  in  Anspruch  nimmt.  Der 
Romantiker,  dem  »die  Bewegung  der  Sprache  um  der  Bewegung,  nicht 
um  der  Gestaltung  willen«  (Gundolf)  da  ist,  macht  auch  hier  seine 
auflösende  Tendenz  geltend.  Er  sucht  immer  etwas,  was  über  die 
Kompetenz  des  Wortes  hinausgeht,  er  bedient  sich  des  Wortes  als 
Mittel,  um  durch  dies  etwas  zu  erzeugen.  Und  so  ist  der  Begriff 
»Stimmung«  so  recht  sein  ureigenes  Produkt.  Und  wenn  Nadler*) 
meint,  daß  »die  begabtesten  Lyriker:  Eichendorff,  Brentano,  Heine, 
Storm,  Mörike  den  Vers  vom  Rhythmus  aus  bauen,  d.  h.  durchaus 
volkstümlich  und  nicht  nach  hergebrachten  Schemen«,  so  kann  dem 
nur  entgegengehalten  werden,  daß  eben  dabei  das  eigentliche  Element, 
das  Wort,  nicht  zu  seinem  Rechte  gekommen  ist  und  seine  Absolut- 
heit nicht  durch  das  Vorherrschen  des  Rhythmischen,  sondern  durch 
seine  Isolierung  oberhalb  der  Worte  geschwächt  wurde.  Ein  Drittes 
wurde  eben  von  diesen  Lyrikern  zur  Geltung  gebracht,  was  dem  Wort 
nicht  eingeboren  ist:  Die  Melodie. 

')  Wir  finden  dies  bei  Rainer  Maria  Rillte,  der  die  Fähigkeit,  ganze  Reihen 
auf  einen  Ton  zu  stimmen  durch  die  fast  unhörbare  Zartheit  seines  Rhythmus  bis 
aufs  äußerste  ausgebildet  hat.  Ich  setze  ein  Beispiel  her,  das  charakteristischer- 
weise nicht  in  Reihen  abgesetzt  sondern  wie  Prosa  durchgedruckt  ist:  ».  .  .  Fluß- 
abwärts treiben  die  Blumen,  welche  die  Kinder  gerissen  haben  im  Spiel;  aus  den 
offenen  Fingern  fiel  eine  und  eine,  bis  daß  der  Strauß  nicht  mehr  zu  erkennen  war. 
Bis  der  Rest,  den  sie  nach  Haus  gebracht,  gerade  gut  zum  verbrennen  war.  Dann 
konnte  man  ja  die  ganze  Nacht,  wenn  einen  alle  schlafen  meinen,  um  die  gebrochenen 
Blumen  weinen.«     (Das  Buch  der  Bilder,  Requiem,  S.  181.) 

')  Josef  Nadler,  Eichendorffs  Lyrik,  Prag  1908,  S.  115. 


368  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Die  Worte,  nicht  mehr  individualisiert  durch  den  Rhythmus,  werden 
aus  ihrem  Einzelleben  herausgehoben,  sie  fangen  an,  um  des  Zu- 
sammenhangs willen  zu  existieren.  Einfachster  Satzbau,  der  sich  dem 
Verlauf  der  Umgangssprache  dicht  nähert,  macht  sich  geltend,  ja,  ganze 
Wortzusammenstellungen  erstarren  und  treten  immer  wieder  auf, 
kurzum,  das  absolute  Wort  ist  gelockert;  worauf  es  jetzt  ankommt, 
ist,  die  Worte  zusammenfließen  zu  lassen  zu  einer  Melodie,  aus  dem 
Gesamten  der  fast  willkürlichen  Worte  (willkürlich  vom  Leser  aus, 
nicht  vom  Dichter  aus)  eine  hinziehende  Einheit  emporsteigen  zu 
lassen,  nicht  dem  einzelnen  Wort  verpflichtet,  sondern  über  der  Reihe 
schwebend,  schwimmend  und  ungebunden.  Die  scheinbare  Wesen- 
losigkeit,  ja  Banalität  der  Worte  bei  Heine,  die  ja  in  Wirklichkeit  wohl 
erwogen  und  mühevoll  erarbeitet  war '),  hat  ja  gerade  darin  ihren 
Sinn,  daß  ihrer  Gesamtheit  doch  ein  reiner  Ton  entschwebt: 

Du  bist  wie  eine  Blume, 

So  hold  so  schön  und  rein  .  . . 

Freilich  zeigt  gerade  dieses  Gedicht  eine  gewisse  innere  Bildlichkeit 
dadurch,  daß  dem  glatten  Fluß  schon  eine  geistige  Vorstellung,  ein 
bildliches  Urteil,  nicht  lediglich  ein  Duft,  eine  Farbe,  eine  Impression 
entschwebt.     Deutlicher  Eichendorffs  Strophe: 

Kaiserkron  und  Päonien  rot, 

Die  müssen  verzaubert  sein. 

Denn  Vater  und  Mutter  sind  lange  tot. 

Was  blühen  sie  hier  so  allein?  (Der  alte  Oarten.) 

Hier  zeigen  sich  deutlich  alle  Symptome  beieinander:  Fügung  von 
äußerster  Glätte,  d.  h.  Bedeutungslosigkeit  des  einzelnen  Wortes, 
flüssige  schlichte,  syntaktische  Verknüpfung,  größte  Unauffälligkeit  in 
der  Wortwahl,  weiter  von  Reimzeile  zu  Reimzeile  immer  nur  ein  Ton, 
denn  zum  einzelnen  Wort  dringt  der  Rhythmus  gar  nicht  durch,  und 
dennoch:  Welch  eine  hinreißend  traurige  und  süße  Strophe!  Das 
Geheimnis  steckt  eben  nicht  in  den  Worten,  denn  diese  sind  zu- 
sammengezogen zur  glatthinfließenden  Zeile,  aber  darüber  schwebt 
ungreifbar  und  unbeschreiblich  die  Melodie.  Ein  anderes  Beispiel: 
Hörst  du  die  Gründe  rufen  Die  Nachtigallen  schlagen, 

In  Träumen  halb  erwacht?  Der  Oarten  rauschet  sacht, 

O  von  des  Schlosses  Stufen  Es  will  dir  Wunder  sagen 

Steigt  nieder  in  die  Nacht!  —  Die  wunderbare  Nacht. 

(Die  Nacht  4.) 

Hier  der  gleiche  Vorgang.    Die  Verszeile  tönt  einheitlich  im  flüchtigen 


')  Wie  gründlich  und  innerlich  er  die  stilistische  Arbeit  auffaßte,  zeigen  seine 
vielen  feinen  Bemerkungen  über  Wort  und  Metrum  z.  B.  in  einem  Brief  an  Immer- 
mann  über  dessen  Epos  »Tulifäntchen«.    (23.  April  1830.) 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  369 

Ablauf,  schlichte  Hauptsätze  ziehen  unauffällig  vorbei,  ja,  die  Vorstel- 
lung kann  eine  gewisse  Konvention  nicht  verleugnen.  Die  »Gründe 
rufen«,  »die  Nachtigallen  schlagen«,  der  »Garten  rauscht«  in  der 
»wunderbaren  Nacht«  wie  so  oft  in  der  Romantik,  nichts  also  ist  da, 
was  uns  irgendwie  zwingen  könnte,  am  Wort  zu  haften.  Wenn  trotz- 
dem dies  wunderbar  duftige  Gebilde  entsteht,  dessen  Schönheit  sich 
niemand  entziehen  kann,  so  beweist  dies,  daß  eben  etwas  anderes 
erreicht  werden  soll  als  dem  Wort  selbst  innewohnendes:  Melodie 
und  damit  also  Stimmung.  Daß  dieser  Begriff  geradezu  als  ein  be- 
wußtes Postulat  der  Romantiker  gelten  kann,  dafür  bietet  ja  schon  ein 
flüchtiges  Durchblättern  der  romantischen  Schriften  zahlreiche  Belege, 
nicht  nur  den  geradezu  komischen  Satz  des  Grafen  Loeben,  der  so 
recht  die  Quintessenz  einer  nachgeäfften  und  auf  die  Spitze  getriebenen 
Romantik  enthält '):  »Man  hat  mir  immer  gesagt,  daß  die  Sprache  das 
Element  des  Dichters  sei,  und  ich  bin  mir  doch  oft  recht  poetisch 
vorgekommen,  wenn  ich  gerade  sprachlos  war.«  In  diesem  Sinne  ist 
auch  Nadlers  Satz*)  zu  deuten:  »Und  schließlich  kennt  gerade  die 
Lyrik  Kunstmittel,  die  weder  sprachlicher  noch  metrischer  Natur  sind, 
Kunstmittel,  die  gerade  im  Verschweigen  bestehen.« 

Dies  Kunstmittel  der  Stimmungserzeugung  eignet  natürlich  nicht 
den  Romantikern  in  ihrer  Eigenschaft  als  Literaturgruppen  allein. 
Wenn  es  hier  spezifisch  romantisch  genannt  wird,  so  ist  das  eben 
nicht  zeitlich,  sondern  geistig  zu  fassen,  als  Stichwort  für  eine  ganz 
bestimmte  seelische  oder  weltanschauliche  Disposition.  Dem  plasti- 
schen Menschen  ist  sein  Dichten  Befreiung  durch  Bannung,  Bild- 
machung  in  der  Sprache  (nicht  im  optischen  Bilde),  dem  romantischen 
Menschen  ist  sein  Dichten  Befreiung  durch  Auflösung.  Der  plasti- 
sche Geist  löst  sein  Erlebnis  von  sich  los,  er  gibt  ihm  Form  durch 
den  Rhythmus  und  dadurch  absolutes  Dasein,  der  romantische  Mensch 
löst  sein  Erlebnis  auf,  er  gibt  ihm  Melodie,  Stimmung,  er  bringt  es 
von  sich  weg  in  Bewegung.  Während  jener  durch  restlose  Erfassung 
des  Wortes  und  durch  die  gleichmäßige  Durchdringungsarbeit  des 
Rhythmus  seine  ordnende  Tendenz  darlebt,  mischt  der  andere  die 
Worte  zur  Stimmung  zusammen,  entsprechend  dem  romantischen  Be- 
dürfnis, Abgrenzungen  aufzulösen  und  Beziehungen  herzustellen,  das 
z.  B.  bei  Novalis  im  Taumel  der  Vermischung  aller  geistigen  Elemente 
zur  Poesie  wahre  Orgien  feiert.  Hier  drängt  sich  zum  Vergleich  die 
Musik  ohne  weiteres  auf. 

Auch    der    musikalische    Rhythmus    arbeitet    dem    dichterischen 


')  Guido,  Mannheim  1809,  S.  196. 
'-■)  Eichendorffs  Lyrik  S.  14. 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  24 


370  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Rhythmus  von  Grund  aus  dadurch  entgegen,  daß  er  dessen  speziali- 
sierende Tätigkeit  auflöst,  daß  er,  aligemein  gesagt,  dem  Oestaltungs- 
drang  seine  zersprengende  auseinanderflutende  Tendenz  entgegensetzt. 
Haben  wir  auf  der  einen  Seite  den  innewohnenden  Verleihungsdrang, 
die  seelische  Schwingung  aus  den  Verstreutheiten  in  Natur  und  Er- 
lebnisse im  menschlichen  Material  der  Sprache  zusammenzuballen,  so 
finden  wir  auf  der  anderen  Seite  jene  unheimliche  Kunst,  die  nichts 
Menschliches  an  sich  hat,  als  daß  sie  ihre  Gesetze  dem  logisch  ab- 
laufenden Intellekt  entnimmt,  also  nach  reinen  Relationsgesetzen,  nicht 
lebendigen,  organischen  Gesetzen  der  bildhaften  Geburt  und  des  wesen- 
haften Wachsens  verfährt,  die  weiter  alles  Geformte  in  ihre  Jenseitig- 
keit aufsaugt  und  ohne  Bindung  aus  dem  Universalen  redet.  Der 
wahrhaft  musikalische  Geist  und  der  plastische  Geist  werden  sich  nie 
verständigen  können,  denn  der  eine  sucht  auf,  was  der  andere  über- 
windet, der  eine  strömt  in  das  ein,  was  der  andere  in  sich  zusammen- 
geballt hat:  das  Chaos.  Erst  der  romantische  Mensch  fühlt  hier  Ver- 
wandtes, liebt  er  doch  auch  um  ihrer  selbst  willen  die  Sehnsucht,  die 
ins  Ungebundene  geht.  Kein  Wunder  also,  daß  gerade  und  fast  aus- 
schließlich diejenigen  lyrischen  Gebilde  komponiert  werden,  die  wir 
als  Lieder,  als  Gebilde  glatter  Fügung  bezeichnet  haben.  Denn  in 
diesen  Gebilden  ist  ja  schon  ein  Schritt  zu  dem  getan,  was  die  Musik 
restlos  besorgen  wird,  die  Entstofflichung  des  Wortes,  damit  die  Ver- 
wandlung des  im  Sprachleib  investierten  Menschlichen  ins  Universale. 
Und  zwar  ist  dies  geschehen  durch  die  Melodie  oder  durch  die  Stim- 
mungserzeugung, oder  wie  wir  es  immerhin  nennen  wollen,  kurzum, 
durch  die  unsinnliche  Art,  Worte  zum  Zweck  der  Erzeugung  eines 
dritten,  inkommensurablen  Faktors  lediglich  zu  benutzen.  Vergegen- 
wärtigen wir  uns  das  von  Schumann  vertonte  Gedicht  von  Eichendorff : 

Aus  der  Heimat  hinter  den  Blitzen  rot. 
Da  kommen  die  Wollten  her. 
Aber  Vater  und  Mutter  sind  lange  tot. 
Es  kennt  mich  dort  keiner  mehr. 

Zerlegen  wir  das  Gedicht  dialektisch  in  Erlebnis  und  Formung,  so 
tritt  ein  recht  komplizierter  Gefühlsverlauf  heraus,  der  begrifflich  nicht 
leicht  zu  formulieren  wäre.  Ich  meine:  Die  seelische  Situation  ist 
äußerst  spezialisiert,  einmalig  und  persönlich.  In  der  Formung  nun 
erscheint  dieser  Verlauf  schon  wesentlich  einfacher,  denn  durch  die 
ersten  zwei  Verse  wird  ein  Ton  angeschlagen,  gewissermaßen  der 
stimmungsmäßige  Grundakkord  für  die  Situation.  Wir  haben  die 
Grundfarbe  der  Melodie.  Der  Übergang  zur  nächsten  Melodieneinheit 
verzichtet  von  vornherein  auf  jede  begrifflich  plastische  Verknüpfung, 
der  verbindende  Ton  wird  durch  das  Wort  »aber«  nur  flüchtig  ange- 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  371 

schlagen,  die  Worte  »Vater  und  Mutter«  treten  begrifflich  ebenfalls 
nicht  ins  Bewußtsein:  Die  süße  und  schmerzliche  Melodie  eih  auf  das 
Wort  »tot«  hin,  über  die  anderen  hinweg,  um  dort  zu  schwingen, 
auch  ist  der  dargestellte  Begriff  durch  die  viel  gebrauchte  stereotype 
Zusammenstellung  »Vater  und  Mutter«  von  diesen  Worten  selbst  un- 
auffällig abgeleitet.  In  der  letzten  Reihe  endlich  derselbe  Vorgang. 
Wesentlich  ist  also,  daß  hier  nicht  ein  Aufbau,  sondern  ein  Ablauf 
vor  sich  geht,  >Bewegung  der  Sprache  um  der  Bewegung,  nicht  um 
der  Gestaltung  willen«  (Oundoif).  Aus  dem,  dialektisch  gesehen,  höchst 
verwickelten,  persönlichen  Stimmungsvorgang,  daß  die  Wolken  an  die 
Heimat  erinnern,  daß  diese  Erinnerung  aber  nur  um  so  größere  Trauer 
auslöst,  da  Vater  und  Mutter  schon  lange  tot  sind  und  ich  hier  allein 
in  der  Welt  bin,  wird  Verlassenheit  schlechthin.  Die  Worte  haben 
zusammengewirkt,  um  diese  weitgezogene  allgemeine  Stimmung  als 
etwas,  was  der  Dichter  mit  den  Worten  selbst  nicht  geben  will,  um 
diese  Melodie  zu  erzeugen.  Das  wäre  also  die  erste  Auflösung  des 
»primär  formhaften«  Eriebnisses  durch  die  Melodie.  Nietzsche  sagt 
in  der  Geburt  der  Tragödie  *)  »das  Wort,  das  Bild,  der  Begriff  sucht 
einen  der  Musik  analogen  Ausdruck  und  erieidet  jetzt  die  Gewalt  der 
Musik  an  sich«.  Er  hat  damit  den  soeben  beschriebenen  Auflösungs- 
vorgang in  seiner  Art  gekennzeichnet.  Wieviel  mehr  aber  erleidet  das 
Wort,  das  Bild,  der  Begriff  die  Gewalt  der  Musik  an  sich  durch  die 
Komposition!  Auf  die  erste  Auflösung  durch  das  dichterische  Melos 
erfolgt  die  zweite,  endgültige  durch  das  musikalische  Melos.  Im  vor- 
liegenden Lied  hatten  wir  die  Trauer  der  Verlassenheit  als  resultierende 
Grundstimmung  festgestellt,  also  immerhin  noch  ein  Gefühl,  das  durch 
den  Grund  seiner  Entstehung  determiniert  ist  und  noch  gewisse  Merk- 
male der  Persönlichkeit  an  sich  trägt.  Schumanns  Komposition  löst 
auch  dieses  noch  auf.  Zwar  spüren  wir  noch  in  der  Begleitung  der 
Melodie  der  ersten  Verse  den  Versuch,  das  Bildliche  der  Worte  zu 
unterstreichen,  was  in  diesem  Fall  insofern  verständlich  ist,  als  dem 
Bilde  bei  äußerstem  Nachspüren  noch  eine  Spur  akustisch  erfaß- 
barer Merkmale  (Blitz,  Wolken)  anhaftet.  Aber  selbst  dadurch  wird 
das  Bild  aus  seiner  Beziehung  von  Blitz  und  Wolke  zu  dem  seelischen 
Fall  herausgenommen,  außermenschlich  gemacht  und  generalisiert.  Bei 
den  übrigen  Reihen  aber  hört  jede  Möglichkeit  auf,  dem  Bilde  parallel 
zu  laufen,  und  Schumann  kann  eben  nur  das  musikalische  Korrelativ 
geben.  Das  im  Wort  geformte,  spezielle,  einmalige  Gefühl  wird  nun 
vollends  aufgelöst  und  was  übrig  bleibt,  ist  eben  Trauer  schlechthin, 
frei  flutend,  ohne  Bindung,  ohne  Beziehung  aufs  Menschliche.    Der 


')  Gesamtausgabe,  Leipzig  1909,'  Bd.  I,  S.  47. 


372  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Mensch  wird  in  die  Universalia  ante  rem  hinausgestoßen.  Die  Trauer 
an  sich  bleibt  übrig.  Die  letzte,  radikale  Auflösung  des  Gebildes  ist 
erreicht.    Die  Verleibungsarbeit  des  Dichters  ist  aufgehoben. 

Es  liegt  nahe,  hier  nach  dem  Volkslied  zu  fragen,  das  ja  durch- 
weg in  die  Kategorie  des  Liedes  und  der  glatten  Fügung  gehört.  Von 
ihm  sagt  Nietzsche i):  »Die  Melodie  ist  also  das  erste  und  allgemeine, 
das  deshalb  auch  mehrere  Objektivafionen  in  mehreren  Texten  an  sich 
erleiden  kann.  Sie  ist  auch  das  bei  weitem  wichtigere  und  notwen- 
digere in  der  naiven  Schätzung  des  Volkes.  Die  Melodie  gebiert  die 
Dichtung  aus  sich  und  zwar  immer  wieder  von  neuem.«  Gerade  aus 
diesem  Grunde  glaubte  ich  mir  ein  näheres  Eingehen  darauf  sparen 
zu  dürfen,  weil  hier  ja  einzig  der  Formungsprozeß  verhandelt  werden 
soll.  Das  Volkslied  aber  ist  anderem  Drang  entstanden  als  die  Lyrik. 
Nicht  das  Ich  ist  bei  ihm  primär,  sondern  die  Melodie.  Für  die  inne- 
wohnende Melodie  werden  vom  jeweils  hinzutretenden  Ich  Worte  ge- 
sucht, um  diese  Melodie  zu  tragen.  Daher  sind  die  Worte  nicht 
einmal  Mittel  zur  Verbildlichung  wie  beim  Lied,  sondern  lediglich 
Mittel  zur  Vermenschlichung:  zunächst  um  es  dem  Menschen  sangbar 
zu  machen,  dann,  um  der  Melodie  jeweilige  Beziehung  zur  seelischen 
Situation  des  Singenden  zu  geben.  Dementsprechend  ist  auch  seine 
Vorstellungswelt:  stereotype  Bilder  von  geringer  Mannigfaltigkeit  treten 
immer  wieder  auf,  und  auch  diese  nie  ins  bildhafte  Wort  gebannt, 
sondern  im  besten  Falle  durch  ein  Adjektivum  belebt,  da  ja  in  der 
Natur  nicht  der  Bildwert,  sondern  lediglich  der  Gefühlswert  gesucht 
wird  (Frau  Nachtigall,  lieben  Sternelein  usw.). 

Im  Liede  dagegen  ist  die  Melodie  etwas  Sekundäres,  das  erst 
durch  die  Worte  erzeugt  wird  und  sich  mit  dem  Begriff  »Stimmung« 
deckt.  Man  könnte  anstatt  Stimmung  auch  das  »Poetische«  sagen, 
im  ganz  volkstümlichen  Sinne.  Was  gemeinhin  unter  poetisch  ver- 
standen wird,  ist  gerade  dies  inkomensurable,  was  eben  vom  Wort 
nicht  umgrenzt  werden  kann.  Damit  verbunden  fällt  die  stereotype 
Vorstellungswelt  des  Liedes  ebenfalls  unter  den  Begriff  des  Poetischen, 
das  ganze  Ahnungsvolle  der  Nacht,  Schauer  der  Dämmerung,  Mond- 
schein, schwermütig  rauschendes  Lied  der  Wipfel,  Liebesseufzer  der 
Sehnsucht,  kurz  alles  Duftende,  Melodische,  Schwebende  und  Flüchtig- 
Impressionistische.  Es  ist  nicht  mehr  als  folgerichtig,  daß  die  Roman- 
tiker diesen  Begriff  in  den  Mittelpunkt  ihrer  Kunstanschauung  stellten, 
vor  allem  Novalis,  dem  es  Religion  war,  in  die  er  sämtliche  Geistes- 
und Lebensäußerungen  aufzulösen  trachtete.  Kein  Wunder,  daß  ihm 
der  Wilhelm  Meister,  als  ein  »Candide  gegen  die  Poesie  gerichtet« 


')  Geburt  der  Tragödie  S.  46. 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  373 

vorkam  ').  Auch  das  naive  Gefühl  wird  ohne  weiteres  Brentanos  Lied 
»Wie  so  leis  die  Blätter  wehn«  oder  Heines  »Lotosblume«,  ja  selbst 
noch  des  jungen  Goethe  »O  gib  vom  weichen  Pfühle*)«  als  poetisch 
anzusprechen,  während  es  kaum  darauf  kommen  dürfte,  die  Orfischen 
Urworte  oder  die  Marienbader  Elegie  so  zu  bezeichnen.  Als  poetisch 
kann  eben  niemals  das  plastische  Wort  in  ausgeglichener  Fügung 
gelten,  sondern  immer  nur  die  von  Stimmung  oder  Melodie  gelockerte 
Reihe.  Es  ist  daher  nicht  paradox,  zu  sagen,  daß,  je  mehr  sich  ein 
Gedicht  sinnlicher  innerer  Bildlichkeit  nähere,  es  um  so  unpoetischer 
werde. 

Eins  der  bedeutsamsten  Merkmale  des  Poetischen  ist  die  Impres- 
sion, die,  wie  schon  früher  gesagt  wurde,  auch  dann  gegeben  werden 
kann,  oder  gerade  dann,  wenn  die  Sinnlichkeit  aus  dem  Wort  zu 
schwinden  beginnt.  Kann  auch  das  Wort  als  solches  mit  seiner 
inneren  Bildkraft  nicht  wirksam  werden,  so  können  doch  die  glatt 
und  flüchtig  gefügten  Worte  als  weiteres  Symptom  des  Ablaufs  ein 
augenhaft  erfaßbares,  bildmäßiges  Korrelat  zum  als  Melodie  hinfließen- 
den Erlebnis  geben.  Das  Bild  tritt  hier  nicht  auf  als  etwas  rund  be- 
grenztes, in  das  das  Erlebnis  gebannt  wäre,  sondern  gleichsam  als 
Folie,  als  Illustration  zum  Erlebnis.  Es  ist  eine  Landschaft,  durch  die 
das  Erlebnis  wie  ein  Buch  hindurchfließt.  Trotz  der  Erzeugung  des 
landschaftlichen  Bildes  ist  der  Gefühlsverlauf  noch  deutlich  aufzeigbar 
und  spürbar.  Das  Bild  spielt  eine  der  Melodie  parallele  Rolle.  Die 
Schilderung  selbst  ist,  entsprechend  der  untergeordneten  Tätigkeit  des 
Wortes,  wenig  genau  und  eindringlich.  Wenn  trotzdem  die  Land- 
schaft vollständig  ist  mit  ihrem  Schauer  und  Duft  und  Farbigem,  so 
zeigt  das  eben,  wessen  die  glatte  Fügung  durch  das  Zusammengießen 
der  Worte  —  fast  möchte  man  sagen:  trotz  der  Worte  —  fähig  ist. 


')  Den  Begriff  des  Poetischen  hat  mit  all  seinen  Konsequenzen  und  Auswir- 
kungen Gundolf  durchverfolgt,  und  zwar  in  »Shakespeare  und  der  deutsche  Geist«, 
Berlin  1011,  S.  328  ff.,  gelegentlich  seiner  Darstellung  von  Shakespeares  Verhältnis 
zur  Romantik. 

»)  Der  »Nachtgesang«  ist  eins  der  wenigen  reinen  Lieder  Goethes.  Seinem 
plastischen  Geist  konnte  die  glatte  Fügung  nur  selten  gemäß  sein.  Als  besonderes 
Kunslmittel  tritt  hier  die  verschlungene,  häufige  Wiederkehr  derselben  Reihe  auf 
und  das  Ineinandergreifen  der  Strophen  durch  eine  wiederholte  Reimzeile.  Dadurch 
wird  das  Tempo  des  Ablaufs  beträchtlich  verlangsamt,  die  Melodie  wird  getragener 
und  die  Worte  werden,  da  sie  fast  ausschließlich  als  musikalische  Faktoren  auf* 
treten,  noch  unbewußter  auf  Kosten  des  Melos,  das  dadurch  seine  Vielstimmigkeit 
und  Feierlichkeit  erhält  und  so  als  Korrelativ  zur  poetischen  Situation  der  hehren 
Sternennacht  machtvoll  wirksam  wird.  Auch  Brentano  handhabt  dies  dem  Refrain 
ähnliche  Mittel  zauberhaft  in  der  »Spinnerin  Lied«  in  »Einsam  will  ich  untergehn!« 
und  vor  allem  in  »Aus  einem  kranken  Herzen«.  In  letzterem  ist  die  fugenartige 
Wiederkehr  einfacher  Töne  wahrhaft  erschütternd. 


374  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Mörikes  Lied  »Er  ist's«: 

Frühling  läßt  sein  blaues  Band 

Wieder  flattern  durch  die  Lüfte; 

Süße  wohlbekannte  Düfte 

Streifen  ahnungsvoll  das  Land. 

Veilchen  träumen  schon, 

Wollen  balde  kommen. 

Horch,  von  fern  ein  leiser  Harfenton! 

Frühling,  ja  du  bist's! 

Dich  hab  ich  vernommen! 

Das  Lied  bietet  gewiß,  am  Worte  gemessen,  keine  scharf umrissene 
Schilderung,  und  doch  ist  der  Eindruck  der  Frühiingsiandschaft  restlos 
in  uns  erzeugt.    Oder  Eichendorffs:  »Der  Soldat«: 

Und  wenn  es  einst  dunkelt,  Von  den  goldenen  Türmen 

Der  Erd  bin  ich  satt.  Singet  der  Chor, 

Durchs  Abendrot  funkelt  Wir  aber  stürmen 

Eine  prächt'ge  Stadt:  Das  himmlische  Tor. 

Auch  hier  kaum  der  Versuch  einer  eindringlichen  Malung,  im  Gegen- 
teil, die  ganze  für  Eichendorffs  Stil  charakteristische,  stereotype  Vor- 
stellungswelt, und  trotzdem  ein  Bild  von  unheimlicher  Tiefenwirkung: 
es  ist  eben  die  Melodie,  die  in  ihrer  Eigenschaft  als  dichterisches 
(nicht  musikalisches)  Melos  nach  Nietzsches  Wort  »fortwährend  ge- 
bärend Bilderfunken  um  sich  aussprüht«.  Endlich  die  »Mondnacht«: 
Es  war,  als  hätt'  der  Himmel  Die  Luft  ging  durch  die  Felder, 

Die  Erde  still  geküßt,  Die  Ähren  wogten  sacht, 

Daß  sie  im  Blütenschimmer  Es  rauschten  leis  die  Wälder, 

Von  ihm  nun  träumen  müßt'.  So  sternklar  war  die  Nacht. 

Und  meine  Seele  spannte 
Weit  ihre  Flügel  aus. 
Flog  durch  die  stillen  Lande, 
Als  flöge  sie  nach  Haus. 

Hier  ist  kaum  der  Versuch  gemacht  zu  beschreiben,  selbst  das  Zu- 
ständliche  ist  noch  gelockert  und  in  Aktion  verwandelt:  Die  Luft  ging, 
die  Ähren  wogten,  es  rauschten  die  Wälder.  Schlichteste  Syntax  um 
der  Melodie  willen,  die  angeführten  Symptome  des  Landschaftlichen 
geradezu  abgegriffen  und  banal.  Dennoch  ist  es  nach  Duft  und 
Atmosphäre  und  äußerst  konkreter  Vorstellung  die  geradezu  klassische 
Impression  der  Sommernacht.  Die  Beispiele  ließen  sich  häufen,  nament- 
lich aus  Heine,  aber  auch  aus  Storm  und  Lenau.  Schwieriger  stellt 
sich  das  Verhältnis  von  Wortfügung  und  Impression  bei  der  Droste. 
Sie  hat  manches  geschrieben,  was  zwischen  glatter  und  harter  Fügung 
stark  hin  und  her  schwankt,  z.  B.  »Durchwachte  Nacht«: 

. . .  Betäubend  gleitet  Fliederhauch 
Durch  meines  Fensters  offnen  Spalt, 


i 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG. 


375 


Und  an  der  Scheibe  grauem  Rauch 
Der  Zweige  wimmelnd  Neigen  wallt. 
Matt  bin  ich,  matt  wie  die  Natur!  — 
Elf  schlägt  die  Uhr. 

O  wunderliches  Schlummerwachen,  bist 
Der  zarten  Nerve  Fluch  du  oder  Segen?  — 
's  ist  eine  Nacht  vom  Taue  wach  geküßt, 
Das  Dunkel  fühl  ich  kühl  wie  feinen  Hegen 
An  meine  Wange  gleiten,  das  Gerüst 
Des  Vorhangs  scheint  sich  schaukelnd  zu  bewegen, 
Und  dort  das  Wappen'an  der  Decke  Gips, 
Schwimmt  sachte  mit  dem  Schlängeln  des  Polyps. 

Hier  offenbart  sich  einerseits  das  iiedmäßige  Bestreben,  die  Impression 
mit  allem  Atmosphärischen,  allen  Relativitäten,  allem  augenhaft  Erfaß- 
barem darzubieten,  bei  ihr  noch  unterstützt  durch  die  geradezu  un- 
heimliche Fähigkeit,  sämtliche  Sinnesrezeptionen  durcheinander  zu 
mischen  und  selbst  den  Geruchssinn  zur  Verdeutlichung  einzu- 
setzen. Anderseits  steht  ihr  Rhythmus  auf  einem  ganz  anderen  Ni- 
veau als  in  der  glatten  Fügung.  Er  fließt  ruckartig  in  jedes  Wort 
beziehungsweise  jede  Wortgruppe  ein,  diese  dadurch  aufs  kräftigste 
isolierend,  wie  wir  es  für  das  Gedicht,  überhaupt  die  härteren  Fügungen 
forderten.  Durch  Wahl  ungewöhnlicher,  von  Fall  zu  Fall  mühsam 
geborener  Worte  zwingt  die  Vorstellung  aufs  einzelne  Wort  hin,  syn- 
taktische Verschränkung  lehnt  die  Wortgruppen  abgegrenzt  nebenein- 
ander, so  zum  Verweilen  zwingend.  Kurz,  wir  haben  Gebilde  vor 
uns,  die  fast  der  Kategorisierung  spotten  oder  zum  mindesten  als 
Übergang  von  der  glatten  Fügung  zu  der  härteren  betrachtet  werden 
müssen,  weil  sie  einerseits  das  romantische  Fluidum  von  Atmosphäre 
und  rätselhaft  erzeugter  Landschaft  in  unerhörter  Eindringlichkeit  be- 
sitzen und  weil  anderseits  die  Melodie  fast  durchweg  zum  dichte- 
rischen Rhythmus  entwickelt  ist  und  das  Gefühl  für  die  innere  Bild- 
haftigkeit  des  Wortes  zutage  tritt. 

Überhaupt  muß  immer  wieder  betont  werden,  wie  wenig  mit  diesen 
Kategorisierungen  ein  Dichter  gefaßt  werden  soll.  Hier  handelt  es 
sich  ausschließlich  um  den  dichterischen  Stil,  nicht  um  die  dichterische 
Person.  Fast  alle  Lyriker,  ob  nun  a  priori  bildhaft  oder  romantisch 
gerichtet,  haben  Lieder  glatter  Fügung  geschrieben,  vielleicht  allein 
Klopstock  und  Hölderlin  ausgenommen.  Ebenso  sind  gerade  die 
Romantiker  häufig  zum  gemischten  Stil,  zum  Gedicht  vorgedrungen, 
man  vergleiche  Eichendorffs  Sonettendichtung,  der  man  um  so  we- 
niger mißtrauisch  gegenüber  zu  stehen  braucht,  als  das  Spielerische 
der  Romantiker  diesem  Dichter  fremd  war,  seine  Sonette  also  getrost 
von  vornherein  als  organisch  gewachsene  Formung  angesehen  werden 
können,  was  ja  auch  bei  tieferem  Eindringen  aufs  schönste  bestätigt 


376  FRIEDRICH  SIEBURG. 


wird.  Vergewaltigt  wird  der  Lyriker  einzig  und  aliein  durch  die 
landläufige  Meinung  des  breiten  Haufens,  der  von  Eichendorff  nur 
kennt,  was  Schumann  komponierte,  und  durch  Nichtkenntnis  der 
Sonette  diesen  Lyriker  überhaupt  nicht  umfaßt,  der  von  Heine  nur 
das  sentimental  Erotische  oder  journalistisch  Zersetzende  im  Bewußt- 
sein hat,  aber  sehr  staunen  würde,  wenn  man  als  Heines  Höhepunkte 
die  »Frühlingsfeier«,  »An  die  Jungen«  oder  »An  die  Mouche«  nennen 
würde,  der  die  »Harzreise  im  Winter«  doch  recht  dunkel,  Klopstock 
»für  einen  modernen  Geschmack  ungenießbar«  und  Hölderlins  Hymnen- 
werk symptomatisch  für  beginnenden  Wahnsinn  findet.  Natürlich 
darf  eine  stilistische  Klassifizierung  nicht  das  dichterische  Lebenswerk 
begrenzen  wollen.  Vom  Dichter  aus  gesehen,  ist  gerade  die  Frage 
nach  der  Art  der  Fügung  untrennbar  mit  der  Entwicklung  verknüpft. 
In  Goethes  lyrischem  Schaffen  sind  alle  drei  Arten  von  Fügung  auf- 
zuzeigen. Nach  der  Mitte  hin,  der  wohltemperierten  Fügung,  dem 
Gedicht,  tendieren  fast  alle  von  der  einen  oder  anderen  Seite  her.  Alle 
Liedersänger  schrieben  Gedichte,  alle  Hymnensänger  ebenfalls.  Eichen- 
dorff hat  seine  Sonette,  Brentano  sein  »Wiegenlied  eines  jammernden 
Herzens«,  »Um  die  Harfe  sind  Kränze  geschlungen«,  »Ich  weiß  es 
wohl,  Du  hast  um  mich  geweint«,  »Der  Abend«  usw.  Platen  hat  die 
Sonette  und  anderseits  Oden,  Stücke  härtester  Fügung,  Hölderlin  hat 
seine  bekanntesten  Stücke  in  wohltemperierter  Fügung,  zum  Teil  unter 
Ooetheschem  Einfluß,  »Hyperions  Schicksalslied«,  »Als  ich  ein  Knabe 
war«,  dann  den  »Abend«,  »Rückkehr  in  die  Heimat«,  der  »Morgen«, 
»Menons  Klage«,  überhaupt  die  ganze  Dichtung  um  Diotima,  und  auf 
der  anderen  Seite  die  Hymnen.  In  der  Mitte,  fast  wandellos,  stehen 
allein  Hebbel  und  C.  F.  Meyer:  diese  haben  ziemlich  ausschließlich 
Gedichte  geschrieben,  entsprechend  der  Tatsache,  daß  besonders  bei 
letzterem  das  lyrische  Werk  von  vornherein  als  etwas  Fertiges  feststand. 


Das  Gedicht. 

Die  Beschreibung  der  hierdurch  nahegerückten  zweiten  Stufe  des 
lyrischen  Stils,  der  wohltemperierten  Fügung,  des  Gedichts,  kann  nun- 
mehr wesentlich  zusammengefaßter  bewerkstelligt  werden,  da  durch 
genaues  Eingehen  auf  die  glatte  Fügung,  aufs  Lied,  bereits  die  Gegen- 
sätze hergestellt  sind,  durch  die  diese  zweite  Fügungsart  sich  abgrenzt. 
Im  Gedicht  ist  zwar  die  absolute  Eigenlebigkeit  des  einzelnen  Wortes, 
wie  wir  sie  in  der  Hymne  kennen  lernen,  noch  nicht  erreicht,  das 
Wesentliche  ist  aber,  daß  die  Worte  keinem  weiteren  Zwecke  mehr 
dienen,  um  Bild  oder  Melodie  zu  erzeugen,  sondern  ihre  Wirkung 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  377 

in  ihnen  selbst  beruht.  War  im  Liede  die  ganze  Reimzeile  oder 
waren  gar  mehrere  höhere  Einheit,  so  sind  hier  im  äußersten  Falle  für 
jede  Reihe  einzelne  Worte  zu  verschiedenen  Einheiten  zusammengefaßt. 
Da  dies  im  Charakter  einer  entwickelten,  mit  Bei-  und  Vorwörtern 
arbeitenden  Sprache  durchaus  gegeben  ist,  harmonisiert  die  wohl- 
temperierte Fügung  stets  mit  dem  Geist  des  vorliegenden  Sprach- 
niveaus, mit  dem  sie  unter  allen  Umständen  in  Gleichklang  bleiben 
will,  ohne  die  Absicht,  dessen  äußerste  Möglichkeiten  anzuspannen 
oder  gar  zu  durchbrechen. 

Voller  Gefühl  des  Jünglings,  /  weil'  ich  Tage  / 
Auf  dem  Roß' /und  dem  Stahl', /ich  seh  des  Lenzes/ 
Grüne  Bäume  froh  dann, /und  froh  des  Winters/ 
Dürre  beblütet.  /  (Klopstock,  Der  Frohsinn.) 

Wir  sehen,  die  Bildung  der  höheren  Einheit  ist  gegeben  mit  dem 
syntaktischen  Zusammenhang,  in  diesem  Falle  günstig  unterstützt 
durch  das  Metrum.  Die  einzelnen  Wortgruppen  selbst  lehnen  sich 
nur  lose  aneinander,  aber  innerhalb  der  Wortgruppe  ist  die  Einheit 
gewahrt. 

Mag  jemand  einwenden,  daß  solche  Verhältnisse  schon  an  sich 
durch  das  Metrum  notwendig  seien,  so  kann  dem  nur  entgegen  ge- 
halten werden,  daß  gerade  das  Umgekehrte  richtig  ist.  Aus  dem  Geiste 
dieser  Fügungart  ist  das  Metrum  geboren,  und  die  seelische  Dispo- 
sition, die  den  Dichter  in  mittlerer  Fügung  sich  äußern  ließ,  hat  auch 
die  Wahl  des  Metrums  erzeugt.  Letzteres  ist  also,  wie  durchgängig 
im  gültigen,  ernstzunehmenden  lyrischen  Gebilde  sekundärer  Natur 
und  die  organische  Folgeerscheinung  einer  dichterischen  Schwingungs- 
art. Die  Bewegung  bestimmt  das  Metrum,  nicht  umgekehrt,  was  man 
sich  nicht  tief  genug  einprägen  kann.  Unsere  großen  Lyriker  haben 
ihre  trochäische  Vierfüßlerstrophe,  ihr  alkäisches  Maß,  ihren  Hexa- 
meter nicht  bildungsmäßig  als  etwas  Gelerntes  von  außen  an  ihr  Er- 
lebnis herangetragen,  sondern  die  jeweilige  Besonderheit  ihrer  Lebens- 
stufe machte  dieses  oder  jenes  Metrum  von  innen  her  notwendig. 
Das  romantische  Erlebnis  rief  naturnotwendig  die  mit  romantischen 
Traditionen  beladene  trochäische  Vierfüßlerstrophe  hervor,  wogegen 
das  Erlebnis  der  Antike  selbstverständlich  antike  Metren  mit  sich 
brachte.  Aber  das  Erlebnis  war  das  primäre,  und  die  Bewegung  trug 
mit  ihrem  Bestreben,  sich  auszurollen,  das  Metrum  schon  in  sich.  Daß 
auch  nur  in  einem  solchen  Falle  das  Metrum  das  Merkmal  innerer 
Notwendigkeit  und  organischen  Wachstums  tragen  kann,  beweisen 
alle  Versuche,  die  selbständig  gewordene  Technik  zu  betätigen  und 
iein  bildungsmäßig  aufgegriffenes  Metrum  an  einem  ungemäßen  Er- 
lebnis oder  ohne  Erlebnis  zu  versuchen.    Ich  brauche  nur  den  Meister- 


378  FRIEDRICH  SIEBURG. 


sang  zu  nennen  oder  auf  die  zweideutige  Rolle  des  Alexandriners  in 
der  deutschen  Dichtung  hinzuweisen.  Eine  Diskrepanz  zwischen 
Gehalt  und  Metrum,  freilich  aus  ganz  anderem  Grunde  zeigen  auch 
Novalis'  »Hymnen  an  die  Nacht«,  sofern  man  sie  zur  Lyrik  rechnen 
will.  Sie  haben  ja  auch  lange  genug,  bis  IQOl,  wo  Heilborn  eine  in 
Verse  abgesetzte  Handschrift  fand,  als  Prosa  gegolten.  So  wie  sie 
vorliegen,  treten  sie  mit  dem  Anspruch  auf,  Hymnen  zu  sein,  also 
einen  gewaltigen  Rhythmus  zu  verkörpern,  der  von  Wort  zu  Wort 
reißt.  Aber  gerade  der  wuchtige  Rhythmus,  man  vergleiche  »Wandrers 
Sturmlied«,  fehlt  ihnen.  Mit  der  glatten  Fügung  einer  soziologisch 
gebundenen  (d.  h.  der  Umgangssprache  entnommenen)  Syntax  eilen  sie 
von  Vorstellung  zu  Vorstellung,  weit  entfernt  vom  Wesen  der  An- 
tike. Schlegel  tat  ihrem  schönen  Tiefsinn  einen  guten  Dienst,  als  er 
sie  in  Prosa  druckte.  Er  folgte  damit  lediglich  seinem  dichterischen 
Instinkt.  Der  freie  Rhythmus,  das  ureigentliche  Metrum  hymnischer 
Bewegtheit,  hat  überhaupt  für  solche  Charaktere,  die  in  ihm  nicht 
gemäß  seiner  antiken  Ideologie  höchste  Gebundenheit,  sondern  höchste 
Bequemlichkeit  sahen,  immer  Verführendes  gehabt,  wofür  nicht  nur 
das  besonders  krasse  Beispiel  von  Arno  Holz  »Fantasus«  zu  Gebote 
steht.  Aber  auch  da,  wo  nicht  Unform,  sondern  Spielerei  zum  unge- 
mäßen Metrum  verführte,  sind  die  Beispiele  zahlreich:  Lenaus  antike 
Strophen  sind  sicher  nicht  seine  besten  Gedichte,  Schlegels  Sonette 
sind  durchweg  unlebendig,  Hölderlins  spätes  Reimgedicht  vom  De- 
zember 1800  an  Landauer  trägt  den  Stempel  äußeren  Anlasses,  selbst 
Platens  Ghaselen  scheinen  mir  mehr  Biidungs-  als  Urgedichte,  von 
den  sogenannten  »deutschen  Oden«  R.  A.  Schröders,  einem  traurigen 
Dokument  moderner  Stilpfiffigkeit,  ganz  zu  schweigen. 

Es  ist  also  kein  Zufall,  wenn  im  Gedicht,  in  der  mittleren  Fügung, 
die  durch  eine  Wortgruppe  gebildete  höhere  Einheit  fast  immer  schon 
durchs  Metrum  bedingt  ist: 

Glanz  und  Ruhm !  /  so  erwacht  unsere  Welt  / 
Heldengleich  /  bannen  wir  Berg  und  Belt  / 
Jung  und  groß  /  schaut  der  Geist  /  ohne  Vogt ,' 
Auf  die  Flur  /  auf  die  Flut  /  die  umwogt.  / 

All  dies  stürmt  /  reißt  und  schlägt  /  blitzt  und  brennt  / 

Eh  für  uns  /  spät  /  am  Nachtfirmament  / 

Sich  vereint  /  schimmernd  still  /  Licht-kleinod:  / 

Glanz  und  Ruhm  /^Rausch  und  Qual  /  Traum  und  Tod.  / 

(Stefan  George,  Traum  und  Tod.) 

Nicht  immer  ist  die  höhere  Einheit  so  klar  aufzuzeigen,  aber  auch 
hier  nicht  regelmäßig  und  nicht  dauernd  sich  mit  dem  Metrum  deckend. 
Überraschend  ist  die  scharfe  Abgrenzung  der  einzelnen  Wortgruppen 


I 


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DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  379 

gegeneinander,  die  sich  selten  so  einschneidend  finden  läßt  Meist  ist 
die  Naht  der  Anlehnung  durch  die  Zäsur  gegeben: 

Heute  fanden  meine  Schritte  /  mein  vergeßnes  Jugendtal  / 
Seine  Sohle  lag  verödet  /  seine  Berge  standen  kahl.  / 

(C.  F.  Meyer,  Ewig  jung  ist  nur  die  Sonne.) 

Aber  auch  in  zäsurlosen  Gedichten  ist  das  Aufeinanderkommen  der 
Einheiten  durch  einen  leisen  Einschnitt  fühlbar,  der  sich  natürlich  nur 
beim  lauten  Lesen  erfassen  läßt: 

Bemeßt  den  Schritt!/  Bemeßt  den  Schwung!/ 

Die  Erde  /  bleibt  noch  lange'jung!  ' 

Dort  fällt  ein  Korn,  /  das  stirbt  und  ruht.  / 

Die  Ruh  ist  süß.  /  Es  hat  es  gut.  / 

Hier  eins,  /  das  durch  die  Scholle  bricht.  / 

Es  hat  es  gut.  /  Süß  ist  das  Licht.  / 

Und  keines  fällt  /  aus  dieser  Welt,  / 

Und  jedes  fällt,  /  wie's  Gott  gefällt.  / 

(C.  F.  Meyer,  Säerspruch.) 
Ferner: 

Schön  wie  der  Tag  /  und  lieblich  wie  der  Morgen,  / 
Mit  edler  Stirn,  /  mit  Augen  voll  von  Treue,  / 
An  Jahren  jung  /  und  reizend  wie  das  Neue,  / 
So  fand  ich  dich,  /  so  fand  ich  meine  Sorgen.  / 

(Platen,  Sonette  XLVI.) 

Hier  fühlen  wir,  wie  berechtigt  diese  Art  der  Fügung  wohltemperiert 
genannt  werden  kann.  Nicht  allein  völlige  Deckung  der  Bewegung 
mit  dem  äußeren  Wortsinn  ist  erreicht,  sondern  vor  allem  Deckung 
mit  dem  Rhythmus.  Das  Oleichgewicht  von  Fügung  und  Rhythmus 
ist  das  Charakteristische  des  Gedichtes.  Wort  und  Bewegung  sind 
gegeneinander  ausgeglichen.  Während  im  Lied  der  Rhythmus  nicht 
bis  zum  einzelnen  Worte  durchdrang  und  er  in  der  Hymne  über  die 
Worte  hinausschießt,  diese  zerbrechend,  durchdringt  er  hier  gleich- 
mäßig das  Wort.  Wort  und  Rhythmus  stehen  in  dauernder  Wechsel- 
wirkung miteinander,  wodurch  die  ruhig  fortschreitende  Harmonie,  die 
der  Fügung  den  Namen  gibt,  erreicht  wird.  Der  Rhythmus,  der  jedes 
Wort  ergreift,  zwingt  uns  so  auf  das  Wort  hin,  was  freilich  vom 
Wort  aus  durch  dessen  Sinnlichkeit  erreicht  wird.  Dadurch,  daß  die 
Bewegung  im  Wort  selbst  wirksam  wird,  erhält  dieses  auch  eine  ganz 
andere  Bedeutung.  Dauernd  von  neuem  von  Rhythmus  erfüllt  (nicht, 
wie  im  Lied,  übergangen),  wird  es  auch  von  Fall  zu  Fall  neu  geboren. 
Somit  sind  erstarrte  Vorsteilungsarten,  stereotyp  gewordene  Bild- 
zusammenhänge unmöglich.  Im  Liede  rief  der  Rhythmus  lediglich  den 
losen  Umriß  der  Reihen  hervor,  nicht  etwa  die  Worte,  die  ihrerseits 
wieder  die  Melodie  hervorriefen.  Hier  gebiert  der  Rhythmus  das  Wort, 
darüber  hinaus  gibt  es  nichts. 


380  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Dementsprechend  fordert  das  Wort  hier  auch  eine  ganz  neue 
Lebendigkeit.  Die  Ausdehnung  der  Einheit  wird  nämlich  durch  die 
assoziierende  Schwingung  des  Wortes  bestimmt.  Das  Wort  ruft  be- 
stimmte Assoziationen  hervor,  die  um  so  weiter  schwingen,  je  allge- 
meiner das  Wort  gehalten  ist,  je  häufiger  das  Wort  in  bestimmten 
Zusammensetzungen  angewandt  wird.  Je  präziser,  geistig  bildlicher 
ein  Wort  sich  anfühlt,  um  so  geringer  wird  diese  Schwingungsweite 
sein.  Im  Liede  erstreckt  sich  diese  Assoziationsschwingung  über  die 
ganze  Reimzeile.  Das  Wort,  welches  die  Schwingung  hervorruft,  ist 
dementsprechend  gewählt,  von  möglichster  Unbestimmtheit  und  mög- 
lichst belastet  mit  Vorstellungskomplexen,  die  durch  Umgangssprache 
oder  literarische  Tradition  hervorgerufen  sind: 

Der  Tod,  das  ist  die  kühle  Nacht, 

Das  Leben  ist  der  schwüle  Tag. 

Es  dunkelt  schon,  mich  schläfert. 

Der  Tag  hat  mich  müd  gemacht.  (Heine.) 

Tod  —  Leben  —  dunkelt  —  müd :  diese  Töne  werden  flüchtig  ange- 
schlagen und  erzeugen  durch  die  Weite  ihrer  mitschwingenden  Vor- 
stellung die  Melodie  die  als  Einheit  über  der  Reihe  liegt.    Oder: 

Von  fern  die  Uhren  schlagen, 
Es  ist  schon  tiefe  Nacht. 
Die  Lampe  brennt  so  düster. 
Dein  Bett  lein  ist  gemacht. 

Die  Winde  nur  noch  gehen 

Wehklagend  um  das  Haus. 

Wir  sitzen  einsam  drinne 

Und  lauschen  oft  hinaus...  (Eichendorff.) 

Uhren  schlagen  —  tiefe  Nacht  —  düster  —  Bettlein  —  Winde  — 
wehklagend  —  einsam  —  lauschen:  jedes  Wort  schwingt  enorm  nach. 
»Uhren  schlagen«:  man  fühlt  Stunde  auf  Stunde  in  der  Totenstille 
dahingehen,  »Bettlein«:  eine  Welt  voll  Zärtlichkeit  schwingt  im  Dimi- 
nutiv mit,  im  übrigen  verbinden  sich  mit  bekannten  Worten  bekannte 
Assoziationen,  die  dann  jedesmal  der  Zeile  ihre  Einheit  geben.  Der 
Reim,  in  möglichster  Abgeschwächtheit,  dient  dazu,  die  einzelnen  Ein- 
heiten in  ihrer  Eigenschaft  als  Melodie  miteinander  zu  verbinden.  Die 
Weite  der  Assoziationsschwingung  fällt  also  mit  der  Einheit  über  den 
Worten  zusammen.  Wenn  nun  die  Einheit  im  Worte  selbst  gegeben 
ist,  oder  wie  beim  Gedicht  mindestens  in  der  Wortgruppe,  so  ist  es 
klar,  daß  wir  es  im  Gedicht  mit  solchen  Worten  zu  tun  haben,  welche 
ihre  Bedeutung  mehr  in  sich  tragen  und  das,  was  sonst  über  dem 
Wort  mitschwingt,  möglichst  im  Wort  geben.  Das  Wort  wird  also 
den  Leser  nicht  in  dem  Maße  loslassen  wie  im  Lied,  es  wird  seinen 
geistigen  Raum  selbst  ausfüllen,  nicht  es  dem  Leser  überlassen,  diesen 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  381 

mit  seinen  Schwingungen  zu  bevölkern.  Das  Wort  wird  innere  Bild- 
lichkeit haben.  Anderseits  wird,  im  Falle  solche  Worte  von  weiter 
Schwingung  auftauchen,  der  Formenrhythmus  in  seiner  unerbittlichen 
Erfassung  möglichst  jedes  Wortes  diese  Schwingung  so  begrenzen, 
daß  die  innere  Bildlichkeit  nicht  durch  das  Entstehen  einer  Melodie 
gestört  wird,  genau  so  wie  man  eine  Saite  kürzer  faßt,  um  die 
Schwingung  zu  verringern  und  so  einen  höheren  Ton  zu  erzielen. 
Glanz  und  Ruhm! /so  erwacht  unsere  Welt/  (George.) 

Der  Rhythmus  hält  mit  dem  Wort  durchaus  Schritt,  er  gestattet  dem 
Wort  nicht,  sich  frei  zu  machen  zu  einer  Schwingung,  welche  die 
durch  die  Worte  »Olanz  und  Ruhm«  gebildete  höhere  Einheit  durch- 
brechen könnte.  Gerade  bei  George  können  wir  dies  häufig  beob- 
achten: weitschwingende,  mit  reichen  Vorstellungskomplexen  beladene 
Worte  gebändigt  durch  einen  darum  um  so  bildlicheren  und  strenger 
formenden  Rhythmus: 

Uns,  die  durch  viele  Jahre  zum  Triumpfe 
Des  großen  Lebens  ihre  Lieder  schufen, 
Ist  es  Gebühr,  mit  Würde  auch  die  dumpfe 
Erinnrung  an  das  Dunkel  vorzurufen. 

(George,  Vorspiel.) 

Hier  spüren  wir  durch  die  Synthese  von  weitspannendem  Wort  mit 
begrenzendem  Rhythmus  »die  tiefsten  Lebensgluten  in  schönster  Bändi- 
gung«. Im  Liede  wirkt  der  Rhythmus  wesentlich  in  der  Zeit,  d.  h. 
er  bewirkt  den  Ablauf  des  Gebildes,  freilich  paralysiert  oder  wenig- 
stens gehemmt  durch  den  Reim,  der  durch  seine  rückgreifende  Ver- 
bindung der  Melodien  eine  gewisse  zyklische  Stetigkeit  hervorruft.  Im 
Gedicht  wirkt  der  Rhythmus  wesentlich  im  Raum,  d.  h.  er  bewirkt  den 
Aufbau  des  Gebildes,  unterstützt  durch  den  Reim.  (In  der  Hymne 
wiederum  wirkt  die  Reimlosigkeit  bis  zu  einem  gewissen  Grade  paraly- 
sierend, da  durch  den  Wegfall  der  tonlichen  Wiederkehr  die  logische 
Aufeinanderfolge  ihre  Richtung  bewahrt.)  Es  stellt  sich  also  Zeit- 
rhythmus gegen  Raumrhythmus. 

Was  nun  von  der  Bildlichkeit  der  Sprache  bei  der  Betrachtung 
des  Liedes  gezeigt  wurde,  mag  hier  wieder  ins  Gedächtnis  treten,  um 
den  Gegensatz  von  der  Impression  zur  sprachlichen  Plastizität  des 
Gedichtes  deutlich  zu  machen.  Herder  sagt  in  seiner  Vorrede  zu  den 
Volksliedern:  »Das  Wesen  des  Liedes  ist  Gesang,  nicht  Gemälde; 
seine  Vollkommenheit  liegt  im  melodischen  Gange  der  Leidenschaft 
oder  Empfindung,  den  man  mit  dem  alten  treffenden  Ausdruck  ,Weise' 
nennen  könnte.  Fehlt  diese  einem  Liede,  hat  es  keinen  Ton,  keine 
poetische  Modulation,  keinen  gehaltenen  Gang  und  Fortgang  des- 
selben, —  habe  es  Bild  und  Bilder  und  Zusammensetzung  und  Nied- 


382  FRIEDRICH  SIEBURG. 


lichkeit  der  Farben  soviel  es  wolle,  es  ist  kein  Lied  mehr.«  Dies  läßt 
sich  —  da  Herder  mit  dem  Wort  Lied  terminologisch  nichts  ver- 
band —  auf  die  lyrischen  Gebilde  überhaupt  ausdehnen.  Weiter 
äußert  sich  Goethe  in  »Shakespeare  und  kein  Ende«  noch  ein- 
deutiger: »Das  Auge  mag  wohl  der  klarste  Sinn  genannt  werden, 
durch  den  die  leichteste  Überlieferung  möglich  ist.  Aber  der  innere 
Sinn  ist  noch  klarer  und  zu  ihm  gelangt  die  höchste  und  schnellste 
Überlieferung  durchs  Wort;  denn  dieses  ist  eigentlich  fruchtbringend, 
wenn  das,  was  wir  durchs  Auge  auffassen,  an  und  für  sich  fremd 
und  keineswegs  so  tiefwirkend  vor  uns  steht.«  Deutlich  wird  hier 
gesagt,  daß  es  nicht  darauf  ankommt,  wie  in  der  glatten  Fügung,  ver- 
mittels der  Worte  eine  Impression  zu  erzeugen,  sondern  die  Bildlich- 
keit im  Worte  selbst  lebendig  werden  zu  lassen.  Nur  der  formhafte, 
sinnliche  Mensch  spürt  im  Wort  selbst  das  Plastische,  das  eben  nur 
in  der  Sprache  wirksam  werden  kann,  also  mit  eigenen  Mitteln  als 
etwas  Eigenes  auftritt,  während  die  impressionistische  Bildlichkeit 
immer  nur  versuchen  kann,  etwas  Außersprachliches,  das  sich  z.  B.  in 
der  Malerei  viel  vollendeter  findet,  darzustellen,  ohne  daß  die  Sprache 
zu  ihrem  vollen  Rechte  käme.  Man  betrachte  nur  im  Gedicht  die 
Stellung  des  Beiwortes  oder  der  Metapher!  Immer  ist  das  Beiwort 
bemüht,  aus  dem  Hauptwort  möglichst  viel  Geistiges  herauszuholen, 
seinen  begrifflichen  Gehalt  abzugrenzen,  klarzustellen  oder  auch  zu 
erweitern,  besonders  aber  um  es  zu  spezialisieren  und  es  mit  dem 
Erlebnis  in  Beziehung  zu  setzen:  Oede  Welle,  trauernde  Woge,  wilder 
Lorbeerbusch,  ihr  lieben  Inseln,  Augen  der  Wunderwelt,  das  heilig- 
nüchterne Wasser,  die  sehnsüchtigen  Wasser,  uralter  Efeu,  lebende 
Säulen,  liebende  Nacht,  heilige  Nacht,  schwärmerische  Nacht,  selige 
Wolken,  geschäftige  Bäche,  einsamharrender  Strom,  lebendiger  Strom, 
klagenbereitender  Nordwind,  diebische  Tränen,  schauendes  Ufer,  das 
weiche  Wild,  edle  Purpurröte  usw.  Immer  ist  das  Wort  selbst  ver- 
tieft, nie  ist  versucht,  dem  Worte  mehr  landschaftlichen  Charakter  zu 
geben,  als  es  selbst  schon  in  sich  trägt.  Selten  wird  Beziehung  zum 
Atmosphärischen,  sondern  meist  zum  Erlebnis  hingegeben.  Im  Mittel- 
punkt des  Gedichtes  steht  immer  das  vom  Erlebnis  bewegte  Ich,  und 
deshalb  kann  die  Wortfügung  auch  nie  einen  beschreibenden  Cha- 
rakter annehmen.  Man  lese  C.  F.  Meyers  Gedicht  »Michelangelo  und 
seine  Statuen«: 

Du  öffnest,  Sklave,  deinen  Mund, 

Doch  stöhnst  du  nicht.    Die  Lippe  schweigt. 

Nicht  drückt,  Gedankenvoller,  dich 

Die  Bürde  der  behelmten  Stirn. 

Du  packst  mit  nerv'ger  Hand  den  Bart, 

Doch  springst  du,  Moses,  nicht  empor. 


1 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  383 

Maria  mit  dem  toten  Sohn, 

Du  weinst,  doch  rinnt  die  Träne  nicht. 

Hier  stehen  die  Worte  einzig  in  ihrer  begrifflichen  Erfüiltheit  ohne  die 
Absicht,  malen  zu  wollen  oder  das  Atmosphärische,  das  die  Verdeut- 
lichung der  Statuen  erleichtern  könnte,  zu  vermitteln.  Das  Malerische, 
Gegenständliche,  das  ja  geschildert  werden  soll,  wird  ins  sprachlich, 
begrifflich  Bewegte  übertragen.  Nicht  Bild,  sondern  Bewegung  wird 
erzielt,  doppelt  bemerkenswert,  da  es  sich  ja  um  eine  Schilderung 
fertiger  Kunstwerke  handelt.  So  ist  denn  charakteristisch,  daß  der 
Dichter  nicht  die  Statuen  darstellt  wie  sie  vor  ihm  stehen,  sondern 
durchgängig  das  ausspricht,  was  sie  nicht  tun:  »Doch  stöhnst  du 
nicht . . .«,  »nicht  drückt  dich  . . .«,  »doch  springst  du  nicht  empor . ..«, 
»doch  rinnt  die  Träne  nicht...«  Die  Umrisse  werden  verschmäht, 
statt  dessen  wird  der  geistige  Kern  bloßgelegt.  Ein  glänzendes  Muster- 
beispiel, in  welcher  Weise  »beschreibende«  Poesie,  die  dann  eben 
nicht  mehr  beschreibende  Poesie  ist,  allein  möglich  ist.  So  allein 
bleibt  die  innere  Bildlichkeit  des  Wortes  gewahrt,  ohne  auf  Kosten 
einer  äußeren  Bildlichkeit  gesprengt  zu  werden. 

Eine  Vermischung  beider  Elemente  stellt  Hölderlins  »Hälfte  des 
Lebens«  dar: 

Mit  gelben  Birnen  hänget  Weh  mir,  wo  nehm'  ich,  wenn 

Und  voll  von  wilden  Rosen  Es  Winter  ist,  die  Blumen,  und  wo 

Das  Land  in  den  See,  Den  Sonnenschein 

Ihr  holden  Schwäne,  Und  Schatten  der  Erde? 

Und  trunken  von  Küssen  Die  Mauern  stehn 

Tunkt  ihr  das  Haupt  Sprachlos  und  kalt,  im  Winde 

Ins  heilignüchterne  Wasser.  Klirren  die  Fahnen  '). 

Im  ersten  Teil  bricht  das  Ich  des  Dichters  nicht  durch,  auch  die 
Fügung  ist  von  ziemlich  glattem  jambischem  Charakter,  der  rhythmische 
Aufbau  der  einzelnen  Zeile  fällt  ungefähr  mit  dem  syntaktischen  zu- 
sammen. Entsprechend  tritt  auch  das  rein  Malerische  im  Landschafts- 
bild näher  hervor.  Im  zweiten  Teil  ist  das  landschaftliche  Element 
vollkommen  in  die  dichterische  Bewegung  mit  hineingenommen,  ohne 
dadurch  an  Eindringlichkeit  zu  verlieren.  Der  optische  Eindruck  fehlt 
vollständig,  das  Bild  fließt  im   Erlebnis.    Der  Mensch   steht  in  der 


')  Sehr  charakteristisch  für  den  Übergang  von  Liedstil  zum  Gedichtstil  sind 
die  Umarbeitungen  und  verschiedenen  Fassungen.  Man  vergleiche  z.  B.  bei  Hölder- 
lin die  drei  Fassungen  des  Gedichtes  »An  Eduard«  untereinander  und  mit  diesen 
wieder  eine  neue  bisher  unbekannte  Bearbeitung  »Die  Dioskuren«,  die  leider  Bruch- 
stück geblieben  ist  (Gesamtausgabe  ed.  Hellingrath  IV.  Bd.,  Anhang  S.  290).  Nicht 
minder  lehrreich  für  die  Stilverschiebungen  sind  C.  F.Meyers  Umarbeitungen,  die 
dieser  bewußt  nach  einem  härteren  Stil  hin  vornahm.  Vgl.  darüber  in  dem  hervor- 
ragenden Buch  von  Franz  F.  Baumgarten  »Das  Werk  C.  F.  Meyers«,  München  1917, 
S.  247  ff. 


384  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Mitte  der  Landschaft.  Logischerweise  tritt  auch  der  Rhythmus  stärlcer 
durch  und  fügt  die  Worte  härter  aneinander,  so  daß  die  Kraft  ihrer 
Innerlichl<eit  schon  dadurch  mehr  zur  Geltung  kommt. 

Ein  wichtiges  Stilelement  des  Gedichtes  finden  wir  auch,  wie  hier 
in  Vers  8,  in  der  Fragestellung.  Die  Fragestellung,  die  Anrede,  der 
Ausruf,  alle  jene  Formen,  die  geeignet  sind,  den  flüssigen  Ablauf  des 
syntaktischen  Zusammenhangs  zu  durchbrechen,  werden  in  der  glatten 
Fügung  des  Liedes  kaum  vorgefunden,  weil  der  Sinn  durch  sie  von 
der  Melodie  aufs  Wort  selbst  hingezwungen  würde.  Im  Gedicht  aber 
ist  diese  syntaktische  Lebendigkeit  bedeutsam.  Sie  wird  vor  allem 
von  Hölderlin,  aber  auch  von  Klopstock  (dort  häufig  ins  Rhetorische 
umschlagend)  und  Hebbel  angewandt.  Diese  Satzformen  gehen  mit 
dem  Gefühl  für  den  formhaften  Charakter  des  Wortes  Hand  in  Hand. 
Sie  sind  durchaus  im  Geist  der  Sprachbewegung,  der  an  Stelle  des 
Zustandes  die  Bewegtheit  setzt,  an  Stelle  der  Bezeichnung  für  ein 
Gefühl  den  Ausruf  setzt,  den  dies  Gefühl  im  Munde  des  Menschen 
hervorruft,  an  Stelle  des  Wortes  »Schmerz«  den  Schmerzensschrei 
selbst,  des  Wortes  »Verlassenheit«  den  Klagelaut,  des  Wortes  »Liebe« 
die  Anrufung  der  Geliebten.  Die  lebendige  Vorstellung  verlangt  nach 
einer  prägnanten  Bezeichnung,  um  das  Wort  restlos  ausschöpfen  zu 
können,  während  die  erstarrtere  Vorstellungswelt  des  Liedes  sich  mit 
der  farbloseren  Bezeichnung  des  Zustandes  meist  zufrieden  gibt,  um 
die  Melodie  durch  die  Wortbewegung  nicht  zu  hemmen  *). 

Dies  Symptom,  wie  überhaupt  die  Wahl  der  Fügungsart  hat  seinen 
Ursprung  in  der  seelischen  Disposition  des  Dichters  schlechthin.  Dem 
Gedicht  liegt  der  Mensch  zugrunde,  dessen  Formhaftigkeit  im  Moment 
des  Produzierens  absolut  ausgeglichen  ist.  Keine  Lockerung  des  Ge- 
fühls zum  Ich  hin  (wie  beim  Lied)  oder  zu  Gott  hin  (wie  in  der 
Hymne)  ist  zu  spüren.  Jedes  Wesen  hat  seinen  geistigen  Raum,  jede 
Tat  schafft  ihn  sich.  Und  Vollkommenheit  ist  da,  wo  dieser  Raum 
erfüllt  ist.  Die  Hellenen  haben  ihren  Raum  nicht  erfüllt,  darum  durfte 
sie  Nietzsche  »dieses  zum  Leiden  so  einzig  befähigte  Volk«  nennen. 
Das  hellenische  Gedicht  aber  hat  ihn  beleibt,  wie  das  Gedicht  über- 
haupt. Das  Leibwerden  gibt  dem  absoluten  Geist  erst  die  Möglich- 
keit, existent  zu  werden.  Das  Gedicht  ist  beleibter,  begrenzter  Zustand. 
Das  Wesen  seiner  Objektivation  ist  äußerste  Rundheit.  In  ihm  ist 
das  Erlebnis  verwandelt,  und  des  Universalen,  zu  dem  alle  Bewegung 
hindrängt,  ist  noch  nicht  gedacht.  Seine  restlose  Verkörperung,  die 
sich  selbst  ganz  erfüllt  hat,  läßt  keinen  Raum  mehr  für  musikalische 
Gewitterung,  für  impressionistischen  Traum,  für  melodischen  Rausch. 


')  Vgl.  Dilthey,  Das  Erlebnis  und  die  Dichtung  S.  431  f. 


1 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  385 

»Heilignüchtern«  hat  es  sein  Oleichgewicht.  Und  sind  die  Gedichte 
Platens  oder  ßaudelaires  darum  weniger  i<iare  Gebilde  und  glückliche 
Erfüllungen,  weil  sie  einmal  kranken  und  zerrissenen  und  wahnsinnigen 
Erlebnissen  entsprungen  sind?  Nein,  die  Saugkraft  dieser  pathetischen 
Bildlichkeit  ist  vollkommen.  Was  auch  in  sie  hineingehe,  sei  es  ein 
bukolisches  Glück  oder  eine  qualvolle  Morgendämmerung  in  Paris,  es 
geht  ganz  hinein  und  läßt  keinen  Schrei  mehr  heraus  und  keine  Melodie. 


Die   Hymne. 

Und  doch  gibt  es  Gebilde  die  man  tragisch  nennen  würde,  wenn 
die  Lyrik  überhaupt  Vorgänge  und  nicht  Zustände  ausdrückte,  ich 
meine  die  Hymnen.  Die  Hymnen  repräsentieren  den  eigentlichen 
großen  Stil  der  Lyrik.  Sie  stellen  eine  ungeheuere  Formungsarbeit 
dar,  weil  in  ihnen  eine  ungeheuere  Bewegung  wirksam  ist.  Das  Fest- 
stehende ist  auch  hier  das  formhafte  Ich  des  Dichters,  aber  sowohl 
der  Anstoß  zur  Schwingung  wie  auch  der  Grad  der  Schwingung  sind 
von  solcher  Macht  und  Ausdehnung,  daß  Gestalt  und  Formgesetz 
kritisch  kaum  noch  wahrnehmbar  sind  und  sich  der  dialektischen  Er- 
fassung umsomehr  entziehen,  je  stärker  sie  sich  dem  nachlebenden 
Gefühl  eindrücken.  Daß  nicht  etwa  die  Unendlichkeit  des  Erlebnis- 
grundes allein  das  Unendliche  dieser  hymnischen  Bewegung  ausmacht, 
erhellt  schon  daraus,  daß  das  unendlichste  Erlebnis  der  Lyrik,  Gott, 
einen  so  verschiedenen  Ausdruck  hervorrief.  Vom  Kirchenlied  des  Paul 
Gerhardt  und  Novalis  bis  zu  Klopstocks  »An  Gott«  und  »Dem  Allgegen- 
wärtigen« und  von  Hölderlins  Christus-Mythos  bis  zum  orphischen 
Urwort,  welch  ein  Unterschied  in  Schwingung,  Spannung  und  Bewe- 
gung, aber  doch  hervorgerufen  von  einem  Erlebnis,  das  zwar  in  sich 
hundertfach  geartet  sein  kann,  kirchlich  gebunden,  mystisch  vertieft 
und  pantheistisch  gelockert,  letzten  Endes  jedoch  eine  Wurzel  hat. 
Ganz  gleichgültig  ist  freilich  die  Extensität  des  Erlebnisses  selbst  nicht. 
Was  schon  daraus  erhellt,  daß  es  kaum  ein  Gebilde  hymnischen  Cha- 
rakters und  harter  Fügung  gibt,  das  man  zur  Liebeslyrik  rechnen 
könnte.  Das  Liebeserlebnis,  als  Erlebnis  von  Mensch  zu  Mensch, 
von  Zustand  zu  Zustand,  von  Ich  zu  Ich,  könnte  die  dichterische  Be- 
wegung nie  veranlassen,  ins  Universale,  ins  Unendliche  zu  dringen, 
da  Ursprung  und  Ziel  der  Liebesbewegtheit  ja  ein  endliches  ist,  die 
Geliebte.  Das  ist  freilich  nur  psychologisch  gesprochen  richtig,  denn 
was  in  der  Seele  einen  Zweck  hat,  ist  in  der  Form  zwecklos.  Was 
in  der  Seele  den  Besitz  sucht,  sucht  in  der  Form  die  Bewegung,  was 
dort  begehrt,  ist  hier  wunschlos,  was  dort  Ergänzung  durchs  Objekt 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwiuenschaft.    XIV.  25 


386  FRIEDEICH  SIEBURG. 


sucht,  ist  hier  allein  als  Subjekt  gültig,  und  während  der  Mensch  die 
Geliebte  sucht,  ruft  der  Dichter:  »Doch  liebt  die  Liebe!«  (Hölderlin.) 
Immerhin  aber  ist  das  Was  des  Erlebten  mitbestimmend  für  das  Wie 
des  Erlebens.  Zwar  kann  das  unendliche  Erlebnis  so  zart  schwingen, 
daß  diese  Schwingung  im  Lied  ihren  Ausdruck  sucht,  selten  aber  wird 
ein  begrenztes  Erlebnis  so  stark  schwingen,  daß  es  zur  Hymne  drängt. 
Die  Art  der  Schwingung  ist  das  Ausschlaggebende. 

Beim  Hymnendichter  ist  die  Kongruenz  von  Ich  und  Erlebnis 
besonders  deutlich.  Er  spürt  keinerlei  Distanz  mehr  zu  seinem  Er- 
lebnis, kein  Verhältnis,  das  überbrückt  werden  müßte.  Sein  bewegtes 
Ich  ist  mit  dem,  was  dieses  Ich  in  Bewegung  gesetzt  hat,  vollkommen 
identisch.  Es  ist  derselbe  Vorgang,  der  sich  in  einer  anderen  Welt, 
der  der  Mystiker,  parallel  ereignet:  Im  innersten,  tiefsten  Seelenpunkt 
findet  sich  die  Universalität  (in  diesem  Falle  Gott,  in  unserem  Falle 
das  Erlebnis  überhaupt)  wieder.  Was  sich  durch  kein  Ausströmen  in 
die  Unendlichkeit  fangen  und  erfassen  ließ,  bei  der  tiefsten  Einkehr 
ins  Selbst  taucht  plötzlich  das  All  in  einem  Punkte  auf.  Der  Begriff 
des  Unendlichen  wird  gleich  Null,  die  Parallelen  schneiden  sich,  die 
Distanz  ist  aufgehoben,  »hier  ist  Gottes  Grund  mein  Grund  und  mein 
Grund  ist  Gottes  Grund«  (Eckehart). 

Seelig,  wer  ohne  Sinne 

Schwebt,  wie  ein  Geist  auf  dem  Wasser, 

Nicht  wie  ein  Schiff  —  die  Flaggen 

Wechselnd  der  Zeit  und  Segel 

Blähend,  wie  heute  der  Wind  weht. 

Nein,  ohne  Sinne,  dem  Oott  gleich, 

Selbst  sich  nur  wissend  und  dichtend. 

Schafft  er  die  Welt,  die  er  selbst  ist. 

Und  es  sündigt  der  Mensch  drauf. 

Und  es  war  nicht  sein  Wille! 

Aber  geteilet  ist  alles. 

Keinem  ward  alles,  denn  jedes 

Hatt'  einen  Herrn,  nur  der  Herr  nicht; 

Einsam  ist  er  und  dient  nicht. 

So  auch  der  Sänger. 

In  diesem  Gedicht  Brefanos  »Nachklang  Beethovenscher  Musik«  ist 
dies  Zusammenfallen  von  Wille  und  Tat,  von  Seele  und  Gott,  daß 
wir  in  unserer  Kategorie  die  Deckung  von  Ich  und  Erlebnis  nennen, 
vollkommen  dargelegt.  Das  Erlebnis  des  Hymnendichters  ist  ebenso 
einfach  zu  benennen  wie  es  allumfassend  und  schwer  zu  begrenzen 
ist.  Der  Gott  Klopstocks  schließt  auch  die  ganze  Natur  und  Kreatur 
mit  ein,  umfaßt  den  Bibelgott  und  Christus  ebenso  wie  Baidur  und 
Dionysos.  Goethes  Titanismus  umfaßt  sowohl  sein  Ichgefühl  wie 
sein  Weltgefühl,  seinen  Drang  sich  auszuströmen,  wie  den,  sich  zu 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  387 

erobern,  seine  Wallung  wie  sein  Bild,  sein  Kosmos  wie  sein 
Chaos,  sein  Sein  wie  sein  Werden,  Hölderlins  Prophetie  begreift  das 
Vaterland  wie  das  Gottesreich,  die  Wiederkehr  der  Götter  wie  die 
Reife  der  Welt  zum  Untergang,  Christus  wie  den  Vater  Äther  und 
den  Stromgeist,  eigene  Weisheit  wie  stummes  Schicksal.  Hier  tritt 
uns  in  reinster  Form  der  Dichter  als  »gottgesandter  Sprecher«,  als 
Seher,  als  *vates<t  entgegen.  Er  ist  der  Hüter  der  tiefsten  Geheim- 
nisse, der  Gott  in  sich  trägt  und  deshalb  die  letzten  Erkenntnisse  von 
Zukunft  und  Schicksal  seherisch  deuten  kann.  Keiner  wie  er  kann 
so  »unmittelbar  das  Vaterland  angehen  oder  die  Zeit«  (Hölderlin). 
Das  Lied  hat  Augenbiickscharakter,  es  ist  persönlich  begrenzt  und 
ein  Einzelfall,  das  Gedicht  ist  durch  seine  Rundheit  ohne  Beziehung 
weder  vom  Dichter  her  noch  zur  Menschheit  hin,  es  ist  zeitlos,  die 
Hymne  aber  gehört  der  Menschheit  und  dem  Schicksal  der  Zeit,  sie 
ist  im  tiefsten  Sinne  religiös,  weil  sie  ohne  Gemeinde,  ohne  Volk  ihren 
wahren  Kultcharakter  nicht  erfüllen  würde. 

Das  unendliche  Erlebnis  wirkt  im  formhaften  Ich  als  Schwingung. 
Die  Gewalt  der  Schwingung,  die  durch  das  Aufeinanderprallen  dieser 
Gegensätze  und  ihrer  Durchdringungsarbeit  hervorgerufen  wird,  wirkt 
sich  sprachlich  entsprechend  gewaltig,  ja  gewaltsam  aus.  Die  dichte- 
rische Bewegung,  oder  vielmehr  ihr  Formkorrelat,  der  Rhythmus,  be- 
kommt Gewalt  über  die  Worte.  Während  im  Lied  die  Wortreihe 
stärker  wirkt  als  der  Rhythmus,  ist  hier  der  Rhythmus  stärker  als  das 
Wort.  Er  begnügt  sich  nicht  damit,  die  Wortgruppe  zu  durchdringen, 
sondern  er  reißt  die  einzelnen  Worte  so  stark  voneinander  kts,  daß 
die  Fugen  klaffen:  daher  die  Bezeichnung  »harte  Fügung« »).  Das 
Wort  tritt  hier  recht  eigentlich  mit  absoluter  Selbständigkeit  als  das 
dichterische  Element  auf.  Selbst  Worte  geringerer  Schwere,  wie  Par- 
tikel und  Pronomina  werden  vom  übermächtigen  Rhythmus  erfaßt  und 
aus  der  harmonischen  Gebundenheit  innerhalb  der  Wortgruppe  hinaus- 
geschleudert. Verbindung  zwischen  den  Worten  existiert  also  kaum 
noch,  sie  stehen  hart  nebeneinander.  Sie  können  sich  nicht  mehr  der 
Melodie  oder  dem  Sinn  unterordnen,  sondern  wirken  lediglich  als 
Wort  selbst.  Daher  der  schwere  Gang  der  Hymne  einerseits  und  ihre 
sogenannte  Dunkelheit  anderseits.     Drei  Beispiele,  zunächst: 

Es  tönet  sein  Lob  Feld  und  Wald,  Tal  und  Oebirg, 
Das  Oestad'  hallet,  es  donnert  das  Meer  dumpfbrausend 


')  Der  reinste  Vertreter  dieser  Stilart  ist  Hölderlin,  daneben  Klopstock,  wo  es: 
ihm  gelingt,  rationalistische  Reste  und  rhetorisch  Lehrhaftes  im  Feuer  einzuschmelzen, 
ferner  der  titanische  Goethe,  von  Pindar  beeinflußt  und,  in  seltenen  Stücken,  auch 
Platen. 


388  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Des  Unendlichen  Lob,  siehe  des  Herrlichen, 
Unerreichten  von  dem  Danklied  der  Natur! 

(Klopstock,  Die  Gestirne.) 


Oder: 


Komm,  leuchtender  Gott!    Reblaub  in  dem  Haar,  tanz  uns 
Weichfüßige  Reihn,  eh'  vollends  die  Welt  Staub  wird: 
Hier  magst  du  dir  Roms  Asche  sammeln. 
Und  mischen  deinen  Wein  damit! 

(Platen,  Turm  des  Nero.) 


Oder: 


Denn  izt  erlosch  der  Sonne  Tag 

Der  Königliche  und  zerbrach 

Den  geradestrahlenden 

Den  Zepter,  göttlichleidend,  von  selbst. 

Denn  wiederkommen  sollt  es 

Zu  rechter  Zeit.     Nicht  war'  es  gut 

Gewesen,  später,  und  schroffabbrechend,  untreu. 

Der  Menschen  Werk,  und  Freude  war  es 

Von  nun  an. 

Zu  wohnen  in  liebender  Nacht . . .  (Hölderlin.) 

Im  Liede  wurde  der  innere  Ablauf  des  lyrischen  Vorgangs  im  wesent- 
lichen durch  die  Melodie  vorwärts  geschoben,  die  durch  den  eigenen 
Ton  der  Worte  niemals  gestört  werden  durfte,  im  Gedicht  erfolgte 
diese  Vorwärtsbewegung  durch  den  Sinn  der  aus  der  Harmonie  von 
Rhythmus  und  Wortgruppe  heraustrat.  In  der  Hymne  aber,  wo  der 
starke  Ton  jedes  einzelnen  Wortes  weder  eine  fortführende  Melodie 
zuläßt  noch  der  Rhythmus  zur  Wortgruppe  in  einem  ausgeglichenen 
Verhältnis  steht,  so  daß  der  Sinn  die  Oberhand  gewönne,  wird  die 
bewegende  Kraft  durch  den  Rhythmus  gebildet.  Dieser  reißt  uns, 
den  syntaktischen  Bau  vergewaltigend,  hart  von  Wort  zu  Wort,  weil 
er  eben,  entsprechend  der  ins  Grenzenlose  drängenden  dichterischen 
Bewegtheit,  ein  gleichgewichtiges  Sprachkorrelat  kaum  noch  finden 
kann.  Der  flüssige  Zusammenhang  einer  logischen  Sinnfolge  ist  nicht 
mehr  zu  wahren,  würde  dies  doch  nur  dann  erreicht  werden  können, 
wenn  der  syntaktische  Bau  einigermaßen  der  üblichen  menschlichen 
Wortfolge  ähnlich  bliebe  und  wenn  sich  Worte  verschiedenen  Bedeu- 
tungsgewichtes in  ihrer  Abstufung  behaupten  könnten.  Die  Worte 
haben,  durch  den  Rhythmus  zersprengt  und  absolutiert,  keine  Mög- 
lichkeit mehr,  sich  zueinander  ins  Verhältnis  zu  setzen  und  so  ein 
logisches  Ergebnis  hervorzurufen.  Schon  die  Behandlung  der  Syntax 
läßt  dies  nicht  zu:  Subjekt  und  Verbum  sind  weit  getrennt,  der  erklä- 
rende Nebensatz  ist  plötzlich  in  einem  Worte  kristallisiert,  dann  werden 
gedehnte  Perioden  von  ihren  Schachtelsätzen  ruckartig  abgeschnitten, 
dann  wird  zwischen  Artikel  und  Substantiv  ein  Satz,  der  das  Adjektiv 
ersetzt,  eingepreßt.    Kurzum,  die  äußersten  stilistischen  Möglichkeiten 


I 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG. 


389 


arbeiten  zusammen,  um  zu  verhindern,  daß  die  Worte  mehr  seien  als 
eben  Worte,  daß  sie  etwa  als  Faktoren  eines  »Inhalts«  nur  relativen 
Sinn  hätten.  Ihre  scheinbare  Zusammenhangslosigkeit,  erzeugt  durch 
den  übermächtigen  Rhythmus,  offenbart  auch  ihren  tiefsten  Sinn:  das 
Wort  als  Leib.  Ein  großer  Glaube  an  die  absolute  Macht  des  Wortes 
liegt  dem  Hymnenstil  zugrunde,  eine  tiefe,  glühende,  hellenische  Sinn- 
lichkeit, die  im  Wort  die  Fähigkeit  spürt,  eine  eigene  geistige  Existenz 
zu  führen  und  als  Bild  in  sich  zu  tragen,  was  andere  durch  außer- 
sprachliche Melodie  oder  Impression  zu  erreichen  suchen.  Klopstock 
hat  sich  über  den  Kampf  zwischen  dem  glatten,  logischen  Ablauf,  in 
dem  das  Wort  verkümmern  muß,  und  der  hymnischen  Gewaltsamkeit 
der  Syntax  gegenüber  tiefe  Gedanken  gemacht.  Sein  Gedicht  >Der 
Kranz«  beginnt: 

Dank  euch,  Griechen,  daß  ihr,  was  der  Verstand  vereint, 

Wie  dem  Freunde  den  Freund, 

Wie  dem  Jüngling  die  Braut  Liebe,  gewaltsam  trennt, 

Wenn  mit  siegendem  Reiz 

Eure  Sprache,  wie  Tau,  euch  von  der  Lippe  träuft! 

[Hier  ist  es  ausgesprochen,  daß  die  dichterische  Sprache  des  sinnlichen 
Hellenen  »gewaltsam  trennt,  was  der  Verstand  vereint«. 

Besonders  kraß  und  konsequent  ist  dies  in  Übersetzungen  aus 
Untiken  Sprachen  durchgeführt,  wo  die  Überführung  einer  grenzenlosen 
[Bewegtheit  in  eine  nicht  völlig  adäquate  Sprache  doch  adäquat  erfolgen 
jsoll.  Ich  nenne  nur  Hölderlins  Pindarübertragungen,  Schulbeispiele 
ffür  den  hartgefügten  Stil  und  die  äußerste  Anspannung  der  Sprache, 
die  sich  denken  läßt.  Klopstock  überträgt  die  berühmte  Horazische 
jOde  »Aequam  memento  rebus  in  arduis  servare  mentetn  . . .«  folgender- 
[  maßen: 

Gesetztes  strebe  Schici<ung  bei  trauriger 
Zu  bleiben  Geistes,  wie  bei  der  glücklichen. 
Von  zügellosen  unbezwungenes 
Freuden,  o  Jüngling,  der  einst  auch  hinwelkt. 

Wer  Klopstocks  Sprachsinnlichkeit  und  seine  Beherrschung  der  Kunst- 
mittel kennt,  wird  sich  nicht  entschließen  können,  dies  für  eine  Schrulle 
zu  halten,  sondern  wird  die  eigenlebige  Kraft  des  Wortes  wie  die 
übermäßige  Gewalt  des  Rhythmus  besonders  rein  spüren. 

Das  Übergewicht  des  Rhythmus  über  die  Wortfügung  hat  zur 
Folge,  daß  der  bestimmte  Faktor  im  Aufbau  der  Hymne  nicht  der 
logische  Ablauf  ist,  sondern  die  Assoziation.  Wohl  verstanden  aber 
wirkt  nicht  etwa  das  einzelne  Wort  durch  die  Weite  seiner  Schwingung 
derart,  daß  einer  der  anklingenden  Begriffe  das  gedankliche  Element 
zum  folgenden  ausmacht,  da  ja  das  Wort  vom  Rhythmus  isoliert  ist 


390  FRIEDRICH  SIEBURG. 


und  deshalb  keine  übergreifende  Schwingung  aufweist,  sondern  die 
Assoziation  geht  von  der  dichterischen  Bewegung  aus  und  ist  infolge- 
dessen eine  gehaltliche.  Weder  die  rein  logische  Aufeinanderfolge  noch 
das  Aufgreifen  eines  durchs  Wort  hervorgerufenen  Stimmungskom- 
plexes ruft  das  stoffliche  Fortschreiten  hervor,  vielmehr  wird  der  durch 
die  Begeisterung  erzeugte  Ideenkomplex  aufgegriffen  und  der  Fort- 
führung zugrunde  gelegt.  Und  zwar  deshalb,  weil  die  überströmende 
Bewegung,  die  Rauschwoge,  der  Wirbel  der  Entzückung  sowohl  das 
stimmungsmäßige  Ausklingen  des  Wortes  als  auch  die  logische  Kau- 
salität ausschaltet.  Bezeichnend  ist  der  häufige  Gebrauch  des  Wortes 
:»aber«  in  der  Hymne,  der  den  jähen,  logisch  nicht  begründeten 
Wechsel  des  Gedankens  einleitet:  »Es  reiche  aber,  des  dunklen  Lichtes 
voll,  mir  einer  den  Becher  .  . .«,  »Wo  aber  sind  die  Freunde?«,  »Nun 
aber  sind  zu  Indiern  die  Männer  gegangen«,  >.Was  bleibet  aber,  stiften 
die  Dichter«,  »Es  rauschen  aber  um  Asias  Tore  .  .  .«  (Hölderlin).  Man 
vergleiche  auch  die  strophischen  Übergänge  in  Goethes  »Prometheus«: 
der  Gedankenkomplex  des  Götterneides  (Vers  1 — 11)  wird  aufgegriffen 
durch  Vers  12:  »Ich  kenne  nichts  Ärmeres  . .  .«,  »Kinder  und  Bettler« 
(Vers  IQ)  leitet  zu  Vers  21  über:  »Da  ich  ein  Kind  war  .  . .«,  »Und 
glühtest  Rettungsdank«  (Vers  35)  deutet  auf  Vers  37:  »Ich  dich  ehren?« 
usw.  Der  Gedankenkomplex  wirkt  sich  jeweils  in  einem  Gedichtteil 
aus,  der  als  Strophe  abgesetzt  ist  und  auch  tatsächlich  so  aufgefaßt 
werden  muß.  Die  freien  Rhythmen  sind  strophisch  gebaut,  nur  kann 
hier  nicht  die  Regelmäßigkeit  und  gleichmäßige  Wiederkehr  der  Ge- 
dichtstrophe gesucht  werden.  Im  Gedicht  war  die  Strophe  auch  von 
außen  leicht  erfaßbar  und  das  Wesentliche  war  gerade  die  Gleichheit 
der  Strophen  unter  sich.  Dies  entspricht  dem  zyklischen  Charakter 
des  Gedichtes,  das  seinen  geistigen  Raum  ebenmäßig  erfüllt  und  durch 
völlige  Deckung  von  Bewegung  und  Fügung  die  symmetrische  Rund- 
heit der  Strophe  ohne  weiteres  erzielt.  Die  Hymne  aber,  die  ihren 
geistigen  Raum  durchbricht,  deren  Bewegung  die  Fügung  überwältigt, 
muß  dementsprechend  eine  Strophenform  haben,  die  von  außen  ge- 
sehen durchaus  nicht  symmetrisch  ist.  Keineswegs  ist  die  Absetzung 
in  Strophenteile  hier  willkürlich,  vielmehr  entzieht  sich  das  innere 
Gesetz,  das  sowohl  im  Metrum  als  auch  im  Aufbau  wirkt,  dem 
bloßen  Auge  und  tritt  nicht  nach  außen  in  die  Erscheinung.  Wo  die 
Strophe  sich  absetzt,  da  liegt  auch  jedesmal  ein  Einschnitt  in  der  Be- 
wegung vor.  Entsprechend  dieser  ungestümen  Bewegung  erfolgt  je- 
doch der  Einschnitt  unregelmäßig.  Umgekehrt  können  wir  beobachten,, 
daß  z.  B.  Klopstock  häufig  im  Eingang  seiner  Hymne  auch  äußerlich  I 
die  Symmetrie  der  Strophen  zu  wahren  sucht,  daß  aber,  je  stärker  der  i 
Rhythmus  ihn  mitreißt,  auch  das  Aussehen  der  Strophen  unregelmäßig 


•     DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  391 

wird  (»Dem  Allgegenwärtigen«,  »Die  Frühlingsfeier«,  »Die  Lehrstunde«, 
»Der  Segen«  usw.). 

Das  gleiche  gilt  vom  Metrum.  Je  reiner  als  Typus  die  Hymne 
ist,  um  so  unregelmäßiger  wird,  von  außen  gesehen,  das  Metrum  sein. 
Bei  Goethe  z.  B.  läßt  sich  noch  der  Zweihebungsvers  als  Grund- 
metrum aufspüren,  auch  bei  Klopstock  und  Platen  läßt  sich  das  antike 
Maß,  von  dem  die  Ode  ausging,  auch  in  ihren  hymnisch  gelockerten 
Teilen  noch  durchfühlen.  In  Hölderlins  freien  Rhythmen  ist  dies 
schon  schwieriger,  doch  glaube  ich  Hellingrath »)  zustimmen  zu  dürfen, 
der  neben  den  pindarischen  Maßen  den  gelockerten  Blankvers  des 
»Empedokles«  zugrunde  legt.  Jedenfalls  stellt  Hölderlins  Spätwerk 
auch  in  dieser  Beziehung  den  Höhepunkt  der  Hymnendichtung  dar. 
Bei  ihm  liegt  das  gesamte  Metrum  gesetzlich  fest,  während  z.  B.  bei 
Goethe  noch  vieles  Metrische  einfach  durch  die  Auflösung  der  Ge- 
dichtfügung bestimmt  wurde.  Wie  innerlich  notwendig  das  Versmaß 
und  die  Absetzung  in  Reihen  und  Teile  vor  sich  geht,  empfindet  man 
deutlich,  wenn  man  Achim  von  Arnims  Abdruck*)  von  Hölderlins 
»Patmos«  liest.  Arnim  druckte  die  Hymne  als  Prosa  ab  und  zwar 
mit  zahlreichen  Entstellungen  und  Abweichungen.  Der  durchgehende 
Prosadruck  offenbart  erst  deutlich  die  Bedeutung  der  Verseinschnitte 
und  die  völlige  Veränderung  die  durch  ihren  Wegfall  die  Bewegung 
der  Hymne  erfährt;  auch  die  Abweichungen,  die  ganz  im  romantischen 
Geiste  gehalten  sind,  verändern  das  Gebilde  erstaunlich  nach  der  un- 
antiken, mittelalterlichen,  christlich-romantischen  Sphäre  hin. 

Die  höhere  Bedeutsamkeit  des  Wortes  in  der  Hymne  ist  schon 
durch  die  Tätigkeit  des  Rhythmus  gegeben.  Dies  bestimmt  auch  die 
Wortwahl.  Was  hierüber  bei  der  Betrachtung  des  Gedichtes  gesagt 
wurde,  gilt  für  die  Hymne  in  weit  höherem  Maße.  Die  Worte  werden 
so  gewählt,  daß  sie  möglichst  wenig  Raum  lassen  für  Schwingungen. 
Sie  müssen  den  Leser')  so  fest  halten  durch  ihre  Eindringlichkeit  und 
Unerhörtheit,  daß  er  gar  nicht  bis  zum  Zusammenhang  durchdringt, 
sondern  sich  vom  Rhythmus  von  Wort  zu  Wort  gestoßen  fühlt.  Galt 
es  im  Liede  Worte  und  Verbindungen  zu  bringen,  die  möglichst 
wenig  Aufmerksamkeit  erregten,  so  kommt  es  hier  gerade  auf  das 
Überraschende  und  Prunkende  und  Auffallende  an ').  So  sind  denn 
auch  keine  landläufigen  Zusammensetzungen  und  Redewendungen  wie 
im   Liede  möglich,  sondern  fremde  und  erstaunliche  Worte  werden 


')  In  «Hölderlins  sämtl.  Werke«,  München  1916,  Anhang  S.  338. 
*)  Berliner  Konversationsblatt,  Berlin  1828,  Nr.  33  u.  35. 
')  Oder  vielmehr:  den  Hörer.    Die  lyrische  Stilfügung,   besonders  die  harte, 
kann  nur  durch  lautes  Lesen  erfaßt  werden. 

')  Vgl.  W.  V.  Humboldt,  Werke  ed.  Albert  Leitzmann,  Pindar  Bd.  I,  S.  428. 


3Q2  FRIEDRICH  SIEBURG. 


zusammengekoppelt,  um  dann  gerade  in  ihrer  begrifflichen  Verbindung 
ihre  rhythmische  Oetrenntheit  um  so  deutlicher  zu  machen.  Jedes 
Belastetsein  mit  Sprachgebrauch  und  fertigen  Vorstellungen  verschwin- 
det, die  Worte  wirken,  als  wären  sie  eben  gewachsen,  und  erklängen 
zum  ersten  Male.  Hier  fällt  höchste  Künstlichkeit  mit  höchster 
Ursprünglichkeit  zusammen.  Der  Drang  nach  möglichst  prägnanten, 
eindrucksvollen  und  überraschenden  Worten  ruft  auch  gleichzeitig  das 
Bedürfnis  nach  deren  möglichster  Reinheit,  Frische  und  Unabgegriffen- 
heit  hervor.  Das  gleiche  Stilbedürfnis,  das  den  Syntax  der  Hymne 
so  gewaltsam  umbiegt,  sucht  auch  das  Wort  selbst  so  ins  Unerhörte 
zu  steigern.  Sogenannte  Schlichtheit  wird  man  hier  vergeblich  suchen. 
Der  gewaltige  Rhythmus  braucht  auch  gewaltige  Worte,  wenn  er  über- 
haupt in  ihnen  wirksam  werden  soll. 

Eng  damit  zusammen  hängt  die  Frage  nach  der  Bildlichkeit  des 
Wortes.  Auch  hierüber  ist  bei  der  Betrachtung  des  Gedichtes  das 
Wesentliche  schon  gesagt  worden,  was  sich  freilich  in  der  Hymne 
konsequenter  und  unvermischter  ausprägt.  Im  Gedicht  fand  man 
häufig  noch  ein  Nebeneinander  von  innerer  Plastik  und  Impression. 
Hier  aber  ist  die  innere  Bildlichkeit  des  Wortes  bis  aufs  äußerste 
durchgeführt.  Das  Gefühl,  daß  die  innere  Anschauung  um  so  sinn- 
licher sich  darstellt,  je  unmittelbarer  sie  Wort  wird  und  in  die  Sprache 
eingeht,  daß  das  nackte,  durch  die  Natur,  nicht  durch  den  Gebrauch 
bestimmte  Wort  in  sich  mehr  Plastik  birgt,  wenn  es  zentral  aufgefaßt 
wird,  als  eine  noch  so  gehäufte,  aber  immer  peripherisch  arbeitende 
Beschreibung,  das  ist  hier  ausschlaggebend.  Auch  hier  ist  ein  Ver- 
gleich zwischen  den  verschiedenen  Fassungen  Hölderlinscher  Gebilde 
sehr  instruktiv  für  die  geschärfte  Auffassung  des  bildlichen  Wort- 
inhalts bei  der  Verschiebung  nach  dem  härteren  Stil  hin.  Man  ver- 
gleiche die  »Chiron«  betitelte  Variante  des  »blinden  Sängers,  die 
»Blödigkeit«  genannte  Umarbeitung  von  »Dichtermut«,  »Ganymed«, 
vorher  »Der  gefesselte  Strom«,  mit  ihren  ersten  Fassungen.  Das 
Streben  nach  vermehrter  innerer  Plastik  schuf  die  Worte  folgender- 
maßen um:  »tritt  bar  ins  Leben«  statt  »Wandle  nur  wehrlos  fort  durchs 
Leben«,  »es  sei  alles  gelegen  dir«  statt  »es  sei  alles  gesegnet  dir«, 
»sei  zur  Freude  gereimt«  statt  »sei  zur  Freude  gewandt«,  »Wir,  die 
Zungen  des  Volks«  statt  »Wir  die  Sänger  des  Volks«,  »jedem  gleich« 
statt  »jedem  hold«,  »und  frierst  am  kahlen  Ufer«  statt  »und  säumst 
am  kahlen  Ufer<,  »in  der  Kluft  der  Lüfte  geschärftes  Spiel«  statt  »die 
lebensatmenden  Lüfte«,  »tief  quillts«  statt  »es  quillt«,  »im  Zorne  aber 
reiniget  sich  der  Gefesselte«  statt  »und  nun  gedenkt  er  seiner  Kraft, 
der  Gewaltige«,  »Zorntrunken«  statt  »im  Zorne«,  »dort  und  da«  statt 
»da  und  dort«,   »schauendes  Ufer«  statt  »schallendes  Ufer«,   »es  hört 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG.  393 

tief  Land  den  Stromgeist  fern«  statt  »es  hört  die  Kluft  den  Herold 
fern«  und  so  beliebig  weiter.  Überali  bemerken  wir,  wie  das  ge- 
bräuchlictie  Wort  durch  ein  ungewohntes,  wie  jede  zu  glatt  fließende 
Wendung  durch  eine  harte,  Aufmerksamkeit  erregende  Zusammen- 
setzung, wie  jedes  Wort,  das  zur  optischen  Erfassung  drängt,  durch 
ein  ähnliches,  das  mehr  geistig  gehaltvoll  ist,  ersetzt  wird,  wie  die 
Entfernung  von  der  Umgangssprache  immer  größer  und  die  Annähe- 
rung an  die  fast  verschollene  Grundbedeutung  der  Worte  immer  enger 
wird,  wie  jeder  vage  Ausdruck,  der  auch  nur  die  geringste  Freiheit 
für  die  äußere  Vorstellung  oder  gar  Assoziation  läßt,  ausgemerzt  ist 
durch  einen  möglichst  bedeutungstiefen  präzisen,  eindeutigen,  der  die 
Vorstellung  umfassend  erschöpft.  Kurzum,  hier  liegt  der  Drang  vor, 
die  Bewegung  möglichst  unmittelbar  und  restlos  durchs  Wort  zu  ver- 
leiben. 

Was  nun  die  Sprachplastik  sowohl  im  Wort  als  in  der  Gesamt- 
vorstellung angeht,  so  gibt  hierfür  das  Wesen  der  Metapher  und  des 
Beiwortes  einigen  Aufschluß.  Von  der  Vorstellung,  daß  ein  optisch 
erfaßbares  Bild  erstrebt  werde,  haben  wir  uns  endgültig  befreit. 
Demgemäß  kann  es  auch  der  Metapher  und  dem  Beiwort  in  der 
Hymne  nicht  darauf  ankommen,  die  Vorstellung  augenhafter  zu  ge- 
stalten, sondern  sie  wird  im  Gegenteil  wesentlich  dazu  dienen,  das 
Wort  begrifflich  zu  vertiefen.  Vielleicht  wird  diese  Vertiefung  besser 
Erweiterung  genannt,  und  zwar  Erweiterung  im  Sinne  des  grenzen- 
losen, hymnischen  Erlebnisses:  »Mutter  Erde!  Du  alles-versöhnende, 
alles-duldende!«,  »Eingeboren  wie  Feuer  war  in  dem  Eisen  das,  und 
ihnen  zur  Seite  ging  wie  eine  Seuche,  der  Schatten  des  Lieben«,  »Die 
Wetter  Gottes  rollten  ferndonnernd,  männerschaffend«,  »Wie  Morgen- 
luft sind  nämlich  die  Namen  seit  Christus«,  »Des  Königes  goldenes 
Haupt«,  »Die  unbeholfene  Wildnis«,  »dunkles  Licht«,  »Gipfel  der  Zeit«, 
»Im  ungebundenen  Abgrund«,  »Im  goldenen  Rauche  blühte  schnell- 
aufgewachsen mit  Schritten  der  Sonne,  mit  tausend  Gipfeln  duftend 
mir  Asia  auf«  (Hölderlin).  »Ihr  seid  rein  wie  das  Herz  der  Wasser«, 
»Wandeln  wird  er  wie  mit  Blumenfüßen,  »den  Blumen-singenden, 
Honig-lallenden«,  »im  schäumenden  Auge«,  »Wolkenwellen«,  im 
rollenden  Triumphe«,  »Flammengipfel«  (Goethe),  »Seht  ihr  den  Zeugen 
des  Nahen,  den  fliegenden  Strahl?«,  »die  herzerfreuende  Traube«,  »die 
Höhen  werden  sich  bücken«  usw.  (Klopstock).  Überall  sehen  wir 
hier  eine  überraschende  Verknüpfung  von  sinnlichen  und  geistigen 
Elementen,  eine  Versinnlichung  des  Geistigen  und  eine  Vergeistigung 
des  Sinnlichen.  Und  zwar  zielt  diese  Vergeistigung  durchs  Beiwort 
vor  allem  darauf,  den  betreffenden  Begriff  in  der  Richtung  des  Erleb- 
nisses zu  erweitern,  die  Unermeßlichkeit  der  Bewegung  auch  ihm  mit- 


394  FRIEDRICH  SIEBURG. 


auteilen,  aber  nicht  dadurcli,  daß  das  Wort  aufgelöst,  sondern  dadurch, 
daß  es  innerlich  vertieft  und  seine  Bildlichkeit  noch  umfassender  wird. 
Es  muß  freilich  bemerkt  werden,  daß  gerade  in  der  Hymne  ein  Nach- 
lassen der  dichterischen  Anspannung  gegenüber  der  Sprache  nicht 
selten  vorkommt.  Der  ungeheure  Atem,  der  ausreichen  muß,  um  jedes 
Wort  sinnlich  zu  erfüllen,  bricht  nur  zu  oft  ab.  Dann  wird  die 
Diktion  rhetorisch,  wie  manchmal  bei  Klopstock,  oder  philologisch, 
wie  öfter  bei  Platen. 

Es  darf  nicht  wundern,  daß  die  Hymne,  vor  allem  in  reiner  Aus- 
prägung, in  unserer  Lyrik  so  selten  ist:  die  Hymne  ist  die  höchste 
Form  der  Lyrik,  sowohl  vom  Erlebnis  her,  das  ein  religiöses  oder 
sittliches  Weltgefühl  voraussetzt,  als  auch  von  der  Sprache  her,  die 
hier  höchste  Wortsinnlichkeit  voraussetzt.  Wenige  nur  waren  mit 
solcher  Sinnlichkeit  begabt,  daß  sie  ihre  Oesamtexistenz  ins  Wort 
bannen  konnten,  wenige  nur  wußten  sich  als  Hüter  des  Geheimnisses, 
als  Zunge  der  Götter  und  des  Volks  als  berufen 

>Des  Vaters  Strahl,  ihn  selbst,  mit  eigner  Hand 

Zu  fassen  und  dem  Voli<  ins  Lied 

Gehüllt  die  himmlische  Gabe  zu  reichen.«  (Hölderlin.) 

Die  Kräfte  der  Götter,  deren  Geist  im  Geiste  des  Lieds  vernehmlich 
ist,  zu  fühlen  und  zu  offenbaren  in  Geschichte,  Zeit  und  Zukunft,  das 
ist  das  Amt  der  Seher,  der  vates,  deren  wir  nicht  allzuviele  in  der 
Welt  zählen  können.  Dem  deutschen  Bewußtsein,  das  so  unendlich 
reich  an  jener  Lyrik  ist,  die,  im  Erlebniskern  gleichsam  unbeweglich, 
über  das  Zuständlich-begrenzte  des  Liebes-  und  Naturgefühls  kaum 
hinausgeht,  sind  seine  wenigen  Vertreter  des  großen  lyrischen  Stils 
kaum  gegenwärtig,  wenngleich  das  Dasein  solcher  Hölderlinscher 
Prophetien  wie  »Germanien«,  »Patmos«  und  »Der  Rhein«,  die  in  der 
gesamten  Weltliteratur  höchstens  noch  an  Pindar  oder  den  Psalmen 
gemessen  werden  dürfen,  beweist,  wessen  die  deutsche  Sprache  in 
•einer  schöpferischen  Hand  fähig  ist.  Herder  sagt:  »Der  Dichter  wird 
uns,  oft  mit  wenigen  Worten,  ein  Ausleger,  ein  Anwender  der  Zeiten. 
Sende  uns,  nachdem  der  thebanische  Sänger  sanft  im  Tempel  ent- 
schlief, die  Muse  solche  Exegeten  der  Geschichte,  und  die  müßig 
gewordene  lyrische  Poesie  wird  wieder  geheiligt').« 


Schluß. 

Heute  will  es   scheinen,  als   habe  die  Tradition  der  Form  ausge- 
wirkt.  George,  der  uns  vor  Jahren  noch  eine  Wiedergeburt  des  Sprach- 

')  Herder,  Adrastea  VI.  Bd.,  1803,  S.  35. 


DIE  GRADE  DER  LYRISCHEN  FORMUNG. 


395 


liehen  bedeuten  konnte,  erweist  sich  heute  als  Abschluß  der  Entwiclc- 
lung.  George  ist  die  letzte  Gestalt,  die  noch  einmal  das  wortliche 
Erbe  reinigt,  heiligt  und  neu  lebendig  macht.  Seine  bewußte  Ab- 
kehr vom  Zeitalter,  sein  Streben,  die  dichterische  Sprache  aus  den 
»gesellschaftlichen«  Bindungen  zu  erlösen  und  ins  Religiöse,  Kultische 
zu  heben,  war  das  deutlichste  Symptom  einer  entscheidenden  Wende. 
Inzwischen  bricht  zusammen,  was  er  bekämpfte,  aber  die  weltanschau- 
liche Erneuerung  ist  noch  nicht  abzusehen.  Der  Abbau  der  von 
Klopstock  bis  George  erarbeiteten  sprachlichen  Hinterlassenschaft 
hat  nunmehr  begonnen.  Die  Lyrik  geht  neue  Wege.  Der  seit  langem 
heimlich  wirkende  Kampf  gegen  den  Zwang  der  Erscheinungsformen, 
gegen  das  »Als  ob<,  gegen  die  Wirksamkeit  der  Dinge  als  Relationen 
untereinander,  gegen  Impressionismus  und  Psychologismus  geht  radikal 
und  in  voller  Öffentlichkeit  vor  sich.  Das  Vielfache  des  Erlebens, 
nuanciert  von  Augenblick,  Seele  und  Landschaft,  der  Zeit  und  Raum 
gewordene  Geist  sind  verpönt,  der  Schrei  geht  nach  dem  Geist  an 
sich,  nach  dem  Leben  als  Quelle,  nach  dem  noch  nicht  Ding  geworde- 
nen Göttlichen  jenseits  von  Seele,  Raum  und  Zeit.  Dies  neue  Ethos 
macht  den  Abbau  der  Sprache  notwendig.  Die  Formseele  des 
Lyrikers,  viel  bedroht  und  zum  letzten  Male  rein  auftretend  in 
George,  ist  endgültig  aufgelöst.  Die  Welt  ist  wieder  Problem,  das 
Chaos  Objekt  geworden  und  steht  dem  Dichter  gegenüber.  Symbole 
\zu  ihrer  Bannung  und  Bewältigung  werden  nicht  gefunden*),  wollen 
nicht  gefunden  werden.  Einzig  und  allein  das  neue  Weltgefühl, 
die  unerhört  neue,  radikale  Ideologie  stehen  als  Schrei,  als  Ekstase, 
als  Pathos,  als  Tat  der  Welt  gegenüber.  Sie  suchen  den  Menschen 
wieder  zusammen  aus  seinen  Verstreutheiten  und  Zerstückelungen  in 
Bürger  und  Proletarier,  in  Dichter  und  Verbrecher,  in  Narren  und 
Helden.  Nicht  Einzelformen  des  Menschen,  in  seinem  tausendfachen, 
abgeleiteten  Verhältnis  zum  Leben,  zur  Welt,  nein,  der  Mensch,  rein 
und  unvermischt,  nicht  als  Funktion  und  Beziehung  sondern  als 
Wesen,  nicht,  Quelle  aller  Qual,  die  relativen  Seinsformen  des  Lebens, 
der  Staat,  die  Ehe,  der  Kapitalismus,  die  Großstadt,  nein,  das  Leben 
selbst,  als  Kraft,  als  Idee:  darauf  soll  es  ankommen.  Die  Neue 
Menschlichkeit  wird  glühend  empfunden,  gesucht  und  gepredigt: 

Nur  in  dem  Gestirn  der  Freundschaft 
Wird  die  Eide  neu  entstehn; 
Laß  im  Duni<el  ihrer  Feindschaft 
Wieder,  JWensch,  dein  Antlitz  sehn. 


')  Hier  wäre  der  Punl(t,  wo  eine  Untersuchung  über  den  überraschend  engen 
Zusammenhang  von  Expressionismus  und  Barock,  der  in  der  Lyriif  besonders  deut- 
lich ist,  einzusetzen  hätte. 


396  FRIEDRICH  SIEBURG. 


Steigt,  ihr  Völl<er,  aus  der  Blöße 

Wieder  auf  zur  Menschlichkeit; 

In  dem  Anblick  eurer  Größe 

Rettet  die  verlorne  Zeit!  (Hasenclever,  An  die  Freunde.') 

Der  Dichter  soll  nicht  mehr  sein  Ich  aussingen,  er  kann  es  nicht 
mehr,  die  Form  seines  lyrischen  Wesens  ist  gesprengt,  sein  Individuum 
ist  verschlungen  von  dem  heißen  Atem  der  neuen  Prophelenmusik, 
allein  die  Erschütterung,  das  Programm,  die  neue  Menschlichkeit  singt 
sich  aus.     Die  Stellung  des  Lyrikers  ist  völlig  verändert: 

Der  Dichter  träumt  nicht  mehr  in  blauen  Buchten. 
Er  sieht  aus  Höfen  helle  Schwärme  reiten. 
Sein  Fuß  bedeckt  die  Leichen  der  Verruchten. 
Sein  Haupt  erhebt  sich,  Völker  zu  begleiten. 

Er  wird  ihr  Führer  sein.    Er  wird  verkünden. 
Die  Flamme  seines  Wortes  wird  Musik. 
Er  wird  den  großen  Bund  der  Staaten  gründen. 
Das  Recht  des  Menschentums.    Die  Republik. 

(Hasenclever,  Der  politische  Dichter.) 

Neue  Aufgaben  fordern  neue  Formen.  Es  fragt  sich,  ob  die  Lyrik 
wie  wir  sie  kennen,  durch  die  neue  Weltanschauung  nicht  ausge- 
schaltet wird  2),  ob  sie  in  der  neuen  Oeistigkeit  überhaupt  noch  mög- 
lich sein  wird.  Eine  Weile  noch  wird  die  Berauschtheit  an  der  neuen 
Idee  sich  lyrisch  ausströmen.  Es  ist  ein  Behelf.  Der  lyrische  Sprach- 
leib ist  zerstört,  man  leistet  mit  den  Trümmern  des  alten  Baus  trümmer- 
hafte Gebilde.  Hat  aber  der  neue  Mensch  sich  seine  Weltanschauung 
anverwandelt,  ist  sie  seinem  Wesen  einbezogen  als  lebendige  Funktion, 
so  wird  auch  an  die  Stelle  des  Ideenrausches,  der  reinen  Revolutio- 
nierungsfreude  die  Mission  nach  außen  treten.  Das  Ethos  wird  aus 
dem  Ich  heraustreten  und  die  Welt  ergreifen.  Die  Entwicklung  geht 
in  Richtung  auf  Dostojewski].  Soll  die  Idee  nicht  anarchistisch  zer- 
fließen, sondern  als  geistige  Politik  sich  des  Daseins,  der  Erde  be- 
mächtigen, soll  die  Selbsterregung  der  menschlich-religiösen  Pflicht 
weichen,  die  ihre  Aufgaben  nicht  in  sich,  sondern  in  Welt  und  Mensch- 
heit sieht,  so  kann  dies  im  Wort  nur  episch  geschehen.  Der  Roman 
ist  die  neue  Form  der  Zukunft.  Dahinter  aber  wächst  schon  als  Ab- 
bild der  neuen  Erde  die  Tragödie  riesig  empor. 


')  Dies  und  das  folgende  Stück  aus:  Walter  Hasenclever,  Tod  und  Auferstehung, 
Leipzig  1917. 

2)  Werfel,  der  überragende  Lyriker,  schützt  sich  durch  sein  glühendes  Christen- 
tum gegen  die  Auflösung  des  Ich,  während  Johannes  R.  Becher  als  größter  Sprecher 
der  Zeit  die  Zersprengung  der  Persönlichkeit  bewußt  zum  Kern  einer  unerhört 
neuen  und  kühnen  Sprachform  macht  und  so  die  härteste  Fügung  hymnischer  Be- 
rauschtheit noch  übersteigert. 


Bemerkungen. 


über  den  Maßstab  in  der  bildenden  Kunst. 

Von 

Walter  Thomä. 

Einen  »Beitrag  zur  Geschichte  des  Maßstabproblems«  gibt  Karl  Neumann  im 
Repertorium  für  Kunstwissenschaft  1916  unter  dem  Titel:  »Die  Wahl  des  Platzes  für 
Michelangelos  David«  usw. 

Der  David  Michelangelos  war  von  den  Auftraggebern  ursprünglich  für  den 
Florentiner  Dom  bestimmt.  Kaum  war  die  Arbeit  fertig,  so  machte  sich  eine  Be- 
egung  geltend,  die  Figur  dem  Dom  zu  entziehen  und  anderwärts  aufzustellen,  und 
F-es  ist  zu  vermuten,  daß  Michelangelo  selbst  der  Vater  dieses  Gedankens  war,  nicht 
nur  in  »politisch-moralischer  Absicht«,  wie  Vasari  behauptet,  sondern  aus  künstle- 
rischen Rücksichten.  Sicherlich  hat  irgend  jemand,  wahrscheinlich  aber  er  selbst 
in  seinem  Bericht  an  den  Rat  gegen  die  Aufstellung  am  Dom  Einspruch  erhoben. 
Auf  diesen  Bericht  hin,  der  uns  verloren  gegangen  ist,  wurde  ein  Ausschuß  aus 
etwa  dreißig  florentinischen  Künstlern  gebildet  und  ihre  Outachten  wurden  proto- 
kolliert. Einige  blieben  bei  der  Aufstellung  am  Dom,  andere  waren  für  den  Rats- 
palast, einige  für  die  Loggien.  Aber  immer  wieder  wurde  der  Ruf  nach  dem  Autor 
laut,  der  selbst  am  besten  darüber  entscheiden  könne.  Michelangelo  nahm  an  der 
Sitzung  nicht  teil,  zeigte  sich  auch  nicht  und  wartete  anscheinend  den  Regierungs- 
beschluß ab,  der  für  die  Aufstellung  vor  dem  Ratspalast  entschied.  Mag  er  nun 
dabei  mitgesprochen  haben  oder  nicht,  das  Ergebnis  hat  sicherlich  seinen  Wünschen 
entsprochen.  Auch  war  er  der  Überzeugung,  daß  Donatellos  Judith,  die  auf  dem 
Platze  stand,  durch  den  David  zu  ersetzen  sei. 

Die  künstlerischen  Gründe  für  Michelangelos  Verhalten  sieht  Neumann 
in  einer  maßstäblichen  Verrechnung  der  Figur  mit  ihrem  architektonischen  Hinter- 
grunde, in  einem  Sieg  antiker  Gesinnung  über  die  bisherige  gotische.  Die  Alten 
kannten  am  Gebäude  nur  die  commodulatio  der  Teile,  die  Ootiker  aber  nahmen 
Rücksicht  auf  menschliches  Bedürfen.  Hierin  sah  schon  der  Franzose  Lassus  (1845) 
eine  Verschiedenheit  in  der  Maßstabempfindung  beider  Stilrichtungen,  und  die 
Wiedergeburt  des  antiken  Prinzips  ist  auch  bestimmend  für  die  Wahl  des  Platzes 
zum  David,  und  später  noch  für  die  anderen  Maßregeln,  welche  mit  der  Anbringung 
der  Figuren  an  der  sixtinischen  Decke  und  an  den  Mediceergräbern  verbunden  sind. 
Das  Jahr  1504  aber  ist  nach  Neumann  der  Zeitpunkt,  an  dem  dies  neue,  dem 
antiken  verwandte  Empfinden  zum  ersten  Male  in  der  neueren  Kunstgeschichte  zur 
Geltung  kommt. 

Die  Anschauungen  über  relativen  und  absoluten  Maßstab  bedürfen  einer  Nach- 
prüfung. Ich  liefere  hier  einen  Beitrag  dazu.  Ich  beginne  mit  den  allgemeinsten 
Grundsätzen,  nach  denen  der  Maßstab,  vornehmlich  in  der  Baukunst,  sich  eine  Mit- 
wirkung im  Oesamteindruck  sichert. 


398  BEMERKUNGEN. 


Die  formale  Wirkung  eines  Werkes  der  bildenden  Kunst  beruht  auf  den  Orößen- 
verhältnissen  seiner  Glieder  untereinander.  An  einem  Gebäude  z.  B.  wirkt  das  Ver- 
hältnis zwischen  Höhe  und  Breite,  zwischen  geschlossener  Mauerfläche  und  Mauer- 
öffnung, zwischen  Säule  und  Interkolumnium.  Solche  Größen  werden  relativ  ge- 
nannt; irgend  ein  kleineres  oder  mittleres  Bauglied  dient  als  Maßstab,  mit  dem  das 
Auge  die  übrigen  mißt,  z.B.  die  Säule  oder  der  Quaderstein;  oder  es  wird  die 
Breite  an  die  Höhe  angelegt,  oder  umgekehrt.  Zu  Zeiten  klassizistischer  Kunst- 
erstarrung wurden  die  Maße  sogar  in  feste  Verhältnisse  gespannt,  als  Maßeinheit 
galt  zeitweilig  der  untere  Säulendurchmesser,  und  man  nannte  ihn  den  Modul. 
Für  das  Auge  dient  niemals  ein  solches  Abstraktum,  sondern  die  allgemeine  Er- 
scheinung kleinerer  Glieder,  z.  B.  einer  Säule,  als  Maßstab. 

Die  Wirkung  eines  Werkes  der  bildenden  Kunst  wird  aber  mitbedingt  durch 
seine  sogenannten  absoluten  Maße,  d.  h.  durch  das  Verhältnis  seiner  Größe  zu 
der  Größe  des  betrachtenden  Menschen  oder  derjenigen  Dinge,  welche  an  den 
Menschen  gebunden  sind.  Auch  dieses  Maß  ist  eigentlich  etwas  Relatives  (keine 
Größe  ist  ohne  Relation  verständlich),  aber  man  nennt  sie  absolut,  weil  der  Maß- 
stab außerhalb  des  Werkes  liegt,  und  wir  wollen  diesen  Namen  beibehalten. 

Die  einfachste  Aufgabe  der  Baukunst  ist  der  Wohnraum;  auch  er  hat  eine 
absolute  Größe,  die  seine  Wirkung  mitbestimmt.  Diese  richtig  einzuschätzen,  ist 
nicht  schwer,  weil  der  Wohnraum  genug  anthropometrische  Bauglieder  enthält. 
Denn  abgesehen  von  den  Personen  selbst,  welche  sich  im  Räume  befinden,  und 
von  den  eingestellten  Möbeln,  lind  Türen  und  Fenster,  Herde,  Heizkörper,  Brunnen 
und  dergleichen  der  menschlichen  Größe  angepaßt. 

Die  nächste  Aufgabe  der  Baukunst  ist  eine  Vergrößerung  der  Wohnung  in  der 
Weise,  daß  viele  Räume  neben  oder  übereinander  angeordnet  werden.  An 
der  Größenschätzung  ändert  dies  nichts,  denn  an  Türen  und  Fenstern  wächst  nicht 
das  Maß,  sondern  nur  die  Zahl,  und  in  der  Höhe  entstehen  die  Geschosse. 

Nun  gibt  es  aber  noch  eine  zweite  Vergrößerungsaufgabe  der  Baukunst:  das 
Schema  des  Wohnraumes  als  eines  Aufenthaltsortes  für  einen  oder  wenige. Men- 
schen soll  so  vergrößert  werden,  daß  ein  Saal  entsteht,  ein  Versammlungsort  für 
eine  größere  Menschenmenge,  sei  es  für  Zwecke  der  Religion,  der  Schauspielkunst, 
der  Musik,  der  Politik,  oder  der  Gerichtsbarkeit.  Dann  sind  zwei  Prinzipien  zu- 
gleich wirksam,  welche  die  Form  des  Saalbaus  bestimmen:  das  Prinzip  der  rein 
proportionalen  Vergrößerung,  und  das  der  Beibehaltung  der  anthropometrischen 
Bauglieder.  Beide  wirken  neben-  und  ineinander;  die  Höhe  und  Breite  des  Raumes 
nimmt  zunächst  zu,  die  Mauern  werden  stärker,  dagegen  bleiben  Tische,  Bänke, 
Brüstungen  und  Treppenstufen  unverändert,  und  was  die  Türen  und  Fenster  be- 
trifft, so  wächst  ihre  Größe  etwas  und  ihre  Zahl  etwas;  ihre  Größe  wächst  also 
mit  einer  gewissen  Zurückhaltung. 

Diese  beiden  Prinzipien,  das  der  rein  proportionalen  Vergrößerung  und  das 
der  Beibehaltung  der  anthropometrischen  Bauglieder  sind  aber  nicht  die  einzigen, 
welche  die  Form  des  großen  Gebäudes,  des  Saalbaus,  modifizieren,  es  kommt  noch 
ein  drittes,  konstruktives  Prinzip  hinzu.  Jede  Pflanze,  die  wächst,- vergrößert  sich 
nicht  rein  proportional,  sondern  vermehrt  durch  Teilung  die  Zahl  ihrer  Äste  und 
Zweige,  und  jedes  Wachstum  am  Gebäude  führt  aus  konstruktiven  Gründen  eben- 
falls zu  einer  Teilung,  am  meisten  im  Grundriß.  Mit  der  Größe  vermehren  sich 
nämlich  die  Schwierigkeiten  der  Raumüberdeckung,  mag  sie  gerade  oder  gewölbt 
sein,  es  kommt  zur  Teilung  in  Schiffe,  zu  Innenstützen,  die  außerdem  mit  der 
Größenzunahme  zahlreicher  und  schlanker  werden,  also  zu  einer  Gliederung  in 
mittlere  Räume  und  Bauglieder,  die  nicht  wie  beim  Wohnhaus  a  s  Addition  aufzu- 


BEMERKUNGEN.  3Q<> 


fassen  ist,  sondern  als  Division.  Auch  Zahl  und  Größe  der  Türen  und  Fenster  wird 
dadurch  mit  beeinflußt,  ganz  unabhängig  vom  Einfluß  des  Gebäudezweckes,  es 
werden  im  allgemeinen  schon  aus  konstruktiven  Gründen  mehr  Türen  und  Fenster 
werden,  als  unbedingt  nötig  sind,  und  die  großen  Fenster  und  Türen  wieder  werden 
eine  Untergliederung  zeigen,  weil  man  so  große  Glasscheiben  und  Türflügel  nicht 
anfertigen  kann  oder  will.  Alle  diese  konstruktiven  Gründe  wirken  zurückhaltend 
auf  die  rein  proportionale  Vergrößerung,  wirken  also  in  einem  ähnlichen  Sinne,  wie 
die  Beibehahung  der  Größe  der  anthropometrischen  Bauglieder. 

In  welcher  Weise  erhält  man  an  dem  so  entstandenen  großen  Gebäude  die 
absolute  Größe  ihrer  Mitwirkung?  Sie  kann  eine  solche  nur  erhalten,  wenn 
sie  dem  betrachtenden  Menschen  zum  Bewußtsein  kommt;  er  muß  in  der  Lage 
sein,  sich  selbst  oder  überhaupt  menschliche  Körpergröße  und  menschliche  Spiel- 
räume an  das  Werk  anzulegen.  Ist  also  der  Raum  menschenleer,  so  sind  es  die 
anthropometrischen  Bauglieder,  welche  als  Maßstäbe  dienen,  und  die  stärkere 
Gliederung  des  Baus  kommt  dieser  Messung  zu  Hilfe,  das  Gebäude  erscheint  in 
der  wahren  Größe  und  wirkt  dadurch  monumental. 

Aber  auch  an  einem  solchen  gut  konstruierten  und  praktisch  entworfenen  Ge- 
bäude kann,  wenn  es  sehr  groß  ist,  der  Maßstab  verloren  gehen,  die  Maße 
wirken  unsicher  und  schwankend,  ein  Glied  beeinflußt  das  andere  und  umgekehrt, 
es  entsteht  Wechselmessung.  Außerdem  aber  geht  bei  großen  Gebäuden  zuweilen 
die  Größenwirkung  verloren,  es  erscheint  zu  klein.  Das  hat  einen  eigenen  Grund. 
Die  kleinsten  anthropometrischen  Bauglieder  nämlich  genügen  nicht  mehr  zum 
Messen,  sie  sind  selbst  relativ  zu  klein,  es  fehlt  an  mittleren  Maßstäben, 
die  zwischen  die  kleinen  und  das  Ganze  eingeschoben  sein  müßten.  Der  Bau- 
meister tut  dann  gut,  durch  Gruppierung  und  unter  Benutzung  der  konstruktiven. 
Großgliederung  solche  mittlere  Maße  zu  schaffen,  also  von  unten  herauf  die  Ad- 
dition, von  oben  herab  die  Division  an  den  Gebäudeteilen  zu  Rate  zu  ziehen.  Er 
muß  dem  Auge  Gelegenheit  geben,  von  der  Tür,  der  Treppe,  dem  Tisch  auf  einen 
nächst  größeren  Rahmen  und  von  diesem  auf  das  Ganze  zu  schließen.  Dieser 
Zweck  ist  also  ein  Wahrheitszweck,  er  dient  als  Korrektur;  es  ist  einleuchtend,  daß 
die  gleichen  Mittel  auch  der  Täuschung  dienen  können,  z.  B.  die  Größe  zu  über- 
treiben, etwas  zu  kleines  zu  vergrößern;  indessen  hat  die  Täuschung  stets  den 
Nachteil,  daß  ihr  leicht  eine  Enttäuschung  folgt,  wenn  der  Beschauer  den  richtigen 
Standpunkt  gefunden  hat. 

Der  Maßstab  in  der  gotischen  Baukunst. 

Die  christliche  Kirche  gotischen  Stils  ist  ein  Saalbau,  bei  dem  alle  die  er- 
örterten Prinzipien  wirksam'  gewesen  sind.  Einmal  hat  die  proportionale  Vergröße- 
rung stattgefunden:  Je  größer  die  Kirche,  desto  größer  werden  die  Arkaden,  desto 
stärker  die  Pfeiler,  desto  größer  im  allgemeinen  auch  die  Portale  und  Fenster,  wenn 
auch  diese  mit  dem  Wachstum  der  Kirche  nicht  ganz  Schritt  halten.  Sodann  sind 
alle  Erfordernisse  der  Liturgie,  alle  Kultglieder  im  größeren  Gebäude  in  der  ur- 
sprünglichen Größe  beibehalten  worden:  Altäre,  Lesepulte,  Taufsteine,  Brüstungen, 
Bänke  und  Treppenstufen;  sie  konnten  gar  nicht  anders  werden  als  sie  schon  waren. 
Zurückhaltend  wirkt  dieses  Prinzip  auch  noch  auf  die  Mitvergrößerung  der  Portale, 
indem  diese  ihren  Sinn  als  Menschendurchlässe  behalten. 

Dazu  kommt  drittens  die  Änderung  der  Proportionen  aus  konstruktiven  Gründen. 
Es  entstehen  mehr  Schiffe,  also  auch  mehr  Pfeiler,  die  Pfeiler  bekommen  mehr 
Dienste,  die  Maßwerkfenster  erhalten  mehr  Glieder.  Eigentümlich  ist  hier  noch 
die  Betonung  der  Vertikalteilung;  sie  führt  dazu,  daß  der  Pfeiler  keinen  zusammen- 


400  BEMERKUNGEN. 


fassenden  Kämpfer  hat,  sondern  viele  kleine  Kapitale,  gleichsam  Verkröpfungen  des 
gemeinsamen  Kämpfers.  Die  Folge  ist,  daß  die  Kapitale  und  ihre  naturalistischen 
Blattreihen  sich  nicht  wesentlich  vergrößern.  Aus  demselben  Grunde  werden  die 
Basen  der  Pfeiler  nicht  wesentlich  höher. 

Fragen  wir  also  nach  der  Größenwirkung  des  christlich  gotischen  Kirchen- 
baus, so  gilt,  daß  sie  dem  Betrachter  zum  Bewußtsein  kommt,  weil  die  kleinsten 
Maßstäbe  erhalten  bleiben,  und  es  auch  nicht  an  Zwischenmaßstäben  fehlt.  Am 
Äußeren  der  Kirche  spielen  die  Turmgeschosse  mit  ihren  Galerien  eine  Vermittler- 
rolle. Ich  glaube  aber  kaum,  daß  der  gotische  Baumeister  diese  Mittel  bewußt  oder 
aus  einem  eigenen  -Maßstabempfinden«  heraus  angewendet  hat;  sie  ergaben  sich 
aus  bautechnischen  Notwendigkeiten. 

Der  Maßstab  am  griechischen  Tempel. 

Etwas  anders  als  bei  der  gotischen  christlichen  Kirche  liegen  die  Dinge  beim 
griechischen  Tempel.  Auch  dieser  hatte  die  Form  eines  Saalbaus,  aber  sein  »prak- 
tischer Zweck«  war  ein  solcher,  bei  dem  die  Beziehung  zum  Menschen  fehlte. 
Er  war  kein  Kultgebäude,  kein  Versammlungsort,  sondern  das  Haus  des  Gottes; 
eine  richtige  Empfindung  seiner  absoluten  Maße  haben  wir  zunächst  nur,  wenn  er 
mäßig  groß  ist.  Nun  kommt  es  aber  auch  hier  vor,  daß  die  Aufgabe  besteht,  ein 
größeres  Gebäude  zu  errichten;  nicht  einer  größeren  Besuchermenge  zuliebe,  son- 
dern als  Selbstzweck,  vielleicht  um  den  Gott  mehr  zu  ehren,  günstiger  zu  stimmen, 
vielleicht  auch  um  den  Reichtum  des  bauenden  Stadtstaates  den  Fremden  zu  Oemüte 
zu  führen,  ein  Zweck,  der  gewiß  auch  in  der  Gotik  nicht  ganz  ausgeschaltet  gewesen 
ist.  Dann  treten  nicht  drei,  sondern  nur  zwei  formbildtnde  Prinzipien  auf,  erstens 
die  rein  proportionale  Vergrößerung  und  zweitens  die  Änderungen  der  Proportionen 
aus  konstruktiven  Gründen. 

Die  rein  proportionale  Vergrößerung  ist  dieselbe  wie  in  der  Gotik.  Die  Räume 
werden  höher  und  weiter,  die  Stützen,  die  Säulen,  werden  stärker  und  höher  zu- 
gleich; Basis  und  Kapital,  die  nicht  senkrecht  gegliedert  sind,  wachsen  entsprechend 
mit,  der  Haupteingang  wird  größer,  als  hätte  man  sich  den  Gott  größer  vorgestellt, 
und  die  Stylobatstufen  sind  »nicht  für  menschliche  Schritte«,  also  in  ihrem  Wachstum 
ganz  unabhängig. 

Die  Änderungen  der  Proportionen  finden  aus  konstruktiven  Gründen  genau 
wie  in  der  Gotik  statt,  und  wieder  am  stärksten  im  Grundriß.  Allzugroße  Raum- 
weiten lassen  sich  nicht  überdecken,  es  entstehen  mehr  Schiffe,  also  auch  im  Innern 
mehr  Säulen,  desgleichen  im  Äußeren,  aus  dem  Monopteros  wird  der  Dipteros  usw. 
Was  den  Aufriß  betrifft,  so  ändert  sich  infolge  der  Zunahme  der  Zahl  der  Säulen 
ihre  Schlankheit.  Sie  werden  zwar,  absolut  gemessen,  dicker,  aber  nur  wenig,  sie 
werden  dann  je  höher,  desto  schlanker'): 

Korinth.    .    .    .     Höhe  7,11   m    Verhältnis  1  : 4,06 

Propyläen  ...        „      8,86    „  „  1 : 5,6 

Nemea  ....        „      9,917,,  „  1:6,5 

Also  bleiben  die  Proportionen,  ebenso  wie  in  der  Gotik,  am  großen  Tempel  nicht 

genau  dieselben  wie  am  kleinen. 

Wichtiger  als  diese  Tatsache  ist  aber  am  griechischen  Tempel  die,  daß  es  an 
anthropometrischen  Baugliedern  rituellen  Ursprungs  fehlt,  vor  allem 
an  der  als  Durchgang  aufgefaßten  Türe.  Es  lag  für  den  griechischen  Baumeister 
kein  praktischer  Grund  vor,   von  den   langsam  entwickelten  und  fein  ausgedachten 


')  Nach  Durm,  Baukunst  der  Griechen  1910. 


BEMERKUNGEN.  401 

Proportionen  abzuweichen;  er  baute  ja  das  Haus  mehr  für  den  Oott  als  für  die 
Menschen').  Deshalb  mußte  an  größeren  Bauten,  z.B.  am  Didymaion  zu  Milet, 
der  Maßstab  verloren  gehen,  und  wir  können  vermuten,  daß  uns  das  Gebäude 
zu  klein  erschienen  wäre.  Sollten  aber  die  Griechen  nicht  dasselbe  Gefühl  gehabt 
haben?  Wir  kennen  die  Ausstattung  und  Umgebung  ihrer  Tempel  zu  wenig. 
Sicherlich  hätten  sie,  wenn  ihre  Entwicklung  ungehemmt  weitergegangen  wäre,  für 
solche  Riesenbauten  die  Mittel,  Maßstäbe  bzw.  Zwischenmaßstäbe  zu  schaffen,  auch 
noch  gefunden.  An  Einzelversuchen  dazu  fehlte  es  nicht.  So  hat  z.  B.  das  Arte- 
mision  zu  Ephesos  einen  mit  Figurenreliefs  geschmückten  Schaft  und  Säulenstuhl. 
Hier  ist  eine  Lösung  gefunden,  wenn  ich  auch  zugeben  muß,  daß  der  Gedanke 
anderen  Ursprungs  ist,  und  schon  dem  älteren  und  kleineren  Tempel  eignete.  Ich 
bezweifle  aber  gar  nicht,  daß  das  Arteniision  im  Unterschied  vom  Didymaion  auf 
Grund  dieser  Eigentümlichkeiten  den  richtigen  monumentalen  Orößeneindruck 
machte. 

Ich  glaube  also,  daß  das  rein  künstlerische  »Maßstabempfinden«  der  Griechen 
und  Gotiker  keineswegs  diametral  entgegengesetzt  war,  sondern  daß  derOebäude- 
zweck  allein  schon  zur  Erklärung  des  Unterschiedes  ausreicht,  wozu 
noch  kommt,  daß  die  Gotik  vertikale  Glieder  betonte  und  keine  Balken,  sondern 
Bogen  und  Gewölbe  hatte.  Griechen  und  Gotiker  gingen  in  dem,  was  allgemein 
und  selbstverständlich  ist,  nicht  auseinander;  beide  wußten  genau,  was  die  Ver- 
größerung für  Änderungen  bedingt. 

Der  Maßstab  in  der  Baukunst  der  Hochrenaissance. 
Die  Baumeister  von  St.  Peter  seit  Bramante  standen  unter  dem  Einflüsse  zweier 
Prinzipien,  die  sich  bekämpften,  dann  miteinander  verbanden,  aber  niemals  harmo- 
nisch zu  verschmelzen  vermochten:  man  hat  sie  das  christlich-mittelalterliche  und 
das  antike  Prinzip  genannt.  Verschieden  ist  bei  beiden  die  Auffassung  des  Gebäude- 
zwecks und  dann  auch  die  Kunstanschauung.  Das  christliche  Prinzip  verlangte  eine 
Kultkirche,  möglichst  vom  Grundriß  der  Basilika,  und  künstlerisch  eine  Unter- 
ordnung aller  Tendenzen  unter  diesen  Zweck.  Das  sogenannte  antike  Prinzip  war 
nicht  an  den  Griechen,  sondern  an  den  Römern  orientiert,  ignorierte  den  Kultzweck, 
verlangte  nach  dem  Zentralbau,  strebte  also  mit  dem  Bau  ein  Denkmal  zu  er- 
richten, vielleicht  der  völkerbeherrschenden  Kirche,  vielleicht  auch  der  Religion,  viel- 
leicht auch  der  eigenen  Kunst.  Dieses  Denkmal  hatte  viel  von  einem  Kunstexperi- 
ment, von  einem  Phantasiegebilde  mit  Selbstzweck,  und  dazu  gesellt  sich  eine  neue 
Kunstanschauung,  der  Drang  nach  dem  Starken  und  Mächtigen,  nach  einem  Mit- 
sprechenlassen der  absoluten  Größe,  welcher  dann  schließlich  zu  unmotivierten 
Massenanhäufungen  und  damit  zum  Barock  geführt  hat.  Dieses  »antike«  Prinzip 
ist  also  nicht  dasselbe,  das  den  griechischen  Tempel  baute  und  dem  Didy- 
maion seine  Größe  gab.  Der  Tempel  bleibt  ein  Haus  des  Gottes  und  enthält  seine 
Koiossalfigur  an  zentraler  Stelle.  In  St.  Peter  dachte  man  niemals  daran,  etwa  eine 
Kolossalfigur  Christi  über  den  Hauptaltar  zu  stellen,  so  oft  auch  heilige  Personen 
gemalt  und  gemeißelt  in  Überlebensgröße  vorkommen.  Demnach  ist  St.  Peter,  auch 
soweit  es  aus  antikem  Prinzip  entstanden  ist,  etwas  vom  griechischen  Tempel  Ver- 
schiedenes, einmal  in  der  Erfüllung  des  Zwecks,  und  zweitens  in  dem  Größen- 
bestreben; denn  mit  St.  Peter  verglichen  ist  auch  das  Didymaion  kein  Riese  mehr, 
am  allerwenigsten  an  Höhe  und  Großräumigkeit.  Infolgedessen  ist  auch  dort  der 
Maßstab  verloren   gegangen,   es  fehlt   nicht  an   kleinen,  wohl   aber  an    mittleren 


')  Es  war  allerdings  mehr  ein  Gehäuse  als  ein  Haus. 

Zeitsclir.  f.  Ästhetik  u.  alle.  Kunstwisseiischatt.    .\1V.  26 


402  BEMERKUNGEN. 


Gliedern,  und  hier  sind  die  Mißverhältnisse  zwischen  Schein  und  Wiriclichkeit 
schreiend,  die  Kirche  erscheint  zu  klein,  erst  eine  Menschenmenge  läßt  St.  Peter 
wachsen. 

Dieser  Fehler  ist,  so  scheint  es,  erst  der  folgenden  Generation  zum  Bewußtsein 
gekommen,  und  dieser  blieb  nichts  übrig,  als  geeignete  Bauglieder  mittlerer  Größe 
nachträglich  hinzuzufügen.  Bernini  fand  zwei  Aufgaben  vor,  nämlich  dem  Kuppel- 
raum und  der  Fassade  ihren  Maßstab  zu  geben.  Im  Kuppelraum  wählte  er  das 
selbst  schon  kolossale  Tabernakel,  und  für  dieses  die  gewundene  Säule,  nicht  nur 
des  Reichtums  wegen,  sondern  weil  die  Säule  dadurch  für  das  Auge  in  Stücke  zer- 
fällt, und  dadurch  noch  mehr  geeignet  wird,  zwischen  der  Menschengröße  und  der 
des  Raumes  zu  vermitteln.  Ganz  scheint  er  seinen  Zweck  nicht  erreicht  zu  haben, 
denn  heute  noch  wirkt  St.  Peter  zu  klein,  und  es  hat  daher  C.  Neumann  die  Mei- 
nung ausgesprochen,  daß  er  mit  der  »Eigenwilligkeit«  seiner  Formen  alle  Verhältnis- 
vergleichung habe  unmöglich  machen  wollen').  Zugegeben,  daß  er  den  Raum 
etwas  mit  Spektakel  füllt,  und  dadurch  von  der  Kuppel  ablenkt;  aber  wenn  dies 
sein  einziger  Zweck  gewesen  wäre,  hätte  er  doch  der  Kirche  einen  schlechten 
Dienst  geleistet.  Vielmehr  ersetzt  hier  nur  der  Reichtum  die  Größe  -),  oder  unter- 
stützt sie.  Die  andere  Aufgabe  war,  die  Fassade  in  der  richtigen  Größe,  allerdings 
nur  der  richtigen  Höhe,  wirken  zu  lassen;  das  Mittel  waren  die  Kolonnaden  mit 
Säulen  von  etwa  der  halben  Höhe.  Die  Breite  wünschte  Bernini  nicht  zu  betonen, 
da  sie  genügend  zur  Geltung  kam.  Also  auch  in  der  Hochrenaissance  ist  das  Ver- 
sagen der  Maßstabempfindiing  eine  vorübergehende  Erscheinung,  ein  Irrtum  gleich- 
sam, sonst  hätte  man  nicht  schon  so  bald  nach  einer  Korrektur  gesucht.  Anders 
wäre  die  Sache,  wenn  der  Fehler  viel  länger  unbemerkt  geblieben  wäre. 

Der  Maßstab  in  der  Figurenkunsf. 

Auch  die  Wirkung  der  Figur  beruht  auf  Verhältnissen,  und  auch  an  ihr  wirken 
die  absoluten  Maße  mit,  und  zwar  in  zweierlei  Weise:  Schon  am  lebenden  Menschen 
haben  wir,  also  im  Bereich  des  Möglichen,  das  Normale,  das  Hünenhafte  und  das 
Zwerghafte.  Außerdem  haben  wir  an  der  Kunstfigur,  also  über  den  Bereich  des 
Möglichen  hinaus,  die  Lebensgröße,  die  Über-  und  die  Unterlebensgröße.  Hieraus 
ergeben  sich  auch  zweierlei  Reflexionen  messender  Art. 

Haben  wir  einen  lebenden  Menschen  unbekleidet  und  isoliert  vor  uns,  so 
gibt  es  bestimmte  Körperteile,  die  wir  glauben,  am  richtigsten  beurteilen  zu  können 
und  die  wir  deshalb  als  Maßstäbe  anlegen,  so  z.  B.  den  Kopf.  Hat  der  Körper 
mehr  als  eine  gewisse  Zahl  von  Kopflängen,  so  erscheint  er  groß,  in  kräftiger  Form 
hünenhaft;  man  denkt  nicht  daran,  daß  ja  der  Kopf  selbst  unternormal  sein  könnte. 
Am  Kopf  wiederum  ist  es  die  Nase  oder  die  Augenbreite,  die  als  Maß  dient,  da- 
nach erscheint  das  Gesicht  lang  und  breit.  Sehen  wir  vom  Kopf  ab,  so  wird  bei 
Beurteilung  der  Breite  des  Körpers  die  Länge  als  Maßstab  genommen,  mitunter 
aber  auch  das  Umgekehrte.  Eine  größere  Breite  läßt  den  Menschen  kleiner  er- 
scheinen, eine  größere  Schlankheit  größer  als  den  Durchschnitt,  oder  ein  großer 
Mensch  erscheint  zu  schmal,  ein  kleiner  zu  breit.  Auch  hier  also  beeinflussen  sich 
die  Glieder  gegenseitig,  es  findet  eine  Wechselmessung  statt. 

Haben  wir  aber  Kunstfiguren  vor  uns,  so  entstehen  zwei  messende  geistige 
Tätigkeiten:  wir  beurteilen  die  absolute  Größe  der  Figur  unter  Einschalten  der  Vor- 
stellung,  daß  es  ein   lebender  Mensch  wäre,  also  unter  Übertragung  seiner  Maße 


')  A.  a.  O.  S.  21. 

»)  Vgl.  Gurlitt,  Barockstil  in  Italien  S.  335. 


BEMERKUNGEN.  403 

in  die  Lebensgröße;  sie  ist  dann  wieder  hünenhaft  oder  zwerghaft.  Oder  wir  be- 
urteilen die  absolute  üröße  der  Figur,  wie  sie  ist,  also  ohne  Einschalten  dieser 
Vorstellung,  sie  ist  dann  monumental  oder  intim,  und  dergleichen.  Eine  solche 
Trennung  in  zwei  Reflexionen  hat  in  der  Baukunst  keinen  Sinn,  denn  das  Gebäude 
ist  ein  Gebilde  von  eigenem  Leben,  die  Figur  aber  ist  ein  Bild,  ein  vergrößertes 
oder  verkleinertes  Bild  des  Menschen,  und  der  Mensch  hat  mittlere  Körpermaße 
von  mäßigen  Schwankungen. 

Uns  interessiert  hier  nur  die  zweite  Frage,  wie  die  überlebensgroße  Kunst- 
figur ihre  absolute  Größe  zur  Geltung  bringt,  welche  Maßstäbe  geeignet 
sind,  zwischen  dem  betrachtenden  Menschen  und  der  Figur  zu  vermitteln.  Sie 
können  nicht  wie  in  der  Baukunst  Teile  des  Gebildes  sein,  sondern  nur  außerhalb 
seiner  liegen,  wenn  sie  auch  der  Kleidung,  dem  Schmuck  angehören  sollten. 

Die  Kolossalfiguren  der  Antike  hatten  solche  Maßstabelemente.  Die  Athene 
Parthenos  hatte  eine  kleine  Nike  in  der  Hand,  ihr  Schild  trug  figürliche  Reliefs,  ihr 
Helm  war  vielteilig;  diese  Mittel  genügten  völlig,  die  Größe  der  Figur  zum  Be- 
wußtsein zu  bringen.  Über  nackte  antike  Kolossalfiguren  sind  wir  nicht  ausreichend 
unterrichtet.  In  der  christlichen  Kirche  fiel  dieses  Hauptbild  fort,  also  sind  es 
religiöse  Anschauungen,  welche  hier  der  Monamentalplastik  den  Boden  abgraben! 
dagegen  ließen  sich  Mosaiken  und  Glasfensterliguren  recht  gut  in  großem  Maß- 
stabe ausführen.  Erst  in  der  Hochrenaissance  und  dem  beginnenden  Barock  er- 
greift die  allgemeine  Vergrößerungssucht  auch  die  Figuren,  und  jetzt  erst  wird  die 
Frage  aktuell,  wie  man  diese  zum  Menschen  ins  richtige  Verhältnis  zu  bringen  habe. 

Bei  einer  nackten  Kolossalfigur,  wie  dem  David  Michelangelos,  kamen  als 
Mittel  nur  der  Sockel  und  der  Hintergrund  in  Betracht.  Sollte  die  Figur  richtig 
wirken,  so  mußte  sie  vor  einem  vielgliedrigen  Gebäude  stehen,  das  selbst  schon 
Maßstäbe  an  sich  trug,  z.  B.  dem  gotischen  Dom  zu  Florenz.  Sollte  sie  größer 
wirken,  so  gehörte  sie  in  einen  einengenden  Rahmen,  eine  Nische  z.  B.,  oder  der 
Hintergrund  mußte  selbst  durch  täuschende  Mittel  baulicher  Art  größer  erscheinen. 
Sollte  aber  die  Größe  der  Figur  unterdrückt  werden,  so  gehörte  sie  vor  eine  Kolossal- 
architektur im  Stile  von  St.  Peter.  Endlich  kam  noch  die  kahle  Mauer  als  Hinter- 
grund in  Frage,  die  an  sich  neutral  wirkt,  und  infolgedessen  die  Figur  in  der 
Größenwirkung  gleichsam  sich  selbst  überläßt;  die  Kolossalfigur  mußte  dann 
mangels  genügender  .Maßstäbe  zu  klein  wirken,  außerdem  aber  mußte  die  Orößen- 
schätzung  unsicher  werden. 

Die  Künstler  von  Florenz  haben  Gutachten  für  diese  und  jene  Aufstellung  ab- 
gegeben, aber  sie  vergaßen  hinzuzufügen,  von  welchem  Grundsätze  sie  ausgingen: 
ob  sie  der  Figur  ihre  Größe  lassen  oder  sie  unterdrücken  wollten;  und  von  Michel- 
angelo selbst  ist  nicht  überliefert,  ob  er  einen  solchen  Grundsatz  jemals  ausge- 
sprochen hat.  Wenn  er  aber  den  David  nicht  am  Dom,  sondern  vor  dem  Rats- 
palast aufzustellen  wünschte,  so  kann  er  nur  die  Absicht  gehabt  haben,  seine  Größe 
nicht  zu  betonen  —  das  ist  eine  negative  Absicht  — ,  vielleicht  sogar  etwas  zu 
unterdrücken,  besser  noch:  ihre  Wirkung  für  den  Beschauer  offen  zu  lassen,  sie  zu 
neutralisieren.  C.  Neumann  nennt  es  »normalisieren«,  doch  glaube  ich,  daß  diese 
Wirkung  durch  den  Palast  afs  Ganzes  ausgeübt  wird.  Viellefcht  sollte  das  verhüllt 
Unruhige,  das  beginnend  Barocke  der  Figur  dadurch  zur  Geltung  kommen. 

Der  Maßstab  in  der  graphischen  Kunst. 

Auch  bei  einem  graphischen  Blatt,  z.  B.  einer  Federzeichnung,  ist  natürlich  die 
absolute  Größe  für  die  Wirkung  mitbestimmend.  Die  absolute  Größe  wird  aber 
nur  richtig  empfunden,   wenn  im  Blatte  selbst  unveränderliche  Elemente  enthalten 


404  BEMERKUNGEN. 


sind,  die  zwischen  dem  Mensciien  und  dem  Ganzen  vermitteln,  nur  als  Maß- 
stäbe dienen  können.  Solche  Elemente  sind  in  der  Strichzeichnung  (wozu  auch 
Holzschnitt,  Kupferstich  und  Radierung  gehören)  die  Linien,  die  man  aus  der 
üblichen  Betrachtungsentfernung  sehr  wohl  zu  sehen  und  zu  empfinden  pflegt. 
Diese  Linien,  die  sich,  man  kann  sagen,  periodisch  wiederholen  (besonders  im 
Kupferstich  ist  dies  der  Fall),  haben  eine  bestimmte  übliche,  vom  Werkzeug  und 
der  menschlichen  Hand  abhängige  Größe,  sowohl  Dicke  als  Länge;  die  Dicke  be- 
trägt durchschnittlich  '/a— '/e  mm,  die  Länge  ist  nicht  größer,  als  es  der  Hand 
bequem  ist,  den  Strich  zu  ziehen.  Dadurch,  daß  diese  Linien  periodisch  wiederkehren, 
wirken  sie  etwa  wie  die  Quaderschichten  einer  Mauer,  z.  B.  einer  Ziegelmauer, 
deren  Elemente  die  Normalziegel  sind,  sie  vermitteln  zwischen  der  Empfindung  des 
Menschen  und  der  Größe  des  Blattes. 

Wenn  nun  das  Blatt  eine  gewisse  Größe  überschreitet,  so  sind  diese  Linien 
relativ  zu  klein,  um  noch  als  Maßstäbe  zu  dienen,  und  der  Größeneindruck  wird 
unsicher.  Es  bleibt  dann  nur  der  Ausweg,  mittlere  Maßstäbe  einzuschalten,  indem 
man  die  Linien  irgendwie  zu  größeren  Gruppen  zusammenfaßt,  wozu  ja  der  Gegen- 
stand der  Darstellung  mitunter  Gelegenheit  gibt.  Da  dies  aber  nicht  immer  der 
Fall  ist,  so  führt  die  genannte  Beobachtung  (neben  anderen  Ursachen)  dazu,  die 
Maße  graphischer  Blätter  in  gewissen  Grenzen  zu  halten,  sie  nicht  über  eine 
gewisse  Größe  auszudehnen. 

Wenn  also  ein  Künstler  eine  Strichzeichnung  (Federzeichnung)  angefertigt  hat, 
und  entdeckt,  daß  sie  zu  groß  beziehungsweise  zu  leer  ist,  daß  die  Linien  sich  in 
der  Fläche  verlieren,  so  muß  er  die  Federzeichnung  wiederholen,  und  zwar  mit  der- 
selben Feder  in  kleinerem  Maßstabe,  ohne  die  Strichzahl  zu  verringern,  oder  in 
gleicher  Größe  mit  stärkerer  Feder;  dadurch  stellt  er  die  Beziehung  zwischen  dem 
Element  und  der  Blattgröße  wieder  her.  Anderseits  kann  er  durch  Wahl  einer 
kleineren  Feder  bei  unverändertem  Maßstab  das  Blatt  größer  wirken  lassen,  wenn 
die  Linien  etwas  gruppiert  sind. 

Eine  hierzu  reziproke  Wirkung  aber  tritt  ein,  wenn  die  Strichzeichnung,  wie 
dies  im  Buchgewerbe  üblich  ist,  photographisch,  also  proportional  verklei- 
nert oder  vergrößert  wird.  Dann  ändert  sich  das  Verhältnis  zwischen  Element 
und  Blattgröße  nicht,  aber  das  Element,  die  Linie,  verliert  ihre  Beziehung 
zum  Menschen,  ihren  Charakter  als  Maßstab,  und  es  entsteht  wieder  eine  Un- 
sicherheit. Man  hat  Strichzeichnungen  von  Menzel  sowohl  verkleinert  (kleine  Aus- 
gabe des  illustrierten  »Zerbrochenen  Krugs«)  wie  vergrößert  (Illustrationen  zu  Kuglers 
Friedrich  dem  Großen).  Beides  ist  nicht  ohne  Verlust  abgegangen,  und  zwar  be- 
trifft der  Verlust  das  Herausfühlen  des  Persönlichen,  Handschriftlichen  des  Künst- 
lers. Die  Kunstübung  der  Strichzeichnung  hängt  zu  innig  mit  der  des  Schreibens 
oder  Stechens  zusammen,  als  daß  der  Betrachter  sie  völlig  absolut  verstehen  könnte. 
Darum  ist  auch  die  Sgraffitomalerei  keine  einwandfreie  Kunst,  obschon  sie  unter 
anderen  Bedingungen  entsteht,  sie  ist  etwas  wie  eine  photographische  Vergröße- 
rung einer  Handzeichnung.  An  modernen  Plakaten  wird  man  niemals  Tonlinien 
als  Schattenangabe  finden.  Die  absolute  Größe  des  graphischen  Blattes,  die  natür- 
lich seine  Wirkung  beeinflußt,  muß  dann  an  anderen  Maßstäben  gemessen  werden, 
die  außerhalb  des  Blattes  in  der  Umgebung  zu  suchen  sind. 


BEMERKUNGEN.  405 


Das  sichtbare  Unsichtbare. 

Von 
Mela  Escherich. 

In  der  Kunst  kann  die  Darstellung  Gottes  nichts  anderes  sein,  als  die  Darstellung^ 
des  Menschen.  Manche  Religionen  sind  vor  dieser  Konsequenz  zurückgeschreckt 
und  stellten  deshalb  die  Forderung  auf:  Du  sollst  dir  von  Gott  kein  Bild  machen. 
So  am  schroffsten  der  Islam,  dessen  religiöse  Kunst  daher  ganz  auf  Symb  ol  ik  an- 
gewiesen ist.  Mehr  oder  minder  aber  gipfelt  jede  hochentwickelte  Gottesverehrung 
in  dieser  Forderung:  Buddhismus,  Neuplatonismus,  Gnosis,  christliche  Mystik.  Es  ent- 
spricht dagegen  der  Größe  des  christlichen  Gedankens,  daß  die  zu  völliger  Ver- 
geistigung gesteigerte  Gottschauung,  wie  sie  Meister  Eckhart  fordert,  wie  sie  Dante 
schildert,  als  unentbehrliche  Begleiterscheinung  eine  materienfrohe  Sakralkunst 
zeitigt.  Die  Zulassung  der  Kunst  liegt  im  Haupldogma  des  Christentums  begründet. 
Dem  Satz:  Gott  ist  ein  Geist,  steht  gegenüber:  »Das  Wort  ward  Fleisch  und  wohnte 
unter  uns  und  wir  sahen  seine  Herrlichkeit.« 

Dieses  Dogma  der  Gottessichtbarkeit  ist  die  Sanktionierung  der  der  mensch- 
lichen Vorstellung  eigenen  Umbildung  des  Unsichtbaren  in  sichtbare  und  menschliche 
Erscheinung.  Es  ist  zugleich  eine  Aufforderung  an  die  Kunst,  sich  mit  dem  reli- 
giösen Problem  zu  beschäftigen.  Gleichwohl  gab  die  Entstehung  des  Christentums 
nicht  sofort  den  Auftakt  zur  Entwicklung  einer  neuen  Kunst.  Das  geistliche  Pro- 
blem war  inmitten  der  alternden  Antike  etwas  so  Unerhörtes,  daß  es  vieler  Jahr- 
hunderte bedurfte,  bis  sich  die  neuen  Ideen  so  weit  geklärt  und  beruhigt  hatten, 
daß  sie  zu  künstlerischer  Ausdrucksgestaltung  gelangen  konnten. 

Der  Hauptgegenstand  der  christlichen  Kunst  wurde  Christus.  Christus  der 
Mensch.  Christus  als  Kind,  als  Lehrer,  als  Leidender,  als  Toter,  als  Auferstandener. 
Bis  zum  16.  Jahrhundert  herrschte  —  mit  Ausnahme  von  Konrad  Witz,  der  in  seinem 
Genfer  Altarwerk  eine  spirituale  Auffassung  des  Johannesevangeliunis  versucht  - 
kein  andrer  Begriff,  als  den  Gottmenschen  ausschließlich  menschlich  darzustellen. 
Wichtig  ist  darüber  Dürers  Ausspruch:  -Plinius  schreibt,  daß  die  alten  Maler  und 
Bildhauer,  als  Apelles,  Protogenes  und  die  andern,  gar  kunstvoll  beschrieben  haben, 
wie  man  ein  wohlgestaltetes  Gliedermaß  der  Menschen  machen  soll.  Nun  ist  es 
wohl  möglich,  daß  solche  edle  Bücher  im  Anfang  der  Kirche  unterdrückt  und  aus- 
getilgt worden  seien,  um  der  Abgötterei  willen.  Denn  sie  haben  gesagt,  der  Jupiter 
soll  eine  solche  Prrportion  haben,  der  Apollo  eine  andere,  die  Venus  soll  so  sein 
und  der  Herkules  so;  desgleichen  mit  den  andern  allen.  Sollte  dem  also  gewesen 
sein  und  wäre  ich  zu  derselben  Zeit  zugegen  gewesen,  so  hätte  ich  gesprochen: 
O  lieben  heiligen  Herrn  und  Väter!  um  des  Bösen  willen  wollet  die  edle  erfun- 
dene Kunst,  die  da  durch  große  Mühe  und  Arbeit  zusammengebracht  ist,  nicht  so 
jämmerlich  unterdrücken  und  gar  töten,  denn  die  Kunst  ist  groß  und  schwer,  und 
wir  mögen  und  wollen  sie  lieber  mit  großen  Ehren  in  das  Lob  Gottes  wenden; 
denn  in  gleicher  Weise  wie  sie  die  schönste  Gestalt  eines  Menschen  ihrem  Abgott 
Apollo  zugemessen  haben,  also  wollen  wir  dieselben  Maße  brauchen  zu  Christo 
dem  Herren,  der  der  schönste  aller  Welt  ist.« 

Schon  die  Mystik  rühmt  Jesus  als  den  schönsten  Menschen,  den  lieblichen,  minnig- 
lichen  Bräutigam  der  Königin  Seele.  Die  Mystikerinnen  loben  sein  Antlitz,  seine 
Gesialt,  seine  Hände,  seine  Füße.  So  schildert  ihn  die  Kunst,  bald  in  zierlicher, 
bald  in  heldischer  Erscheinung;  aber  immer  rein  menschlich. 


406  IJEMERKUNGEN. 


Den  ersten  Versuch  der  Vergöttlichung  unternahm  Grunewald  in  seiner  Isen- 
heimer  Auferstehung.  Vielleicht  reizte  ihn  zumeist  das  koloristische  Problem:  die 
Lösung  von  Form  und  Farbe  im  Licht.  Daraus  ergab  sich  eigentlich  von  selbst 
das  seelische  JVtotiv,  die  Entmaterialisierung.  Die  Gestalt  beginnt  im  Augenblick  des 
Auffahrens  in  ihren  oberen  Teilen  in  Olanzlicht  überzugehen.  Ein  Versuch,  der 
mehr  Interessiert  als  befriedigt.  Man  hat  Im  Grunde  —  trotz  aller  bezaubernden 
Schönheit  des  Bildes!  —  das  Gefühl,  daß  hier  die  Mittel  des  Mittelalters  über- 
schritten und  andre  doch  noch  nicht  gefunden  sind.  Und  betrachtet  man  z.  B.  da- 
gegen Raffaels  Verklärung,  wo  das  Wunderbare  ohne  jedes  Ringen  nach  neuen 
Mitteln  geschildert  ist,  so  fällt  das  Urteil  nicht  zugunsten  Grünewalds  aus.  Aus 
Raffaels  Christus  weht  uns  trotz  kernfester  Körperlichkeit  das  Göttliche  an, 
während  bei  Grünewald  eher  eine  zauberhafte  Wirkung  erzielt  Ist. 

Was  Grünewald  wollte  —  sofern  wir  uns  anmaßen  dürfen  zu  raten,  was  ein 
Künstler  will!  —  hat  Rembrandt  erreicht.  Dank  einer  anderen  Techijik  konnte  er 
durch  Lichtgebungen  Wirkungen  erzielen,  die  vorher  nicht  ausdrückbar  waren.  Diese 
Technik,  vereint  mit  der  ergreifenden  Sprache  des  Herzens,  machte  Rembrandt  zum 
einzigartigen  Darsteller  des  Ethischen.  Das  Göttliche  deckt  sich  bei  ihm  allein  mit 
dem  Sittlichen.  Aber  trotzdem  läßt  es  sich  nicht  verhehlen,  daß  auch  Rembrandt  die 
Grenze  vom  Göttlichen  zum  Zauber-  und  Spukhaften  des  öftern  überschritt.  Die  große 
Auferweckung  des  Lazarus  Ist  nicht  frei  von  theatralischem  Pathos.  Das  Wunder- 
licht, das  die  Grabeshöhle  füllt,  könnte  dem  Apparat  eines  Magiers  entstammen. 
Auch  die  Emausszene  (Radierung  von  1654)  steht  unter  Zauberstimmung.  Im  »Opfer 
Manoah's«  aber,  wo  die  Erscheinung  des  Übernatürlichen  glaubhaft  wirkt,  ist  aus 
dem  Himmlischen  eine  Spukgestalt  geworden.  Der  Engel  des  Herrn  ein  Gespenst! 
Wenn  nicht  die  tiefe,  innige  Andacht  der  beiden  Knienden  die  Szene  erklärte, 
würden  wir  sie  ganz  anders  auslegen.  Rembrandt  hat  den  Kontakt  mit  der  Märchen- 
gläubigkeit des  Mittelalters,  die  das  Übernatürliche  natürlich  behandelte,  völlig  ver- 
loren. In  seiner  »Verkündigung  an  die  Hirten«  flüchten  die  Hirten  samt  dem  Vieh 
in  heilem  Schrecken  vor  den  Engeln.  Und  selbst  in  der  legendär  erzählten  Tobias- 
geschichte geht  der  Engel  mit  seinen  übergroßen  Flügeln  gespenstisch  um,  und  als 
er  plötzlich  auf  und  davonfliegt,  bellt  ihm  des  Toblas  Hund  wütend  nach.  Es  ist 
kein  Friede  mehr  zwischen  Gott  und  Weif. 

Befriedigender,  ästhetisch  wie  religiös,  ist  gegenüber  Rembrandt  die  mittelalter- 
liche Auffassung.  Das  Übernatürliche  ist  nur  natürlich  darstellbar.  Eine  leise  Ab- 
neigung macht  sich  darum  bei  manchen  mittelalterlichen  Künstlern  schon  gegen  den 
Heiligenschein  geltend.  Sie  materialisieren  ihn:  machen  dicke  Tellerscheiben  aus 
ihm  oder  goldfunkelnde  Räder  oder  juwelenbesetzte  Reifen.  Und  schließlich  lassen 
sie  ihn  ganz  weg. 

Auch  Unnatürliches,  wie  z.  B.  die  Himmelfahrt,  suchen  die  mittelalterlichen 
Meister,  besonders  die  Deutschen  zu  umgehen.  Den,  nicht  wie  bei  den  Engeln 
durch  Flügel  motivierten  Vorgang  des  Aufschwebens  eines  menschlichen  Körpers  ver- 
decken sie  mit  Vorliebe  durch  eine  Wolke,  die  nur  die  Füße  des  Auffahrenden 
sehen  läßt.  Nicht  allein  aus  religiösen,  sondern  auch  aus  künstlerischen  Gründen 
bürgerte  sich  die  Darstellung  des  leidenden  Christus  stärker  ein  als  jene  des  trium- 
phierenden. Die  Kunst  suchte  den  Gottmenschen  da  auf,  wo  er  am  allermensch- 
lichsten  ihr  entgegentrat. 

Ungleich  befangener  stand  sie  den  beiden  andern  göttlichen  Personen  gegenüber. 

Gottvaters  sichtbare  Erscheinung  hört  eigentlich  da  auf,  wo  die  Welt  anfängt. 
Nach  dem  Sündenfall  wird  sie  selten,  nach  der  patriarchalischen  Zeit  außerordentlich. 
Im  Neuen  Testament  erscheint  Gottvater  nicht  mehr  persönlich.    Nur  zweimal,  bei 


I 


BEMERKUNGEN.  407 

der  Taufe  und  bei  der  Verklärung  Christi  erschallt  seine  Stimme.  Die  Kunst  be- 
schränkte sich  zunächst  --  bis  zum  13.  Jahrhundert  —  auf  seine  in  Wolken  er- 
scheinende Hand.  Die  Hand  ist  in  der  altchristlichen  Symbolik  Verbildlichung  des 
Wortes,  eine  Aufgabe,  die  später  das  Spruchband  übernimmt.  Bei  Christi  Taufe, 
Verklärung,  Gebet  am  Ölberg,  Auferstehung  und  Himmelfahrt  zeigt  sich  Gottvaters 
Hand:  sprechend,  segnend  oder  sogar  herabgreifend,  wie  auf  der  Auferstehung  eines 
altchristlichen  Sarkophags  in  Lyon  oder  einem  Elfenbeinrelief  des  5.  oder  6.  Jahr- 
hunderts im  Münchener  Nationalmuseuni.  Endlich  aber  erscheint  Gottvater  in 
menschlicher,  zuerst  in  halber,  daim  in  ganzer  Gestalt.  Im  Mittelalter  entwickelte 
sich  dann  die  Vorstellung  einer  väterlichen  Erscheinung.  Sobald  dieser  Typus  ge- 
wonnen war,  verlor  sich  die  Befangenheit.  Die  Kunst  hatte  die  Menschwerdung 
Gottvaters  gewagt.  Nun  wandelte  der  göttliche  Greis  auch  bald  unter  den  Menschen; 
wir  sehen  ihn  bei  der  Grablegung  und  Beweinung  sich  in  den  Kreis  der  Trauern- 
den mischen  —  Beweinungen  von  Jean  Malwel,  Hans  Pleydenwurff,  Hans  Balduiig— , 
er  beschränkt  sich  nicht  mehr,  wie  auf  den  Darstellungen  der  Verkündigung  Maria, 
Taufe,  Kreuzigung  und  Kreuzabnahne  Christi,  auf  das  Herabschauen  aus  seinem 
Wolkenfenster.  Und  zu  herrlicher  Entwicklung  gelangt  nun  das  gottväterliche  Wesen 
in  den  Gnadenstuhlbildern,  den  feieriichen  Glorifikationen  der  Trinität. 

Ungleich  schwieriger  war  die  Verkörperung  der  dritten  Person,  deren  Bezeichnung 
»Heiliger  Geist«  an  sich  die  Körperiichkeit  ausschließt.  Geister  sind  zwar  auch  die 
Engel,  in  denen  die  Kunst  eine  so  unermeßliche  Mannigfaltigkeit  von  Typen  schuf. 
Aber  eben  diese  Mannigfaltigkeit  gab  ihr  die  Freiheit.  Hier  konnte  die  Kunst  er- 
finden, während  ihr  der  dogmatischen  Gestalt  des  göttlichen  Prinzips  gegenüber  die 
Phantasie  gebunden  war.  Versuche,  den  Heiligen  Geist  als  Engel  darzustellen, 
wurden  wohl  gemacht,  befriedigten  aber  nicht;  ebensowenig  wie  —  entsprechend 
der  Verkörpenmg  der  menschlichen  Seele  als  kleines  Figürchen  —  die  Darstellung 
des  Heiligen  Geistes  als  Kind.  Die  Kunst  fand  für  den  Heiligen  Geist  keinen  end- 
gültigen menschlichen  Typus  und  behielt  deshalb  im  wesentlichen  das  Symbol  bei, 
die  Taube. 

So  entstand  die  Merkwürdigkeit,  daß  inmitten  der  vermenschlichten  Welt  des 
Himmels  ein  Wesen  künstlerisch  unerlöst  blieb  und,  gleich  dem  jüngsten  Bruder  im 
Märchen  von  den  sieben  Schwanen,  Vogel  bleiben  mußte. 

Auf  manchen  Dreieinigkeitsdarstellungen  finden  wir,  entsprechend  dem  Dogma 
von  der  Gleichheit  der  göttlichen  Personen,  diese  als  drei  völlig  gleiche  Gestalten 
gebildet,  meist  mittleren  Alters  mit  kurzen  Spitzbärten;  manchmal  erscheint  der 
Heilige  Geist  als  Jüngling. 

Daneben  aber  wird  immer  wieder  die  Symbolik  zu  Hilfe  gezogen  und  es 
entstehen  eigenartige  Vermischungen  von  Bilddarstellung  und  Symbolik,  wie  z.  B. 
Gottvater  als  Mensch,  Gottsohn  als  Lamm,  der  Heilige  Geist  als  Taube;  Gott- 
vater drei  Ringe  haltend;  drei  laufende  Männer,  die  sich  an  Schopf  und  Hacken 
packen,  zu  einem  Dreieck  vereinigt;  Kreuz  (als  Sohn),  darüber  Taube  und  Brust- 
bild Gottvaters. 

In  zahlreichen  Versuchen  beschäftigten  sich  die  Künstler  auch  damit,  einen  be- 
stimmten figüdichen  Trinitätstypus  zu  schaffen:  Kopf  mit  drei  Gesichtern,  die  zu- 
sammen nur  zwei  Augen  haben  (12.— 14.  Jahrhundert).  Kopf  mit  drei  Gesichtern, 
zuweilen  in  den  drei  Lebensaltern  (böhmisch,  russisch,  deutsch).  Dreiköpfige  Figur 
(spanisch,  italienisch,  französisch).  Drei  zusammengewachsene  Halbfiguren  (Wand- 
gemälde in  Bozen).  Halbfigur  mit  vier  Augen  in  drei  nebeneinanderstehenden 
Köpfen  (französische  Miniatur  von  1524). 

Versuche,  die  an  die  Ungeheuerlichkeiten  von  Götzenbildern  erinnern,  und  wohl 


408  BEMERKUNGEN. 

schon  ihrerzeit,  als  dem  christlichen  Gefühl  nicht  genügend,  im  allgemeinen  abge- 
lehnt wurden. 

Selbst  eine  so  sinnige  Lösung  wie  das  französische  Mantelmotiv,  wo  die  drei 
göttlichen  Personen  mit  einem  einzigen  Mantel  bekleidet  erscheinen,  wodurch  das 
Dreifache  in  dem  Hervorquellen  der  göttlichen  Personen  aus  dem  faltigen  Oewoge 
des  Mantels  angedeutet  wird,  konnte  sich  keine  dauernde  Volkstümlichkeit  erwerben. 

Das  populäre  Dreieinigkeitsbild  wurde :  Gottvater  in  kaiserlich  päpstlichem 
Ornat,  Gottsohn  als  Erlöser,  der  Heilige  Geist  als  Taube.  Also  eine  Verbindung 
von  Bild  und  Symbolik;  aber  wenigstens  für  die  beiden  ersten  göttlichen  Personen 
eine  alles  Unnatürliche  meidende  Vermenschlichung. 

Das  Ergebnis  ist  folgendes :  Für  das  Übernatürliche  muß  zur  künstlerischen 
Verkörperung  eine  natürliche  Erscheinungsform  gefunden  werden.  Abweichung  von 
der  Natur,  Erfindung  mehrköpfiger  Wesen  und  dergleichen  wirkt  nicht  über-,  sondern 
bloß  unnatürlich,  und  ist  überdies  auch  meist  aus  ästhetischen  Gründen  verwerflich. 
Aber  ebenso  wird  auch  das  Hereinziehen  von  Stimmungen,  Lichteffekten  leicht  zur 
Klippe,  die  selbst  von  den  größten  Meistern  nicht  immer  glücklich  umschifft  wurde. 

Schließlich  bleibt  jeder  Versuch  auf  diesem  Gebiet  problematisch  und  —  letzten 
Endes  überflüssig.  Denn  was  die  Kunst  über  das  Göttliche  zu  sagen  hat,  dazu  be- 
darf sie  keiner  neu  zu  schaffenden  Typen. 

»Was  sichtbar  ist,  das  ist  zeitlich.  Was  aber  unsichtbar  ist,  das  ist  ewig.« 
(2.  Kor.  4,  18.) 

Das  Göttliche,  das  Geistige,  das  Ewige  —  es  ist  der  Kunst  Ziel ;  aber  das  Zeit- 
liche, das  Körperliche,  das  Menschliche  ist  der  einzige  Weg  dazu. 


Besprechungen. 


Dvoi'äk,  Max,  Idealismus  und  Naturalismus  in  der  gotischen 
Skulptur  und  Malerei.    München  und  Berlin  1918,  R.  Oldenbourg. 

Die  Gotik  ist  längst  wieder  modern.  Sie  war  es  in  der  Neuzeit  zum  erstenmal 
im  beginnenden  19.  Jahrhundert,  dank  der  Romantik,  und  blieb  es  weiterhin  lange 
Zeit  in  der  niederen  Form  einer  äußerlichen  Stilnachahmung,  jener  unzähligen  Back- 
steinkirchen, die  es  beinahe  fertig  gebracht  haben,  den  Zeitgenossen  die  alte,  echte 
Backsteingotik  zu  verleiden.  Jetzt  handelt  es  sich  darum  nicht  mehr,  sondern  um 
eine  neue  Art  Romantik,  den  Expressionismus.  Die  zeitliche  Spirale  ist  in  einer 
späteren  Windung  wieder  in  dieser  geistigen  Gegend  angelangt,  und  die  junge  Be- 
wegung ergreift  nicht  bloß  die  gegenwärtige  Kunst,  sondern  auch  die  Kunstwissen- 
schaft und  die  Kunsfschriftstellerei.  Man  braucht  nur  die  Schriften  über  Gotik  von 
Worringer,  Joris  K.  Huysmans  und  Karl  Scheffler  zu  nennen.  Wie  man  von  einem 
Renaissancismus  der  Mitte  des  vorigen  Jahrhunderts  gesprochen  hat,  kann  man  von 
einem  heutigen  Ooticismus  reden.  Der  »gotische  Mensch«  soll  den  Weg  zur 
deutschen  Kultur  der  Zukunft  weisen.  Die  italienische  Renaissance  hat  schon  lange 
keine  Monopolstellung  mehr  in  der  Kunstliteratur  oder  im  Bildungsinteresse  breiterer 
Schichten,  so  oft  das  auch  noch  immer  behauptet  werden  mag  Sie,  die  das  Glück 
hatte,  in  Deutschland  in  Herman  Grimm,  Jakob  Burckhardt  und  Wölfflin  Interpreten 
und  Propheten  zu  finden,  und  deshalb  wohl  auch  in  anderen  Forschungskreisen 
einigen  Neid  erregte,  herrscht  mit  ihren  Maßstäben  längst  nicht  mehr  einseitig  vor. 
Ja,  sie  ist  eigentlich  »überwunden«  oder  gar  »erledigt«,  nachdem  so  grimme,  wenn 
auch  zum  Teil  etwas  donquichotische  Recken,  wie  wieder  Scheffler  oder  F.  F.  Baum- 
garten oder  Richard  Benz,  gegen  Renaissancismus  zu  Feld  gezogen  sind,  von  älteren 
wie  Carl  Neumann  oder  Franz  Bock  in  diesem  Zusammenhange  zu  schweigen.  Es 
ist  bereits  eine  ganze  Weile  —  nicht  ohne  Einfluß  nationalistischer  Wallungen  — 
in  einem  gewissen  Schrifttum  guter  Ton  geworden,  auf  die  italienische  Renaissance 
und  ihre  Rezeption  in  Deutschland  ähnlich  zu  schelten,  wie  man  sonst  die  Re- 
zeption des  römischen  Rechtes  verpönt  hat;  wogegen  nun  wieder  vor  allem  Con- 
rad Burdach,  aber  auch  Hans  Delbrück  und  Walter  Goetz  sich  mit  Recht  und  guten 
Gründen  gewendet  haben.  Auch  Dvofäk  glaubt  einleitend  noch  Verwahrung  ein- 
legen zu  sollen,  weil  man  die  mittelalterliche  Kunst  nach  Gesichtspunkten  einer  weit 
zurückliegenden  Vergangenheit  (der  Antike)  oder  einer  viel  späteren  Entwicklung 
(Renaissance  und  Barock)  beurteile :  »Im  Grunde  genommen  ist  es  der  Standpunkt 
der  italienischen  Kunsttheoretiker  der  Renaissance-  und  Barockzeit,  der  da  noch 
immer  eine  Rolle  spielt«;  —  wirklich,  immer  noch?  Aber  gleichviel,  das  Bestreben, 
auszumitteln,  »was  nur  der  mittelalterlichen  darstellenden  Kunst  eigentümlich  war, 
worin  ihre  Eigenart  und  die  grundsätzlich  neue  Wendung  bestand,  die  sie  dem  pla- 
stischen und  malerischen  Schaffen  gab«,  wird  jeder  billigen. 

Man  darf  indessen  nicht  glauben,  daß  Fehlerquellen  nicht  auch  in  modernen 
Verwandtschaftsgefühlen  der  Gotik  gegenüber  liegen  können.  Wenn  Dvotäk  an  der 
Romantik,  die  bis  zu  gewissem  Grad  eine  einheitliche  und  lebendige  Auffassung  des 


410  BESPRECHUNGEN. 

Oesamtcharakters  dieser  Kunst  gehabt  habe,  bemängelt,  daß  diese  Auffassung  phan- 
tastisch und  einseitig  aus  geistigen  Gegenwartsströmungen  entstand,  so  ist  damit 
auch  eine  Gefahr  des  heutigen  Expressionismus  bezeichnet,  der  zugleich  doch  auch 
mancherlei  Verwandtschaft  mit  dem  Barock  zeigt.  Dvofäk  kritisiert  freilich  selber 
Worringer,  den  der  Expressionismus  inzwischen  zu  einem  seiner  Kronzeugen  ge- 
macht hat:  In  willkürlicher  Beschränkung  auf  einen  sehr  charakteristischen  Zug  der 
mittelaherlichen  Kunst  habe  er  einen  völkerpsychologischen  Begriff  des  gotischen 
Formwillens  zugrunde  gelegt,  der  wichtige  Erscheinungen  unserem  Verständnis 
näherbringe,  doch  dem  vielfältigen  geschichtlichen  Sachverhalt  gegenüber  noch  phan- 
tastischer sei  als  die  abstrakten  Stilbegriffe  der  Romantiker.  (Man  könnte  die  geistigen 
Verfahrungsweisen,  die  hier  Worringer  vorgehalten  werden,  ganz  wohl  als  expressio- 
nistisch bezeichnen.)  Auch  Dvofäk  selber  geht  freilich  von  den  allgemeinen  geistigen 
Grundlagen  der  mittelalterlichen  Kunst  aus,  darin  mit  Worringer  einig  und  sich  von 
Wöltflins  Art  unterscheidend.  Ich  weiß  nicht,  glaube  aber,  daß  ein  bewußter  Bezug 
auf  Wölfflin  vorhanden  ist,  wenn  der  Verfasser  sagt:  Die  Kunstgeschichte  könne 
gewiß  das  Wichtigste  zur  Erklärung  der  geistigen  Kultur  des  Mittelalters  leisten,  wenn 
sie  ihre  eigensten  Aufgaben  erfülle  und  künstlerische  Bestrebungen  und  Ausdrucks- 
mittel in  ihrer  immanenten  und  autonomen  Entwicklung  beobachte:  »Das  besagt 
aber  durchaus  nicht,  daß  man  sich  im  stolzen  Gefühl  einer  Lösung  der  kunsfge- 
schichtlichen  Probleme  im  eigenen  Wirkungskreise,  wie  sie  in  der  letzten  Zeit  zu- 
weilen verlangt  wurde,  Erkenntnissen  verschließen  müßte,  die  zur  Beurteilung  der 
allgemeinen  geistigen  Situation  des  Mittelalters,  sei  es  aus  der  fortschreitenden  Er- 
forschung anderer  Gebiete  des  mittelalterlichen  Geisteslebens,  sei  es  aus  dessen  ur- 
sprünglichen liierarischen  Denkmälern,  herangezogen  werden  können.«  Das  ist  un- 
anfechtbar, nur  sagt  es  natürlich  nichts  gegen  Wölfflins  Methoden  und  Ziele.  Ich 
möchte  dies  etwas  näher  dartun. 

Kunst  ist  nur  »von außen«  her  zu  verstehen;  denn  nur  die  Beziehung  der  Form 
zum  Ausdruck,  die  vom  Äußeren  her  das  Innere  erschließt,  ist  eindeutig,  nicht  aber 
die  umgekehrte.  Der  Gehalt  des  Kunstwerks  ist  ja  überhaupt  nicht  vor  dem  Werke  da, 
sondern  entwickelt  sich  erst  im  Werden  seiner  Form  ;  was  vorher  in  anderer  geistiger 
Form  vorhanden  war,  ist  etwas  anderes;  die  Form  kommt  nicht  wie  ein  Gefäß  da- 
zu, sondern  entfaltet  sich  in  der  Selbstentwickelung  des  Ciehaltes  zu  immer  größerer 
Bestimmtheit.  Es  ist  nie  vorauszusagen,  noch  hinterher  zu  beweisen,  daß  bei  einem 
inhaltlichen  Tatbestand  gerade  diese  Form  entstehen  mußte,  die  er  angenommen  hat; 
dagegen  ist  mit  wissenschaftlicher  Sicherheit  zu  erklären,  daß  umgekehrt  die  Form 
gerade  so  und  nicht  anders  wirkt,  daß  sie  solchen  Gehalt  oder  Ausdruck  enthält. 
Zwingend  ist  daher  auch  nur  der  Weg  des  unmittelbaren  künstlerischen  Er- 
lebens, nicht  der  kulturhistorisch  konstruierenden  Wissenschaft.  Zum  Innern,  zur 
Seele  des  Kunstwerkes  dringt  man  lediglich  durch  die  Sinne.  Es  ist  Einbildung  zu 
glauben,  man  könne,  indem  man  die  Sinne  überspringt,  liefer  ins  Innere  gelangen. 
So  las  ich  kürzlich  diese  Sätze :  »Aus  allen  Kunstwerken  weist  ein  geheimer  unter- 
irdischer Kanal  zu  dem  Allgemeingeistigen,  aus  dem  sie  ihren  Ursprung  nahmen. 
Der  Künstler  ist  nur  der  Individualisator  dieser  breiteren  seelischen,  geistigen  Grund- 
lagen. Wenn  es  uns  daher  möglich  wäre,  von  diesen  aus  dem  geistigen  Kanal 
nachfolgend  in  das  Werk  einzudringen,  so  würde  man,  von  innen  her  kommend  (?), 
gleichsam  von  selbst  zum  Verständnis  des  Ausdrucks  gelangen.«  (Kunstwart, 
zweites  Märzh.  1919,  S.  151.)  Das  ist  ein  Irrglaube.  Die  Feststellung,  daß  der  Künstler 
nur  der  Individualisator  allgemeiner  seelischer,  geistiger  Kräfte  sei,  ist  schon 
unglücklich  ausgedrückt,  denn  seme  Individualität  und  des  Werkes  Einzigkeit  wird 
damit  nicht  erklärt.   Und  wenn  man  an  Kunstwerke  so  herantritt,  wird  nicht  nur  der 


BESPRECHUNGEN.  41 1 


Kombination,  sondern  auch  dem  Geschwätz  leicht  die  Tür  geöffnet.  Auf  diese  Art 
kommt  man  nicht  »von  innen  her«  zum  Verständnis  des  Ausdrucks,  sondern  höchstens 
von  hinten  herum,  aus  dem,  was  hinter  dem  Kunstwerke  h'egt,  auf  »metaphysischec 
Weise;  kurz,  man  gerät  wieder  in  die  Bezirke  einer  spekulativen  Ästhetik.  Was 
■>von  außen«  nicht  zu  lösen  ist  an  dem  Geheimnis  eines  Kunstwerkes,  das  interes- 
siert eben  künstlerisch  nicht  mehr;  derartiges  gehört  zur  Kategorie  des  künstlerisch 
nicht  Wissenswerten.  Soweit  aber  auf  jenem  andern  Wege  ein  wissenschaftlicher 
Fortschritt  möglich  ist,  wird  er  sich  nur  in  ziemlich  allgemeinen  Formen  halten 
können,  wie  es  auch  bei  Dvorak  meist  geschieht.  Und  auch  dieser  Fortschritt  kann 
zujjleich  in  andererer  Minsicht  einen  Rückschritt  bedeuten,  solern  derlei  Erkennt- 
nisse eine  zu  große  Rolle  im  heutigen  Erleben  der  Kunst  beanspruchen.  Sodann: 
Die  Ziele  der  anderen,  kurzgesagt  einmal  der  Wölfflinschen,  Methode  sind  ja  zum 
Teil  auch  andere,  als  z.  B.  Dvorak  in  dieser  Schrift  verfolgt.  Wölfflin  ist  einzig  als 
Pädagoge  des  künstlerischen  Sehens  und  Verstehens.  Er  will  Quellen  nicht  nur 
«les  historisch  vermittelten  Verständnisses,  sondern  auch  des  künstlerischen  Genusses 
erschließen.  Ihm  ist  die  Wissenschaft  mindestens  nicht  in  allen  seinen  Büchern 
wichtiger  als  die  Kunst.  VVissenschaftlich  erschöpfen  kann  einen  Gegenstand 
natürlich  nur,  wer  alle  Quellen  benutzt;  aber  das  künstlerisch  Spezifische  und 
Wesentliche  kann  unter  Umständen  stärker  herauskommen,  wenn  man  sich  auf  die 
künstlerischen  Quellen  beschränkt!  Möglich,  daß  auch  das  Künstlerische  dann  nicht 
immer  allseitig  erschöpft  wird,  aber  seine  Eigenart  als  ästhetisches  Phänomen  kann 
unmittelbarer  zur  Geltung  kommen  und  überzeugen.  Daß  dieser  Weg  gerade  bei 
der  mittelalterlichen  Kunst  besonders  schwierig  wäre,  ist  zuzugeben,  und  auch 
Dvofäk  meint  ja,  daß  die  großen  Hauptperioden  der  Kunst  eine  verschiedene 
wissenschaftliche  Behandlung  erfordern.  Dennoch  ist  nicht  zu  zweifeln,  daß  die 
Wölfflinsche  Methode  (im  allgemeinsten  Sinne)  auch  der  Gotik  neue  und  reiche 
Aufschlüsse  abzugewinnen  vermag. 

Dvofäk  räumt  ein,  daß  man  in  der  Anwendung  der  mehr  abseits  liegenden 
Hilfsmittel  nicht  immer  glücklich  gewesen  ist,  und  er  weist  einige  der  dadurch  be- 
ilingten  irrtümlichen  Auffassungen  ab:  Zum  Beispiel,  daß  man  etwa,  wie  in  Sclinaases 
Zeit,  künstlerische  Erscheinungen  in  ursächlichen  Zusammenhang  mit  der  Ent- 
stehung neuer  wirtschaftlicher,  sozialer,  religiöser  Zustände  bringe,  was  längst  als 
unfruchtbar  erkannt  sei.  Unter  dieses  Urteil  fallen  Taine  und  modernere,  marxistische 
Kunstbetrachler,  aber  auch  einseilig  soziologische  Ästhetiker,  manche  katholischen 
Kunsthistoriker,  doch  auch  andere  Kunsttheologen,  die  z.  B.  in  die  sixlinische  Decke 
und  die  Vedizeergräber  allerlei  Dogmatik  hinein  geheimnissen,  wovon  der  Kunst- 
betrachter gar  nichts  zu  wissen  braucht.  Dvofäk  dagegen  will  nur  erfassen,  was 
allen  Strömungen  der  Zeit  und  geschichtlichen  Tatsachen  gemeinsam  war,  die  von 
<ler,  ihnen  zugrunde  liegenden,  mittelalterlich  christlichen  Weltanschauung  beeinflußt 
worden  sind.  Es  handelt  sich  eben  nur  um  eine  Wurzel  und  allerlei  Zweige  des- 
selben Baumes  oder  um  verschiedene  Erscheinungsweisen  desselben  Wesens,  — 
wenn  man  will,  um  einen  Parallelismus.  Die  spätmittelalterliche  Kunst  z.  B.  ist 
nicht  »versteinerte  Scholastik«,  sondern  beide  sind  Parallelwirkungen  eines  tiefer 
liegenden  allgemeinen  Kulturzuges  Dvofäk  will  in  den  Werken  der  großen  mittel- 
alterlichen Denker  nur  den  »theoretischen  Kommentar  zu  der  Wiedergeburt  einer 
idealistisch  monumentalen  Kunst  im  Mittelalter  sehen.  Wie  weit  freilich  ein  Kommen- 
tar künstlerisches  Erleben  vermitteln  oder  fördern  kann,  das  wird  problematisch 
Dieiben  und  nur  von  Fall  zu  Fall  zu  entscheiden  sein;  vielfach  wird  sich  bloß  ein 
inhaltliches  und  bei  der  Form  nur  ein  theoretisches  Verständnis  ergeben.  Auch  bei 
Dvofäk  ist  es  zumeist  so.  Bei  ihm  spielt  der  abstrakte  Kommentar  immer  wieder  eine 


412  BESPRECHUNGEN. 

überwuchernde  Rolle.  Er  meint  freilich,  daß  im  Mittelalter  sich  formale  Aufgaben 
den  allgemein  geistigen  Inhalten  weithin  haben  vollständig  unterordnen  müssen,  und 
daß  daher  durch  die  diesem  Inhalt  (nicht  als  Kunsigehalt  natürlich)  gewidmeten 
Werke  der  großen  Theolojjen  »mindestens  zum  Teil«  auch  Aufklärung  über  die 
künstlerischen  Ziele,  ihre  Wandlungen  und  die  Zusammenhänge  in  der  Geschichte 
der  Kunst  gegeben  werden  könne.  Indessen,  bei  aller  Verschiedenheit  der  Kunst- 
epochen wird  am  Ende  bestehen  bleiben,  daß  eine  menschliche  Betätigung  Kunst 
nur  in  dem  Maße  ist,  wie  ein  Inhalt  Form  geworden  ist,  und  es  muß  erlaubt  sein, 
auch  bei  einer  Untersuchung  wie  der  vorliegenden  zu  fragen,  in  welchem  Grade 
uns  die  mittelalterliche  Kunst  durch  jene  Betrachtungen  wirklich  als  Kunst  näher 
gebracht  werden  kann,  nnd  zwar  nicht  allein  unserer  wissenschaftlichen  Erkenntnis 
dieser  Kunstrichtung  allgemein,  sondern  auch  unserem  künstlerischen  Verständnis 
ihrer  einzelnen  Werke.  Kurz :  Was  gewinnt  der  Kunstfreund  für  die  Gegenwart  aus 
diesen  Belehrungen,  die  des  Kunsthistorikers  Einsicht  in  die  Vergangenheit  be- 
reichern? 

Hier  sei  zwischendurch  ein  besonders  zweifelhaftes  Beispiel  angeführt,  das 
nicht  von  Dvofäk  stammt,  sondern  aus  dem  kürzlich  deutsch  erschienenen  Buche  des 
Franzosen  Huysmans  über  die  »Geheimnisse  der  Gotik«.  Dort  wird  —  in  Fort- 
setzung der  Lehre,  die  Viktor  Hugo  in  seinem  Buche  Notre  Dame«  verkündet  hat. 
wonach  das  Gotteshaus  im  Mittelalter  für  die  zahlreichen  Analphabeten  Bibel  und 
Katechismus  gewesen  ist  —  dargelegt,  daß  z.  B.  das  Dach  der  Kirche  die  christ- 
liche Barmherzigkeit  »bedeute«,  die  Dachziegel  die  Soldaten,  die  das  Gotteshaus 
gegen  Überfall  der  Heiden  sichern,  die  drei  Portale  an  der  Turmfront  die  Drei- 
einigkeit; der  Grundriß  des  Gebäudes  soll  der  Gestalt  des  gekreuzigten  und  ge- 
marterten Christus  entsprechen,  das  Querschiff  seinen  Armen,  der  Altar  dem  Haupte 
Jesu,  die  Apsis  der  Dornenkrone,  die  Türen  des  großen  Eingangsportales  den  Wun- 
den seiner  nägeldurchbohrten  Füße  ...  Ja,  angenommen  selbst,  das  alles  ließe  sich 
wirklich  feststellen,  —  was  hätten  heutige  Menschen  davon?  Und  wie  die  Zeitge- 
nossen der  Erbauer  diese  Dinge  empfunden  haben,  werden  wir  schwerlich  noch 
genau  ermitteln.  Sind  das  also  »Geheimnisse  der  Gotik«,  auf  die  wir  begierig  sind? 
Meinen  wir  derartiges  Zeug,  wenn  wir  von  den  Rätseln  der  Gotik  sprechen?  Ich 
denke,  wir  meinen  tiefere  Dinge  als  diese  angebliche  »Tiefenforschung< .  Aber  diese 
Bestrebungen  sind  nicht  vereinzelt  und  richten  sich  nicht  bloß  auf  die  Gotik;  so  sagt 
z-  B.  gegen  ähnliche  Versuche,  die  an  der  venezianischen  Malerei  angestellt  worden 
sind,  Karl  Woermann  in  der  2.  Auflage  seiner  »Geschichte  der  Kunst  aller  Zeiten 
und  Völker«:  »Freilich  bemüht  die  neuere  Kunstwissenschaft  sich,  fast  allem,  was 
von  Burckhardt  als  , Existenzmalerei'  bezeichnet,  in  der  venezianischen  Kunst  nur 
seiner  malerischen  Wirkung  wegen  da  zu  sein  schien,  seine  Herkunft  aus  der  Dichtung 
oder  der  Geschichtschreibung  nachzuweisen.  .Unbestimmte  Gegenstände  malte  man 
damals  in  Venedig  nicht',  sagt  auch  Schubring  im  Anschluß  an  Wickhoff.  Aber  sei 
dem,  wie  ihm  wolle;  die  meisten  jener  unsicheren  und  ,papierenen'  Deutungen 
tragen  nicht  dazu  bei,  unsere  Freude  an  den  Bildern  zu  erhöhen.  Wir  werden  da- 
her kein  besonderes  Gewicht  auf  sie  legen.«  Auch  in  dem  Buche  von  Heinrich  Brock- 
haus über  »Deutsche  städtische  Kunst  und  ihren  Sinn«,  das  mit  dem  Anspruch  auf- 
tritt, nun  erst  alle  Einzelheiten  in  ihrer  eigentlichen  Bedeutung  entschleiert  zu  haben, 
ergibt  sich  etwas  künstlerisch  zumeist  vollständig  Gleichgültiges.  Dvofäk  steht  auf 
anderem  Niveau.     Doch  eine  gewisse  kunstferne  Trockenheit  eignet  auch  ihm. 

Seine  Schrift  ist  auch  ihrer  formalen  Haltung  nach  nicht  auf  ästhetische  Päd- 
agogik eingestellt.  Sie  ist  in  einem  Stile  geschrieben,  der  nicht  leicht  zugänglich, 
sondern  nur  mit  scharfen  begrifflichen  Zangen  faßbar  ist,  begrifflich  allerdings  stets 


BESPRECHUNGEN.  413 


sehr  bestimmt  und  sauber  wirkt.  Recht  viele  der  langen  und  geschachtelten  Sätze 
muß  man  mehrmals  lesen.  Es  sei  erlaubt,  einige  Beispiele  zu  geben:  »Es  ist  zweifel- 
los richtig,  wenn  man  auf  den  didaktischen  Sinn  der  mittelalterlichen  Skulptur  und 
Malerei,  der  Bibel  ,der  Armen  im  Geiste',  als  auf  einen  ihrer  wichtigsten  Züge  hin- 
weist, man  darf  jedoch  nicht  vergessen,  daß  neben  dem  historischen  und  dogma- 
tischen Inhalte  ihrer  Darstellungen  auch  überall  die  auf  einer,  wenn  der  Ausdruck 
gestattet  ist,  metaphysischen  Transsubstantion  aller  formalen  Elemente  und  Bindungen 
beruhende  Veranschaulichung  der  Souveränität  der  geistigen  Einsicht  und  Offen- 
barung gegenüber  der  an  sich  , unreinen'  und  ,irreführenden'  sinnlichen  Wahr- 
nehmung, der  lex  Dei  gegenüber  der  lex  naturae,  auf  den  Beschauer  erhebend 
wirken  sollte.«  —  »Die  spätantike  Auflösung  der  Form  in  farbige  Werte,  in  Licht  und 
Schatten,  die  äußerste  Grenze,  zu  der  die  klassische  Kunst  in  dem  Streben  nach  der 
Objektivierung  der  Naturphänomene  gelangte,  indem  sie  sie  als  durch  die  transi- 
torischen  Raunifaktoren  und  die  Stellung  des  Beschauers  zu  denselben  bedingt  er- 
kannte und  dadurch  ihre  eigene  Vergangenheit  und  das  Arkanum  ihrer  Bedeutung 
vernichtet  hat,  konnte  zwar  mit  der  altchristlichen,  jenseits  aller  materiellen  Güter 
stehenden  Ekstase  und  bis  zu  einem  gewissen  Grade  auch  noch  mit  dem  frühmittel- 
alterlichen Verzicht  auf  jeden  objektiven  Formeninhalt  verknüpft  werden  —  in  der 
vollständigen  Auflösung  des  geistigen  und  gesellschaftlichen  Aufbaues  zum  schranken- 
losen Subjektivismus  und  Spiritualismus  bestand  die  Brücke,  die  von  der  alten  Welt 
zur  neuen  führte  — ,  doch  in  dem  Maße,  als  man  begonnen  hat,  wie  in  allen  Lebens- 
bezügen so  auch  in  der  Kunst,  über  den  ursprünglichen,  von  der  Welt  der  mate- 
riellen Werte  ganz  losgelösten  Gefühlsradikalismus  hinaus  diese  in  das  neue,  nicht 
auf  natürlicher  Kausalität  beruhende  System  einer  geistigen  Weltordnung  einzufügen, 
mußte  der  alte,  auf  sensueller  Überzeugungskraft  allein  beruhende  illusionistische 
Stil  gerade  vom  Standpunkte  der  (neu  verstandenen)  künstlerischen  Wahrheit  und 
Wirkung  jeden  Sinn  und  Wert  verlieren  und  unbrauchbar  werden,  wie  z.  B.  umge- 
kehrt eine  mittelalterliche  auf  übernatürlicher  Verbindung  der  Erscheinungen  be- 
ruhende Darstellung  für  die  Zwecke  der  modernen  wissenschaftlichen  Illustration 
nicht  zu  brauchen  wäre.«  —  »Sie  bestand  darin,  daß  einerseits  in  diesen  Gebieten 
eine  Welt  übernatürlicher,  vom  zeitlich  und  räumlich  begrenzten  Geschehen  unab- 
hängiger, für  alle  Menschen,  Zeiten  und  Verhältnisse  geltender,  religiöser,  sittlicher, 
geschichtlicher  Mächte  verkörpert,  andererseits  aber  mit  dem  Glauben  an  solche  Ge- 
walten das  Bestreben  verbunden  war,  mit  ihm  sowohl  das  klassische  Vermächtnis 
eines  durch  Beobachtung  der  natürlichen  Gesetzmäßigkeit  systematisch  geschulten 
Denkens  und  Sehens  als  auch  die  aus  den  ungeheuren  Energien  neuer,  von  der 
Kraftentwicklung  und  vom  Phantasieleben  junger  Völker  getragenen  sozialen  und 
politischen  Bildungen  und  geistigen  Kulturen  sich  ergebenden  Forderungen  und  Ge- 
sichtspunkte zu  verweben  und  in  Einklang  zu  bringen.«  —  »Die  Mauer,  vor  der  die 
Statuen  stehen,  wird,  wenn  sie  überhaupt  zur  Geltung  kommt,  möglichst  gegliedert, 
wobei  die  Proportionen  der  Figuren  keine  Rücksicht  auf  die  der  zumeist  wie  die 
landschaftlichen  Hintergründe  in  den  Gemälden  im  Verhältnis  zu  den  Gestalten 
disproportionierten  Motive  dieser  Gliederung  nehmen,  wohl  aber  im  Einklang  mit  der 

durchgehenden,  freiräumlichen  Disposition  des  Baues  stehen.« Diese  Sätze  spiegeln 

ein  ernstes  Ringen  um  Bestimmtheit,  das  nirgends  verschwommen  bleiben  möchte, 
aber  weitaus  keine  einfache  Klarheit  erreicht.  Daß  dieser  Stil  den  Sinn  haben  sollte, 
der  Gotik  ebenso  zu  entsprechen,  wie  etwa  der  Wölfflinsche  Stil  der  italienischen 
Renaissance  kongenial  ist,  und  daß  er  daher  ebensoviel  wie  dieser  zur  Kennzeichnung 
der  behandelten  Kunstepoche  beitrage,  wird  wohl  nicht  behauptet.  Auch  darin  zeigt 
sich  ein  großer  Unterschied  von  Wölfflin,  dessen  kunstpädagogische  Verdienste  zum 


414  BESPRECHUNGEN. 


Teil  in  der  saftvolien  Gefühlsnälie  seiner  Sprache  begründet  liegen,  und  der  auch 
in  seiner  Form,  in  Disposition  und  Dil<tion  nicht  etwa  nur  der  Renaissance,  sondern 
viel  weiteren  geistigen  Welten,  im  besonderen  allerdings  den  hellenischen  und  latei- 
nischen Kulturkreisen  verwandt  erscheint.  (Ich  zweifle  freilich,  wie  bereits  gesagt, 
nicht,  daß  er  mit  seinen  Mitteln  auch  über  die  Gotik  sehr  wesentliche  Dinge  zu 
sagen  vermöchte.)  Dagegen  kann  man  zweifeln,  ob  der  Stil  von  Dvofäk  etwa  als 
besonders  deutsch  anerkannt  werden  müßte.  Dieser  Stil  stimmt  nur  zu  der  ganzen 
Denkweise  des  Verfassers,  die  stark  abstrakt  ist  und  auf  die  Möglichkeiten  leichter 
Aneignung  und  rezeptiv-ästhetischer  Verwertung  der  gefundenen  Ergebnisse  wenig 
achtet.  Wie  weit  seine  Aufstellungen  zur  ästhetischen  Einstellung  verhelfen,  wie 
weit  sie  dem  Leser  die  Werke  künstlerisch  näher  bringen,  danach  scheint  zumeist 
nicht  gefragt  zu  sein.  Der  Verfasser  bewegt  sich  eben  überwiegend  in  den  Theorien 
der  Dinge. 

Es  läßt  sich  nicht  leugnen,  daß  auch  diese  Art  der  Kunstbetrachtung  und  Dar- 
stellung jetzt  wieder  sehr  modern  zu  werden  begonnen  hat.  Die  unmittelbare  Hin- 
wendung zum  Werke,  zur  Sichtbarkeit  wird  neuerdings,  namentlich  in  der  expres- 
sionistischen Lehre,  zugunsten  einer  Kunstphilosophie  zurückgedrängt,  wie  in  der 
expressionistischen  Kunst  die  Bedingungen  der  Schaubarkeit  zugunsten  —  weniger 
des  Gefühls,  wie  der  Name  behauptet,  als  —  des  Denkens  vernachlässigt  werden. 
Wenn  die  Ästhetik  noch  vor  zwanzig  Jahren  Mißtrauen  zu  überwinden  hatte,  wie- 
wohl sie  längst  Wissenschaft  geworden  war,  so  ist  das  jetzt  ganz  anders  geworden, 
obgleich  sie  in  den  bezeichneten  Kreisen  vielfach  unwissenschaftlich,  mystisch  oder 
auch  okkultistisch  geworden  ist.  Das  Phantasieren  über  Kunst  steht  bei  den  Adepten 
der  neuen  Offenbarung  in  höchstem  Ansehen,  und  es  folgt  der  Kunst  nicht  nur 
nach,  sondern  geht  ihr  voran.  Dvoi'äk  liegt  nun  ein  Liebäugeln  mit  bloßer  Mo- 
dernität fern.  Er  hat  Gedanken,  wo  jene  oft  nur  Phrasen  finden,  aber  auch  er  läßt 
das  Gefühl  ebenso  wie  die  Sinnlichkeit  weit  weniger  sprechen  als  den  Verstand. 

Er  strebt  nach  schärfster  philologisch  historischer  Genauigkeit.  Allein,  es  ist  eine 
Frage,  wie  weit  er  mit  seiner  Methode  überhaupt  ähnlich  bestimmte  und  konkrete 
Ergebnisse  erreicht,  wie  es  Wölfflin  mit  der  seinen  gelungen  ist.  Denn  Wölfflin 
bedeutet  —  ganz  abgesehen  von  den  Inhalten  seiner  Feststellungen  und  von  der 
Frage,  ob  er  persönlich  nur  eine  Hochrenaissancenatur  ist  oder  nicht  und  ob  seine 
Methode  bloß  auf  beschränkte  Abschnitte  der  Kunstgeschichte  anwendbar  ist  — 
er  bedeutet  eine  Annäherung  an  exakte  Wissenschaft  auf  einem  der  höchsten  Gebiete 
des  Geisteslebens.  Gewiß,  es  gibt  auf  diesem  Felde  nur  eine  ungefähre  An- 
näherung an  das  Ideal  der  Exaktheit,  aber  Wölfflin  hat  eine  Annäherung  vollbracht. 


Dvoi^äk  hat  im  ersten,  mir  vorliegenden  Teile  seiner  Arbeit  nur  das  eine 
der  beiden  im  Titel  genannten  Themen  ausführlich  behandelt,  den  Idealismus.  Er 
breitet  eingehend  und  vertiefend  die  mittelalterliche,  kirchlich  spiritualistische  Geistes- 
verfassung aus,  gewinn-  und  genußbringend  zu  lesen,  doch  von  Kunstgeschichte  in 
der  ganzen  geistigen  Haltung  ziemlich  entfernt  bleibend,  mehr  in  der  Art,  wie  etwa 
Geschichte  der  Philosophie  oder  auch  der  Theologie  betrieben  werden  kann.  Be- 
stimmtere formale  Fragen  oder  gar  Beispiele  aus  der  Kunst  werden  auf  40  Seiten 
gar  nicht  gegeben,  auf  den  letzten  20  sind  dann  wenigstens  einige  Formprobleme 
erörtert,  aber  ebenfalls  ohne  Beispiele.  Ich  muß  mich  auf  die  Hauptlinien  be- 
schränken. 

Wir  können  uns,  sagt  der  Verfasser  durchaus  zutreffend,  nicht  leicht  in  eine 
Welt  hineindenken,  die  alle  Wirklichkeitswerte,  alles  durch  die  Sinne  oder  durch  den 


BESPRECHUNGEN.  415 


Verstand  Faßbare  nur  im  Spiegel  des  Absoluten,  Ewigen,  Unendlichen,  nur  als 
Manifestation  des  sinnlich  und  verstandesmäßig  unfaßbaren  göttlichen  Gedankens 
sieht.  In  der  Tat,  heute  können  Expressionisten  zwar  davon  reden,  daß  sie  ähn- 
lich empfänden,  aber  wenn  schon  ihr  Verhältnis  zur  Religion  problematisch  ist,  so 
ist  es  ihre  angebliche  Verwandtschaft  mit  der  Gotik  noch  viel  mehr.  Die  Schrift 
von  Dvorak  könnte  dazu  helfen,  das  Geschwätz  vom  gotischen  Menschen  als  Führer 
in  die  Zukunft  einzudämmen,  falls  jene  Propheten  des  Geistes  so  schwere  geistige 
Lektüre  läsen.  Nicht  einmal  jede  starke  Religiosität  ist  ohne  weiteres  mit  Gotik  ver- 
wandt: »Nicht  in  dem  religiösen  Charakter  allein,  auf  den  immer  hingewiesen  wird, 
liegt  das  Eigenartige  der  mittelalterlichen  Kunstentwicklung  -  die  Kunst  der  Gegen- 
reformation war  zum  Beispiel  nicht  minder  religiös  und  doch  trotz  mancher  Be- 
rührungspunkte sehr  weit  von  der  gotischen  entfernt  -  sondern  in  dieser  Allgegen- 
wart einer  jenseits  des  materiellen  Erlebens  liegenden  geistigen  Konstruktion,  deren 
Einfluß  so  groß  war,  daß  jedes  unvermittelte  Zurückgreifen  auf  sinnliche  Erfahrung 
in  geistigen  Dingen  .  .  .  als  ein  unsinniger  und  zu  verdammender  Verstoß  gegen  die 
Wahrheit  und  den  Menschenverstand  aufgefaßt  wurde.«  Das  war  damals  unver- 
brüchlich echt  und  original,  heut  ist  eine  Wiederholung  bei  europäischen  Völkern 
unmöglich.  Vielleicht,  daß  junge,  etwa  östliche  Kulturvölker  noch  eine  ähnliche 
Stufe,  wenn  auch'natürlich  in  vielen  Hinsichten  unvermeidlich  anders,  erleben  können; 
Europa  aher  vermag  etwas  dergleichen  wohl  nur  in  der  Vergangenheit  zu  suchen, 
aus  Romantik.  Denn  wie  es  immer  wieder  eine  klassizistische  Kunst  gegeben 
hat,  so  findet  sich  auch  immer  wieder  eine  archaistische,  die  nicht  aus  formalem  Ar- 
chaismus zu  entstehen  braucht,  sondern  auch  aus  innerer  Romantik  stammen  kann. 
Dvoi'äk  sagt  mit  Recht:  >Dle  gotische  Kunst  war  selbständig  und  eine  in  sich  ab- 
geschlossene Phase  der  allgemeinen  Kunstentwicklung  wie  die  allorientalische, 
klassische  oder  moderne.^'  Ihre  modernen  Nachbeter  aber  —  fügen  wir  hinzu  — 
werden  sich  vielfach,  von  der  geschwollenen  Phraseologie  abgesehen,  nicht  anders 
zu  ihr  verhalten,  als  sich  der  von  ihnen  verachtete  Renaissancismus  des  19.  Jahrhun- 
derts zur  Renaissance  verhielt,  oder  als  die  Stilhetze  des  19.  Jahrhunderts,  die  ein 
kiinstgeschichtliches  Repetitorium  war.  Solange  man  in  so  großen,  eigenartigen  und 
fernen  Epochen  wie  der  mittelalterlichen  Kunst  nicht  das  der  eigenen  Zeit  Fremde 
empfindet,  hat  man  sie  schwerlich  verstanden  und  in  ihrer  Eigenart  gewürdigt. 
Wenn  das  frühe  Mittelalter  nach  Dvorak  zu  einem  »barbarisch-vulkanischen,  grauen- 
haft revolutionären  Verzicht  der  neuen  Völker  und  der  neuen  Kultur  auf  sinnliche 
Schönheit  führte  bis  zur  Vernichtung  aller  alten  Kulturbegriffe-,  so  passen  die  Worte 
freilich  auch  auf  manche  Erscheinungen  der  Gegenwart ;  aber  wenn  dergleichen  bei 
frischen  Völkern  naturhaft  vorkommen  kann,  wird  es  bei  alten,  zum  Teil  kultur- 
niüden  Nationen  von  Perversität  nicht  frei  sein,  wovon  es  in  jenen  frühen  Epochen 
wahrscheinlich  nichts  enthielt. 

Die  Gotik  hat  nach  Dvofäk  »alle  realen  Substanzen  und  Zusammenhänge  durch 
neue  Begriffe  des  für  die  Menschheit  geistig  Wertvollen  durchdrungen  und  umge- 
staltet«. Überhaupt  spielt  nach  seiner  Vorstellung  der  Begriff  in  der  Gotik  eine 
größere  Rolle  als  vielleicht  in  irgendeiner  anderen  Kunst.  Die  gotische  Kunst  ging 
nicht  vom  Sinnlichen  zum  Geistigen  hin,  wie  alle  »naive»  Kunst,  sondern  umgekehrt 
vom  Geistigen  zum  Sinnlichen  nach  Art  »sentimentalischer«  Kunst  (zu  der  ja  auch 
der  Expressionismus  gehört).  Begriffliche  Bezüge  wurden  auch  für  die  Formen- 
beziehungen maßgebend,  es  entstanden  dadurch  »neue  formale  Ziele  und  Gesichts- 
punkte«. Es  ergab  sich  zum  Teil  eine  Art  Bilderschrift,  die  Aufnahme  dieser  Kunst 
war  mehr  dem  Lesen  verwandt  als  dem  Schauen.  Wollte  man  indessen  solche  Kunst 
unter  spezifisch  ästhetischen  Gesichtspunkten  auf  eine  höhere  Stufe  stellen  etwa  als 


416  BESPRECHUNGEN. 


die  griechische  Kunst,  so  verfiele  man  einem  Irrtum,  einer  Hegelei  im  üblen  Sinne, 
wenn  man  sich  dabei  auch,  wie  Dvoi'äi«  zeigt,  mit  der  Selbsteinschätzung  der  Gotik 
begegnete.  Wenn  Dvofäk  weiter  sagt:  »Der  Begriff  Aer  forma  substantialis  als  Ab- 
glanz der  verborgenen,  von  allem  Veränderlichen  unabhängigen  und  nur  der  intel- 
ligenten Erkenntnis  erfaßbaren  Urschönheit  und  Synthese  der  geheimen,  nur  dem 
,geistigen  Auge'  sich  entschleiernden  Ursachen  und  Wirkungen  spielt,  aus  der  neu- 
platonischen  Philosophie  übernommen  und  auf  die  christliche  Weltanschauung  über- 
tragen, in  der  mittelalterlichen  Literatur  von  Augustin  bis  Thomas  und  darüber  hin- 
aus in  fortschreitender  Vertiefung  und  Weiterentwicklung  eine  ähnliche,  nur  noch 
viel  wichtigere  Rolle  wie  das  klassisch-materielle  Schönheitsideal  in  den  Kunst- 
theorien der  Neuzeit«,  —  so  bleibt  zu  fragen:  Hatte  diese  Literatur  wirklich  Einfluß 
auf  die  Kunst  der  Steinmetzen?  Der  Verfasser  behauptet  das  nicht,  und  im  übrigen 
ist  sein  gelehrtes  Material  höchst  interessant  und  es  vertieft  zweifellos  das  Bild  der 
gotischen  Welt,  aber  es  fehlt  eben  dieser  Denk-  und  Forschungsart  stellenweise 
allzu  sehr  die  konkrete  Beziehung  zur  Kunst.  Er  hat  gewiß  recht,  wenn  er  gerade 
bei  der  gotischen  Skulptur  und  Malerei  noch  etwas  anderes  als  die  struktiven  und 
ästhetischen  Voraussetzungen  der  gotischen  Baukunst  zur  Erklärung  des  Form- 
schemas heranzieht.  Ob  aber  ein  unmittelbar  ästhetisches  Verständnis  der  Gotik 
wirklich  alle  seine  kulturhistorischen  und  geistesgeschichtlichen  Hilfen  braucht?  Ich 
vermag  mich  nicht  davon  zu  überzeugen.  Und  ist  denn  etwa  die  formale  Ana- 
lyse der  Gotik  schon  erschöpft?  Mag  die  gotische  Kunst  lange  verkannt,  unter- 
schätzt und  falsch  gewertet  worden  sein,  man  lernt  sie  allmählich  wohl  unbefangener 
und  gerechter  auffassen,  auch  ohne  daß  man  ein  ihr  vergleichbares  religiöses  Emp- 
finden oder  gar  theologische  Kenntnisse  zu  haben  braucht.  Wie  vielen  wäre  sonst 
überhaupt  noch  ein  nahes  und  frisches  Verhältnis  zu  ihr  möglich?  Tut  man  dem 
künstlerischen  Verständnis  dieser  Kunst  einen  Gefallen,  wenn  man  es  hinter  in- 
tellektuellen Dornenhecken  und  metaphysischen  Bedingungen  als  schwer  erreichbar 
hinstellt  ?  Wenn  Dante  auch,  worauf  sich  Dvorak  beruft,  gesagt  hat :  non  e  se  non 
splendor  di  quella  idea  usw.,  nun  so  ist  er  selber  ein  Beispiel,  daß  eben  doch  noch 
gewaltig  viel  anderer  Glanz  in  seinem  Gedicht  ist,  das  mit  seinem  unvergleichlichen, 
erhabenen  und  wahrhaft  weltenrichterlichen  Ton  jedem  allgemein  literarisch  emp- 
fänglichen, ästhetisch  hellhörigen  Modernen  ziemlich  mühelos  erreichbar  ist,  und 
davon  wollen  wir  uns  auch  durch  die  Vertiefung  in  mittelalteriiche  Kunsttheorien 
nicht  ablenken  lassen.  Es  gibt  auch  zu  denken,  daß  ältere  Übersetzungen  seines 
Gedichtes,  etwa  die  von  Streckfuß,  nicht  nur  einfacher  und  klarer,  sondern  auch 
dem  Original  näher  sind  als  die  Versuche  eines  so  großen  Künstlers  wie  Stefan  George, 
der  mit  moderner  Mystik  Verwandtschaft  hat  und  intellektuellen  Überlegungen  wie 
denen  von  Dvorak  nicht  abgeneigt  sein  dürfte. 


Dvorak  selber  fragt  nach  seiner  Darstellung  jenes  geistigen  Systems,  worin  das 
alles  nun  künstlerisch  zum  Ausdruck  kommt.  Aber  in  der  Antwort  bleibt  er 
wieder  recht  abstrakt.  Zunächst  führt  er  an:  Ein  angeblich  bewußtes  Sichabwenden 
von  Naturnachahmung  und  Naturtreue.  Aber  vielleicht  entspricht  diese  auf  die  Spitze 
getriebene  Formulierung  mehr  der  geistigen  Haltung  heutiger,  programmatisch  ein- 
gestellter Künstler  als  denen  früherer  Jahrhunderte.  Sollte  wirklich  etwas  so  Nega- 
tives bewußt  die  damaligen  Maler  und  Plastiker  geleitet  haben?  Im  frühen  Mittel- 
alter wird  ja  der  christliche  Gegensatz  zu  Natur  und  Sinnlichkeit  mitgewirkt  haben, 
aber  er  dürfte  in  der  Kunst  wohl  mehr  zu  einem  Vernachlässigen  der  Natur  als  zu 
ihrer  ästhetischen  Bekämpfung  geführt  haben.   Vielleicht  sah  der  Künstler  in  ihr  ein 


BESPRECHUNGEN.  417 


I 


souverän  zu  behandelndes  Material,  wie  es  auch  Dvoi'äk  an  einer  anderen  Stelle 
darstellt.  Das  erscheint  einleuchtender  als  eine  damalige  Losung  »gegen  die  Natur« 
oder  »weg  von  der  Natur«.  Ein  immerhin  unmittelbares,  wenn  auch  negativ  ge- 
färbtes Verhältnis  mancher  Künstler  jener  Zeiten  zur  Natur  mag  in  einer  Art  anti- 
pathischer  Einfühlung  bestanden  haben.  Einfühlung  ist  ja  keineswegs  immer  sym- 
pathisch; man  kann  etwa,  um  moderne  Beispiele  zu  nehmen,  die  perversen  Szenen 
in  Puccinis  »Tosca«  oder  aus  der  Schillingsschen  »Mona  Lisa«  stark  erleben,  indem 
man  sich  dagegen  sträubt,  und  man  mag  sie  gerade  dadurch  noch  lebhafter  emp- 
pfinden !  Vielleicht  ist  es  gotischen  Künstlern  mit  manchen  Erscheinungen  der  Natur 
ähnlich  ergangen;  nur  wird  man  gut  tun,  das  Verhältnis  nicht  zu  sehr  zu  rationali- 
sieren. Soweit  man  aber  die  künstlerische  Abstraktion  im  Mittelalter  mit  der  theologischen 
Erkenntnistheorie  zusammenbringt,  der  alles  Sinnen  wesen  Schein  war,  wei-den  moderne 
Menschen  sie  schwer  nacherleben  können,  wenn  es  auch  nicht  unmöglich  ist,  daß 
sich  noch  heutigen  Betrachtern  im  Anblick  solcher  Werke  Regungen  einer  inbrünstigen 
Oeistesliebe  einstellen;  es  wäre  engstirnig,  das  zu  leugnen.  Aber  es  kann  eine 
ziemlich  formale  geistige  Inbrunst  sein,  die  uns  z.  B.  auch  vor  heutigen  Erschei- 
nungen starker  katholischer  Qeistigkeit  nicht  selten  ergreift;  was  dann  selbst  Un- 
gläubige erschüttert,  ist  nur  der  unbedingte  Vorrang  des  Geistigen  und  Seelischen 
vor  dem  Körperlichen  und  Sinnlichen,  —  und  das  ist  nun  allerdings  dem  gotischen 
Orunderlebnis  verwandt.  Nach  dieser  psychologischen  Seite  hat  Dvoi'äk  leider  nicht 
versucht  oder  nicht  verstanden,  die  OeistigkeU  der  Gotik  dem  außerwissenschaft- 
lichen modernen  Bewußtsein  näherzubringen. 

Daß  der  mittelalterlichen  Kunst  in  ihrer  Haltung  zum  Geistigen  eine  gewisse  Selbst- 
verständlichkeit fehlt,  daß  sich  mehr  Anstrengung,  ja  krampfhafte  Anspannung  in  ihr 
findet,  wird  festzuhalten  sein;  in  der  Askese  des  Miftelalters,  auch  der  Kunst,  ist 
vielfach  noch  ein  ängstliches  Bemühen,  sich  des  Geistes  zu  bemächtigen,  wie  es  bei 
jungen  und  rohen  Völkern,  die  erst  vergeistigt  werden  sollen,  begreiflich,  natürlich 
und  wertvoll  ist,  aber  für  spätere  Stufen,  zumal  der  Kunst,  kein  Ideal  mehr  darzu- 
stellen braucht,  übrigens  dann  auch  kein  Heil  gegen  Veräußerlichung  und  Materiali- 
sierung  bietet.  Die  mittelalterliche  Qeistigkeit  ist  bei  aller  Großartigkeit  befangen, 
nicht  bloß  in  der  Scholastik  infolge  der  kirchlich  von  vornherein  festgesetzten  Er- 
gebnisse des  Denkens,  auch  auf  anderen  Gebieten,  in  der  Grundhaltung  des  Zeitalters 
zum  Geistesleben :  Es  ist  ein  Ringen,  das  ethisch  und  auch  intellektuell  von  hohem 
Wert  gewesen  ist,  von  höherem  als  eine  satte  und  blasierte  Fertigkeit;  aber  die 
Feindschaft  gegen  die  Sinnlichkeit,  die  ethisch  erhaben  sein  kann ,  wird  ästhetisch 
kaum  je  erhaben  wirken,  —  während  allerdings  ein  Sichhinwegsetzen  über  alltägliche 
Natürlichkeit  gepaart  mit  freier  Überlegenheit  dem  Wesen  des  Erhabenen  und  Mo- 
numentalen durchaus  entspricht. 


Zuzweit  gibt  der  Verfasser  einen  positiven  Hinweis  für  die  künstlerische  Er- 
scheinungsweise des  mittelalterlichen  Geistessystems,  der  aber  auch  in  etwas  Nega- 
tives ausläuft,  nämlich  in  die  Abstraktion.  Es  handelte  sich  sozusagen  um  Illustra- 
tionen zu  Zwecken  der  Demonstration  —  «etwa  wie  man  sich  noch  heute  in  einer 
wissenschaftlichen  Darstellung  einer  linearen  Abstraktion  und  Betonung  des  ,Wesent- 
lichen'  mit  Ausschluß  aller  anderen  Elemente  der  sinnfälligen  Erscheinung  zu  be- 
dienen pflegt«.  Das  »Wesentliche«,  das  vor  allem  interessiert,  ist  eben  der  Inhalt 
eines  verbalen  Berichtes,  der  zugrunde  liegt,  oder  die  theosophische,  hagiographische, 
liturgische  Bedeutung  der  dargestellten  Personen.  Alles  wird  in  Abkürzungen, 
einer  Art  Stenographie  gegeben,  ein  Baum  z.  B.  durch  ein  paar  Blätter,  ein  Bau  durch 
Zdtschr.  f.  Ästhetik  u.  Mg.  Kunstwissenschaft.    XIV.  27 


418  BESPRECHUNGEN. 


einige  Bauteile  —  pars  pro  ioto,  wie  dergleiciien  auch  im  primitiven  Denl<en  vor- 
kommt. Nun  gibt  es  aber  viele  Grade  und  Arten  von  Abstraktion  in  der  Kunst, 
irgendwie  abstrahiert  jede  Kunst,  und  manche  kann  es  sehr  stark  tun,  ohne  gerade 
unter  so  geistigen  Gesetzen  zu  stehen  wie  die  Gotik.  So  hebt  auch  Dvorak  an 
anderer  Stelle  hervor,  daß  die  altägyptische  Kunst  viel  mehr  hieratisch  gebunden 
war  als  die  gotische;  jene  hat  Typen  autoritativ  festgelegt,  —  wohl  lediglich  aus  kon- 
servativen Gründen,  um  die  Ehrfurcht  vor  der  Überlieferung  auszunutzen  (»was 
grau  \ox  Alter  ist,  das  ist  ihm  heilig«).  Oder,  ein  anderes  Beispiel,  »die  idealen 
Normen  der  höchsten  griechischen  Blütezeit«,  die  auch  Dvorak  einmal  in  gewissem 
Sinniei  zum  Vergleiche  für  die  Gotik  heranzieht ,  entspringen  allgemein  stilistischen 
Gründen  und  dem  Streben  nach  einer  Erhöhung  der  menschlichen,  auch  innerlichen 
Haltung.  Oder  Giotto  und  Masaccio  sehen  zugunsten  der  monumentalen  Erzählung 
von  allem  Zuständlichen  ab,  und  lV\ichelangelo  wird  von  Bäumen  und  Gebäu- 
den abgelenkt  durch  seine  Freude  am  Menschenleibe,  um  dessenwillen  er  alles 
andere  vernachlässigt.  Dagegen  hatte  die  Gotik,  wie  gesagt,  allgemein  geistige 
Gründe  für  ihre  Abstraktion.  Für  sie  ist  also  nicht  so  sehr  die  Stärke  der  Abstrak- 
tion bezeichnend  wie  deren  besondere  geistige  Art. 

Aber  trotz  alledem  steht  diese  Kunst  deshalb,  weil  sie  so  sehr  und  so  geistig 
abstrahiert,  nicht  etwa  in  scharfem  Gegensatze  zu  aller  Einfühlung.  Abstraktion  und 
Einfühlung  sind  ja  überhaupt  keine  ausschließendea  Gegensätze,  sondern  der  nega- 
tiven, abstrahierenden  Tätigkeit  steht  als  positives  Komplement  gegenüber  die  Ein- 
fühlung. Auch  in  der  gotischen  Kunst!  Wenn  man  damals  körperliche  und  seelische 
Schönheit  unterschied,  jene  z.  B.  Jesus  wie  etwas  Unwürdiges  absprach  und  sie  in 
der  Kunst  vernachlässigte,  weil  die  =wahre«  Schönheit  nicht  durch  die  Sinne  »er- 
kannt« werden  könne,  so  legte  man  den  Akzent  der  Einfühlung  eben  auf  die 
seelische  Schönheit,  von  der  auch  der  Körper  einige  »berechtigte«  Schönheit  durch 
den  Ausdruck  der  Unsterblichkeit  erhielt.  Das  Ausgemergelte  der  Leiber  wurde  als 
Durchgeistigung  empfunden,  wie  später  wieder  in  den  Ekstasen  des  Barock.  Heutige 
Menschen  können  freilich  nicht  immer  umhin,  in  jener  Schlankheit  etwas  Beängsti- 
gendes zu  sehen;  wie  Schwindsucht  eine  sublime  Schönheit  eigener  Art  entwickelt, 
so  finden  wir  manche  krankhafte  Verfeinerung  in  gotischen  Körpern,  die  in  der  Tat 
ja  oft  durch  Askese  erschöpft  und  verzehrt,  mehr  Nerven  als  Fleisch  und  Knochen 
sein  sollten.  Das  sind  Erscheinungen  eines  seelischen  und  geistigen  Durchbruchs,  und 
so  könnte  die  Gotik  weltgeschichtlich  gesprochen  am  Ende  eine  große  notwendige 
Entwicklungskrankheit  genannt  werden,  ohne  daß  damit  etwas  gegen  den  Wert 
ihrer  Kunst  gesagt  wäre.  Das  sind  Seiten,  die  Dvofäk  nicht  beachtet  hat.  Die 
gotische  Kunst  ist  doch  reicher  und  noch  durch  manche  anderen  Instinkte  außer 
den  geistigen,  mindestens  infolge  von  diesen,  bestimmt.  Wenn  man  sich  mehr  an 
die  Kunst  selber  hält  als  Dvofäk,  und  wenn  man  sich  mehr  psychologisch  als  logisch 
einstellt,  läßt  sich  wohl  ein  noch  runderes  Bild  der  Werte  geben,  die  die  Gotik  hat 
und  die  ihr  fehlen.  Der  moderne  Betrachter  wird  gotische  Werke  bisweilen  mit 
einer  Art  antipathischer  Einfühlung  aufnehmen,  also  z.B.  mit  gerade  entgegen- 
gesetzten Bewegungen  und  Körperhaltungen  darauf  antworten,  als  der  Haltung  der 
Werke  entspricht,  —  ohne  daß  man  sagen  könnte,  daß  ein  Werk,  zu  dem  man  sich 
so  verhielte,  nicht  »verstanden«  oder  nicht  «erlebt«  wäre. 

Was  aber  außerhalb  der  Einfühlung,  der  sympathischen  und  der  antipathischen, 
und  neben  der  Freude  ob  der  Gestaltungskraft  dieser  Kunst  an  ihr  erlebt  wird, 
schwankt  mindestens  für  den  heutigen  Betrachter  häufig  vom  Symbol  hinüber  zur 
Allegorie.  Die  so  besonders  geistigen  Inhalte  der  Abstraktion  und  auch  die  Be- 
ziehung zu  den  erwähnten  asketisch  erkenntnistheoretischen  Überzeugungen  mußten 


BESPRECHUNGEN.  410 


diese  Kunst  leicht  zur  Allegorie  führen.  Es  ist  eine  Kardinalfrage,  die  ihr  gegenüber 
zu  stellen  bleibt,  wie  weit  sie  zu  ihrer  eigenen  Zeit  symbolisch  verstanden  worden 
ist  und  wie  weit  sie  auch  noch  von  uns  so  zu  verstehen  ist,  oder  wie  weit  sie  von 
jeher  allegorisch  aufgefaßt  wurde  und  jetzt  nur  noch  so  zugänglich  ist  Dvoi'äk 
kritisiert  nun  nicht,  Kritik  findet  sich  in  dieser  Arbeit  bloß  in  philologisch-histo- 
rischer Form.  Er  stellt  nur  objektiv  fest,  daß  man  die  alten  Formsymbole  begriff- 
lich verwendet  hat:  »die  ikonographischen  Zentraltypen  der  christlichen  Kunst  des 
Mittelalters  haben  sich  in  der  ersten  Periode  der  mittelalterlichen  Entwicklung  in 
abstrakte  und  zunächst  im  Vergleich  zu  ihrer  ursprünglichen  Form  beinahe  form- 
lose Begriffssymbole  verwandelt.«  Man  benutzte  sie  formelhaft  wie  einen  kon- 
ventionellen Wortschatz  und  so,  wie  man  sich  auch  der  alten  Sprache  bediente^ 
Daß  dieses  Verfahren  künstlerisch  und  auch  geistig  nicht  immer  hoch  stand,  dürfte 
ruhig  ausgesprochen  wtrden.  Wenn  man  selbst  neue  formale,  räumliche  Anord- 
nungen oft  begrifflich,  spintisierend  verwendet,  z.  B.  Apostel  auf  den  Schultern 
von  Propheten  stehen  läßt,  so  ist  das  doch  ein  ziemlich  dürftiger  Sinn  solcher 
^sinnvollen«  Raumbeziehung. 


Dem  weniger  rationalen  Erleben  näher  kommt  der  Verfasser,  als  er  fest- 
stellt, daß  keine  geringere  Rolle  fals  Erkenntnisprobleme  das  Bestreben  gespielt 
hat,  durch  bildliche  Erfindungen  Gefühle  und  Vorstellungen  einer 
vollständigen  Loslösung  vom  realen  Sein  zu  erwecken,  und  als  er  Pinders 
Untersuchungen  über  die  Rhythmik  romanischer  Innenräume  heranzieht.  Man 
atmet  auf  nach  dem  Gestrüpp  scholastischer  Philosopheme,  die  man  an  sich 
hoch  schätzen  kann,  aber  als  Führer  zur  Kunst  —  auch  zu  der  ihnen  gleich- 
zeitigen —  doch  nicht  sehr  geeignet  zu  finden  braucht.  Hier  kommt  man 
endlich  vom  Intellekt  los  zur  Stimmung,  von  der  bloßen  Allegorie  weg  zum  Symbol, 
über  die  begrifflich  vermittelten  Erlebnisse  hinaus  zu  unmittelbareren.  Wie  der  Bau- 
kunst gesteht  Dvor-äk  auch  der  Malerei  und  Plastik  zu,  daß  sie  nicht  bloß  als  Be- 
griffsdarstellungen wirken,  »sondern  auch  den  Seelen  durch  die  Dynamik  einer 
abstrakten  künstlerischen  Organisation  eine  feierliche  und  andächtige  Stimmung« 
übermitteln  sollen.  Die  Formen,  um  die  es  sich  da  handelt,  bleiben  also  abstrakt, 
aber  ihr  Ausdruck  ist  doch  konkret  gefühlsmäßig;  und  die  abstrakt-gesetzmäßigen 
Ausdrucksmittel  gewannen  mit  ihrem  subjektiven  Gehalt  in  der  Gotik  eine  Selb- 
ständigkeit gegenüber  dem  objektiven  Darstellungsinhalt,  wie  sie  in  der  Antike  sie 
nie  besessen  haben.  Das  verbindet  diese  Kunst  mit  den  besten  Erzeugnissen  des 
modernen  Expressionismus.  Nur  soll  man  nicht  meinen,  daß  ihr  Erleben  oder  ihre 
Absicht  um  jener  Abstraktionen  willen  immer  vorwiegend  intellektuell,  begrifflich, 
allegorisch  sein  müßte,  und  daß  man  zu  ihrem  Verständnis  eine  spekulative 
Ästhetik  brauchte,  sei  es  eine  vergangene  oder  eine  gegenwärtige;  sondern  diese 
abstrakt  elementaren  Wirkungsmittel  sind  vielfach  einfach  ornamental  zu  ver- 
stehen. Das  Ornamentale  ist  ja  sehr  tiefer  Wirkungen  fähig,  selbst  im  sogenannten 
Kunstgewerbe  und  auch,  ja  gerade  bei  den  einfachsten  Motiven  wie  Kreis  oder 
Quadrat  und  dergleichen;  das  gilt  vom  geometrischen  Stil  der  Primitiven  bis  zu 
Peter  Behrens.  Diese  Grundelemente  der  räumlichen  Formenwelt  entfalten  häufig, 
auch  in  der  Gotik,  eine  »elementare«  Wirkung  nicht  bloß  im  Sinne  der  Einfachheit, 
sondern  auch  der  Intensität.  Nur  gerade  eine  »höhere«  Bedeutung  im  geistigen 
Sinne  haben  sie  nicht  immer!  Die  Sache  ist  also  vielfach  gar  nicht  so  geheimnisvoll, 
oder  besser:  diese  Kunst  gibt  mit  ihren  abstrakt  elementaren  Formen  zwar  aller- 
dings geheimnisvoll  starke  Wirkungen,  aber  sie  liegen  nicht  immer  oberhalb  der 


420  BESPRECHUNGEN. 


>natürlichen  Gesetzmäßigkeit  der  organischen  Bildungen«,  die  eben  l<omplizierter 
und  differenzierter  ist,  sondern  vielfach  auch  darunter.  Kurz,  die  i<ünstlerischen 
Geheimnisse  der  Gotik  dürften  zwar  nicht  flacher  sein,  als  Schriften  wie  die  Dvofäks 
sie  darstellen,  aber  schlichter,  primitiver,  als  es  da  erscheint.  Und  erst  recht  lieg^ 
es  so  bei  dem  modernen  Expressionismus  im  Vergleich  zu  seinen  geschwollenen 
Theorien.  Durch  diese  Einsicht  kann  in  beiden  Fällen  das  ehrliche  und  wirklich 
künstlerische  Verhältnis  zu  der  Kunst  nur  gewinnen. 

Natüriicheren  Boden  betritt  man  vor  allem  wieder  im  letzten  Teile  der  Schrift, 
wo  sie  —  endlich!  —  sich  formalen  Problemen  zuwendet.  Drei  Kompositions- 
elemente werden  genauer  betrachtet,  die  aus  dem  Streben  nach  übersinnlichen  Verbin- 
dungen erklärt  werden:  Die  Reihung  der  Figuren,  ihre  Bewegung  und  ihr  Verhältnis 
zum  Raum.  Das  Motiv  der  Reihung  ist  der  Gotik  nicht  etwa  eigentümlich,  es  ist  uralt 
nnd  in  der  modernen  Kunst  wieder  beliebt.  Man  braucht  nur  an  Hodlers  Paral- 
lelismus zu  erinnern.  Wenn  Hodlers  Bilder  oft  eine  santa  conversazione  in  nicht- 
kirchlicher Bedeutung  darstellen,  ohne  Handlung,  ohne  dramatischen  oder  epischen 
Inhalt,  vielmehr  lyrisch  oder  metaphysisch,  so  nahmen  auch  die  Heiligenscharen, 
die  eine  gotische  Kathedrale  schmücken,  nicht  an  einem  zeitlich  oder  örtlich  be- 
stimmten Ereignis  teil,  und  ihre  Gruppenbildung  ist  nicht  dadurch  bedingt,  sondern 
lediglich  durch  eine  rhythmische  Reihung.  »Wie  magisch  festgebannt  stehen  die 
Figuren  in  der  Massenkomposition  als  im  wesentlichen  gleichwertige  vertikale 
Schemen  nebeneinander  oder  zuweilen  auch  in  mehreren  Reihen  übereinander  als 
koordinierte  Glieder,  ohne  jede  einer  realen  Situation  entsprechende  Vereinigung, 
zuweilen  zu  Akkorden  und  Akkordfolgen  verbunden,  doch  ohne  abschließende  for- 
male Begrenzung,  so  daß  die  Reihen  in  der  EinbildungsKraft  ins  unendliche  fort- 
gesetzt werden  können.--  Auch  das  gilt  wieder  von  jenen  Bildern  Hodlers.  Als 
Ursache  will  der  Verfasser  einen  konstruktiven  Zwang  mit  Recht  nicht  gelten  lassen 
(die  Reihung  kommt  ja  eben  auch  ohne  ihn  vor),  wohl  aber  einen  geistigen  Zwang 
—  man  sollte  wohl  besser  sagen  einen  ästhetischen  ^,  der  vom  ganzen  Bau  aus- 
gehe. Die  Skulpturen  seien  der  Stellvertretung  für  architektonische  Bauteile  fähig 
geworden,  natüriich  nicht  im  rein  konstruktiven  Sinne,  sondern  dank  einer  gemein- 
samen Bedeutsamkeit.  Es  gibt  wohl  noch  eine  dritte  Beziehung,  nämlich  die  for- 
male Annäherung  zwischen  Statuen  und  Pfeilern.  Auch  Dvofäk  sagt  einmal:  »Die 
Statuen  nehmen  die  Form  von  Pfeilern  an,  weil  dies  der  Weg  war,  ihren  höheren, 
über  Körpernachahmung  stehenden  künstlerischen  Zweck  zu  erfüllen.«  Im  Grunde 
also  eine  ganz  einfache  Sache,  um  die  der  Verfasser  wieder  nur  unnötig  viel 
geistigen  Aufwand  macht!  Die  Komposition  beruht  nach  ihm  »auf  der  Annahme 
einer  transzendenten  Einheit,  zu  der  die  Körper  jenseits  ihrer  natüriichen,  mechani- 
schen und  organischen  Funktion  und  Verbindung  in  Beziehung  gebracht  wurden«. 
Man  tut  dem  lebendigen  künstlerischen  Verhältnis  zu  der  gotischen  Kunst  keinen 
Gefallen  durch  diese  einseitige,  unausgesetzt  hochgeschraubte  Betrachtungsart. 

Sehr  gute  Worte  findet  der  Verfasser  für  die  gotische  Bewegung,  die  er 
keineswegs  bloß  aus  Ausdrucksmotiven  erklärt,  aber  auch  nicht,  mit  Vöge,  einfach  aus 
der  Notwendigkeit  ableiten  will,  bewegte  Figuren  in  der  gegebenen  Blockform 
unterzubringen;  sondern  er  verweist  auf  den  ganzen  Zusammenhang  des  Baustils 
und  seines  Vertikalismus,  der  auf  die  Arbeiten  der  Steinmetzen  abfärbte.  Ein  Ein- 
wand ergibt  sich  dem  Referenten  hier  nur  in  einer  Hinsicht.  Unter  vielem  Rich- 
tigen und  Feinen,  das  Dvofäk  zu  der  Darstellung  des  Schwebens  beibringt,  sagt  er 
nämlich:  »Es  war  ein  Vermächtnis  der  altchristlichen  Kunst,  göttliche  und  heilige 
Gestalten,  wenn  sie  in  monumentaler  Erhabenheit  als  Vertreter  des  Waltens 
übernatüriicher  Mächte  den  Beschauer  zu  sich   emporziehend  erscheinen  sollten,  in 


BESPRECHUNGEN.  421 


traumhafter  Entmaterialisierung  schwebend  darzustellen.'  Meines  Erachtens  wird 
man  das  Schweben  mit  keiner  theologisierenden  Dialektik  für  besonders  monumental 
ausgeben  können.  Es  ist  eher  das  Gegenteil  davon.  Das  Leichte  und  Schwankende 
widerspricht  dem  Dauernden  und  Wuchtigen,  das  notwendig  zum  Wesen  des  Monu- 
mentalen gehört.  Auch  bleiben  trotz  Dvofäks  metaphysischen  Bemühungen  für 
den  sinnlich  empfindlichen  Betrachter  des  Schwebens  oft  peinliche  Assoziationen  un- 
vermeidlich. Die  Figuren  ohne  feste  Standhaftigkeit  der  Füße  erscheinen  eben  nicht 
selten  wie  aufgehängt  oder  angeklebt,  denn  sie  bestehen  nun  einmal  aus  Stein,  und 
keine  irgendwie  geartete  künstlerische  oder  außerkünstlerische  Seelenkraft  kann  das 
ganz  übersehen  lassen.  Zumal  wenn  sie  an  geneigten  Bögen  angeheftet  sind,  den 
Beschauer  gleichsam  körperlich  mit  ihrem  Sturz  bedrohend,  mag  ja  vielleicht  zu- 
weilen eine  albdruckartige  religiöse  Wirkung  beabsichtigt  oder  auch  »genossen« 
worden  sein,  ebenso  wie  ein  schreckhafter  Eindruck  bei  den  schwindelnd,  in  großer 
Höhe  und  auf  abschüssigem  Boden,  vorgereckten  Wasserspeiern  angestrebt  und 
erreicht  ist;  aber  Skulptur  ist  nicht  Malerei,  Stein  läßt  sich  nicht  spotten;  d.h.  was 
er  technisch  noch  lange  aushält,  kann  ästhetisch  schon  unmöglich  wirken,  und  die 
Empfindung,  daß  jene  Wesen  fallen  können,  ist  nicht  so  legitim,  wie  die  von  den 
bleckenden  Fratzen  der  Fabeltiere  ausgehende  Beklemmung.  Gewiß  ist  ja  auch  in 
den  wasserstrahlenartigen  oder  nadelwaldähnlichen  Wirkungen  der  »Pfeilerwälder«- 
der  pikante  Gegensatz  dieser  Vorstellungen  zu  der  des  Steines  und  die  Spannung 
dazwischen  beabsichtigt  und  genossen  worden,  aber  eine  Gefühlsweise,  die  alle 
diese  Dinge  von  gewissen  Punkten  ab  als  verkehrt  oder  gar  pervers  empfände, 
dürfte  sich  schwer  widerlegen  noch  als  verständnislos  erweisen  lassen.  Es  bleibt 
also  bei  jenem  Schweben  eine  »kitzliche«,  oft  sicher  absichtlich  prickelnde,  spannende, 
aufregende,  mit  ihrer  Mischung  von  Geistigkeit  und  Nervenschock  zweifellos  höchst 
raffinierte  Wirkung,  die  natürlich  in  ihrer  Art  genau  gewollt  und  gekonnt  war,  aber 
nicht  mit  den  Worten  »statuarisch«  und  »monumental«  in  Verbindung  gebracht 
werden  sollte,  wie  das  Dvorak  an  diesen  Stellen  ohne  Ausnahme  tut.  Und  das- 
selbe gilt  in  gewissem  Grade  auch  von  den  beiden  anderen  Hauptthemen  der 
gotischen  Bewegung,  der  geschwungenen,  sich  hinaufwindenden  Körperlinie  und 
dem  »widernatürlichen  Kontrapost«. 

Dvofäk  glaubt  freilich,  von  einem  neuen  Begriff  und  Sinn  der  statua- 
rischen Monumentalität  reden  zu  können,  der  nicht  eine  Rückkehr  zum  klas- 
sischen war,  »sondern  seinen  Schöpfern  als  der  Antike  übergeordnet  erscheinen 
mußte«.  Nun  gibt  es  natürlich  nicht  bloß  einen,  eng  zu  umschreibenden  Begriff 
der  Monumentalität,  sondern  es  gibt  z.  B.  eine  mehr  körperliche  und  eine  mehr 
seelische  und  geistige  Art,  also  graduell  verschieden  verinnerlichte  Ausprägungen. 
Aber  auch  die  Ruhe  und  Würde  der  klassischen  Monumentalität  ist  immer  schon 
stark  seelisch,  weit  mehr  als  etwa  die  der  ägyptischen,  die  übrigens,  rein  als  Mo- 
numentalität genommen,  schwerlich  einer  späteren  weichen  dürfte;  ohne  Ruhe  und 
Würde  aber,  ohne  eine  wirkliche  innere  Gelassenheit  ist  wohl  keine  Monumentalität 
denkbar.  Inbrunst  und  Überschwang,  seien  sie  an  sich  noch  so  wertvoll,  können 
sie  nicht  ersetzen.  Es  gibt  eben  gewisse  gemeinsame  Grundzüge  jeder  Monu- 
mentalität. In  diesem  Sinn  ist  ein  Wort  Dvoraks  zu  beanstanden,  da  wo  er  von 
»den  künstlerischen  Absichten  und  Problemen  der  statuarischen  Kunst,  wie  sie  der 
griechische  Geist  erfunden  hats  spricht:  Erfunden  hat  der  griechische  Geist  darin 
nichts,  nur  sehr  vieles  gefunden  oder  entdeckt,  was  eine  dauerndere  Geltung  im 
Bereiche  des  Monumentalen  behält.  Sätze  aber  wie:  »Man  konnte  nie  mehr  (seit 
dem  Mittelalter)  in  dem  Maße  wie  in  der  Antike  das  monumental  Bleibende  als 
objektiv  und  substantiell  außerhalb  unserer  geistigen  Stellungnahme  verkörpert 


422  BESPRECHUNGEN. 


darstellen,  nachdem  man  gelernt  hat,  es  im  letzten  Grunde  aus  der  ideellen  Er- 
kenntnis der  über  das  Einzelobjekt  hinausgehenden  Zusammenhänge  abzuleiten  und 
auf  das  innere  Leben  der  IWenschen  zu  beziehen«  —  erinnern  zwar  an  Kants  Auf- 
stellungen über  das  Erhabene  und  dessen  subjektive  Faktoren,  auch  an  Hegels 
weltgeschichtliche  Entwicklungslinien  der  Kunst,  wollen  wohl  auch  so  etwas  wie 
ein  Romantisch-Monumentales  neben^das  Klassisch-Monumentale  stellen;  aber  ein- 
facher hätte  man  sagen  können,  daß  das  Monumentale  vom  Mittelalter  ab  innerlicher 
«ind  in  der  Gotik  im  besonderen  religiös  geworden  sei.  Daraus  jedoch  eine  höhere 
(nicht  bloß  spätere)  Entwicklungsstufe  zu  konstruieren,  erscheint  allzu  sehr  im  Geiste 
der  Gotik  selber  gedacht  und  ist  Gotizismus.  Das  Religiös-Monumentale  und  auch 
das  im  prägnanten  Sinne  Seelisch-monumentale  sind  doch  nur  Unterarten  des  Mo- 
numentalen überhaupt  und  künstlerisch  nicht  ohne  weiteres  die  höchsten.  Die 
geistigen  Kreise,  die  sich  bei  uns  seit  einiger  Zeit  für  eine  höhere  Geltung  der 
gotischen  Kunst  einsetzen  und  zu  diesem  Zwecke  die  hellenische  und  die  Renais- 
sancekunst von  ihrem  Sockel  stoßen  wollen,  weil  diese  der  Anerkennung  anders- 
artiger Kunst  im  Wege  stünden,  sollten  nicht  den  umgekehrten  Fehler  begehen  und, 
im  Sinne  mittelalterliehen  Naivität,  die  gotische  Kunst  über  die  Antike  erhaben 
glauben.  Das  wäre  die  Beseitigung  einer  Vorherrschaft  nicht  zugunsten  der  Gleich- 
berechtigung, sondern  einer  anderen  Hegemonie.  An  einer  späteren  Stelle  erkennt 
denn  auch  Dvofäk  an,  daß  die  monumentale  Skulptur  der  gotischen  Periode  da  be- 
ginnt, wo  die  Figuren  »als  kubische  Körper  erfunden  wurden,  die  auch  als 
solche  in  ihrem  Verhältnis  zum  Raum  wirken  sollen«,  der  nun  seinerseits  nicht  mehr 
bloß  ein  genereller,  ein  ideeller  Raum,  sondern  ein  wirklicher,  dreidimensionaler  sei. 
Er  spricht  da  von  Nachwirkungen  der  romanischen  Kunst  mit  ihrer  Stofflichkeit  und 
materiellen  Räumlichkeit  der  Formen,  ihrem  ruhigen  Beharren,  die  teilweise  zu  einer 
neuen  Annäherung  an  die  klassische  und  byzantinische  Kunst  geführt  haben: 
»Standmotive,  welche  geeignet  waren,  Figuren  als  eine  im  kompakten  Vo- 
lumen gegliederte  und  bewegte  Einheit  zu  veranschaulichen,  die  spezifischen 
Probleme  der  Plastik«  wurden  da  wieder  lebendige  Faktoren.  Nun  also-:  das 
wirklich  Statuarische  läßt  sich  eben  in  der  monumentalen  Plastik  nicht  ersetzen. 
Übrigens  könnte  man  diesem  Hinweis  auf  eine  neue  Annäherung  an  die  Antike 
hinzufügen,  daß  die  christliche  Kunst,  wenn  sie  monumental  sein  wollte,  auch  in  der 
Malerei  gern  zu  klassischen  Formen  gegriffen  hat,  z.  B.  in  der  Zeichnung  des  Cor- 
nelius, der  christlichen  Inhalt  in  antike  Formen  goß  und  zwar  doch  wohl  nicht  bloß 
aus  einer  klassizistischen  Mode  heraus,  sondern  aus  einem  tiefen  Verständnis  für 
Monumentalität,  und  der,  nebenbei  gesagt,  damit  auch  etwas  für  unsere  ganze  neu- 
zeitliche Kultur  Symbolisches  und  Typisches  unternommen  und  zum  Teil  auch  ge- 
leistet hat. 

Und  noch  eins:  Die  Werke  der  gotischen  Plastik  sind  monumental  in  der 
Hauptsache  nur  als  Teile  von  größeren  Monumenten,  aber  selten  selber  Monumente. 
Man  muß  ja  selbständige  und  unselbständ:ige  Monumentalität  unter- 
scheiden. Die  eigentliche  und  volle  Monumentalität  ist  die  erstere.  Sie  besitzen 
z.  B.  die  Werke  der  *  Griechen  und  auch  der  Renaissance,  von  denen  Dvofäk  selber 
sagt:  »Ein  Bildwerk  der  Renaissance,  eine  Statue  von  Donatello,  ein  Gemälde  von 
Raffael  oder  Tizian  sind  ein  Mikrokosmos,  eine  Welt  für  sich  nicht  nur  in  dem 
Sinne,  daß  ihr  Wert  und  ihre  Wirkung  nicht  wesentlich  von  der  Wirkung  des 
Baues  abhingen,  für  den  sie  bestimmt  waren,  sondern  auch  dadurch,  daß  der 
größte  Teil  ihres  künstlerischen  Inhaltes  autonom  war  und  ohne  Beziehung  zu 
einem  übergeordneten  künstlerischen  System  verstanden  und  genossen  werden 
konnte.    Davon   kann  bei  gotischen  Bildwerken  oder  Gemälden  keine  Rede  sein.» 


I 


BESPRECHUNGEN.  423 


Nun  wohl,  die  Selbständigkeit  ist  aber  ein  wesentliches  Merkmal  der  reinen,  nicht 
teilweise  dekorativen  Monumentalität.  Wenn  DvoMk  meint,  die  Gotik  sei  in  der 
Verwendung  von  Bildwerken  und  Gemälden  bei  den  Bauten  weniger  dekorativ 
gewesen  als  die  Renaissance,  deren  Bildwerke  jedesmal  eine  Welt  für  sich  bedeuten, 
während  die  gotischen  »einen  integrierenden  Teil  der  Fassade-  bildeten,  dekorative 
Kunstform  aber  eben  ein  Aggregat  darsteile,  das  auch  weggelassen  werden  könnte, 
ohne  daß  die  Grundform  ihre  formale  Bedeutung  verlieren  würde,  —  so  darf  man 
sich  nicht  irremachen  lassen.  Jene  selbständigeren  Bildwerke  sind  eben  deshalb 
für  sich  monumental,  mögen  sie  auch  im  Verhältnis  zum  Bau  akzessorisch  sein:  an 
sich  sind  sie  sehr  wesenhaft;  wogegen  in  der  Gotik  nur  das  Ganze  monumental  ist, 
die  Bildwerke  aber  unselbständige  Teile  eines  Monumentes  sind,  insofern  also  der 
eigenen  Monumentalität  ermangeln  und  nur  an  der  des  Ganzen  teilnehmen  oder 
also  bloß  eine  geliehene,  eine  abgeleitete  Monumentalität  besitzen.  Wenn  Dvofäk 
den  Ursprung  und  Sinn  einer  neuen  monumentalen  Skulptur  und  statuarischen  Kunst 
darin  sieht,  daß,  wie  schon  erwähnt,  die  Statuen  die  Formen  von  Pfeilern  annehmen 
und  stellvertretende  künstlerische  Funktionen  von  Bau  gliedern  übernehmen,  so 
ist  das  nicht  in  jedem  Sinne  ein  »höherer  künstlerischer  Zweck«,  wie  er  meint, 
sondern  nur  insofern,  als  er  »über  der  Körpemachahmung  steht«  und  sein  Ziel  in 
einem  größeren  Ganzen  hat.  Der  Teil  aber  büßt  dabei  an  Selbständigkeit  und 
damit  an  eigener  Monumentalität  ein.  Es  ist  das  alte  und  immer  neue  Problem  des 
Gesamtkunstwerkes,  das  jedem  seiner  Teile  durch  den  umfassenden  Zusammenhang 
neue  Wirkungen  zuführt,  zugleich  aber  andere  Wirkungen  stört  oder  aufhebt,  na- 
mentlich den  Teilen  die  Selbständigkeit  nimmt.  Jedes  Gesamtkunstwerk  gibt  und 
nimmt  zugleich,  und  das  tut  auch  die  Gotik.  Sie  geht  bisweilen  mit  dem  Menschen 
ähnlich  um  wie  etwa  der  Impressionismus,  wenn  er  Porträts  als  bloße  Farbenflecken 
behandelt,  nur  daß  in  der  Gotik  das  beherrschende  Prinzip,  ganz  im  Gegensatze 
zum  Impressionismus,  sehr  vergeistigt  und  die  Unterdrückung  der  Selbständigkeit 
geistlich  war.  Aber  neben  aller  seelischen  Vertiefung  der  gotischen  Auffassung  ist 
doch  an  der  sozusagen  rücksichtslosen  Verwendung  der  Menschenleiber  mehr  de- 
koratives als  monumentales  Empfinden  beteiligt,  während  die  griechische  Skulptur 
der  Monumentalität  —  für  so  viele  Verschiedenheiten  diese  auch  Raum  läßt  — 
günstiger  gewesen  ist.  Es  ist  bezeichnend,  daß  man  gotische  Figuren  in  einem 
photographischen  Ausschnitte,  der  die  einzelnen  Gestalten  ganz,  aber  ohne  Um- 
gebung widergibt,  nicht  hinlänglich  auffassen,  genießen  und  beurteilen  kann,  sondern 
nur  in  einem  größeren  Zusammenhange  des  Baues,  in  dem  sie  leben  und  ohne  den 
sie  leicht  verzerrt  erscheinen.  Die  Bewegung  der  Figur  erhält  durch  die  Bewegung 
der  Pfeiler  und  anderer  Formen  unter,  über  und  neben  ihr  Resonanz  und  Schwung, 
wie  sie  selber  umgekehrt  jenen  allgemeinen  Bewegungen  Akzente  gibt.  Dieses 
Verhältnis  scheint  mir  ein  gotisierender  Künstler  der  letzten  Gegenwart,  der  ver- 
storbene Lehmbruck,  grundsätzlich  verkannt  zu  haben;  bei  allem  Gelingen  im  ein- 
zelnen hat  er  doch  wohl  den  allgemeinen  Fehler  begangen,  den  Stil  jener  alten 
Domskulpturen  auf  freie  Einzelfiguren  zu  übertragen.  Wo  die  Gotik  solche  selb- 
ständigen Figuren  gab,  blieben  sie  immer  noch  in  einer  den  Kathedralen  ähnlichen 
architektonischen  oder  innendekorativen  Umgebung',  die  einem  modernen  Werke 
fehlen  muß.  In  diesem  ist  dann  alles  auf  die  geistige  oder  seelische  Wirkung  ab- 
gestellt,  ohne  die  Hilfe  von  weniger  geistigen  und  seelischen  Zusammenhängen,  die 
jene  eingänglich  und  selbstverständlich  machten.  Deshalb  hat  man  bei  Lehmbrucks 
Gestalten  bisweilen  ein  ähnliches  Gefühl  wie  bei  Museumswerken,  die  deutlich  die 
Umgebung  vermissen  lassen,  in  der  sie  heimisch  gewesen  sind. 

Zweifel  habe  ich  endlich  auch  bei  der  Deutung  des  Verhältnisses  der  Figuren 


424  BESPRECHUNGEN. 


zu  ihrer  räumlichen  Umgebung.  Daß  die  Gemälde  wie  eine  Flächendekoration  auf 
Wiedergabe  der  räumlichen  Tiefe  verzichten,  soll  als  absichtliche  Verneinung  des 
wirklichen  Raumes  besonders  geistig  wirken.  Ob  man  sich  aber  wirklich  »bemühte, 
jede  räumliche  Vertiefung  des  Bildes  nach  Möglichkeit  auszuschalten«?  Die  Er- 
klärung aus  einem  Mangel  an  Können  wird  ausdrücklich  abgelehnt,  und  es  ist  ja 
auch  sicher  nicht  bloßes  Nichtkönnen  gewesen,  was  dazu  geführt  hat,  obwohl  die 
Perspektive  erst  später,  in  der  beginnenden  Neuzeit,  entdeckt  und  mit  viel  Fleiß 
ausgebaut  werden  mußte.  Daß  man  sie  früher  gefunden  hätte,  wenn  man  es  ge- 
wollt hätte,  läßt  sich  nicht  beweisen;  vielleicht  hat  man  es  nicht  gewollt,  aber  auch 
die  Folge  eines  Nichtwollens  ist  eben  ein  Nichtkönnen.  Gewiß  ist  Mangel  an 
Können  keine  letzte  Erklärung,  weil  man  zweifellos  zu  verschiedenen  Zeiten  manches 
gekonnt  hätte,  wenn  man  es  rechtzeitig  erstrebt  und  sich  darin  geschult  hätte ;  aber 
daß  man  unter  dieser  Bedingung  zu  allen  Zeiten  alles  gekonnt  hätte,  ist  ein 
ungeschichtlicher  Irrglaube,  dem  diejenigen  nicht  fern  sind,  die  überhaupt  nicht 
mehr  von  Können  und  Nichtkönnen  reden  mögen.  Heut  erscheint  manchen  Leuten 
schon  die  Annahme,  daß  ein  Naturvolk  irgejidetwas  nicht  gekonnt  habe,  wie  eine 
Beleidigung.  Das  »Kunstwollen«  Riegis  hat  sonderbare  Blüten  getrieben,  indem  es 
absolut  und  in  einem  mystischen  Sinne  frei  von  historischen  Bedingtheiten  wurde, 
wie  das  zu  gewissen  geistigen  Neigungen  unserer  Zeit  paßt.  In  Wahrheit  ist  auch 
dieses  Wollen  nicht  immer  eine  letzte  Erklärung.  Denn  man  kann  eben  nicht  zu 
allen  Zeiten  alles  wollen,  und  hinter  dieser  Einsicht  beginnen  neue  Probleme.  Un- 
leugbar hat  man  es  sich  lange  viel  zu  bequem  gemacht  mit  der  Erklärung  früherer 
Kunststufen  aus  einem  Mangel  an  Können,  jetzt  aber  ve. fällt  man  bisweilen  in  das 
umgekehrte  Extrem,  wie  ja  auch  in  unserer  zeitgenössischen  Kunst  das  Können 
ziemlich  gering  geachtet  und  dementsprechend  viel  Nichtkönnen  an  ihr  beteiligt  ist. 
Heute  sagt  man  einfach:  was  die  Leute  nicht  können,  das  wollen  sie  nicht;  und  von 
dem  auf  solche  Weise  gefundenen  »Kunstwollen«  aus  stellt  man  dann  fest,  daß  sie 
alles  erreicht  haben,  was  sie  wollten.  Und  in  der  Kunstgeschichte  wird  nicht  nur  alles, 
was  vielleicht  als  Mangel  erscheinen  könnte,  als  gewollte  Beschränkung  angesehen, 
sondern  auch  noch  mit  tiefen  Geheimnissen  erfüllt.  So  werden  die  Unterschiede 
der  Raumdarstellung,  die  einst  Riegl  und  Wickhoff  am  Übergang  von  der  Spät- 
antike zur  frühchristlichen  Kunst  entwickelten,  und  die  dann  Schmarsow  in  seinen 
»Grundbegriffen«  mit  psychologischem  Scharf-  und  Tiefblick  durchleuchtet  hat,  jetzt 
nicht  psychologisch,  sondern  spekulativ,  weniger  kunstwissenschaftlich  als  kunst- 
philosophisch erklärt;  nicht  möglichst  einfach,  sondern  möglichst  metaphysisch, 
nicht  durch  Zurückführung  auf  elementare  Erlebnisse,  sondern  im  Gegenteil  durch 
Anknüpfung  an  möglichst  komplizierte  geistige  Erscheinungen;  nicht  gebärdenhaft 
vom  lebendigen  Menschen  aus,  der  Leib  und  Seele  und  beides  in  einem  ist,  son- 
dern einseitig  intellektualistisch;  nicht  ausdrucksmäßig,  sondern  expressionistisch, 
was  keineswegs  dasselbe  ist.  Wenn  z.  B.  von  dem  neutralen  Raumhintergrund  der 
mittelalterlichen  Malerei  die  Rede  ist,  so  soll  der  Raum  nach  Dvorak  »eine  ideale 
Hintergrundsfolie,  der  Ausdruck  einer  Tiefenorientierung  sein,  die  als  eine  abstrakte 
Tiefenbewegung  im  unbegrenzten  Raum  erscheint,  in  welchen  die  Figuren  ein- 
gestellt werden,  um,  indem  sie  die  Bewegung  für  einen  Augenblick  hemmen,  in 
einer  traumhaft  unkörperlich  lebendigen  Plötzlichkeit  und  Unmittelbarkeit  den  Blick 
des  Beschauers  zu  fesseln,  oder  die  abstrakte  räumliche  Umgebung  der  Figuren 
soll  dienen,  alles  am  körperlichen  Dasein  und  Sinnenleben  Haftende  der  neuen 
psychozentrischen  Auffassung  unterzuordnen,  die,  von  dem  Glauben  an  einen  über- 
sinnlichen Zusammenhang  der  Dinge  ausgehend,  auch  in  der  Kunst  nach  abstrakter 
und  supranaturaler  Gesetzmäßigkeit   und  Bedeutung  auf  aiitimateriellen  Grundlagen 


BESPRECHUNGEN.  425 


streben  müßte  .  Nun  mag  sich  gewiß  in  derartige  anderweitige  Zusammenhänge 
auch  die  Raumbehandiung  förderlich  eingereiht  haben,  aber  für  sich  allein  wirltt  sie 
noch  nicht  so,  und  anderseits  hat  sie  auch  rein  ästhetische  Folgen.  So  war  z.  B. 
auch  Michelangelo  bei  der  Vorliebe  für  abstrakte  Raumumgebung  seiner  gemalten 
Figuren  vielleicht  noch  von  einem  Nachhall  der  Gotik  beeinflußt,  kam  aber  vornehmlich 
als  Plastiker  und  durch  sein  persönliches,  einseitiges  Interesse  am  Menschenleibe 
dazu.  Und  so  ist  auch  der  altchristliche  Rhythmus  zwischen  Figuren  und  Intervallen 
schon  sinnlich  reizvoll,  im  Wechsel  von  Licht  und  Schatten,  von  Körperhaftigkeit 
und  leerer  Räumlichkeit,  von  Fläche  und  Fülle,  noch  ohne  alle  metaphysischen  oder 
mystischen  Beziehungen.  Und  diese  Werte  sind  wohl  schon  damals  empfunden 
worden.  Auch  in  der  Zeit  der  Gotik  lebten  Menschen  und  nicht  bloß  Seelen  oder 
Geister. 

Dvofäk  dürfte  eben  von  einem,  selbst  der  Gotik  gegenüber  allzu  einseitigen 
Sinn  für  die  Geistigkeit  beherrscht  sein.  Doch  er  kündigt  eine  weitere  Arbeit  an, 
die  offenbar  den  zweiten  Teil  seines  Themas  behandeln  soll,  über  die  »Einbeziehung 
natürlicher  Daseinswerte«,  und  man  darf  gespannt  sein,  wie  er  diese  etwas  anders- 
artige Aufgabe  anfassen  wird.  Die  Besprechung  des  ersten  Teiles  seiner  Schrift 
soll  aber  nicht  beendet  werden  ohne  einen  besonderen  Hinweis  auf  den  schönen 
der  Glasmalerei  gewidmeten  Schluß. 

Leipzig.  Erich  Everth. 

Wilhelm  Waetzoldt,  Deutsche  Malerei  seit  1870.  Leipzig  1918,  Quelle- 
Meyer.    Wiss.  und  Bildung,  Nr.  144,  88  S.  mit  53  Abb. 

Das  Büchlein  will  laut  Vorwort  den  Entwicklungsgang  unserer  Malerei  in  diesen 
fünf  Jahrzehnten  schildern  und  besonders  die  Stilwandlung  vom  Impressionismus 
zum  Expressionismus  verständlich  machen.  Nichts  konnte  uns  willkommener  sein 
als  eine  solche  Darstellung  von  Seiten  eines  ästhetisch  geschulten  Kunstforschers. 
Das  wird  eine  ausführlichere  Auseinandersetzung  mit  dem  Verfasser  rechtfertigen, 
als  sie  der  Umfang  des  Büchleins  zu  erfordern  scheint.  Erwarten  und  beanspruchen 
durften  wir  von  ihm  eine  Klärung  und  Würdigung  der  Tatsachen  und  Zusammen- 
hänge der  modernen  Malerei,  unbeeinflußt  von  dem  Tagesstreit  ihrer  verschiedenen 
Richtungen  in  der  allgemeinen  Kunstschriftstellerei.  Daß  der  Verfasser  diese  seine 
Absicht  nur  halbwegs  erreicht  hat,  daran  trägt  nicht  am  wenigsten  die  mit  Recht 
von  der  Kritik  schon  anderwärts  bemängelte  Anlage  und  Betrachtungsweise  die 
Schuld.  Hier  gilt  es  vor  allem  auseinanderzusetzen,  warum  sie  grundsätzlich  ver- 
fehlt ist  und  wie  ihr  vielleicht  bei  einer  Neuauflage  abzuhelfen  wäre. 

Waetzoldt  hat  den  Versuch  unternommen,  die  Entfaltung  des  malerischen 
Schaffens  während  des  gesamten  einbezogenen  Zeitraums  nicht  etwa  aus  der  Zeitfolge 
und  Wirksamkeit  der  führenden  Künstlerpersönlichkeiten  oder  dem  Nebeneinander 
der  Schulen  und  geographischen  Kunstkreise  noch  aus  dem  Wechsel  gegensätzlicher 
stilistischer  Strömungen  zu  entwickeln,  sondern  an  der  Hand  von  vier  beziehungs- 
weise fünf  Bildgattungen  abzulesen,  in  die  er  den  Stoff  einordnet.  Er  sucht  ihn  in  der 
Einleitung  damit  zu  rechtfertigen,  daß  in  der  deutschen  Malerei  das  Gegenständliche 
zu  Unrecht  von  dem  die  Anschauungswerte  einseitig  pflegenden  Impressionismus 
unterschätzt  worden  sei.  Die  Stilwandlung  glaubt  er  innerhalb  der  einzelnen  Bild- 
gattungen in  ihren  übereinstimmenden  Entwicklungsstufen  verfolgen  zu  können, 
sieht  sich  jedoch  genötigt,  den  vier  Kategorien  des  erzählenden  Bildes,  des  Bild- 
nisses, der  Landschaft  und  des  Stillebens  noch  eine  fünfte  des  Wandbildes  anzu- 
hängen, die  nicht  durch  den  Gegenstand,  sondern  durch  die  bloße  Stilfordenmg 
bedingt  ist. 


426  BESPRECHUNGEN. 


Waetzoldts  Versuch  mußte  mißglücken,  weil  er  den  obersten  Einteilungsgrund 
für  das  Oesamtschaffen  der  modernen  Malerei  nicht  ihrem  eigentlichen  Wesen, 
sondern  ihrem  Darstellungsgehalt  entnimmt.  Die  Entwicklung  jeder  Kunst  verwirk- 
licht sich  aber  fraglos  in  der  Wandlung  der  Ausdrucksmittel,  auf  denen  ihre  eigen- 
tümlichen Wirkungen  beruhen,  wenngleich  nicht  unabhängig  von  dem  Vorstellungs- 
inhalt. Jeder  malerische  Zeitstil  ist  demgemäß  durch  den  doppelten  polaren  Gegen- 
satz bestimmt,  der  durchgehends  innerhalb  der  künstlerischen  Anschauungsweise 
und  der  Ausdrucksmöglichkeiten  der  Malerei  überhaupt  besteht.  Die  Entwicklung 
schwingt  in  längeren  oder  kürzeren  Zeitabschnitten  einerseits  inbezug  auf  den 
Formausdruck  zwischen  einem  formklärenden  plastisch-linearen  (beziehungsweise 
zeichnerischen)  und  einem  formauflösenden,  rein  malerischen  Stil,  anderseits  in- 
bezug auf  die  Farbengebung  zwischen  einer  dekorativ  koloristischen  und  einer 
illusionistisch  tonigen  Bildgestaltung.  Zwischen  der  künstlerischen  Anschauungs- 
weise und  dem  Bildstoff  (beziehungsweise  dem  Darslellungsgehalt)  besteht  nun  aller- 
dings eine  Spannung,  die  in  einem  weiteren  Gegensatz  malerischer  Stilbildung  zur 
Erscheinung  kommt.  Allein  dieser  Gegensatz  bleibt  nicht  auf  die  Malerei,  ja  nicht 
einmal  auf  die  bildenden  Künste  beschränkt.  Er  entspringt  aus  dem  Verhalten  des 
gestaltenden  Künstlers  zum  Gegenstande  seiner  Kunstschöpfung  und  führt  zur  Unter- 
scheidung eines  mehr  nachbildet;den  (imitativen)  und  eines  sich  frei  auswirkenden 
(dynamischen),  mehr  umbildenden  Stils,  oder  in  moderner  Zuspitzung:  des  Impres- 
sionismus auf  der  einen  und  des  Expressionismus  auf  der  anderen  Seite.  Beide 
Grundrichtungen  steigen  und  sinken  unter  dem  Einflüsse  der  allgemeinen  Zeit- 
stimmung ziemlich  gleichmäßig  sowohl  in  der  Malerei  wip  auch  in  der  Dichtkunst, 
die  mit  der  ersteren  den  reichsten  Vorstellungsgehalt  gemein  hat  und  in  der  Ge- 
samtbewegung meist  die  eigentliche  Führung  übernimmt.  Wollte  Waetzoldt  den 
Entwicklungsgang  der  modernen  Malerei  schildern  —  sei  es  auch  nur  im  Sinne 
einer  fortlaufenden  Wellenbewegung  und  nicht  eines  stetigen  Fortschritts  zu  einem 
Höhepunkt  der  Vollendung,  wie  er  offenbar  den  Entwicklungsgedanken  in  der  Kunst 
mit  Recht  versteht  — ,  so  mußte  er  die  leitenden  Gesichtspunkte  nicht  nur  für  die 
Betrachtungsweise,  sondern  auch  für  ihre  Folge  den  obigen  Voraussetzungen  abge- 
winnen. Nur  so  konnten  die  genetischen  Zusammenhänge  bloßgelegt  und  die  zeit- 
genössischen Schlagworte  auf  ihre  Berechtigung  nachgeprüft  werden.  Das  ist  leider 
nur  in  beschränktem  Maße  erreicht  worden,  vielmehr  wurden  die  verschiedenen 
Richtungen  des  repräsentativen  und  des  naturalistischen  Stils  des  Impressionismus 
und  des  Expressionismus  nach  chronologischer  oder  geographischer  Folge  in  die 
oben  genannten  Bildgattungen  eingeordnet.  Aus  der  Brechung  des  allgemeinen  und 
des  individuellen  Kunstwoliens  in  den  einzelnen  Bildgattungen  lassen  sich  aber  weder 
die  inneren  Zusammenhänge  des  Stilwandels  erkennen  noch  abschließende  Urteile 
über  Wert  oder  Unwert  der  neuesten  Bestrebungen  ableiten,  für  die  der  Verfasser 
lebhaft  eintritt.  Daß  Waetzoldt  diese  Zusammenhänge  nicht  erkennt,  soll  damit  keines- 
wegs behauptet  werden.  Im  Gegenteil  —  er  sieht  alle  wesentlichen  Beziehungen. 
Um  so  mehr  aber  ist  es  zu  bedauern,  daß  es  infolge  ihrer  gewaltsamen  Zerreißung 
nicht  zur  klaren  Erfassung  und  noch  weniger  zur  befriedigenden  Darstellung  der 
aufeinanderfolgenden  und  sich  kreuzenden  Strömungen  kommt.  Vor  allem  aber 
fehlt  das  einigende  Band  einer  durchgehenden  Würdigung  derselben  unter  dem 
Gesichtspunkt  der  künstlerischen  Anschauungsweise.  Dieses  findet  nur  bei  den 
jüngeren  Richtungen  die  gebührende  Berücksichtigung.  Die  durchgängige  Bewer- 
tung nach  dem  gegenständlichen  Gehalt  aber  bietet  dafür  keinen  ausreichenden 
Ersatz,  führt  vielmehr  zu  ungleichartiger  Beurteilung. 

Da  Waetzoldt  in  der  Betrachtung  der  verschiedenen  Bildarten  den  Zeitablauf 


BESPRECHUNGEN.  427 


der  Entwicklung  einhält,  stellt  er  das  von  der  Malerei  der  siebziger  Jahre  bevorzugte 
erzählende  Bild  weltlichen  und  religiösen  Inhalts  an  die  Spitze.  Besser  hieße  es 
vielleicht  das  Handlungsbild.  Im  Unterschied  von  dem  dramatischen  Stil  dieses 
Jahrzehnts,  in  dem  noch  die  Kampfstimmung  des  Krieges  nachhallt,  kennzeichnet 
er  das  folgende  als  dasjenige  des  Naturalismus  und  einer  streng  sachlichen  Auf- 
fassung. In  diesem  Sinne  erscheint  ihm  nun  die  Wirklichkeitsschilderung  eines 
Menzel  und  LeibI  nicht  nur  mit  dem  Schaffen  Gebhardts,  sondern  auch  mit  der 
frei  schöpferischen  Gestaltung  Feuerbachs  und  Böcklins,  Marees'  und  Thomas  trotz 
aller  künstlerischen  Gegensätze  mehr  oder  weniger  gleichgerichtet.  Die  letzteren 
sind  fast  nur  auf  das  die  Deutschrömer  beschäftigende  Raumproblem  hin  heraus- 
gearbeitet, noch  weniger  aber  das  Gemeinsame  der  malerischen  Anschauungsweise 
dieser  beiden  Jahrzehnte.  Nur  die  neuen  Bestrebungen  zur  Aufhellung  der  Palette 
in  den  Arbeiten  Liebermanns  und  Uhdes  aus  den  ersten  achtziger  Jahren  werden 
aus  der  Hinwendung  zur  impressionistischen  Freilichtmalerei  erklärt.  Aber  auch 
der  Impressionismus  in  seiner  Reife  und  Fortbildung  bis  in  das  neue  Jahrhundert 
wird  in  diesem  Abschnitt  doch  vorwiegend  aus  der  Abwendung  von  dem  bedeu- 
tungsvollen Bildstoff  zum  alltäglichen  abgeleitet.  Einige  Andeutungen  über  Lieber- 
manns früh  erwachtes  Streben  nach  Bewegungsdarstellung  und  kurze  Ausführungen 
über  die  fortschreitende  Entwertung  der  Figur  in  seinen  Werken  ergänzen  diese 
Charakteristik.  Verständlich  wird  aber  seine  individuelle  Entwicklung  und  das  Auf- 
kommen des  Impressionismus  in  Deutschland  doch  erst  aus  dem  die  Landschafts- 
malerei behandelnden  dritten  Abschnitt,  wohl  dem  bestgelungenen  des  Buches. 
Nicht  die  Synthese  von  Menzel  und  Altholland,  sondern  seine  zunehmende  Be- 
tätigung auf  diesem  Felde  bietet  den  Schlüssel. 

Daß  Waetzoldt  ihr  nicht  die  gebührende  Bedeutung  beimißt,  erhellt  aus  der 
auffallenden  Nichterwähnung  der  Netzeflickerinnen,  eines  Hauptwerkes  der  ersten 
Schaffensperiode  des  Meisters,  das  zumal  an  der  Hand  der  Vorstudien  bereits  die 
bewußte  Zusammenfassung  der  künstlerischen  Einzelabsichten  erkennen  läßt.  Die 
menschliche  Gestalt  ist  hier  in  sicher  erfaßter  Augenblicksbewegung  unter  einheit- 
lichem Blickpunkt  dem  weiten  Freilichtraum  eingefügt,  wenn  auch  glücklicher- 
weise noch  nicht  entwertet.  Sie  beherrscht  sogar  noch  durch  den  Bewegungs- 
eindruck die  Raumgestaltung  des  Bildes,  während  das  Augenmerk  des  Künstlers 
noch  nicht  vorwiegend  auf  die  Tonwerte  der  Beleuchtung  gerichtet  ist.  Der  Be- 
deutung des  Impressionismus  für  die  Erweiterung  der  Raumanschauung  und  die 
Freilichtmalerei  wird  der  Verfasser  erst  in  der  Erörterung  über  das  Landschaftsbild 
einigermaßen  gerecht,  nachdem  er  in  der  Fortsetzung  des  ersten  Kapitels  das  Wesen 
der  impressionistischen  Kunstrichtung  im  Gegensatz  zum  Expressionismus  treffend 
als  malerische  Höchstleistung  einer  strengen  Beobachtungskunst  und  folgerichtiges 
Endergebnis  des  Naturalismus  bestimmt  hat.  An  keiner  dieser  Stellen  aber  gewinnt 
man  eine  ganz  klare  Vorstellung,  wie  die  impressionistische  Richtung  in  der  deut- 
schen Malerei  entstanden  und  wie  weit  sie  zu  einheitlicher  Zielsetzung  gelangt  ist, 
obgleich  es  Waetzoldt  nicht  an  Verständnis  dafür  fehlt.  Würdigt  er  doch  zuerst 
die  dem  Schaffen  Liebermanns  vorhergehenden  Bestrebungen  des  Knausschülers 
Ernst  te  Peerdt  nach  dem  Freilichtraum  im  Landschaftsbilde,  wie  er  auch  die  voll- 
kommene Erfüllung  der  Grundforderung  des  Impressionismus  in  den  Arbeiten  des 
Landschafters  August  Deußer  erkennt.  Faßt  man  diese  Forderung  so,  daß  der 
Maler  das  gesamte  Sehfeld  unter  einheitlicher  Einstellung  des  Blickes,  also  gewisser- 
maßen vermöge  nur  einer  Fixation  wiederzugeben  habe,  so  wird  man  freilich  leicht 
noch  mehr  selbständige  Anläufe  dazu  in  der  deutschen  Malerei  entdecken.  Dann 
wäre  vor  allem  Menzels  Bild  der  Abreise  König  Wilhelms  zur  Armee  1S70  heran- 


428  BESPRECHUNGEN. 


zuziehen.  Zum  mindesten  nähert  es  sich  mit  seinen  bis  zu  den  wehenden  Fahnen 
und  Taschentüchern  optisch  abgestuften  Anschauungswerten,  unbeschadet  einiger 
nebensächlichen  Vordergrundsfiguren,  durch  die  der  Beschauer  zwar  zu  sehr  be- 
schäftigt, sein  Blick  aber  weitergeleitet  wird,  dem  einhelligen  Seheindruck,  den. 
Waetzoldt  darin  vermißt.  Sucht  man  gar  nach  Vorstufen  impressionistischer  Land- 
schaftskunst im  Sinne  der  Freilichtmalerei,  so  hätte  man  (nicht  nur  mit  dem  Ver- 
fasser) manche  Studie  aus  jeder  Lebenszeit  Menzels  hierher  zu  rechnen,  sondern 
auch  einzelne  Frühwerke  von  Knaus,  —  Kar!  Blechen  und  andere  Vertreter  der  älteren 
Generation  nicht  zu  vergessen.  Allein  der  Impressionismus  in  der  obigen  um- 
fassenderen Begriffsbestimmung  bleibt  schon  in  der  deutschen  Malerei  der  siebziger 
und  achtziger  Jahre  nicht  auf  die  Landschaft  beschränkt.  So  überraschend  es  klingen 
mag,  —  er  hat  meines  Erachtens  in  der  Bildnismalerei  vor  Liebermann  einen  Bahn- 
brecher in  Lenbach.  Man  tut,  wie  Waetzoldt,  dem  heute  doch  sehr  unterschätzten 
Meister  Unrecht,  wenn  man  nur  einen  »Kunstgriff«  darin  sieht,  daß  er  die  Aufmerk- 
samkeit des  Beschauers  ganz  durch  den  Blick  des  Dargestellten  in  Anspruch  nimmt, 
was  nicht  einmal  allgemein  zutrifft.  Vielmehr  hat  Lenbach  im  Laufe  seiner  Ent- 
wicklung wohl  immer  bewußter  durch  die  genauere  Ausführung  des  Kopfes  und 
seiner  nächsten  Umgebung  den  Eindruck  der  einheitlichen  Fixation  zu  erzielen  ge- 
sucht, in  der  die  äußeren  Teile  des  Sehfeldes  undeutlicher  gesehen  werden.  Seine 
grundsätzliche  Übereinstimmung  mit  dem  Impressionismus  braucht  ihm  darum  gar 
nicht  zum  Bewußtsein  gekommen  zu  sein.  Dem  wissenschaftlichen  Urteil  stellt 
sich  auch  in  dem  Gegensätze  der  künstlerischen  Tagesparteien  das  gleichgerichtete 
Kunstwollen  einer  Zeit  als  solches  dar.  Ein  Liebermann  aber  erzielt  die  lebendige 
Wirkung  seiner  trefflichsten  Bildnisse  wie  z.  B.  des  eigenen  durch  eine  ganz  ent- 
sprechende Abstufung  der  Behandlung,  wenn  auch  sein  Pinsel  selbst  im  Antlitz  un- 
gleich breiter  arbeitet.  Wie  Liebermann  hingegen  im  Porträt  des  redenden  Naumann 
an  der  Wiedergabe  des  bewegten  Ausdrucks  scheitert  und  wie  vollends  die  jüngeren 
Impressionisten  darüber  die  Charakterzeichnung  als  eigentliche  Aufgabe  der  Bildnis- 
kunst aus  dem  Auge  verlieren,  weiß  der  Verfasser  in  eindringlicher  Weise  aus- 
einanderzusetzen. Überhaupt  beweist  er  nicht  nur  in  dem  Kapitel  über  das  Bildnis, 
für  die  Kunst  der  letzten  drei  Jahrzehnte  ein  tieferes  Verständnis  als  für  die  Er- 
rungenschaften der  siebziger  und  achtziger  Jahre. 

Die  Vertrautheit  des  Verfassers  mit  dem  zeitgenössischen  Schaffen  kommt  be- 
sonders der  Beurteilung  der  expressionistischen  Richtung  zugut.  Was  sich  zu  ihrer 
Rechtfertigung  geltend  machen  läßt,  wird  von  ihm  in  ansprechender  Begründung 
vorgetragen.  Waetzoldt  erblickt  im  Expressionismus  die  Offenbarung  eines  der  deut- 
schen Kunst  tief  eingewurzelten  Ausdrucksverlangens,  das  nicht  wie  alle  naturar 
listische  und  impressionistische  Kunst  ein  Spiegelbild  der  Außenwelt,  sondern  mit 
Linien  und  Farben  das  eigene  Innenleben  des  Künstlers  in  der  Erscheinung  der 
Dinge  wiederzugeben  sucht.  Diese  Bestrebungen  erscheinen  ihm  dem  Schaffen 
eines  Böcklin  und  Marees  verwandt.  Kart  Hofer  ist  ja  sogar  aus  dem  Kreise  der 
Deutschrömer  hervorgegangen.  Daß  einzelne  Expressionisten  wie  Weißgerber  und 
Jäckel  in  der  Tat  bedeutende  Werke  aus  freier  Einbildungskraft  geschaffen  haben, 
berechtigt  vielleicht  noch  mehr  zu  einem  solchen  Vergleich.  Allein  ihre  wahren  Weg- 
weiser haben  die  Pechstein,  Noide  und  andere  Spitzführer  des  deutschen  Expressionis- 
mus doch  unleugbar  in  van  Gogh,  Gauguin  und  Picasso.  Der  strenge  Stilwille,  in; 
dem  der  Verfasser  ein  zweites  Wesensmerkmal  der  neuen  Richtung  erkennt,  hat 
nicht  allzuviel  mit  der  raumgestaltenden  Plastik  Marees'  gemein,  um  so  mehr  hin- 
gegen wieder  mit  dem  aus  dem  Auslande  herrührenden  Kubismus.  Auch  wird 
man  schweriich  mit  Waetzoldt  in  dem  Zurückgreifen  auf  die  unentwickelten  Kunst- 


1^ 


BESPRECHUNGEN,  429 


I 


formen  der  Negervölker  oder  der  SOdseeinseln  und  selbst  des  griechischen  Archais- 
mus und  des  Mittelalters  eine  Art  Romantik  sehen  dürfen.  Wie  zwischen  der 
ungewollten  Naturfremdheit  unentwickelter  Kunstformen  und  dieser  bewußten 
Schematisierung  des  Naturgebildes  ein  tiefer  Gegensatz  besteht,  braucht  nach  der 
einschneidenden  Kritik  des  Expressionismus  von  Fr.  Landsberger  (Der  Cicerone  1919) 
hier  nur  angedeutet  zu  werden.  Im  Grund  hat  es  der  Expressionismus  doch  mehr 
auf  die  Erfüllung  einer  Theorie  abgesehen,  wenn  uns  diese  Malerei  gar  die  nackte 
Linien-  und  Farbensymbolik  möglichst  unter  Abstreifung  des  gegenständlichen  und 
stofflichen  Augenscheins  der  Dinge  erleben  lassen  will  und  einen  Verzicht  auf  eine 
Seite  malerischen  Sehens,  die  wir  nun  einmal  im  gerahmten  Tafelbilde  beanspruchen. 
Wieviel  eindrucksvoller  vermittelt  uns  doch  der  blaue  Dämmer,  der  in  Böcklins 
Pietä  den  fahlen  Leichnam  Christi,  den  weißen  Marmor  und  die  Rosen  einschließt, 
den  Stimmungswert  der  Farbe,  als  es  die  im  Widerspruch  mit  ihrer  Naturfarbe  in 
Blau  gefärbten  Tier-  oder  Menschengestalten  irgend  eines  Expressionisten  vermögen. 
Den  stereometrischen  Raumgehalt  des  menschlichen  Körpers  aber  erfassen  wir  in 
der  Verhüllung  seiner  natürlichen  Bildung  bei  Marees  gewiß  ebenso  sinnfällig  und 
dabei  ungleich  wohltuender  als  in  der  kubistischen  Umbildung.  Die  Stilisierung 
der  Farbe  und  zumal  der  Form  führt  eben  jenseits  einer  gewissen  Grenze  in  der 
Malerei  hinaus  in  das  Ornamentale  wie  aus  der  Plastik  ins  Architektonische.  Frucht- 
bare Aussichten  bietet  der  Expressionismus  daher  nur  für  die  dekorativen  Aufgaben 
der  ersteren,  und  in  dieser  Richtung  fehlt  es  ihm  auch  nicht  an  selbständigen  An- 
sätzen in  der  deutschen  Kunst,  —  die  Waetzoldt  freilich  kaum  als  solche  bewertet. 
Was  L.  v.  Hofmann  im  Figurenbilde  und  vor  allem  was  Leistikow  in  seinen  stili- 
sierten Landschaften  gibt,  ist  wohl  ebenso  berechtigter  und  sogar  gesunderer  male- 
rischer Expressionismus  wie  die  Landschaftphantasien  der  Pechstein  und  Genossen. 
Reinere  Befriedigung  als  die  Mehrzahl  der  letzteren  vermag  weit  eher  das  expres- 
sionistische Stilleben  mit  seinem  Hauptvorwurf,  dem  Blumenstück  zu  gewähren. 
Hier  aber  nähert  sich  wieder  die  Malerei  am  meisten  der  rein  dekorativen  Wirkung 
der  Farbe. 

In  dem  einschlägigen  guten  Kapitel  sowie  für  die  Landschaft  weist  der  Ver- 
fasser mit  feinem  Verständnis  nach,  wie  die  farbige  Übersteigerung  der  Wirklich- 
keit sich  bereits  in  dem  aus  dem  technischen  Verfahren  der  Farbenzerlegung  ent- 
springenden Neoimpressionismus  anbahnt,  der  auf  deutschem  Boden  in  P.  Baum 
und  C.  Herrmann  eigenartige  Vertreter  gefunden  hat. 

Das  Schlußkapitel,  das  von  dem  Wandbild  und  nicht  von  einer  gegenständ- 
lichen Bildgattung  handelt,  läßt  wieder  mehr  als  die  drei  mittleren  die  Klärung  der 
entwicklungsgeschichtlichen  Zusammenhänge  vermissen,  —  seltsamerweise,  da 
Waetzoldt  hier  die  leitenden  Gesichtspunkte  nun  doch  den  Stilforderungen  dieser 
Art  von  Malerei  entnimmt.  Wie  und  warum  sich  aber  die  monumentalen  Schöpfungen 
des  letzten  halben  Jahrhunderts  auf  die  beiden  Grundmöglichkeiten  der  Betonung 
der  raumabschließenden  Bedeutung  der  Wand  oder  ihrer  illusionistischen  Durch- 
brechung, wenngleich  unter  rhythmischer  Belebung  der  Fläche,  beziehen,  wird  nicht 
erschöpfend  auseinandergesetzt.  So  treten  die  Gegensätze  nicht  deutlich  genug 
und  nicht  einmal  durchweg  zutreffend  hervor.  An  dieser  Unklarheit  trägt  die  Ab- 
sonderung der  Betrachtung  von  der  des  erzählenden  Bildes,  das  gerade  der  Wand- 
malerei den  bevorzugten  Gegenstand  der  Darstellung  liefert,  die  Hauptschuld.  Die 
Einheitlichkeit  der  malerischen  Anschauungsweise  der  führenden  und  zumal  der 
frei  gestaltenden  Künstler,  vor  allem  der  Deutschrömer,  wird  dadurch  geradezu  ver- 
dunkelt. Wie  im  ersten  Kapitel  offenbart  sich  hier  am  fühlbarsten  die  eigentliche 
Schwäche  des  Buches,  daß  nämlich  eine  Fülle  treffender  und  geistvoll  ausgedrückter 


430  BESPRECHUNGEN. 


UKeile  über  Kunstwerke,  Künstler  und  Kunstströmungen  nicht  unter  selbständig 
durchdachten  theoretischen  Leitbegriffen  in  große  entwicklungsgeschichtliche  Er- 
kenntniszusammenhänge gebracht,  sondern  in  das  Schema  der  gegenständlichen  Bild- 
gattungen eingepreßt  sind.  An  einer  solchen  ließ  sich  die  Entwicklung  durch  den 
ganzen  Zeitraum  eben  nur  da  einigermaßen  befriedigend  abhandeln,  wo  die  male- 
rischen Anschauungswerte  und  nicht  der  Bildstoff  die  Hauptaufgabe  der  künstle- 
rischen Gestaltung  ausmachen  wie  in  der  Landschaft  und  im  Stilleben,  oder  wo 
dieser  sich  gleich  bleibt  wie  beim  Bildnis. 

Sprechen  wir  nach  der  vorhergehenden  kurzen  Auseinandersetzung  mit  dem 
Verfasser  nunmehr  die  Forderungen  aus,  die  wir  an  eine  Neuauflage  des  anregen- 
den Büchleins  zu  stellen  hätten').  Um  den  Stilwandel  der  deutschen  Malerei  seit 
1870  verständlich  zu  machen,  hätte  nicht  die  Unterscheidung  der  Bildgattungen  nach 
dem  gegenständlichen  Inhalt,  sondern  der  Gegensatz  der  künstlerischen  Anschauungs- 
weise den  übergeordneten  Gesichtspunkt  der  Betrachtung  hergeben  müssen.  Das 
Schaffen  der  einzelnen  Künstler  als  der  Träger  des  malerischen  Ausdrucks  brauchte 
darum  keineswegs  im  Zusammenhange  durch  den  ganzen  Zeitraum  verfolgt  zu 
werden,  sondern  könnte  immer  noch  eine  vergleichende  Würdigung  innerhalb  der 
verschiedenen  Bildgattungen  finden,  nur  müßte  auch  mit  den  letzteren  gemäß  ihrer 
jeweiligen  Bedeutung  öfters  gewechselt  werden.  Eine  solche  stilgeschichtiiche  Dar- 
stellung bringt  freilich  weit  höhere  Anforderungen  an  die  Durcharbeitung  des  Stoffes 
und  an  seinen  Aufbau  mit  sich  als  die  einfache  Aufteilung  desselben  in  fünf  Ab- 
schnitte nach  den  Bildarten.  Mehr  noch  als  ihre  Schwierigkeit  mag  jedoch  den  Ver- 
fasser der  Zweifel  geschreckt  haben,  ob  die  deutsche  Malerei  des  letzten  halben  Jahr- 
hunderts überhaupt  eine  geschlossene  selbständige  Entwicklung  aufzuweisen  habe. 
Daß  für  sie  wie  für  andere  europäische  Schulen  die  sich  in  Frankreich  vollziehende 
malerische  Stilbildung  mehrfach  den  Antrieb  zu  neuen  Bestrebungen  gegeben  hat, 
wird  selbst  der  befangenste  Beurteiler  zugeben  müssen.  Ebensowenig  ist  aber  zu 
verkennen,  daß  in  ihr  schon  die  gleichgerichteten  Ansätze  zu  diesen  vorhanden 
waren,  und  daß  der  französische  Einfluß  somit  nur  fördernd  und  nicht  einmal  immer 
unmittelbar  auf  sie  eingewirkt  hat.  Überdies  kommt  in  ihr  zur  illusionistischen  rein 
malerischen  Oberströmung  im  Wirken  unserer  Malerdichter  eine  ganz  eigenartige 
fast  gleich  starke  koloristische  Unter-  oder  Nebenströmung  hinzu.  Diese  Doppel- 
entwicklung läßt  also  zweifellos  auch  eine  selbständige  Betrachtung  zu. 

Versuchen  wir  nun,  uns  den  Entwicklungsgang,  wie  er  sich  anscheinend  dem 
Verfasser  selbst  im  wesentlichen  darstellt,  mit  ein  paar  Andeutungen  und  Er- 
gänzungen klar  zu  machen.  In  der  Hauptlinie  zeigt  die  moderne  deutsche  Malerei 
unverkennbar  zum  mindesten  bis  um  1910  einen  stetigen  Fortschritt  von  einer  noch 
halbzeichnerischen  Auffassung  bis  an  die  Grenze  malerischer  optischer  Illusion,  — 
allerdings  nicht  erst  seit  1870.  Vom  stilgeschichtlichen  Gesichtspunkt  bedeutet  das 
Kriegsjahr  keinen  Wendepunkt  und  keinen  neuen  Anfang.  Man  müßte  zum  minde- 
sten noch  die  sechziger  Jahre  hinzuziehen,  in  denen  nach  einem  gewissen  Schwanken 
im  vorhergehenden  Jahrzehnt  der  vorherrschende  Kartonstil  mit  seinem  Kolorismus 
in  formauflösende  malerischeAnschauungsweise  umgesetzt  wird,  wenngleich  diese 
schon  in  der  ersten  Jahrhunderthälfte  kaum  bemerkt  und  doch  in  vollkommener 


')  Die  Besprechung  war  in  der  vorliegenden  Gestalt  bereits  abgeschlossen  und 
im  Satze  fertig  gestellt,  als  der  Unterzeichnete  von  dem  Erscheinen  einer  zweiten 
vermehrten  Auflage  Kenntnis  erhielt.  Da  die  Anlage  des  Buches  aber  in  ihr  keine 
durchgreifende  Umgestaltung  erfahren  hat,  behalten  die  hier  ausgesprochenen  Wünsche 
ihre  Geltung  für  die  folgende. 


BESPRECHUNGEN.  431 


Reife  aus  den  Werken  eines  Kaspar  Friedrich,  Blechen,  Menzel  und  anderer  hervor- 
bricht. Ihre  spätere  Fortbildung  vollzieht  sich  seither  ohne  Riß,  und  doch  zeigt 
ihr  Verlauf  einen  bedeutsamen  Einschnitt,  nach  dem  sich  die  Betrachtung  in  zwei 
Entwicklungsstufen  gliedern  ließe.  Bezeichnet  wird  er  durch  den  vollen  Einbruch 
der  impressionistischen  Freilichtmalerei  um  1800.  Am  illusionistischen  Gestaltungs- 
prinzip gemessen  (siehe  oben),  besteht  zwar  ungeachtet  des  heißen  Kampfes  der 
verschiedenen  Richtungen  in  der  damaligen  Künstlerschaft  kein  tiefer  Gegensatz 
zwischen  ihr  und  der  vorhergehenden  Stilphase,  die  Waetzoldt  als  die  naturalistische 
kennzeichnet,  sondern  nur  eine  etwas  veränderte  Zielsetzung.  Wollen  wir  aber  die 
letztere  auf  einen  gleichartigen  Begriff  bringen,  so  werden  wir  das  Kunstwollen  der 
siebziger  und  zumal  der  achtziger  Jahre  vielleicht  am  treffendsten  als  Aufstieg  zur 
Tonmalerei  begreifen.  Auf  das  Zusammenstimmen  der  Farbenwerte  der  Natur  zum 
Einheitston  richtet  sich  das  Hauptbemühen  eines  Leibl  so  gut  wie  eines  Knaus,, 
dessen  Spätwerke  in  dieser  Hinsicht  neben  Menzel  mehr  Beachtung  verdient  hätten, 
als  ihm  Waetzoldt  zuteil  werden  läßt.  Was  diese  Meister  aber  noch  mittels  feiner 
neutraler  Übergangstöne  zu  erreichen  suchen,  strebt  der  malerische  Impressionis- 
mus durch  die  allgemeine  Aufhellung  der  Palette  an.  In  ihren  Frühwerken  arbeiten 
jedoch  auch  Liebermann  und  Uhde  wenigstens  im  Innenraum  noch  reichlich  mit 
gebrochenen  Farben,  und  besonders  der  letztgenannte  ringt  noch  wie  seine  Vor- 
gänger mit  den  Tiefenschatten.  Wie  sie,  so  schreitet  vollends  der  frühere  Weg- 
genosse Leibls  Trübner  ohne  Sprung  zu  der  farbenfreudigeren  Freilichtmalerei 
fort,  die  jener  nicht  mehr  erreichte,  wie  er  auch  noch  in  der  formzersetzenden 
Pinselzeichnung  hinter  den  anderen  zurücksteht.  Im  Gegensatz  zur  illusionistischen 
Hauptströmung  richtet  sich  das  Schaffen  der  Malerdichter  dieser  ersten  Entwick- 
lungsstufe auf  die  koloristische  Stilisierung  der  Erscheinungswelt  und  auf  die  Klä- 
rung ihrer  plastischen  Werte  sowie  des  Raumes  durch  die  letzteren  und  nicht  durch 
seine  optische  Vereinheitlichung.  Die  Deutschrömer  unter  sich  und  Hans  Thoma 
weisen  aber  erhebliche  Unterschiede  auf,  und  diese  treten  auch  in  ihren  monumen- 
talen Schöpfungen  entsprechend  hervor.  Am  fernsten  hält  sich  Feuerbach  von  einer 
zerfließenden  malerischen  Formengebung.  So  hat  er  denn  auch  als  Nachzügler  der 
Kartonmalerei  im  Gastmahl  des  Plato  das  letzte  und  wohl  bedeutendste  Wandbild 
des  raumabschließenden  Flächenstils  geschaffen,  dessen  Zersetzung  sich  bereits  in 
Kaulbachs  Berliner  Treppenfresken  vollzieht.  In  der  Folge  vermag  aber  auch  er 
sich  nicht  ganz  dem  Einfluß  der  erstarkenden  malerischen  Anschauungsweise  zu 
entziehen,  die  sogar  in  den  Wandmalereien  Böcklins  und  Marees'  zur  Geltung 
kommt.  Alle  ihre  Versuche,  einen  neuen  Monumentalstil  zu  schaffen,  wie  auch  die 
Arbeiten  eines  Prell  und  anderer  mehr  zielen  nur  auf  die  farbige  Rhythmisierung 
der  Wand  ab,  die  Marees  im  Neapler  Fischerbilde  am  vollkommensten  erreicht. 

Dieselbe  Zwiespältigkeit  des  Kunstwollens  —  sie  entspricht  einer  allgemeinen 
kunstgeschichtlichen  Gesetzlichkeit ')  —  zeigt  nun  auch  die  jüngste  deutsche  Malerei 
auf  ihrer  zweiten  Entwicklungsstufe  seit  den  neunziger  Jahren.  Wie  sich  die  form- 
auflösende Anschauungsweise  in  der  Freilichtmalerei  (und  nicht  minder  in  der  Be- 
handlung des  Innenraumes)  über  Liebermann  und  die  jüngeren  Impressionisten  wie 
Slevogt,  Dettmann,  Corinth  und  andere  bis  in  den  Neoimpressionismus  hinein  zu- 
spitzt und  erschöpft,  hat  Waetzoldt  mit  verständnisvoller  Beobachtung  an  den  ein- 
zelnen Bildgattungen  zu  erfassen  gewußt.  Die  Gedankenmalerei  dieses  Zeitraums 
steht  nicht  in  ganz  eindeutigem   Gegensätze  zur  illusionistischen   Hauptströmung. 


')  Siehe   meine  Grundlinien  u.  krit.  Erörterungen  zur  Prinzipienlehre  d.  Kunst- 
wissenschaft 1917,  S.  64. 


432  BESPRECHUNGEN. 


Die  kurzlebige  symbolistische  Richtung,  vertreten  durch  Fr.  Stucl<  und  geringere 
Böckhn-Nachahtner,  wie  Hengeler,  teilt  mit  ihr  die  malerische  Behandlung  der 
Form,  hat  aber  mit  der  zweiten,  stärkeren  Nebenströmung  die  koloristische  Stili- 
sierung der  Farbengebung  gemein.  Diese  bedeutsamere  Richtung  nimmt  die  Wen- 
dung der  Deutschrömer  zur  plastischen  Anschauungsweise  auf,  obgleich  ihr  Bahn- 
brecher Klinger  vom  Impressionismus  herkommt.  Es  ist  bezeichnend,  daß  Waetzoldt 
■dem  Maler  der  blauen  Stunde  erst  beim  Wandbild  gerecht  wird.  Und  doch  ist  Klinger 
nicht  nur  in  der  Quelle  (Dresden)  und  in  der  Pietä  (ebenda),  in  der  sich  die  Form 
bereits  zu  voller  Schärfe  verfestigt  hat,  sondern  sogar  in  der  Kreuzigung  mit  ihrem 
gesteigerten  Kolorismus  noch  ein  echt  impressionistischer  Freilichtmaler.  Mit  dem 
Christus  im  Olymp  und  in  den  allegorischen  Wandgemälden  für  Leipzig  und  Ham- 
burg kommt  dann  zur  Plastik  der  Gestalten  ihre  reliefmäßige  Aufreihung  in  einem 
Plan  hinzu,  die  landschaftlichen  Hintergründe  aber  bewahren  bis  zuletzt  die  illusio- 
nistische, wenngleich  durch  helle  Luft  und  Wasserflächen  gebundene  Raumanschau- 
ung. Neben  Klinger  hätten  als  Malerplastiker  Oreiner  zum  mindesten  Erwähnung, 
Schneider,  Haider  und  Bohle  mehr  Berücksichtigung  verdient.  Es  sind  zugleich  die 
starken  Zeichner  dieser  Zeit.  Einen  weiteren  Schritt  zum  dekorativen  Linienspiel 
bedeuten  die  Weimarer  Museumsfresken  Hofmanns  und  Klimts  Wiener  Allegorie 
und  den  ersten  zur  Wiederbelebung  des  Flächenstils.  Eine  Fortbildung  des  letzteren 
dürfen  wir  vielleicht  von  den  Expressionisten  erhoffen,  wenn  sie  auch  erst  ver- 
einzelte Anläufe  dazu  genommen  haben  wie  H.  Nauen  in  den  Wandmalereien  auf 
Burg  Drove.  An  der  farbigen  Rhythmisierung  der  Wand  halten  hingegen  die 
Illusionisten  fest  wie  A.  Kampf  in  seinem  Beriiner  Aulabilde,  —  nicht  etwa  im  Gegen- 
sätze zu  Marees'  Neapler  Fresken,  wie  der  Verfasser  meint,  sondern  in  grundsätz- 
licher Übereinstimmung  mit  ihm. 

Um  den  angedeuteten  stilgeschichtlichen  Entwicklungsgang  übersichtlich  zu 
machen,  wäre  die  Betrachtung  etwa  in  folgender  Abwechslung  gemäß  der  Bedeutung 
des  Gegenstandes  für  das  jeweilige  vorherrschende  Kunstwollen  der  Bildgattung  an- 
zustellen. Ich  möchte  sie  nur  als  Vorschlag  einer  leicht  durchzuführenden  Umteilung 
des  Stoffes  dem  Verfasser  zur  Erwägung  unterbreiten.  Im  ersten,  die  siebziger  und 
achtziger  Jahre  umfassenden  Teil  sollte  die  Darstellung  ihren  Ausgang  von  dem 
Handlungsbilde  einschließlich  des  monumentalen  nehmen.  An  dieses  wäre  das 
Bildnis  und  dann  wohl  am  besten  das  Stilleben  anzuschließen,  das  als  Vorwurf  den 
Gegenpol  bezeichnet,  mit  ihm  aber  die  nahräumige  Anschauung  gemein  hat.  Die 
Landschaft,  in  der  die  rein  optische  Spiegelung  der  Erscheinungswelt  sich  dem 
Weitraum  zuwendet,  wäre  zuletzt  abzuhandeln,  —  im  zweiten  Teil  hingegen  an 
erster  Stelle,  so  dass  sie  in  geschlossenem  Zusammenhange  in  den  Mittelpunkt  der 
Oesamtbetrachtung  rücken  würde,  wie  es  ihrer  Rolle  in  der  malerischen  Stilbildung 
der  impressionistischen  Richtung  entspricht.  Die  Entfaltung  der  letzteren  in  den 
anderen  Bildgattungen  müßte  dann  in  rückläufiger  Folge  durchgeführt  werden. 
Auch  die  Abspaltung  der  expressionistischen  Strömung  und  der  gegenwärtige  Stand 
<ier  Dinge  würde  dann  wieder  im  Handlungsbilde  am  klarsten  herausspringen.  Die 
Hoffnung,  daß  dem  Expressionismus  aus  dem  Völkerringen  mächtige  neue  Antriebe 
monumentaler  Gestaltung  erwachsen  würden,  kann  sich  nicht  mehr  erfüllen.  Sie 
werden  ersterben,  wie  in  unserer  Kriegslyrik.  Ist  unsere  Kunst  im  Niedergange  be- 
griffen oder  im  Aufstieg  als  Verkünderin  einer  Zeit  strenger  Selbstzucht  und  harter 
Arbeit?  Das  ist  die  Schicksalsfrage,  die  wir  an  die  Kunst  wie  an  unsere  gesamte 
Kultur  zu  richten  haben. 

Berlin-Steglitz.  O.  Wulff. 


ZEITSCHRIFT  FÜR  ÄSTHETIK 


y 


^Br  UND 

ALLGEMEINE  KUNSTWISSENSCHAFT 


HERAUSGEGEBEN 


VON 


MAX   DESSOIR 


FÜNFZEHNTER  BAND 


MIT  TAFEL  I— III 


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STUTTGART 

VERLAG  VON   FERDINAND   ENKE 

1921 


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Drack  der  Union  Deutsche  Verlafsgesellschaft  in  S«utlg«rt. 


rr. 


Inhaltsverzeichnis  des  XV.  Bandes. 


Abhandluneren. 

"  Seite 

I.  Hugo  Ooldschmidt,  Tonsymbolik 1—42 

II.  Charlotte  Bühler,  Erfindung  und   Entdeckung.    Zwei  Grund- 
begriffe der  Literaturpsychoiogie 43—87 

III.  Konrad  Lange,   Bewegungsphotographie  und  Kunst     ....  88—103 

IV.  Kurt  Theodor,  Die  Darstellung  auf  der  Fläche 129 — 164 

V.  Wilhelm  Waetzoldt,   Die   Begründung  der  deutschen   Kunst- 
wissenschaft durch  Christ  und  Winckelmann 165—186 

VI.  Hermann  Glockner,   Philosophie   und  Dichtung.    Typen  ihrer 

Wechselwirkung  von  den  Griechen  bis  auf  Hegel 187—204 

VII.  Hans  Klaiber,  Die  lyrische  Stimmung 241—271 

VIll.  Willy  Drost,  Über  Wesensdeutung  von  Landschaftsbiidern,  ge- 
zeigt an  der  holländischen  Landschaftsmalerei  des  17.  Jahr- 
hunderts   272-304 

IX.  Paul  Zucker,   Kontinuität   und    Diskontinuität.     Grenzprobleme 

der  Architektur  und  Plastik 305—317 

X.  Georg  Marzynski,   Zwei  Darstellungsprobleme  der   bildenden 

Kunst.    Psychologische  Untersuchungen 353—373 

XI.  Otto  Höver,  Kunstcharaktere  südabendländischer  Völker    .    .    .    374—403 
XII.  F.  Adama  van  Scheltema,   Beiträge  zur  Lehre  vom  Ornament. 

Mit  Tafel  1-111 404—453 

Bemerkungen. 

August  Schmarsow,  Zur  Bedeutung  des  Tiefeneriebnisses  im  Raum- 
gebilde      104—109 

Fritz  Hoeber,  Sachliche  Kunstbetrachtung  und  persönliche  Kunstpclitik  205—211 

Heinrich  Merk,  Probleme  der  literarischen  Kritik  bei  Aug.  Wilh.  Schlegel  211—220 

Heinrich  Mey  er-Be  nf  ey,  Ziele  und  Wege  der  Literaturwissenschaft  318—327 

Otto  Ernst  Hesse,   Psychoanalyse  und  Kunstphilosophie 328—336 

Johannes  Wolf,  Hugo  Goldschmidt 454—456 

J.  J.  de  Urries  y  Azara,  Über  das  System  der  Künste 456—459 

Rolf  Wolfgang  Martens,  Über  das  Komische  und  den  Witz  .    .    .  459—467 

Besprechungen. 

Vom  Altertum  zur  Gegenwart.—  Das  Gymnasium  und  die  neue  Zeit 

Bespr.  von  Max  Dessoir 221 

Walter  Curt  Behrendt,  Der  Kampf  um  den  Stil  im  Kunstgewerbe  und 

in  der  Architektur.    Bespr.  von  Emil  Utitz 338—339 


/  IV  INHALTSVERZEICHNIS  DES  XV.  BANDES. 

Seite 

Rudolf  Bernauer,  Die  Forderungen  der  reinen  Schauspielkunst.   Bespr. 

von  Robert  Klein 222-223 

Walter  Brecht,   Konrad  Ferdinand  Meyer  und  das  Kunstwerk  seiner 

Gedichtsammlung.     Bespr.  von  Alfred  Baeumler 468—470 

Max  Deri,   Die  Malerei  im  19.  Jahrhundert;   Entwicklungsgeschichtliche 

Darstellung  auf  psychologischer  Grundlage.  Bespr.  von  Emil  Utitz  1 13—115 
Melitta  Gerhard,   Schiller  und  die  griechische  Tragödie.    Bespr.  von 

Erich  Aren 476-480 

Otto  Orautoff,  Formzertrümmerung  und  Formaufbau  in  der  bildenden 

Kunst.    Bespr.  von  Georg  Schwaiger 339—344 

Ferdinand  Qregori,  Der  Schauspieler.    Bespr.  von  Max  Dessoir.    .  224 

Adolf  V.  Grolman,   Fr.  Hölderlins  Hyperion.    Stilkritische  Studien  zu 

dem  Problem   der  Entwicklung  dichterischer  Ausdrucksformen. 

Bespr.  von  Alfred  Baeumler 470—472 

Hans  Hildebrandt,  Wandmalerei,  ihr  Wesen  und  ihre  Gesetze.    Bespr. 

von  Emil  Utitz 224—225 

Max  Hochdorf,  Zum  geistigen   Bilde  Gottfried  Kellers.    Bespr.  von 

Alfred  Baeumler 472—474 

Hugo  Kehrer,  Zurbarän.    Bespr.  von  Alfred  Werner 112—113 

Theodor  A.  Meyer,  Die  ästhetische  Erziehung  in  der  Schule.    Bespr. 

von  Willy  Moog 221—222 

Hans  Joachim  Moser,  Geschichte  der  deutschen  Musik  in  zwei  Bän- 
den.    Bespr.  von  Gurt  Sachs 351 — 352 

Aus  Natur  und  Geisteswelt.    Bespr.  von  Max  Dessoi, 337—338 

Carl  Robert,  Archäologische  Hermeneutik.  Bespr.  von  Margarete  Bieber  225—226 
W.  Stein,  Die  Erneuerung  der  heroischen  Landschaft  nach  1800.    Bespr. 

von  Georg  Schwaiger 226 — 232 

Hans  Lorenz  Stoltenberg,  Reine  Farbkunst  in  Raum  und  Zeit  und 

ihr  Verhältnis  zur  Tonkunst.  Bespr.  von  Margarete  Calinich  .  349—351 
Max  Theuer,    Der   griechisch -dorische    Peripteraltempel.     Bespr.   von 

Bernhard  Schweitzer 344_349 

E.  Troeltsch,  Die  Dynamik  der  Geschichte  nach  der  Geschichtsphilo- 
sophie des  Positivismus.  Bespr.  von  Robert  Petsch  ....  474—475 
Johannes  Volkelt,  Das  ästhetische  Bewußtsein;  Prinzipienfragen  der 

Ästhetik.     Bespr.  von  Emil  Utitz 475_476 

E.  Wald  mann,  Albrecht  Dürers  Handzeichnungen.    Bespr.  von  Georg 

Schwaiger 110—112 

Ottomar  Wichmann,   Piatos  Lehre  von  Instinkt  und  Genie.    Bespr. 

von  Willy  Moog 115 

Schriftenverzeichnis  für  IQIQ. 

Erste  Hälfte 116—128 

Zweite  Hälfte 233-240 


I. 
Tonsymbolik. 

Von 

Hugo  Goldschmidt. 

Unter  Symbol  wird  ein  »Kennzeichen,  ein  Sinnbild,  d.  h.  ein  An- 
schauliches, Sinnliches,  Besonderes«  verstanden,  >das  ein  Abstraktes, 
Übersinnliches,  Geistiges,  einen  Sinn  vertritt,  bedeutet,  lebendig  dar- 
stellt und  ausdrückt«  ').  Es  ist  im  ersten  Augenblick  völlig  unver- 
ständlich, wie  die  Musik  es  anfängt,  ein  Abstraktes  zu  versinnbildlichen, 
etwra  die  Begriffe  Ehrgeiz,  Zerknirschung,  Reue,  Frieden.  So  wie  die 
Tonmalerei  ohne  die  Hilfe  des  Wortes,  der  Dichtung,  des  Pro- 
gramms oder  der  Mimik,  nur  in  einem  kleinen  Kreise  akustischer 
Nachbildungen  sich  betätigen  kann,  so  ist  die  Tonsymbolik  sogar  fast 
ausschließlich  auf  ein  Zusammengehen  mit  den  anderen  Künsten  oder 
dem  Programm  angewiesen.  Als  absolute  wird  die  Musik  nur  in 
seltenen  Fällen  imstande  sein,  ein  Symbol  zu  geben.  Zu  ihnen  zählt 
Bachs  Begriffsbestimmung  des  Chaos  durch  ungeregelte  Tonfolgen. 
In  Verbindung  mit  den  anderen  Künsten  aber,  insbesondere  mit 
der  Dichtung,  ist  der  Symbolik  ein  weites  Gebiet  der  Betätigung  er- 
öffnet. Es  ergibt  sich  schon  hieraus,  daß  die  Musik,  wo  sie  sich 
einem  Symbol  gegenüber  sieht,  sich  an  die  Verstärkung  derjenigen 
Vorstellungen  halten  muß,  auf  denen  es  beruht.  Wenn  die  Kantaten- 
dichter Bachs  von  der  Zerknirschung  des  Sünders  oder  seiner  Reue 
sprechen  und  diesen  Begriff  an  die  Vorstellung  des  wankenden  Schrittes 
des  vor  Gott  erscheinenden  Sünders  anknüpfen,  so  kann  der  Ton- 
künstler eben  nur  dieses  Bild  des  unsteten  Schreitens  durch  Ton- 
bildungen zu  lebhafterer  Anschauung  bringen,  als  es  die  Dichtung 
allein  vermag.  Dann  stehen  wir  vor  dem  Übergreifen  der  Tonmalerei  in 
das  Symbolische.  Über  diese  Gattung  der  an  Vorstellungen  geknüpften 
Symbolik  hinaus  kennt  aber  die  Dichtung,  insbesondere  die  religiösen 
Inhalts,  Symbole,  die  nicht  auf  so  gearteten  Vorstellungen  beruhen, 
also  von  keiner  optischen  oder  akustischen  Analogie  begleitet  sind. 
Nehmen  wir  eines  der  berühmtesten  Beispiele  der  kirchenmusikalischen 


')  Eisler,  Handwörterbuch  der  Philosophie  unter  Symbol. 

Zeitichr.  f.  Ästhetik  u.  alle.  Kunstwissenschaft.    XV. 


HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Literatur:  die  Einsetzung  des  Abendmahls  in  der  Matthäuspassion  >). 
Der  Bibeltext  geht  aus  von  der  Statuierung  der  Sendung  des  Herrn 
als  Erlösers.  Bach  war  auch  hier  bemüht,  die  textliche  Substanz  zu 
stärken.  Dies  geschieht  durch  eine  charakterisierende  Tonbildung 
durch  •eine  auf  Versinnbildlichung  unmittelbar  gerichtete. 


1.  ^ 


itj 


Ich      wer -de  von  nun  an  nicht      mehr 

Diese  Gattung  der  Tonsymbolik  beruht,  im  Gegensatz  zu  jener 
mit  Tonmalerei  verknüpften,  auf  einem  bewußten,  aber  freien,  von 
äußeren  Vorgängen  unabhängigem  Charakterisieren.  Ein  logisch 
nachweislicher  Zusammenhang  zwischen  dem  Symbol  der  Textvorlage 
und  der  ihr  entfallenden  Tonbildung  besteht  nicht*).  Trotzdem  ver- 
stehen wir,  oder  besser  fühlen  wir  die  Beziehungen  des  musika- 
lischen Elements  zum  Begriff,  zum  Gedanken,  zum  Sinn  der 
Dichtung. 

Ebenso  wie  der  eigentlichen  Tonmalerei  sind  die  Prozesse  der 
Aufnahme  ton  symbolisch  er  Bildungen  in  erster  Linie  solche  des 
Verstandes.  Das  erhellt  für  diejenigen  tonsymbolischen  Komplexe, 
die  mit  der  Tonmalerei  kompliziert  sind,  ohne  weiteres.  Um  bei 
dem  obigen  Beispiele  zu  bleiben:  Der  Schluß  von  dem  tonmalerisch 
geschilderten  Verhalten,  von  dem  Bilde  des  schwankenden  Schrittes 
auf  den  Begriff:  Reue,  oder  Zerknirschung  ist  ein  verstandesmäßiger. 
Der  Denkvorgang  ist  der,  daß  die  Tonreihen,  wie  jede  Musik,  durch 
Anschauung  apperzipiert,  gleichzeitig  aber  verstandesmäßig  als  Schilde- 
rung des  im  Texte  gegebenen  Vorganges  des  schwankenden  Schrittes 
erkannt  werden.  Nun  wird  endlich  aus  dem  erkannten  Bilde  des 
schwankenden  Schrittes  durch  Kontinuitätsassoziation  auf  den  Begriff 
Reue,  Zerknirschung  geschlossen.  Nicht  viel  anders  wird  diejenige 
Tonsymbolik  erfaßt,  die  auf  freier  Charakteristik  beruht.  Auch  hier 
wird  die  Beziehung  der  Tonphrase  auf  Abstrakta:  Begriffe,  Gedanken, 
oder  Sinn,  durch  einen  Akt  des  Intellektes  festgestellt.  Der  Hörer 
bemerkt  und  versteht,  daß  die  Tonreihen  mehr  sind,  als  ein  Sinnlich- 
Schönes  und  ein  durch  das  Sinnlich-Schöne  hindurch  Charakteristi- 
sches. Er  bemerkt,  daß  der  Künstler  intentional  mit  ihnen  auf  jene 
Abstrakta    der    Dichtung    hat    hinweisen    wollen.     Das   Symbol    als 


•)  Eulenburg  S.  7. 

')  Abert,  Die  Musikanschauung  des  Mittelalters  (179),  nimmt  an,  daß  die  sym- 
bolisch-allegorische Ausdeutung  der  musikalischen  Elemente,  wie  sie  das  frühe 
Mittelalter  entwickelt  hatte,  in  einzelnen  Anschauungen  sich  bis  in  die  Zeiten  Bachs 
fortgepflanzt  habe! 


TONSYMBOLIK. 


I 


solches  wird  natürlich  in  erster  Linie  dem  Texte  entnommen,  und 
die  Töne  werden  dann,  nachdem  das  Symbol  als  solches  erkannt  ist, 
als  auf  dieses  hin  gerichtet,  erkannt.  Die  Tonphrasen  der  Einsetzung 
des  Abendmahls  (siehe  Nr.  1)  werden  verstandesmäßig  in  Beziehung 
gesetzt  zum  Symbol,  wie  es  der  Bibeltext  enthält.  Eine  andere  Frage 
ist,  ob  diese  Töne  auch  wirklich  zur  Versinnbildlichung  beitragen. 
Der  Intellekt  vermag  nur  festzustellen,  daß  der  Tonkünstler  eine  Ver- 
sinnbildlichung gesucht  hat,  und  daß  die  von  ihm  aufgestellten  Ton- 
reihen auf  ein  Symbol  der  Dichtung  sich  beziehen.  Ob  und  wie  weit 
der  Anschluß  an  das  Symbol  des  Textes  erreicht  ist,  das  zu  beurteilen 
ist  wiederum  nur  Sache  des  musikalischen  Gefühls.  So  wie  sich 
das  Problem  des  Überganges  der  Tonphrase  aus  dem  Sinnlich-Schönen 
ins  Charakteristische  der  Lösung  durch  den  Verstand  entzieht,  so 
auch  dasjenige  der  Fähigkeit  der  Musik  die  Versinnbildlichung  eines 
Symbols,  das  im  Vorwurf  gegeben  ist,  zu  vollziehen.  Daß  sie  vor- 
handen, ist  ohne  Frage  und  lehrt  uns  die  tägliche  Musikerfahrung. 
Schon  das  17.  Jahrhundert  mit  Schütz  und  das  18.  mit  J.S.Bach  ist 
des  Zeuge.  Beide  Meister  können  in  vielen  Stellen  ganz  nur  von 
dem  verstanden  werden,  der  ihre  sehr  weitgehende  Symbolik  ver- 
standesmäßig und  mit  dem  Gefühl  aufnimmt,  und  diejenigen 
Bachinterpreten,  die  wie  H.  Kretzschmar  und  Heuß ')  das  Verständnis 
nach  dieser  Seite  zu  fördern  sich  bemühten,  haben  sich  um  die  Bach- 
sache besonders  verdient  gemacht.  Nach  Bach,  schon  mit  der  Gene- 
ration seines  Sohnes  Philipp  Emanuel,  mit  den  Klassikern  der  Wiener 
Schule  und  ihren  Epigonen  tritt  die  Symbolik  auch  in  der  kirchlichen 
Musik  auf  einen  sehr  bescheidenen  Platz  zurück.  Erst  die  neuere 
Zeit,  vor  allem  aber  die  Programmmusik,  billigt  ihr  ein  größeres  Feld 
der  Betätigung  zu.  Am  weitesten  geht  auch  hier  wieder  Rieh.  Strauß, 
wenn  er  beispielsweise  in  »Zarathustra«  (1895)  uns  zumutet,  in  den 
Tönen  der  Trompete 

sehr  breit 


■i^i 


feierlich 

das  Symbol  der  Natur  oder  das  Welträtsel  zu  erkennen^). 

So  wie  im  Bereiche  der  Tonmalerei   kann  sich  auch   in  der  Ton- 
symbolik  die   Musik   nicht   ausschließlich   auf   diese    Funktion    des 


')  Matthäuspassion. 

')  Vgl.  Klauwell,  Geschichte  der  Programmmusik  S.  251.  Neuester  Zeit  hat 
Friedrich  Klose  in  seinem  Oratorium  »Der  Sonne  Oeist«  im  chorus  mysticus  des 
IV.  Teiles  den  Sopran  auf  c  festgelegt,  als  Symbol  der  ewigen  Wahrheit.  Nach 
Neue  Zur.  Ztg.  139.  Jahrg.,  Nr.  308  (5.  März  1918). 


HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Charakterisierens  zurückziehen;  und  wie  die  tonmalerischen  An- 
lagen, insbesondere  die  S.  Bachs  und  der  neueren  Musik,  überall 
gleichzeitig  gefühlserfüllte  sind,  so  auch  die  tonsymbolischen. 
Wenn  Bach  Reue  und  Zerknirschung  in  Anlehnung  an  das  Bild  des 
Textes  versinnbildlicht,  so  erfüllt  er  die  zur  Veranschaulichung  des 
schwankenden  Schrittes  und  zur  Symbolisierung  der  Reue  bestimmten 
Tonphrasen  nicht  nur  überall  mit  einem  sinnlicher  Schönheit  ver- 
haftetem Gefühlsgehalt,  er  bettet  sie  noch  überdies  sorgfältig  in  weitere 
musikalische  Komplexe  ein.  Mit  anderen  Worten:  ebensowenig  wie 
die  Tonmalerei  der  neueren  Musik,  nach  Bach,  abgelöst  erscheint  von 
einem  Gefühlsinhalt  —  es  sei  denn  im  Rezitativ  —  ebensowenig  die 
Tonsymbolik.  Sie  ist  überall  mit  einem  gefühlsmäßigen  Inhalt 
verwachsen.  Bach  versinnbildlicht  in  unserem  Beispiel  nicht  allein 
den  Begriff  Reue,  Zerknirschung  durch  Abbildungen  des  äußeren  Ver- 
haltens des  Schwankenden.  Er  verknüpft  mit  dieser  tonmalenden 
Symbolik  das  Reuegefühl  des  Sünders,  der  demütig  und  tief  erschüttert 
vor  Gott  tritt.  Und  so  groß  auch  der  Tonsymboliker  Bach  ist, 
so  bewundernswert  sein  Feinsinn,  und  die  überzeugende 
Kraft  seiner  veranschaulichenden  Motive  sind,  seine  arioni- 
schen  Wundertaten  liegen  doch  mehr  noch  in  der  tiefen 
Innerlichkeit,  in  der  unerschöpflichen,  immer  wieder  frisch 
springenden  musikalischen  Erfindungsquelle,  und  den  ihr 
entsteigenden  Gefühlsinhalten. 

Es  ist  kein  Zufall,  daß  ich  mich  bisher  überall  auf  die  kirch- 
liche Musik  berufen  habe;  ist  doch  die  geistliche  Dichtung  und 
vor  allem  die  Bibel  selbst  von  Symbolen  erfüllt.  Das  allein  aber 
würde  noch  nicht  die  Tatsache  erklären,  daß  Bach  so  große 
und  ernste  Anstrengungen  macht,  sie  in  die  Musik  einzubeziehen. 
Andere  Meister  seiner  Zeit  und  der  größte  unter  ihnen,  Händel,  haben 
vor  der  Symbolik  halt  gemacht.  Die  Gründe  für  Bachs  Schaffens- 
weise liegen  in  seiner  zur  Mystik  geneigten  Frömmigkeit  einerseits  und 
dem  seine  gesamte  Kunst  durchziehenden  Bestreben  anderseits,  ver- 
möge seiner  Musik  dem  gedanklichen  Inhalt  des  Textes  zu  erhöhter 
Anschaulichkeit  zu  verhelfen.  Man  vergesse  nicht,  daß  seine  geist- 
lichen Kantaten,  wie  Passionen,  nicht  auf  ein  rein  ästhetisches  Er- 
leben abgestimmte  Kunstwerke  vorstellen,  vielmehr  auch  auf  außer- 
musikalische Wirkungen  ausgehen:  die  Erweckung  und  die  Er- 
höhung religiöser  Gefühle  i).  Es  kam  Bach  sehr  darauf  an,  sie  seiner 
Gemeinde  in  größter  Anschaulichkeit  zu  vermitteln.     Er  hat  das  ver- 


')  Eine  ausführliche  Erörterung  der  Stellung  der  außerästhetischen  Faktoren 
im  Kunstwerk  gab  Utitz  »Außerästhetische  Faktoren  im  Kunstgenuß«,  Zeitschrift  f. 
Ästhetik  VII,  S  619  ff. 


TONSYMBOLIK. 


möge  eines  großartigen  Kunstverstandes  und  einer  musikalischen  Be- 
gabung ohne  Gleichen  vermocht,  ohne  die  Grenzen  der  Musik  als 
einer  Kunst  des  Sinnlich-Schönen  zu  überschreiten,  oder  hat  sie  doch 
nur  in  Ausnahmefällen  überschritten.  Wenn  er,  wie  übrigens  bereits 
Schütz,  und  in  noch  höherem  Grade  sein  Zeitgenosse  Telemann, 
indessen  dennoch  hie  und  da  zu  weit  gegangen  ist,  und  gerade  in 
der  Symbolik  zu  Mitteln  der  Verdeutlichung  gegriffen  hat,  die  bereits 
außerhalb  der  Kunst  liegen,  wie  wenn  er  das  moralische  Chaos  vor 
Erlaß  der  zehn  Gebote  durch  beabsichtigte  Unordnung  der  musika- 
lischen Gestaltung  wiedergibt,  so  muß  das  eben  jenem  Bestreben,  das 
ihn  überall  bestimmte,  zugute  gehalten  werden.  Vergessen  wir  auch 
nicht,  daß  selbst  dieser  so  unabhängige  Geist  überall,  insbesondere  in 
Leipzig,  durch  Gottscheds  Vermittlung  dem  französischen  Ratio- 
nalismus bis  zu  einem  gewissen  Grade  angeschlossen  war.  Hatte 
doch  schon  der  so  maßvolle  Boileau  im  ausgehenden  17.  Jahrhundert 
als  das  oberste  Prinzip  der  Schönheit  die  Deutlichkeit  erklärt,  und  in 
die  Aufklärung  der  Vorstellungen  das  Schwergewicht  verlegt.  Im 
Kunstwerk  soll  sich  vor  allem  Wahrheit  verkünden  (rien  liest  beau, 
que  le  vrai)  und  dem  bedeutendsten  und  einflußreichsten  Vertreter 
dieser  Philosophie,  dem  La  Motte-Houdard  bedeutet  Kunst  schließlich 
nichts  mehr,  als  eine  schöne  Form  für  die  Gedanken  der  Wahrheit '). 
Für  die  Musik  fordert  diese  Schule  die  Gleichstellung  mit  den  bilden- 
den Künsten,  Nachahmung  der  Natur.  Musik,  die  nicht  malt,  ist 
inhaltslos,  gleicht  einer  aufgeblähten  Rede.  Bietet  sich  kein  Modell 
der  äußeren  Natur,  so  halte  sie  sich  an  die  Affekte  und  ihren  Nieder- 
schlag in  der  Sprache.  Dieser  Ästhetik  entstanden  nicht  nur  unter  den 
Literaten  (Crousaz,  Pluche),  sondern  vorzüglich  unter  den  Praktikern 
(Lalande,  Couperin,  Henry  du  Mont)  Gegner,  die  sehr  wohl  die  Un- 
haltbarkeit  der  Lehre  einerseits,  das  wahre  Lebensprinzip  der  Musik 
anderseits  erkannten.  Unzweifelhaft  hat  Bach  die  französische  Irrlehre 
und  noch  dazu  in  der  verknöcherten  Form  der  Vorträge  des  Leipziger 
Literaturprofessors  genau  gekannt.  War  sie  doch  überdies  Gemeingut 
aller  Gebildeten  jener  Tage.  Ob  ihm  dagegen  die  gegnerischen 
Ansichten  bekannt  geworden  sind,  ist  fraglich;  denn  die  erste  Oppo- 
sition in  Deutschland  mit  der  Rede  J.  Elias  Schlegels  in  der  Oottsched- 
schen  Redegesellschaft  von  1741  kam  für  ihn  zu  spät.  Überdies  ver- 
langten die  Theologenkreise  Leipzigs,  daß  die  kirchliche  Musik 
ihre  Hauptaufgabe  in  der  Verdeutlichung  des  Textwortes,  in  der  Ver- 
stärkung vor  allem   ihrer  verstandesmäßigen   Elemente   suche.     Aber 


')  Ecorcheville  (f  1915),  Esthtftique  musicale  de  Lully  ä  Rameau,   Paris  1906, 
und  meine  Musikästhetik  des  18.  Jahrhunderts  S.  33  ff. 


HUGO  GOLDSCHMIDT. 


wenn  schon  ein  Talent  zweiten  Ranges,  wie  Scheibe,  sich  gegen  Gott- 
scheds Zumutung,  die  Musik  zu  einer  Hiifskunst  der  Poesie  herab- 
zudrücken, ablehnend  verhalten  hatte  ^),  so  war  das  Genie  Bachs  durch 
diese  Leugner  des  musikalischen  Lebensprinzips  nicht  aus  seiner  Bahn 
zu  werfen.  Trotzdem  und  alledem  hat  der  Sonnenwagen  der  Bach- 
schen  Kunst  seinen  Weg  verfolgt,  und  Gottsched  war  kein  Zeus,  ihn 
zur  Entgleisung  zu  bringen.  Das  aber  ist  eines  ihrer  hohen  Wunder, 
daß  in  ihr  Platz  war  sowohl  für  die  Bildungen,  die  in  der  Vergangen- 
heit und  der  Übung  des  17.  Jahrhunderts  fußten,  als  für  die,  die  jener 
Tendenz  und  jenen  ästhetischen  Überzeugungen  Rechnung  trugen, 
die  die  Musik  ausschließlich  als  eine  deskriptive  Kunst  ansahen. 
Bach  hat  seine  deskriptiv  gemeinten  Tonkombinationen,  tonmalende 
wie  tonsymbolische,  in  solchem  Grade  als  musikalische  Ingredenzien 
dem  Gesamtablaufe  einzustellen  gewußt,  daß  sie  nicht  mehr,  wie  die 
seiner  Vorgänger,  ja  vieler  seiner  Zeitgenossen  einen  Fremdkörper  im 
musikalischen  Ablaufe  vorstellten.  Sie  erfüllten  ihren  Zweck,  dem 
Textwort  höhere  Anschaulichkeit  zu  verschaffen,  ohne  das  musika- 
lische Gleichgewicht  zu  stören. 

Ist  das  schöne  Verhältnis  dieser  Faktoren,  der  Tonmalerei  und 
der  Tonsymbolik,  zur  freien  Betätigung  der  Musikempfindung,  zum 
Schönen  und  Charakteristischen  der  Musik  anzuerkennen,  so  ist  die 
innere  Arbeit  an  jenen  deskriptiven  Teilen,  und  gerade  den  ton- 
symbolischen, doch  nicht  überall  freizusprechen,  einmal  von  einer 
gewissen  Übertreibung  in  dem  Bestreben  zu  verdeutlichen,  dann  aber 
auch  von  einer  gewissen  Wahllosigkeit  der  Mittel,  mit  denen  das 
geschieht.  Glücklicherweise  sind  die  so  gearteten  Bildungen  in  einer 
bescheidenen  Minderheit!  Sie  sind  zweifellos  der  allgemeinen  ratio- 
nalistischen Befangenheit  der  Gebildeten  jener  Tage  zur  Last  zu 
schreiben.  Wer  da  weiß,  welch'  starken  Nachklang  die  französische 
Literatur  und  Gottscheds  Lehre  in  Deutschland,  insbesondere  in  dem 
geistigen  Leben  besaß,,  in  wie  breiten  Schichten  diese  Ästhetik  wie 
ein  Dogma  herrschte,  wird  eben  nicht  erstaunt  sein,  selbst  in  dem 
Schaffen  unseres  Altmeisters  Spuren  ihres  Einflusses  zu  finden.  Hierzu 
kommt,  daß  der  bekanntlich  in  erheblichem  Maße  rückwärts  gewandte 
Bach  bereits  bei  seinem  großen  Vorbilde  Schütz  eine  dieser  Ästhetik 
genäherte,  reich  entwickelte  Tonsymbolik  vorfand.  Ihr  gegenüber  er- 
scheint diejenige  seines  Nacheiferers  Bach  bereits  nicht  nur  in  erheh»- 
lich  geringerem  Grade  realistisch,  sondern  in  weit  höherem  Grade 
Gestaltqualität:  also  eine  völligere,  höhere  Verschmelzung  von  Ton- 
schönheit, Gefühlsgehalt  und  symbolischer  Qualität.   Und  diesem  Fort- 


')  Meine  Musikästhetik  des  18.  Jahrhunderts  S.  82  ff.,  278  ff. 


I 


TONSYMBOLIK. 


schritt  entspricht  der  Prozeß,  der  sich  für  die  Tonmalerei  nachweisen 
läßt.  Realistii<  und  Treue  der  Tonmalerei  macht  abbildlich 
freiereren,  aber  in  höherem  Grade  tonsinnlich-schönen  und 
gefühlsmäßig  kräftigeren  Bildungen  Platz,  die  damit  auch  zum 
ganzen  Ablauf  des  Tonstückes  in  ein  harmonischeres  Verhältnis  treten. 
Dieselben  Entwicklungen  bezeugen  die  tonsymbolischen  Bil- 
dungen. Die  des  Schütz  sind  gut  realistisch,  aber  zu  realistisch, 
um  durchweg  den  Erfordernissen  zu  entsprechen,  die  das  Tonsinn- 
lich-Schöne stellt.  Sie  fügen  sich  nicht  völlig  und  nicht  überall  in 
den  musikalischen  Ablauf  ein.  Man  spürt  denn  doch  allzu  sehr 
das  17.  Jahrhundert  mit  seiner  aufdringlichen  Wortmalerei  und  seiner 
Realistik,  die  sich  an  der  Freude  der  Nachahmung  nicht  genug  tun 
kann.  Bei  Bach  eine  innigere  Verschmelzung  der  überall  noch  vor- 
trefflich abbildlichen  Phrasen  mit  Tonschönheit  und  Gefühlsinhalt. 
Die  Stilisierung  der  charakterisierenden  Tonkomplexe  hat  in  der 
Periode  nach  Schütz  bis  zu  Bach,  vorzüglich  aber  durch  Bach  erheb- 
liche Fortschritte  gemacht. 

Wir  verfolgen  nun  zunächst  die  auf  Tonmalerei  begründete 
Symbolik,  und  ziehen  als  Beispiele  in  erster  Linie  die  geistliche 
Vokalmusik  Schützens  und  Bachs  an. 

Leichtverständlich  und  deshalb  ungemein  häufig  ist  der  Schluß 
aus  einem  körperlichen  Verhalten  auf  einen  psychischen 
Zustand.  Der  Musiker  tonmalt  jenes  und  legt  so  dem  Hörer  den 
Schluß  auf  diesen  nahe.  Je  kräftiger  die  Nachbildung,  desto  leichter 
wird  der  Schluß  von  dem  erkannten  Bilde  auf  den  Begriff  vonstatten 
gehen,  selbstverständlich  nicht  ohne  den  Anhalt,  den  Text  oder  Pro- 
gramm an  die  Hand  geben.  Bach  liebt  es  vor  allem,  den  Schritt 
des  Menschen  als  ein  Symbol  seines  Gemütszustandes  zu  nehmen. 
Den  schwankenden  Schritt  des  vor  Gott  erscheinenden,  mühselig  Be- 
ladenen  und  Zerknirschten  nimmt  er  zum  Ausgange  des  Symbols  der 
Lebensmüdigkeit  1),  der  Reue  und  Zerknirschung*).  Ein  erheblich 
stärkerer  Anspruch  an  die  verstandesmäßige  Apperzeption  ist  dort  ge- 
stellt, wo  dieselbe  tonmalende  Unterlage  des  schwankenden  Schrittes 
zum  Symbol:  schwankender  Glaube  oder  selbst  Unglaube  sich  aus- 
weitet. Hier  muß  die  Tonmalerei  ein  sehr  starkes  Schwanken,  ja  ein 
völlig  haltloses  Wanken  schildern,  will  sie  in  jenem  tonsymbolischen 
Sinne  verstanden  werden.  Es  liegen  denn  hier  in  der  Tat  auch  einige 
Bildungen  vor,  die  eine  solche  Realistik  der  Abbildlichkeit  aufsuchen, 
daß  sie  sich  einer  musikalischen  Einordnung  in  das  Ganze  entziehen, 

')  Ghoralvorspiel  »Herrgott,  nun  schleuß  den  Himmel  auf«  (V,  24).  Siehe 
Schweitzer,  Jean  S.  Bach  S.  348,  ähnlich  V,  9  und  V,  39. 

')^Z.  B.  Kantate,  Herr  Christ  der  ein'ge  Gottessohn  (96,  XX[I,  S.  137). 


g  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


SO  daß  jene  schöne  Harmonie,  die  eben  gerühmt  wurde,  jenes  schöne 
Verhältnis  von  deskriptiven  Themen  zur  musikalischen  Anordnung 
gelockert  ist.  Das  trifft,  um  hier  ein  Beispiel  vorauszunehmen,  zu 
für  die  Kantate  »Ich  glaube,  lieber  Herr,  hilf  meinem  Unglauben« 
(109  XXlll,  S.  233),  von  der  Schweitzer  i),  wohl  etwas  übertreibend, 
aussagt,  sie  sei  dem  Ohr  unerträglich.  Das  Gleiche  läßt  sich  be- 
haupten für  die  Choräle  über  das  Heilige  Abendmahl  (VI,  30)  und 
über  die  Taufe  (VI,  17)''').  Den  festen,  un  beirrten  Gang  nimmt 
Bach  zum  Ausgange  für  die  Symbole:  Glaubensfestigkeit  und  -freudig- 
keit^),  dann  der  psychischen  Kraft  und  Entschlossenheit'),  selbst  der 
göttlichen  Macht  ■•)  und  der  Unfehlbarkeit  des  göttlichen  Versprechens''). 
Indessen  sind  diese  Tonphrasen  nicht  mehr  von  besonders  tonmale- 
rischer Treue.  Man  kann  gerade  noch  von  leichter  malerischer  Inspi- 
ration sprechen.  Damit  ist  aber  ihre  tonsymbolische  Funktion  nicht 
bestritten,  die  unverkennbar  vorliegt.  Leugnet  man  die  ton  male- 
rische Unterlage,  so  muß  man  diese  tonsymbolischen  Gestaltungen 
der  freien  Charakteristik  zurechnen,  auf  die  wir  bald  zu  sprechen 
kommen. 

Als  Gegensatz  zur  Bewegung  dient  die  Ruhe,  das  Verharren 
als  Modell  tonsymbolischer  Malerei  und  zwar  schon  längst  vor  Bach. 
Das  italienische  Madrigal  zeigt  für  die  Begriffe:  *ostinate«,  ^stabile*, 
»w  non  mutoi^  überall  langgehaltene  Töne '),  die  in  der  Ausführung 
natürlich  in  der  Tonstärke  feststehen,  nicht  etwa  an-  oder  abgeschwellt 
werden.  In  Luca  Marenzios  Motetten  stehen  zwei  schöne  Beispiele 
für  dieselbe  Versinnbildlichung  der  unerschütterlichen  Festigkeit  der 
Kirche  durch  langgehaltene  Töne,  zu  den  Worten:  »Et  supra  hanc 
petram.'t  und  ^Qui  aedificavit  domum  suam  supra  petrani«^ ").  Das- 
selbe Symbol  gibt  Vittoria,  indem  er  den  Tenor  in  vier-,  ja  achtfachen 
Notenwerten  in  Longis  und  Minimis  anhält,  während  die  anderen 
Stimmen  ihre  Bewegungen  fortsetzen  ■').  Die  neuere  Musik  nach  1600 
kann  sich  gleichfalls  der  Ausnutzung  dieser  Analogie  für  tonsymbo- 
lische Zwecke  nicht  entschlagen.     Der  Beispiele  sind  Legion  in  der 


')  A.  a.  O.  S.  340. 

2)  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  340. 

4  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  273. 

*)  Schweitzer,  ebenda. 

*)  Ebenda. 

«)  Ebenda  S.  395. 

')  Kroyer,  Anfänge  der  Chromatik  im  Madrigal  S.  24. 

s)  Leichtentritt,  Gesch.  der  Motette  S.  183. 

')  Leichtentritt  a.  a.  O.  S.  375.  Es  handelt  sich  um  die  Motette:  »/s/^  sanc- 
ius  pro  lege  dei  sui  certaviU  und  den  Worten  y>Fundatiis  enim  erat  supra  firmam 
petramii. 


TONSYMBOLIK. 


Oper ')  wie  in  der  geistlichen  und  weltlichen  Kantate  ■).  Für  Schütz 
und  Bach  verweise  ich  auf  Pirros  (Schütz«)  und  Wolfrums  (»Se- 
bastian Bach«)  Zusammenstellungen.  Die  Mehrzahl  dieser  Komplexe 
versinnbildlichen  Ruhe,  Friede  der  Seele,  Festigkeit  des  Entschlusses. 
Nur  hüte  man  sich  vor  dem  Irrtum,  als  ob  solch  langgehaltene  Töne 
ausnahmslos  in  symbolischer  Funktion  erschienen.  Der  Stellen  bei 
Bach  sind  zahlreiche,  in  denen  die  Textwendungen  gar  kein  so 
geartetes  Symbol  aufweisen  und  doch  musikalisch  langgehaltene  Töne 
führen.  Eines  der  merkwürdigsten  Beispiele  von  Mehrsinnigkeit 
der  Bachschen  Motive  enthält  die  erste  Altarie  des  Weihnachts- 
oratoriums »Bereite  dich  Zion«  (V,  2  S.  32)  und  zwar  der  Mittel- 
satz. Hier  ist  die  Singstimme  auf  die  Worte  »Eile,  den  Bräutigam 
sehnlichst  zu  lieben«  auf  einen  langen  Ton  festgelegt! 


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le    den  Bräu  -  ti  -  gam 


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I 


Eine  im  17.  Jahrhundert  ungemein  beliebte  Symbolik  stützte  sich 
auf  die  Analogie  der  weiten  Entfernung  der  Töne  untereinander, 
der  großen  Intervalle  der  Singstimme,  insbesondere  in  aufsteigender 
Richtung,  den  Begriff  der  räumlichen  Entfernung  anzugeben ').  Überall 
wo  das  Wort  lontananza  auftritt,  stellen  sich  weite  Sprünge  der  Sing- 
stimme ein:  Septimen,  Nonen,  ja  Undezimen  vielfach  als  verminderte, 
oder  übermäßige.  Den  Ausgang  aber  nimmt  die  Symbolik  von  der 
schmerzlichen  Empfindung,  die  eine  räumliche  Trennung  den 
Liebenden  auferlegt.  Diese  ist  es,  die  die  weiten  Intervallensprünge 
zunächst  andeuten.  Ihr  schließt  sich  dann  die  symbolische  Beziehung 
an.    Deshalb  findet  man  auch  für  diesen  Zweck  niemals  Konsonanzen 


')  Beispiel  bei  Draghi  Achille  in  ScirO'..  Siehe  Beihefte  der  Denkmäler  der 
Tonkunst  in  Österreich  (1913,  Adler)  S.  181,  wo  eine  durch  dreiundeinhalb  Takte 
liegende  Note  das  Symbol  des  langen  Dauerns  angibt.  Eine  ähnliche  Symbolik  in 
Steffanis  ^Alarico  (1,  19),  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Bayern  Bd.  21,  S.  56  (Rie- 
mann). 

■)  Benevoli  deutet  dasselbe  Symbol  an  durch  falsobordonartiges  Rezitieren  auf 
demselben  Tone,  in  der  großen  Messe  a.  16.  v. 

')  Riemann,  Handb.  der  Musikgesch.  II,  2  S.  225  und  Schmitzs  Geschichte  der 
weltlichen  Kantate  S.  60. 


10  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


verwendet,  die  wohl  den  Begriff  der  Entfernung  zu  versinnbildlichen, 
nicht  aber  den  Schmerz  der  Trennung  zu  charakterisieren  fähig 
wären.  Übrigens  verschwindet  diese  Art  der  tonmaierischen  Symbolik 
etwa  mit  dem  Ende  des  17.  Jahrhunderts.  Ich  finde  sie  noch  in  den 
i^Echi  di  riverenza^  des  Legrenzi  von  1678  •),  nicht  mehr  bei  Alessan- 
dro  Scarlatti.  Die  Riesensprünge  der  Stimme  in  den  Opern  und  Kan- 
taten der  Neuneapolitaner  haben  keine  charakterisierende  Funktion. 

Nicht  nur  die  Bewegungen  des  Individuums,  auch  die  der  Massen 
dienen  als  Ausgang  zur  Versinnlichung  eines  Gedankens.  In  Verfol- 
gung italienischer  Anregungen  hat  Schütz  in  seinem  Frühwerk,  den 
italienischen  Madrigalen  des  Ouarini  von  1611,  auf  den  Text  ^Fuggi, 
o  mio  cuoret  eine  Fuge  mit  raschen  Semikromen  gelegt,  die  eine  eilige 
Flucht  von  Menschen  nachahmt,  in  der  Absicht,  daß  von  diesem 
Bilde  der  Gedanke  sich  ablöse:  »Das  Herz  gibt  seine  Liebe  auf,  und 
verzichtet  schmerzerfüilt« '). 

Es  lag  nahe,  auch  an  die  zahlreichen  oben  geschilderten  Nach- 
ahmungen von  Naturvorgängen  symbolische  Beziehungen  an- 
zuknüpfen und  zwar  entweder  so,  daß  in  der  Anknüpfung  an  den 
Text  ein  Naturvorgang,  wie  der  der  Bewegung  der  leicht  gleitenden 
Wellen,  zur  Versinnbildlichung  eines  Begriffes  des  Friedens  oder  der 
höchsten  Seligkeit  diente,  ein  Verfahren,  von  dem  bereits  oben  mehr- 
fach die  Rede  war,  oder  aber  so,  daß  dort,  wo  der  Text  keinen  Anlaß 
zu  einem  tonmalenden  Bilde  gibt,  doch  die  Phrase,  die  Bach  regel- 
mäßig für  die  Schilderung  eines  Naturvorganges  benutzt,  in  dem 
Sinne  erscheint,  daß  sie  den  in  der  Realität  diesem  regelmäßig  ange- 
schlossenen Begriff  versinnbildlicht.  So  erscheint  in  der  Kantate  »Es 
ist  nichts  Gesundes  an  meinem  Leibe«  (25,  V)  dort,  wo  das  Wort 
Friede  ausgesprochen  ist  (S.  165),  die  Musikwendung,  mit  der  Bach 
eine  ruhige  Wellenbewegung  wiederzugeben  pflegt,  obwohl  hier  das 
Bild  einer  Wellenbewegung  im  Texte  gar  nicht  enthalten  ist.  Es  ist 
mir  indessen  zweifelhaft,  ob  Bach  in  diesen  und  ähnlichen  Fällen  auf 
die  intellektuelle  Aufnahme  der  Wendung  in  ihrer  ton  malen  den 
Funktion  wirklich  gerechnet  hat.  Ich  neige  zu  der  Annahme,  daß  er  sie 
überhaupt  allgemein  charakterisierend  verstanden  wissen  wollte.  Stimmt 
man  dieser  Ansicht  zu,  so  gehört  diese  Art  Symbolik  in  die  zweite 
Kategorie  und  dem  Verfahren  an,  das  für  die  Versinnbildlichung  der 
Begriffe   lediglich   analogielose  Tonkomplexe  aufstellt.     Hingegen 


')  Vgl.  meine  Lehre  von  der  vokalen  Ornamentik  S.  45. 

')  Pirro  »Schütz«  S.  160.  Über  die  Ausnutzung  des  Kanons  und  der  Fuge  für 
tonsymbolische  Zwecke  ist  weiter  unten  zu  handeln.  Beispiele  für  tonmalerische 
Darstellungen  einer  Flucht  sind  zahlreich  in  der  instrumentalen  Programmmusik,  so  bei 
Couperin  und  Kuhnau  (erste  biblische  Sonate).   Siehe  Mies  Bd.  VII  d.  Zeitschr.  S.  585. 


I 


TONSYMBOLIK.  1 1 


sind  die  folgenden  Symbolbezeichnungen  in  Wendungen  niedergelegt, 
die  einer  wirklichen  Tonmalerei  verdankt  werden:  der  Begriff 
Satan  wird  von  Bach  bezeichnet  durch  die  kriechenden  Bewegungen 
der  Schlange '),  der  Begriff  Sünde  durch  fallende  Intervalle  als  Malerei 
des  Falles  Adams.  In  der  Choralbearbeitung  des  »Fall  Adams<  (V,  13) 
ist  die   tonmalerische  Grundlage  zur  freien  Charakteristik  ausgebaut: 


Die  Rhythmik  und  die  fallende  Tonbewegung  schildern  den  Vorgang 
des  Fallens,  die  verminderten  Septimen  dagegen  haben  natürlich  nichts 
Tonmalerisches,  sind  vielmehr  eine  freie  Charakteristik  des  Begriffes 
Sünde.  Auch  diese  Wendung  gehört  also  zu  einem  Teil  in  die  freie 
Charakteristik  tonsymbolischer  Art. 

Häufig  wächst  die  symbolische  Tonreihe  aus  einem  Bilde  heraus, 
das  nur  noch  auf  eine  sehr  leichte  tonmalerische  Inspiration  zurück- 
geführt werden  kann.  So  wenn  Auf-  und  Abwärtsbewegungen, 
Skalen  und  Sechzehntelgänge  in  Bewegung  gesetzt  sind,  sich  bildenden 
und  wieder  rasch  verschwindenden  Nebel  zu  malen,  das  alles,  die 
Flüchtigkeit  und  Vergänglichkeit  des  Irdischen  nahe  zu  legen '-).  Den- 
selben Begriff  trifft  Bach  sicherer  in  dem  Chor  »Wer  weiß  wie  nahe 
mir  mein  Ende,  Hin  geht  die  Zeit,  her  kommt  der  Tod«  der  gleich- 
namigen Kantate  (27,  V,  1,  S.  219),  in  dem  in  den  Bässen,  mit  dem 
Choral  kombiniert,  ein  deutliches  Ticktack  der  Uhr  durchgeführt  ist. 
Folgte  ich  Schweitzer  und  Wolfrum,  so  müßte  ich  noch  eine  große 
Anzahl  von  ihnen  zufolge  symbolisch  gemeinten,  tonmalerisch  ange- 
legten Bildungen  hier  anführen.  Indessen  bin  ich  der  Ansicht,  daß 
beide  Autoren,  nicht  anders  wie  Pirro,  in  seinen  Schriften  über  Schütz 
und  Bach,  in  ihrem  Bemühen  in  Bach  den  Maler  zu  finden,  Tonmalerei 
auch  dort  feststellen,  wo  in  Wirklichkeit  kein  Verstand  der  Verstän- 
digen mehr  sie  einwandfrei  zu  erkennen  imstande  ist.  Begnügen 
wir  uns  also,  den  unzweifelhaft  tonmalerisch-symbolischen  Bildungen 
nachzugehen. 

Die  für  die  Tonmalerei,  wie  wir  sahen,  so  wichtige  fiktive  Gleich- 
stellung von  Tönen  größerer  Schwingungszahl  mit  hohen,  denen 
kleinerer  mit  tiefen,  besitzt  auch  für  die  Symbolik  eine  ungemein  ver- 
breitete, allen  Zeiten  und  Stilen  geläufige  Bedeutung,  und  zwar  so 
verwendet,  daß  entweder  die  Tonhöhen  als  absolute,  also  schlechtweg 
hohe  oder  schlechtweg  tiefe  fungieren,  oder  ein  Übergang  von  hohen 
zu  tiefen  oder  umgekehrt  von  tiefen   zu   hohen  eingestellt  ist.     Das 

')  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  363. 
■')  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  343. 


]2  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Verharren  in  hohen  und  tiefen  Tonlagen  ist  aber,  wie  wir  bereits  fest- 
stellten, in  der  praktischen  Musik  kombiniert  mit  der  Ausnutzung  des 
Timbre  der  angewandten  Instrumente.  An  sich  kommt  ja,  wie  wir 
wissen,  der  Höhe  der  Töne  und  ihrer  Tiefe  eine  bestimmte  Bedeu- 
tung nicht  zu,  und  wir  steilen  gegen  Wundt  fest,  daß  tiefe  Tonlagen 
insbesondere  durch  das  Klangkolorit  der  ausführenden  Fagotte  und 
Baßtuben  ins  Komische,  ja  Groteske  übergehen.  Dasselbe  gilt  für 
hohe  Tonlagen.  Im  Lohengrinvorspiel  ergibt  erst  das  Zusammen- 
wirken der  äußerst  hohen  Tonlagen  und  des  Violinkolorits  die  An- 
schauung eines  in  leichten  Höhen  Schwebenden,  unsagbar  Hehren, 
Heiligen.  Die  Beziehung  der  Töne  auf  den  Oral  ist  selbstverständlich 
erst  dem  feststellbar,  der  den  Inhalt  des  Dramas  kennt.  Ersetzt  man 
die  Violinen  etwa  durch  Flöten,  wie  das  die  Bearbeiter  für  Militär- 
orchester zu  tun  genötigt  sind,  so  stellt  sich  jenes  Gefühl  und  jene 
Anschauung  ebensowenig  ein,  wie  bei  einer  Klavierübertragung.  In 
der  Programmmusik  gilt  dasselbe.  Der  älteren  Musik  ist  aber  die  kolo- 
ristische Charakteristik  noch  nicht  geläufig,  und  auch  nicht  die  Kombi- 
nation extremer  Tonlagen  mit  Klangfarben  und  ihren  Nuancen.  Immer- 
hin hatte  doch  schon  Schütz  in  den  Psalmen  von  1619  die  hohen 
Stimmen  der  capella,  d.  h.  des  großen  Vokalchores,  durch  Trompeten 
verstärkt,  um  den  Gedanken  zu  geben  'Gottes  Güte  währet  ewiglich«. 
Die  Bewegungen  aufwärts  oder  abwärts  werden  von  den  Vorgängern 
Bachs  und  von  ihm  selbst  reichlich  für  die  Symbolik  genutzt,  und 
erhalten  sich  in  der  kirchlichen  Musik  und  in  der  Programmmusik  in 
dieser  Bestimmung  bis  in  die  neuste  Zeit.  Aufwärtsbewegungen, 
in  mehr  oder  weniger  energischem  Anstreben,  dienen  Bach  zu  der 
Versinnbildlichung  der  Auferstehung  im  >>Et  expecto  resurrectionem<. 
der  H-Moll-Messe,  in  der  Tenorarie  »Ich  lebe,  mein  Herze«,  der 
Osterkantate  »So  du  mit  deinem  Munde  bekennest«  (145,  XXX,  S.  104), 
in  der  Kantate  »Halt  im  Gedächtnis;  (67  XVI,  S.  217),  dann  in  dem 
Gebet  der  Kantate  »Schwingt  freudig  euch  empor«  (36  VH,  S.  223), 
endlich  zu  den  Worten  »Der  Glaube  schafft  der  Seele  Flügel«  in  der 
Kantate  »Wer  da  glaubet  und  getauft  wird«  (37  VII,  S.  264),  ange- 
schlossen an  die  Vorstellung,  daß  die  Seele  sich  zum  Himmel  empor- 
schwingt 1). 

Abwärtsgerichtete  Tonfolgen  benutzt  Bach,  um  die  folgenden 
Symbole  tonlich  zu  verlebendigen.  Vermöge  des  Niederfallens  vor 
Gott,  des  Sinkens  in  die  Kniee:  das  der  tiefsten  Ergebenheit  in  Gottes 
Ratschluß.  So  in  der  Kantate  »Ich  habe  in  Gottes  Herz  und  Sinn« 
(92  XXII,  S.  35)  und   in    der   Kantate    »Ich    habe   meine   Zuversicht« 


')  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  366—367. 


TONSYMBOLIK.  13 


(188  XXXVII,  S.  1Q5).  Dann  die  Selbsterniedrigung  vor  Gott,  durch 
fallende  Septimen  wie  wir  sie  oben  kennen  gelernt  haben  in  der  Kan- 
tate »Die  Himmel  erzählen«  (76  XXVII,  S.  IQl).  Ähnlich  ist  in  der 
Kantate  »Tue  Rechnung  Donnerwort<  (168  XXXill,  S.  14Q)  der  Begriff 
der  Demütigung  der  Seele  vor  Gott  gegeben  in  der  Arie  »Herz,  brich 
die  Ketten  Mammons«.  Auf-  und  Abwärtsbewegungen  sind  vereinigt, 
wo  das  Symbol  des  Falles  der  Menschheit  und  ihres  Strebens  sich 
von  ihm  zu  erheben,  auf  Grund  einer  tonmalerischen  Inspiration  des 
Sinkens  und  Steigens  in  Frage  steht.  So  in  der  Arie  »Wir  waren 
schon  zu  tief  gesunken«,  der  Kantate  »Es  ist  das  Heil  uns  kommen 
her«  (Q  I,  S.  261).  Noch  kühner  erweist  sich  die  Wiedergabe  des  Sinnes: 
»Wer  sich  selbst  erniedriget,  der  wird  erhöhet  werden«  in  der  Kantate 
»Wer  sich  selbst  erhöhet«  (47  X,  S.  241)  durch  die  gleichen  Kombi- 
nationen. 

Besonderer  Erwähnung  verdient  die  immer  wiederkehrende  Nutzung 
der  tonmalerischen  Vorstellung  der  vom  Himmel  auf  die  Erde 
sich  herabsenkenden,  göttlichen  Gnade,  vorzüglich  für  das 
»Benedictus  qui  veniU  der  Messe,  aber  auch  an  anderen  Stellen.  Schon 
bei  Obrecht,  der  überhaupt  mehrfach  malerischen  Vorstellungen  nach- 
gibt, läßt  in  der  Messe  über  yFortuna  disperata^  die  Oberstimme  ihr 
^qui  venit  nomine  DeU  sieben  Mal  immer  von  demselben  Ton  aus 
anstimmen  und  immer  tiefer  hinunterführen.     Zuerst  heißt  es: 


ii^^^i^=i  """"^  % 


^ 


3r:il 1    -H — ^ 


und  »so  geht  es  allmählich  die  ganze  Skala  hinab  in  immer  längeren 
Strecken  bis  endlich  das  kleine  f  erreicht  ist«  i),  eine  tonmalerisch  und 
tonsymbolisch  ebenso  klare  wie  musikalisch  schöne  und  charakte- 
ristische Wendung.  Daß  der  neue  kirchliche  Stil  nach  1600 
solch  poetisch-musikalische  Hilfsmittel  der  Veranschaulichung  nicht 
ungenutzt  ließ,  lag  schon  in  seiner  allgemeinen  Tendenz,  der  von 
Ästhetik  und  Praxis  gewünschten  engeren  Beziehung  zum  Leben.  Ich 
greife  hier  nur  ein  Beispiel  heraus.  In  den  kleinen  geistlichen  Kon- 
zerten von  1636  »Fürchte  dich  nicht,  denn  ich  bin  dein  Gott«  des 
Schütz-')  steigt  die  Tonphrase,  welche  zuerst  diesen  Trost  ausspricht, 
in  den  Wiederholungen  in  immer  tiefere  Tonlagen  hinab,  um  zu  ver- 
anschaulichen, wie  sich  Gottes  Hilfe  vom  Himmel  herabsenkt,  bis  sie 
dem  schwachen  und  bedrückten  Menschen  zu  eigen  werde.  Durch 
bloße  Wiederholung  ein  und  derselben  sinkenden  Tonbewegung 


■)  Kretzschmar,  Führer  II,  1,  S.  153. 

-•)  Nr.  15.    Vgl.  Pirro  a.  a.  O.  S.  201. 


14  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


'  '^  u  '  ;  ^'f  ^ 

schließt  Bach  in  dem  Accompagnato  »Der  Heiland  fällt  vor  seinem 
Vater  nieder«  in  der  Matthäuspassion  den  Gedanken  an:  Jesus 
schwebt  zu  uns  in  seiner  göttlichen  Gnade  nieder  und  hebt  uns 
wieder  auf  zu  Gottes  Gnade.  Ich  bekenne  mich  zu  der  Interpretation 
der  Stelle  durch  Heuß ').  Die  Analogie  des  Bildes  des  vom  Himmel 
herabschwebenden  Gottessohnes,  auch  der  Malerei  der  großen  Italiener 
so  geläufig,  bewährt  sich  in  der  musikalischen  Literatur  als  so  symbol- 
kräftig, daß  sie  nunmehr  vielfach  und  selbst  dort  erscheint,  wo  man 
sie  nicht  gesucht  hätte.  So  hat  Cherubini,  der  bekanntlich  im  be- 
wußten Gegensatz  zu  seinem  Zeitgenossen  und  Kollegen  am  Konser- 
vatorium in  Paris,  Le  Seur,  der  Beeinflussung  der  Phantasie  durch 
äußere  Vorstellungen  entschieden  feindlich  gegenüber  stand,  im 
Credo  seiner  schönen  D-Moll-Messe  von  1821  das  »descendit  de  coelis^ 
malerisch-symbolisch  aufgefaßt  und  ausgeführt  -).  Endlich  sei  noch 
an  Beethovens  ^Missa  solemnis«  und  das  Motisf  der  Solovioline  im 
»Benedictus«  erinnert,  das  beiden  Unterarten  dieser  tonmalerischen 
Symbolik  angehört.  Die  hohe  Lage,  in  der  das  Instrument  sich  zu- 
nächst bewegt,  in  Kombination  mit  seinem  zarten,  überirdischen  Klange 
vertreten  den  Begriff  der  göttlichen  Gnade  des  Himmels,  der  allmäh- 
liche Übergang  in  tiefere  Lagen,  den  Gedanken,  daß  sie  sich  zu  dem 
heilsbedürftigen  Sterblichen  herabsenke.  Verstärkt  wird  diese  Dar- 
stellung des  Heilssymbols  noch  durch  das  Verhalten  der  anderen 
Instrumente  und  der  Stimmen,  die  »diese  süße  Tonerscheinung  mit 
verhaltenem  Atem  nur  in  leisen,  murmelnden  Lauten,  wie  ein  Wunder, 
begrüßen«  ■^). 

Die  Richtung,  welche  die  Musik  nach  Bach  einschlug,  lag  nicht 
auf  der  deskriptiven  Seite.  Die  Operngeschichte  des  18.  Jahr- 
hunderts ist  zwar  im  wesentlichen  der  Prozeß  des  Durchbruchs  des 
Charakteristischen,  und  des  Sieges  über  das  rein  Tonsinnlich-Schöne, 
wie  er  sich  in  der  Überwindung  des  Pergolese- Hasse- Typus  durch 
die  Dramatiker  Jommelli-Traetta,  Majo  und  andere  auf  italienischer 
Seite,  durch  Gluck  auf  deutscher  Seite  darstellt.  Aber  diese  Charakte- 
ristik besteht  auch  noch  bei  Mozart,  im  wesentlichen  in  jener  Zu- 
sammenstimmung des  Gefühlsgehaltes  der  Dichtung  und  der  Musik, 


')  A.  a.  O.  S.  86. 

')  Krefzschmar,  Führer  II,  1,  S.  223. 

')  Kretzschmar  a.  a.  O.  S.  213. 


I 


TONSYMBOLIK.  15 


die  auf  einer  wesentlich  gefühlsmäßigen  Apperzeption  beruht.  Ihr 
gegenüber  behauptet  die  Charakteristik,  die  auf  Analogien  zum  Außen- 
leben begründet  ist,  nur  eine  sehr  zweite  Rolle,  und  überall  mehr  im 
Komischen  als  im  Tragischen.  Von  der  Oper  aus  ging  diese  Enthal- 
tung von  tonmalerischer,  tonsymbolischer  und  gefühlsbezeichnender 
Charakteristik  auf  die  Kirchenmusik  über,  auch  auf  die  Passionen  und 
Oratorien.  Welch  ein  Unterschied  etwa  in  der  Anlage  zwischen  den 
Passionen  Bachs  und  Orauns  »Tod  Jesu«!  Man  lese  die  einschlägigen 
Abschnitte  in  Kretzschmars  Führer  (II,  1),  um  zu  sehen,  wie  stark 
diese  Art  des  Bezeichnens  auch  in  der  kirchlichen  Musik  nachläßt. 
Indessen  hat  die  Tonmalerei  für  sich  eine  gewisse  Bedeutung  be- 
hauptet; sie  nahm  sogar  zeitweilig,  von  Bendas  Melodramen  aus, 
mit  Haydns  Schöpfung«  und  »Jahreszeiten«  einen  gewissen  Auf- 
schwung. Aber  alles  in  allem  genommen  war  die  Zeit  der  Tonmalerei 
und  vor  allem  die  der  Tonsymbolik  vorüber.  Sie  haben  in  Schütz' 
und  Bachs  Werken  ihre  Klassizität  und  ihren  Höhepunkt  erreicht. 
IH  Diese  Ausführungen  erklären,  daß  der  Beispiele  für  die  Tonsym- 
'^bolik  und  insbesondere  selbst  für  die  so  stark  verbreitete,  so  tief  in 
unser  Bewußtsein  verankerte  Vorstellung:  hoch-tief,  in  der  neueren 
Vokalmusik  nicht  allzu  viele  sind.  Es  gehören  hierher  Beethovens 
»Ihr  stürzt  nieder,  Millionen«  und  »Über  Sternen  muß  er  wohnen«. 
In  Schuberts  Liede  »Letzte  Hoffnung«  (Winterreise  Nr.  15)  steht  eine 
feine  und  ergreifende  auf  Tonmalerei  basierte  Verdeutlichung  des  Ab- 
fallens des  letzten  Blattes  vom  Baume  als  das  Symbol  des  trostlosen 
Unterganges  auch  der  letzten  Hoffnung.  Dann  finden  sich  feine  Züge 
in  Rob.  Schumanns  »Hebräischen  Gesängen«.  Ferner  wäre  anzumerken 
die  Skala  in  den  Faustszenen  »Wer  immer  strebend  sich  bemüht«. 
Voll  tiefster  Symbolik  ist,  den  Worten  Goethes  angeschlossen,  der 
dritte  Teil  dieser  Szenen:  Fausts  Verklärung.  Für  die  Gesänge  des 
Pater  Ecstaticus  deutet  sich  die  Begleitung  aus  der  Vorstellung  des 
Auf-  und  Niederschwebens  als  Symbol  der  Verklärung. 

Wir  verlassen  nun  das  Gebiet  der   tonmalerischen  Symbolik, 
und  wenden  uns  derjenigen  zu,  die  sich  ausschließlich  allge- 
meiner und  freier  Charakteristik  bedient,  ohne  Analogien 
anzurufen.    Ihre  Eigenart  im  Schaffensakt  wie  in  der  Apperzeption  ist 
bereits   behandelt  worden.     Daß  die  Musik   nun  die  Fähigkeit  in  der 
Tat  besitzt,  auch  ohne  jede  Analogie,  auf  der  die  bisher  behandelten 
symbolischen  Bildungen  beruhten,  ein  Abstraktes  zu  veranschaulichen, 
ja  selbst  einen  Gedanken,  dessen  ist  die  Geschichte  der  Musik  Beweis 
^^  und  die  Bachs  vorzüglich.    Ästhetisch   stehen  wir  hier  allerdings  vor 
^keinem  nicht  minder  dichten  Vorgange,  wie  dem,  der  uns  den  Einblick  in 
^B  die  Beziehungen  des  Sinnlich-Schönen  zum  Charakteristischen  verwehrte. 


16  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Ebensowenig  wie  verstandesmäßig  erfaßt  und  in  Worten  ausge- 
drückt werden  kann,  warum  diese  oder  jene  melodische  Phrase  dieses 
oder  jenes  Gefühl  gut  bezeichnet,  ebensowenig  wie  jemand  sagen  kann, 
warum  die  Motive  Wagners  das  Gefühlsleben  seiner  Gestalten  so 
plastisch  eröffnen,  ebensowenig  kann  intellektuell  erfaßt  und  durch  die 
Sprache  fixiert  werden,  warum  gerade  diese  Tonwendung  einem  in 
der  Dichtung  gegebenen  Symbol  entspricht.  Wer  will  sagen,  warum 
der  in  ihrer  Glanzzeit  so  eifrig  um  sie  bemühte  Telemann  so  weit 
hinter  Bach  zurück  blieb!  Warum  bezeichnen  Bachs  Tonbildungen 
dort,  wo  die  Dichtung  vom  Kreuzigen  spricht,  das  Symbol  der  Er- 
rettung des  Menschengeschlechtes  durch  Jesus  Christus  so  unend- 
lich tiefer  und  kräftiger  als  die  der  Werke  dieses  Stils  anderer  Meister? 
Aber  kann  die  Wissenschaft  auch  hier  nicht  mehr  aufdecken  als  die 
gröberen  Züge:  Rhythmik,  Tempo,  Dynamik,  Kolorit,  bleiben  ihr  die 
feineren  Einzelheiten  dieser  Symbolik  auch  unzugänglich,  sie  kann  ihre 
Existenz  nicht  in  Abrede  stellen. 

Bereits  das  Madrigal  des  16.  und  die  kirchliche  Musik  des  17.  Jahr- 
hunderts war  in  der  freien  analogiebaren  Symbolik  bis  an  die  äußersten 
Grenzen  gegangen,  die  solchen  musikalischen  Äußerungen  gezogen 
sind,  ja  sie  hatte  sie  sogar  mehrfach  bereits  überschritten.  Konsta- 
tieren wir  zunächst  ein  Vergehen  dieser  Art  in  Orlando  di  Lassos 
Madrigalen  ').  Dieser  Meister  gibt  hier  seiner  mit  dem  Alter  zuneh- 
menden Abneigung  gegen  die  Antidiatonik  dadurch  Ausdruck,  daß  er 
»chromatische  Neubildungen  und  dergleichen«,  wie  die  Folge  H-Dur, 
H-Moll,  Fis-Moll,  Cis-Moll,  mit  Vorliebe  auf  Worte  wie  cangiar  l'usato, 
nemico,  error,  distorto  usw.  anbringt.  Es  ist  hier  also  der  Gedanke 
der  Mißbilligung  der  chromatischen  Schreibweise  durch  Töne  versinn- 
bildlicht. Dem  Hörer  ist  zugemutet,  diese  chromatischen  Neubildungen 
als  Verspottung  der  Chromatik  und  somit  ihrer  selbst  anzusehen. 
Gewiß  der  höchste  Grad  der  Verstiegenheit,  den  die  Tonsymbolik  er- 
reicht hat!  Dieser  grellen  Spannung  und  Verkennung  des  musikalischen 
Ausdrucksvermögens  ließen  sich  noch  andere  derselben  Epoche  und 
desselben  Stils  nachweisen.  Begnügen  wir  uns  zu  zeigen,  daß  selbst 
der  größte  deutsche  Tonkünstler  des  17.  Jahrhunderts,  Schütz,  solche 
Ausschreitungen  der  Vergangenheit  übernommen  und  somit  gut  ge- 
heißen hat.  Der  Versinnbildlichung  des  Gedankens  »Denn  Gottes 
Güte  währet  ewiglich«  durch  hohe  Trompetenklänge  war  bereits  eine 
Kühnheit  besonderer  Art,  denn  koloristische  Mittel  wurden  damals 
noch  nicht  in  den  Dienst  der  Charakteristik  gestellt.    In  unserem  Falle 


')  V  Libro  de  Madrigali  a.  5.  v,  und  die  Madrigali  a,  4,  5  e,  6  von  1587.    Vgl. 
Sandberger,  Einleitung  zu  Bd.  II  der  Ges.  Ausgabe  S.  XXIV. 


TONSYMBOLIK. 


17 


sind  die  Bezieiiungen  durchaus  klare,  und  ihm  stehen  andere  Steilen 
zur  Seite,  gegen  die  Einwendungen  nicht  erhoben  werden  können. 
Indessen  kommen  doch  auch  nicht  wenige  tonsymbolische  Wendungen 
vor,  die  einmal  selbst  unsere  heutigen  an  ganz  andere  Dinge  gewöhnte 
Ohren  verletzen,  dann  aber  eine  solche  Unklarheit  der  verstandes- 
mäßigen Beziehungen  aufweisen,  daß  sie  in  Gefahr  laufen,  überhaupt 
unverstanden  zu  bleiben.  Im  127.  Psalm  ist  der  Gedanke  »Wenn 
der  Herr  die  Stadt  nicht  bewacht,  ist  die  Wache  des  Stadtwächters 
vergeblich«,  so  in  die  Musik  einbezogen,  daß  das  Hörn  über  den 
Vokalstimmen  einigemale,  den  Rhythmus  störend,  einen  einzelnen  Ton 
hineinbläst,  die  Stimmen  sich  aber  in  ihren  Gängen  nicht  stören  lassen. 
Was  besagen  will:  der  Hornruf  ist  vergeblich  *).  Eine  höchst  bedenk- 
liche, ja  verwerfliche  Bildung,  da  sie  einmal  auf  Kosten  der  musika- 
lischen Schönheit  zustande  gebracht  ist,  dann  aber  für  den  Hörer 
intellektuell  vollständig  unverständlich  ist.  Ich  kann  in  ihr  nur  eine 
gefährliche  Spielerei  finden.  Und  schlimmer  noch  steht  es  um  die- 
jenigen Tonkomplexe,  die  überhaupt  Kenntnisse  voraussetzen,  welche 
außerhalb  der  Musik  liegen.  Geht  doch  Schütz  einmal  sogar  so  weit, 
bei  seinen  Hörern  ein  Stück  Musikgeschichte  als  bekannt  anzu- 
nehmen und  zwar  in  dem  zweiten  Teile  der  »Symphoniae  sacrae^ 
von  1647,  in  der  Motette:  »Freuet  euch  des  Herrn«,  zu  den  Worten 
»Singt  dem  Herrn  ein  neues  Lied«.  Hier  erscheint  ganz  uner- 
wartet ein  Tremolo  der  Geigen.  Dieses  war  bekanntlich  ein  kurz 
zuvor  von  Monteverdi  erfundenes,  und  im  Accompagnato  angewandtes 
Mittel,  heftige  Affekte  zu  schildern.  Hier  aber  erscheint  es  nicht  in 
dieser  Funktion,  sondern  den  Gedanken  zu  veranschaulichen,  daß 
dem  Herrn  eben  ein  neues  Lied  gesungen  werde.  Einem  neuen 
Lied  frommt  aber  eine  neue  Weise  der  Vertonung.  Schütz  setzt  also 
voraus,  daß  seine  Hörer  die  Entstehungsgeschichte  dieses  Geigen- 
tremolos kennen,  und  wissen,  daß  es  eine  neue  Erfindung  sei,  und 
überdies  noch,  daß  sie  sich  dieser  ihrer  Wissenschaft  in  dem  gegebenen 
Moment  erinnern.  Nun  könnte  man  einwenden,  diese  Beziehung  der 
Töne  zum  Text  brauche  ja  gar  nicht  bemerkt  zu  werden.  Das  ist 
aber  nicht  der  Fall.  Wird  sie  nicht  bemerkt,  so  bleibt  etwas  Unver- 
ständliches zurück.  Das  Tremolo  ist  nämlich  als  musikalisches  Aus- 
drucksmittel hier  durchaus  fehl  am  Platz  und  erhält  seinen  Sinn  eben 
erst  durch  seine  symbolische  Bedeutung.  Sie  ist  also  hier  durch  eine 
Beugung  des  musikalischen  Elementes,  ja  durch  eine  musikalische 
Widersinnigkeit   gewonnen.     Ganz   ähnlich    hatte   bereits   früher   die 


')  Vgl.  Pirro  »Schütz.  S.  216,  der,  wie  Leichtentritt  Motette  S.  346,  diese  Sym- 
bolik nicht  als  Ausartung  betrachtet. 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  all^.  Kunstwissenschaft.     XV.  2 


18  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Motette  und  das  Madrigal  des  16.  Jahrhunderts  den  Be- 
griff: neu  durch  Chromatik  angedeutet,  eben  aus  dem  Gesichts- 
punkte heraus,  daß  die  Chromatik  damals  in  der  Musik  etwas  neues 
war.  Eine  ähnlich  verfehlte  Symbolik  enthält  dann  Luca  Marenzios 
bekanntes  Madrigal  »O  voi,  che  sospirate*  im  zweiten  Buche  der 
Madrigal  a.  5.  v.  Der  Dichter  ruft  den  Tod  an,  er  möge  doch  einmal 
seine  alte  Weise  ändern ,  er  solle  aufhören  zu  betrüben ,  befreien 
solle  er  statt  zu  trennen.  Dieser  neuen  Auffassung  des  Todes  als 
Befreier  glaubt  der  Komponist  nur  beikommen  zu  können  durch  noch 
nie  gehörte  Tonfolgen.  In  der  Tat,  die  Modulationskette  von  C  nach 
E  durch  alle  B-Tonarten,  C,  F,  B,  Es,  As,  Des,  Ges  (Fis),  H  bedeutet 
ein  bisher  nicht  geübtes  Durchlaufen  des  Quintenzirkels.  Aber  die 
Zumutung  an  den  Hörer,  er  solle  diese  musikalische  Neuerung  auf 
die  Stelle  im  Text  beziehen,  die  von  der  neuen  Auffassung  des  Todes 
spricht,  ist  abgeschmackt  i).  Ich  erwähne  diese  seltsamen  Anomalien, 
weil  sie,  typisch  auch  noch  für  andere  ähnliche  Bildungen,  einen  Anhalt 
dafür  geben,  daß  der  auch  hier  rückwärts  gewendete  Bach  sich  zu 
Tonbildungen  symbolischer  Natur  hat  bestimmen  lassen,  die  selbst 
seine  begeistertsten  Verehrer  als  Ausschreitungen  tu  bezeichnen  sich 
gezwungen  sehen. 

Hatten  wir  schon  für  die  an  die  To  n maierei  angeschlossene 
Symbolik  überall  auf  den  stark  betonten  Gefühlsgehalt  der  ihr  ent- 
fallenden Tonverbindungen  hinweisen  können,  so  dürfen  wir  für  die 
jetzt  in  Frage  stehende  Symbolik  geradezu  behaupten,  daß  sie  sich 
aus  dem  gefühlsqualitativen  Inhalt  der  Steile  sozusagen  loslöst.  Bach 
gibt,  wo  keine  Analogien  statthaben,  den  Gefühlsinhalt  der  Dichtung 
noch  viel  intensiver  als  dort,  wo  Analogien  herrschen.  Wenn  also 
das  Symbol  lautet:  festes  Gottvertrauen,  so  geht  er  regelmäßig  aus 
von  der  innigen  Freude,  die  dieses  Gottvertrauen  einschließt.  Er 
ergreift  zuerst  den  Affekt  der  Freude,  und  zwar  sehr  häufig  durch 
Tonfolgen,  die  er  regelmäßig  gerade  für  diesen lAffekt  bevorzugt.  Die 
französische  Schule  und  Wolfrum  sprechen  von  »Freudenmotiv«.  Aus 
den  Tonreihen  der  Freude  wächst  dann  die  symbolische  Akzidenz 
hervor.  Die  Musik  bedeutet  dann  festes  Gottvertrauen.  Wir  wollen 
nun  diese  Verquickung  von  Gefühlscharakteristik  und  Symbolik  noch 
an  einigen  Beispielen  Bachscher  Musik  des  näheren  erläutern.  Die 
tiefe  und  weittragende  Symbolik  der  Matthäuspassion  ist  weit  besser 
als  von  den  Franzosen  von  Heuß^)  in  den  Einzelheiten  aufgedeckt 
und  besprochen  worden.    Man  braucht  sich  seinen  Auslegungen  nicht 


')  Vgl.  Kroyer  a.  a.  O.  S.  136. 
")  Matthäuspassion. 


TONSYMBÜLIK.  IQ 


durchweg  anzuschließen  und  wird  sie  doch  als  durchweg  geistreich 
und  anregend  bezeichnen.  Aber  auch  Heuß  betont  die  tonmalerische 
Qualität  der  Bachschen  Tonphrase  im  allgemeinen  und  ihre  symbo- 
lische im  besondern  doch  zu  stark,  so  daß  sich  schließlich  der  Ein- 
druck auftut,  sie  sei  nichts  anderes  und  nichts  besseres,  als  eine  geist- 
reiche Interpretation  des  Textes  und  seines  symbolischen  Inhaltes,  ihr 
gefühlsqualitativer  Gehalt  aber  eine  untergeordnete  Nebensache.  Ich 
bin  sicher,  daß  Heuß  diesen  ebenso  gut  einzuschätzen  weiß  wie  sein 
Lehrer  und  Meister  Kretzschmar.  Dafür  sprechen  mehrfache  Äuße- 
rungen, über  das  Buch  verbreitet,  so  wenn  er  beispielsweise  die  wie 
überall  tiefgründige  Ausdeutung  des  Schlußchores  des  ersten  Teiles 
des  Werkes  mit  den  Worten  schließt:  >Doch  genug.  Zuletzt  ist  es 
am  besten,  man  läßt  diesen  herrlichen  Chor  ganz  rein  auf  sich 
wirken.«  Oder  wenn  er  gegen  die  französische  Schematisierung  der 
Themenbehandlung  Bachs  angeht  oder  auf  einzelne  Schönheiten  und 
ihren  gefühlsmäßigen  Inhalt  hinweist.  Aber  er  tut  das  eben  leider 
nicht  überall  dort,  wo  es  am  Platze,  und  er  spricht  vielfach  ausschließ- 
lich von  dem  deskriptiven  Elemente,  als  ob  eben  nur  dieses,  nicht 
aber  auch  gleichzeitig  ein  gefühlsqualitatives  vorläge.  Dem  gegenüber 
möchte  ich  betonen :  es  gibt  keine  charakterisierende  und  keine 
symbolisierende  Musik  Bachs,  die  nicht  gleichzeitig  als  eine 
gefühlsmäßige  erfunden  ist.  Was  oben  von  der  der  Tonmalerei 
angeschlossenen  Symbolik  nachgewiesen  wurde,  daß  sie  nämlich  auch 
eine  gefühlsinhaltliche  ist,  das  gilt  auch  für  die  auf  analogieloser  Cha- 
rakteristik ruhende  Symbolik,  von  der  wir  jetzt  handeln.  Auch  ihre 
Tonkomplexe  sind  in  erster  Linie  Gefühlsträger.  Damh  sei  nicht  in 
Abrede  gestellt,  daß  nicht  die  symbolisierende  Zweckbestimmung  hie 
und  da  überwiegt.  Gewiß  sind  solche  Fälle  nachweisbar,  wie  wir  so- 
gleich erfahren  werden.  Aber  nirgends  ist  die  Gefühlsqualität  zurück- 
gedrängt oder  gar  ganz  aufgehoben.  Eines  der  wichtigsten  Symbole 
der  Matthäuspassion  ist  das  der  Einsetzung  des  Abendmahls. 
Bachs  Phantasie,  sowie  sie  gerade  in  diesem  Werk  vorzugsweise  von 
sichtbaren  Vorgängen  der  Passionsgeschichte  bestimmt  wurde,  so  daß 
man  es  als  dem  Drama  angenähert  betrachtet,  konnte  sich  hier,  an 
diesem  »inhaltlichen  Höhepunkt«,  nicht  damit  begnügen,  durch  eine 
lediglich  gefühlsgesättigte  Musik  zu  wirken,  oder  sich  gar  auf  die 
Halbmusik  des  Secco  zurückzuziehen,  wie  das  viele  andere  Kompo- 
nisten vor  und  nach  ihm  getan  haben.  Es  lag  in  Bachs  Eigenart, 
daß  er  auch  hier  die  Grenzen  der  Musik  sehr  weit  zog,  daß  er  sie 
tief  in  die  Symbolik  hineinführte,  wie  sie  der  Passionstext  enthält.  Er 
wollte  die  Sendung  des  Gottessohnes  zur  Erlösung  des  Menschen- 
geschlechtes in  Tönen  symbolisieren  und  gleichzeitig  die  Ausbreitung 


20  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


des  Glaubens  über  die  ganze  Welt.  Er  hat  das  für  dieses  Arioso  in 
der  wunderbarsten  Weise  erreicht  durch  die  Einstellung  und  thema- 
tische Verwendung  zweier  Themen,  von  denen  das  erste  in  einem 
aufsteigenden  Septimenakkord  besteht: 


^1^ 


^ 


das  ist  das  Blut    des  neu  -  en  Tes  -  ta  -  ments. 
das  zweite,  noch  stolzer,  auf  den  Dreiklangsschritten  des  Dur-Akkordes 
der  ersten  Stufe  beruht: 


8. 


:^: 


i: 


:i3r 


ich  wer- de  von  nun   an   nicht  mehr 

Ferner  entfällt  den  Worten  »Trinket  alle  daraus«  eine  Tonbewegung 
(Nr.  9),  die  durch  alle  Stimmen  bis  in  den  Baß  wandert  und  schließ- 
lich das  ganze  Arioso  so  erfüllt,  daß  die  Analogie  zwischen  der  Ver- 
breitung der  Tonformel  über  das  Stück  und  derjenigen  des  Glaubens 
über  die  ganze  Welt  auftaucht.  Das  erste  Motiv,  das  der  Dreiklang- 
schritte, gehört  der  freien  Charakteristik  an,  ist  durch  kein  Bild  einge- 
geben. Dieses  dagegen  beruht  auf  einer  ganz  leichten  tonmale- 
rischen Inspiration,  die  aber  vom  Hörer  kaum  bemerkt  wird.  Das 
Thema  (Nr.  9)  ist  auf  die  Vorstellung  der  Fortbewegung,  des  Sich- 
Verbreitens  zurückzuführen.  Wir  haben  es  hier  hauptsächlich  mit 
jenem  Thema  zu  tun:  worin  beruht  seine  symbolische  Kraft?  Die 
Dreiklangschritte  aller  Tonstufen,  besonders  aber  der  ersten,  gelten 
dem  17.  Jahrhundert  bereits  als  der  Ausdruck  eines  besonders  Bedeu- 
tungsvollen, Großen,  Wichtigen.  Die  venezianische  sowie  die  römi- 
sche Oper^)  verwenden  sie  in  diesem  Sinne.  Auch  Bach  selbst 
symbolisiert  in  den  Kantaten  wiederholt  mit  Dreiklangschritten  der 
Singstimme  den  Begriff  der  Größe,  der  Macht,  des  Stolzes,  und  kombi- 
niert ihm  das  Gefühl  des  Trostes  und  Vertrauens-).  Hier  aber  ge- 
nügt diese  Eigenschaft  des  Themenbaus  als  eines  Großen,  Stolzen 
allein  noch  nicht,  um  zu  erklären,  worin  seine  symbolische  Kraft  be- 
steht. Diese  erklärt  sich  vielmehr  mit  aus  dem  Gefühlsinhalt  des  Ge- 
samtpassus. Heuß  ")  meint,  Bach  habe  hier  das  Rezitativ  verlassen  und 
zum  Arioso  gegriffen,  weil  er  bekunden  wollte,  daß  »der  Musiker  bei 


')  Vgl.  Kretzschmar,  Die  venezianische  Oper,  Vierteljahrsschr.  f.  Musikwissen- 
schaft 1892,  und  meinen  Aufsatz  »Cavalli«:  in  den  Monatsheften  für  Musikgesch. 
1893,  ferner  meine  Studien  zur  Gesch.  der  ital.  Oper  Bd.  I.  Offenbar  liegt  hier 
eine  Nachwirkung  der  dem  Mittelalter  geläufigen  Symbolik  der  Zahlen  7  und  10  vor. 
Siehe  Abert,  Die  Musikanschauung  des  Mittelalters  usw.  S.  105  und  114  ff. 

"■)  Vgl.  Pirro  a.  a.  O.  S.  50  ff. 

3)  A.  a.  O.  S.  66. 


TONSYMBOLIK. 


21 


Stellen,  die  übersinnlich  großartige  Gefühle  und  Vorstellungen  wecken 
sollen,  zu  den  eigensten  Mitteln  der  Musik«  greife.  Ausgezeichnet, 
wenn  man  unter  »eigensten  Mitteln«  Oestaltqualität  versteht,  eine 
innigste  Verbindung  von  Sinnlich-Schönem  und  Charakteristischem, 
eine  gefühlserfüllte  Musik.  Sie,  die  kein  Wort  und  keine  Sprache  er- 
klären kann,  sie  ist  auch  ein  wesentliches  Element  der  Symbolik. 
Diese  Musik  gelangt  zu  dem  Begriff  der  Oottesgesandtschaft  Christi 
und  der  Weltreligion,  indem  sie  uns  in  sein  Inneres  blicken,  und  die 
Vorgänge  des  Augenblicks  fühlen  läßt,  wo  er  das  Wort  der  Ein- 
setzung an  die  Jünger  richtet.  Gehoben  von  der  Größe  seiner  Mission 
richtet  sich  der  Heiland  stolz  auf,  und  sieht  seherisch  in  die  weite 
Ferne.  Und  trotz  alledem:  welche  Demut,  welche  Milde!  Die  Musik 
ergreift  mit  jenem  Motiv  das  Gefühl  des  seherischen  Stolzes.  Auch  das 
zweite  Motiv  (Nr.  9),  das  der  Verbreitung  zur  Weltreligion,  ist  gefühls- 
erfüllt, kann  man  ihm  auch  keinen  bestimmten  Affekt  zusprechen, 
wie  dem  anderen  das  des  seherischen  Stolzes,  so  wirkt  es  doch  im 
Zusammenhange  und  Flusse  des  Ganzen  gefühlsmäßig.  Freilich  über- 
ragt seine  Bestimmung  als  symbolisches  Motiv  den  gefühlsinhaltlichen 
Wert,  und  sogar  in  solchem  Grade,  daß  es  ohne  das  Verstehen  seiner 
geistigen  Beziehung  zum  Symbol  des  Bibelwortes  überhaupt  nicht 
recht  verständlich  ist.  Hier  liegt  eine  der  Stellen  vor,  wo  eine  rein 
gefühlsmäßige  Apperzeption  unzulänglich  bleibt  und  ihre  Ergänzung 
finden  muß  durch  das  Verstehen  der  symbolischen  Funktion.  Gleich 
der  Anfang:  


m 


E 


-^-#- 


X^PX 


#=i= 


-r^=V- 


it: 


+~i— < — I — 


-t — I — i — f 


Trin    -    ket     al le      da    -    raus 

hätte  wohl  anders  gelautet,  wenn  er  nicht  eben  symbolisch  gemeint 
war,  nicht  inspiriert  wäre  von  der  Vorstellung  des  Sich-Verbreitens, 
des  Fließens.  Rein  tonsinnlich  angesehen  ist  das  Motiv,  hier  wie  in 
den  Wiederanführungen,  nicht  eben  bedeutend.  Wer  also  seine  symbo- 
lische Funktion  übersieht,  wird  sich  wundern,  wie  Bach  gerade  zu 
dieser  Bewegung  gekommen  ist.  Daß  beide  Themen  in  dem  ange- 
gebenen Sinne  aufgefaßt  werden  sollen,  erhellt  überdies  aus  ihrer 
Wiederanführung,  dort  wo  der  Text  auf  dieselben  Symbole  wieder 
zurückgreift.  So  erscheint  das  Motiv  des  seherischen  Stolzes  und  der 
Sendung  Christi  als  Erlöser  dort,  wo  der  Sopran  auf  die  Frage  Pilati: 
»was  hat  er  denn  Übles  getan?«  antwortet:  >er  hat  uns  allen  wohl 
getan«,  die  Erscheinung  und  das  Wirken  des  Herrn  zu  bezeichnen '). 
In  gleicher  Eigenschaft  steht  es  im  Basse  der  Arie  »Sehet,  Jesus  hat 


')  Eulenburg  S.  293;  Oes.  Ausg.  S.  193;  Heuß  a.  a.  O.  S.  128-129. 


22  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


die  Hand  uns  zu  fassen  ausgespannt«  i).  Es  ist  auch  hier  frei  cha- 
rai<terisierend  und  symbolisch  zugleich  und  besagt,  daß  der  Gekreuzigte 
die  Menschheit  zu  erlösen  ihr  die  Hand  hinhält,  die  sie  nur  zu  er- 
greifen brauche,  der  Erlösung  teilhaftig  zu  werden.  Eine  tonmale- 
rische Bezeichnung  der  ausgestreckten  Arme,  die  Heuß  in  dieser 
Wendung  des  Motivs 


usw. 


erkennen  will,  kann  ich  in  ihr  nicht  finden.  Man  müßte  dann  auch 
für  ihre  erste  Anführung  in  der  Abendmahlsszene  an  Tonmalerei 
denken,  was  bisher  noch  niemandem  beigefallen  ist.  Der  Text  will 
nichts  anderes  geben,  als  ein  Symbol.  Daß  die  Tochter  Zion  auf  eine 
Veränderung  der  körperlichen  Stellung  des  Gekreuzigten  hindeutet, 
ist  durch  nichts  begründet,  und  selbst  wenn  wir  annehmen,  der  Dichter 
habe  an  ähnliches  gedacht,  und  Bach  ebenfalls,  so  hat  doch  sein  Fein- 
gefühl diese  Andeutung  musikalisch  einzubeziehen  wohl  vermieden. 
Hier  an  dieser  Stelle  kann  allein  die  Symbolik  herrschen.  Die  Ton- 
malerei eines  äußerlichen  Vorganges  würde  die  Erhabenheit  der  Be- 
trachtungen gefährden.  In  der  Schlußszene,  und  nach  der  Kreuzes- 
abnahme, in  dem  berühmten  Arioso  >Am  Abend,  da  es  kühle 
war«  2)  und  im  Schlußchor ä),  mehrfach  im  Baß,  wird  die  Umkeh- 
rung des  Motives,  in  der  abwärtsgerichteten  Bewegung,  der  Stim- 
mung zum  Ausdruck,  welche  die  Dichtung  mit  den  Worten  gibt: 
»Sein  Leichnam  kommt  zur  Ruh«.  Eine  Beziehung  zu  den  korrespon- 
dierenden aufsteigenden  Schritten  des  Einsetzungsmotives,  die  Heuß 
behauptet,  will  ich  nicht  in  Abrede  stellen.  Man  vergleiche: 
11.  ^  12.  k^    . 


W^^^^^^l  usw.   und  PlEe^ 


Das  ist  das  Blut  Sein  Leichnam  kommt  zur  Ruh 

Aber  das  aufsteigende  Motiv  war  symbolisch  und  gefühlserfüllt,  das 
absteigende  hingegen  scheint  mir  lediglich  der  Gefühlssphäre  zuge- 
hörig, und  nicht  wie  Heuß  meint,  auf  dasselbe  Symbol  hinzuweisen. 
Es  geht  doch  wohl  nicht  an,  die  auf-  und  absteigende  Formel  auf 
dasselbe  Symbol  zu  beziehen;  dagegen  ist  es  durchaus  natürlich,  den 
Gefühlsgehalt  beider  Motive  als  einen  gleichen  oder  doch  ähnlichen 
anzunehmen.  Dort  war  es  die  in  aller  Größe  und  Kraft  wirkende 
Milde  des  Herrn,  die  den  Gefühlsgehalt  ausmachte,  hier  herrscht  die 


OJEulenburg  S.  351 ;  Ges.  Ausg.  S.  234. 
4  Eulenburg  S.  368;  Qes.  Ausg.  S.  251. 
")  Ebenda  S.  399;  Ges.  Ausg.  S.  272. 


TONSYMBOLIK. 


23 


mit  Trauer  gemischte  Befriedigung  um  die  Ruhe,  in  die  der  Herr  ein- 
gegangen.    »O  schöne  Zeit!    O  Abendstunde!« 

Ganz  ähnliche  Beziehungen  zwischen  Oefühlsgehalt  und  Symbolik 
herrschen  in  einer  Reihe  wichtiger  und  viel  verwendeter  Motive  der 
Bachschen  Voi<aimusik.  Da  ist  zunächst  dasjenige,  das  man  gern  mit 
Jesusmotiv  bezeichnet.  Es  erscheint  allemal  dort  wo  von  Jesu 
Wirken  die  Rede  ist.    Es  sind  die  bekannten  in  Sekunden  ab-  oder  auf- 


steigendcnDuolen: 


oder 


li,  r  n  1^ 


Diese  Be- 


wegungen sind  gewissermaßen  unmittelbar  aus  dem  Gefühlsleben  des 
Heilandes  herausgehoben.  Heuß ')  spricht  die  Milde  als  den  Grund- 
zug aller  dieser  Themen  an,  ich  möchte  hinzufügen  die  Güte,  die 
Liebe  überhaupt.  Nur  die  rhythmische  Gestaltung  des  Motivs  ist 
festgelegt,  die  klangliche  aber  eine  so  freie,  daß  sowohl  die  Gefühls- 
gehalte nuanciert  als  auch  die  symbolischen  Funktionen  ungezwungen 
eingefügt  werden  können.  Das  Motiv  besitzt  eine  große  Elastizität. 
Ohne  den  Grundzug  seines  gefühlsinhaltlichen  Charakters  aufzugeben, 
kann  es  einer  Reihe  von  Schattierungen  desselben  Gefühls  gerecht 
werden,  und  damit  auch  mehr  als  einem  Gedanken,  mehr  als  einem 
Sinn  symbolisch  entsprechen.  Dort  wo  die  Bewegung  ganz  langsam, 
kontinuierlich,  ohne  jede  Rückung  ansteigt  oder  sich  herabsenkt,  dort 
wo  die  Schlußnote  der  ersten  und  die  Anfangsnote  der  zweiten  Duole 

auf  gleicher  Tonstufe  bleiben:        i^  fjjj.        J-JJ*1  iS      da  ist  die 

Beziehung  zum  Begriff  des  göttlichen  Erbarmens  und  der  Erlösung  be- 
sonders klar  gegeben.  In  dem  Arioso  der  Matthäuspassion  »Sehet 
Jesus  hat  die  Hand  uns  zu  fassen  ausgespannt«,  dessen  soeben 
Erwähnung  geschah,  fällt  das  Motiv  überdies  den  Worten:  Erbarmen 
und  Erlösung  zu  ^).  Ein  Schluß  von  diesen  Wendungen  auf  ähnliche, 
an  anderer  Stelle,  ist  nicht  nur  zulässig,  sondern  geradezu  zwingend. 
In  der  Arie:  »Mache  dich  mein  Herze  rein«  derselben  Passion  ist 
die  Verwendung  eine  besonders  schöne,  und  als  Symbol  leichtfaßliche, 
bei  den  Worten:  »Laß  Jesum  ein«.  Bachs  Musik,  ihres  Wesens  sich 
bewußt,  nimmt  also  ihren  Ausgang  vom  Gefühl,  vom  Glücksgefühl 
des  gläubigen  Christen,  der  Jesum  in  sein  Herz  eingelassen  hat,  vom 
Gefühl  des  Friedens  und  der  Liebe  zugleich.  Von  diesem  Gefühl  aus 
auf  das  Symbol  der  göttlichen  Gnade  zu  schließen,  die  sich  zum 
menschlichen  Herzen  herabsenkt,  bedarf  es  nur  einer  leichten  und 
naheliegenden  Verstandesoperation.     Leichte  Nuancierungen   der  Be- 


')  A.  a.  O.  S.  130. 

«)  Eulenburg  S.  353;  Oes.  Ausg.  S.  234;  Heuß  S.  148. 


24  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Ziehungen  des  Oefühlsgehaltes  zum  Symbolischen  ergeben  sich  gerade 
für  unser  Motiv  vermöge  seiner  Biegsamkeit.  So  ist  ihm  dort,  wo 
es  zum  ersten  Male  in  der  Matthäuspassion  erklingt,  in  der  Antwort 
Jesu  auf  Judas'  Frage'),  die  Charakteristik  der  Liebe  des  Herrn,  die 
auch  dem  Verräter  vergibt,  maßgeblich,  also  die  eines  Gefühls.  Über 
dieses  hinaus  besteht  aber  eine  symbolische  Andeutung  des  Gedankens, 
daß  die  göttliche  Gnade  auch  dem  Feinde  verzeiht.  In  dem  Duett 
nach  der  Gefangennahme  des  Herrn:  »So  ist  mein  Jesus  nun  ge- 
fangen«*) ist  unser  Thema  vor  allem  Gefühlsinkarnation,  und  zwar 
Inkarnation  des  Gefühls  des  Mitleids  seiner  Anhänger,  die  sich  zu- 
nächst in  den  gebundenen  Gängen  der  Solostimmen  und  der  kurzen 
Chorrufe  bezeugt  hatte,  dann  aber  bei  den  Worten:  »Mond  und 
Licht  ist  vor  Schmerzen  untergangen«,  also  für  den  Höhepunkt  des 
Affektes,  die  uns  bekannten  Duolen  benutzt.  Die  weiche,  wehmütige 
Stimmung  geht  mehrfach  durch  die  herbe  Harmonie  in  scharfen 
Schmerz  über,  der  sich  alsdann  in  der  Musik  zu  den  Worten:  ^^Sie 
führen  ihn,  er  ist  gebunden«  noch  höher  steigert.  Symbolik  hat  Bach 
wohl  auch  hier  beabsichtigt,  aber  doch  wohl  erst  in  zweiter  Reihe. 
Er  hat  aber  doch  immerhin  mit  diesem  Thema  versinnbildlicht,  daß  es 
Gottes  Sohn  ist,  den  die  blinde  Menschheit  verkennt.  Anders  ist  die 
Anführung  unseres  Motives  als  Aufwärts  bewegung  der  Streicher  am 
Schlüsse  des  Mesure:  »In  dieser  Nacht  werdet  ihr  euch  alle  ärgern 
an  mir«;  eine  vor  allem  symbolisch  gemeinte^).  Die  Worte:  >Wann 
ich  aber  auferstehe«  lassen  keinen  Zweifel,  daß  Jesus  als  Herrschef 
der  Welt,  wie  Heuß  *)  meint,  hingestellt  ist,  und  mit  ihm  der  Gedanke 
des  Aufstieges  seiner  Lehre  zur  Weltreligion.  Das  Tiefsinnige,  Wunder- 
same besteht  darin,  daß  den  stolz  anstrebenden  Tönen  die  milde 
Rhythmik  des  Jesusmotivs  vermähH  ist  und  damit  das  ihm  eigenste 
Gefühl  der  Milde  und  alles  umfassenden  Liebe.  Symbolisch  bedeutet 
das:  Christi  Religion  wird  die  Weh  gewinnen  durch  Milde  und  Güte. 
Die  großartigste  Verquickung  von  Gefühlscharakteristik  mit  Symbolik 
hat  aber  Bach  im  Einleitungschor  zur  Johannespassion:  »Herr 
unser  Herrscher«  niedergelegt.  Kretzschmar  ^)  bezeichnet  ihn  als  eines 
der  »eigentümlichsten  und  gewaltigsten  Karfreitagsgebilde«.  Sein 
Hauptreiz  beruht  in  dem  restlosen  Aufgehen  der  gefühlsmäßigen  und 
symbolischen  Elemente  im  ganzen.  Kretzschmar  hat  den  schmerz- 
lichen Grundzug  dieses  Preises  des  Herrschers,  »dessen  Ruhm  in 


')  Eulenburg  S.  79;  Ges.  Ausg.  S.  44. 
')  Eulenburg  S.  138;  Ges.  Ausg.  S.  88. 
ä)  Eulenburg  S.  89;  Ges.  Ausg.  S.  50. 
<)  A.  a.  O.  S.  72. 
5)  Führer  11,  1  S.  71. 


TONSYMBOLIK.  25 


allen  Landen  herrlich  ist«,  treffend  hervorgehoben.  Er  ist  nicht  nur 
in  den  klagenden  Wendungen  der  Flöten  und  Oboen  niedergelegt, 
sondern  bestimmt  auch  die  anderen  Themen  und  ihre  Verwendung. 
Da  erscheint  jenes  in  Quarten  und  Synkopen  bewegte  Thema,  das 
bei  Bach  die  Vorstellung  der  Kreuzigung  in  der  Passion  überhaupt 
begleitet.  Es  ist  auch  hier  symbolisch  gedacht.  Aber  diese  Ton- 
folgen sind  allein  und  für  sich  vollauf  wirksam,  ohne  daß  sie  ver- 
standesmäßig auf  diesen  Vorgang  bezogen,  also  als  Symbole  erkannt 
würden,  den  Schmerz  der  Gläubigen  und  Christi  Leiden  und  Sterben 
wiederzugeben.  Und  ähnlich  verhält  es  sich  mit  den  anderen  Motiven. 
Ohne  leugnen  zu  wollen,  daß  auch  ihnen  die  Absicht  einer  Versinn- 
bildlichung beigemessen  ist,  muß  doch  eine  so  einseitige  Bewertung 
nach  dieser  Seite  hin,  wie  sie  Schweitzer  beliebt,  mit  Entschiedenheit 
zurückgewiesen  werden.  Liest  man  die  unserem  Chor  gewidmeten 
Seiten '),  so  hat  man  den  Eindruck,  daß  die  Apperzeption  hier  ganz 
vorzugsweise  intellektuell  zustande  komme,  indem  die  symboli- 
schen Beziehungen  erkannt  würden.  Das  ist  aber  eine  Verkehrung 
des  wahren  Verhältnisses.  Auch  Kretzschmar,  nachdem  er  die  Sym- 
bolik des  Kreuzigungsmotives  erwähnt,  verwahrt  sich,  scheint  mir 
wenigstens,  gegen  die  Unterstellung,  daß  diese  Symbolik  irgendwie 
den  künstlerischen  Wert  ausmache.  Als  Kunstwerk  betrachtet  ist  ihm 
der  Prolog  der  Johannespassion  »eine  der  großartigsten  Leistungen«. 
Ich  möchte  hinzufügen,  als  gefühlserfülltes  Kunstwerk.  Im  ein- 
zelnen hat  Kretzschmar  übrigens  der  symbolischen  Beziehungen  doch 
zu  wenige  anerkannt.  Ich  erkenne,  hierin  mit  Schweitzer  einig,  in  den 
wogenden  Sechzehnteilen  der  Violinen: 


die  symbolische  Andeutung  der  göttlichen  Natur  Christi  und  seiner 
Mission.  Wenn  dort,  wo  es  später  heißt:  »Zeige  uns,  daß  du  der 
wahre  Sohn  Gottes  bist  auch  in  der  größten  Niedrigkeit*  die  Ton- 
figuren von  den  Violinen  in  die  Bässe  hinabsinken. 


14. 


ii^^^EESSE^^ 


so  beruht  diese,  von  Kretzschmar  zugegebene  Versinnbildlichung  der 
Niedrigkeit,  auf  der  Verknüpfung  des  Gedankens  der  Göttlichkeit 
Christi  mit  den  oben  zitierten  Violinwendungen  (Beispiel  Nr.  13).  Be- 
deutete jene  in  sich  nichts,  so  wäre  auch  dieses  Sinken  aus  den  Vio- 
linen in  den  Baß  symbolbar.     Kretzschmar  müßte  also,  wenn  er  die 

')  A.  a.  O.  S.  256  ff. 


26  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Symbolisierung  des  Begriffes:  Niedrigkeit  zugesteht,  auch  den  wogen- 
den Formein  der  Violine  symbolische  Eigenschaft  zuerkennen.  Es  ist 
übrigens  ein,  so  weit  ich  übersehe,  vereinzelt  dastehender  Fall,  daß 
an  eine  symbolische  Tonqualifikation  noch  eine  zweite  lediglich  durch 
die  Tonlagenveränderung  angeknüpft  wird.  Die  Verstandesprozesse, 
die  hier  vorausgesetzt  werden,  sind  ziemlich  verwickelte  und  ich 
fürchte,  daß  sie  sich  nur  im  Kenner,  nicht  aber  im  naiven  Hörer  voll- 
ziehen werden.  Nach  Schweitzers  Auffassung  blieben  dem  armen 
Hörer  dann  nur  die  durch  Anschauung  vermittelten  sinnlich  schönen 
Tonfolgen,  da  sie  —  für  ihn  —  keinen  Qefühlsgehalt  besitzen.  Schließ- 
iich  muß  ich  Schweitzer  zustimmen,  wenn  er  in  dem  Orgelpunkte 
auf  O  Symbolik  wittert.  Ob  er  aber  gerade  den  Gedanken  der  Un- 
endlichkeit deckt,  scheint  mir  nicht  ganz  sicher. 

Die  Tonsymbolik  der  Kantaten  Bachs  beruht  auf  einer  Be- 
handlung, die  etwa  der  des  Jesusmotivs  in  der  Passion  entspricht. 
Wir  wissen  aus  den  Forschungen  Schweitzers  und  Pirros,  daß  Bach 
hier  wie  in  den  Choralbearbeitungen  denselben  Oefühlsvorgängen 
ähnliche  Tonfolgen  sich  entsprechen  läßt,  die  in  ihren  rhyth- 
mischen oder  klanglichen  Orundzügen  immer  wiederkehren,  aber  eben 
nur  in  den  Orundzügen.  Von  einer  durchaus  kenntlichen  und  für 
alle  Fälle  festgelegten  Bezeichnung  von  Gefühlen  oder  gar  Vorstel- 
lungen und  Begriffen  ist  keine  Rede.  Diese  Tonformeln  in  den 
Kantaten  —  von  den  tonmalerischen  abgesehen,  die  bereits  besprochen 
worden  —  sind  durchaus  aus  dem  Gefühl  heraus  geschaffen, 
den  die  textliche  Unterlage  oder  in  den  Choralbearbeitungen  der 
Choral  und  das  Kirchenlied,  an  die  Hand  geben.  Bach  wäre  kein 
Künstler,  sondern  ein  Handwerker,  wenn  er  nicht  eben  aus  einer 
seelischen  Bewegung  heraus  schüfe.  Bei  ihm  wie  bei  jedem  wahren 
Künstler  ist  die  Phantasie  von  einer  seelischen  Erregung  in  Tätigkeit 
gesetzt.  In  der  absoluten  Musik  ist  diese  Erregung  bereits  in  künstle- 
rische Scheinhaftigkeit  übergegangen,  wenn  die  Phantasie  zu  arbeiten 
beginnt.  Die  realen  Gefühle  bleiben  außerhalb  des  Kunstschaffens. 
In  den  einer  Dichtung  zufallenden  Tonäußerungen  gehört  die  psy- 
chische Erregung  von  vornherein  der  Scheinhaftigkeit  an.  Diese  Ein- 
drücke der  Dichtung  auf  die  Musikphantasie  entbehren  jeder  Realität. 
Sie  sind  von  vornherein  scheinhafte,  nicht  reale.  Die  Schwäche  der 
Programmmusik  beruht  darin,  daß  hier  die  Gefühlsprozesse  keine 
künstlerische  Darstellung  erfahren  haben,  bevor  sie  in  die  Musik 
eingegangen  sind.  Auch  Bach  kann  außerhalb  der  absoluten  Musik 
nur  aus  dem  ästhetischen  Gefühl  heraus  geschaffen  haben,  das  ihm 
die  Dichtung  zuführte.  Indessen  führen,  wie  ich  oben  erwähnte,  die 
poetischen  Vorlagen  der  Bachschen  Kirchenmusikdichtung,  wie  Bibel- 


TONSYMBOLIK,  27 


text,  einen  starken  außerästhetischen  Gehalt,  namenth'ch  religiöse 
Gefühle.  Es  wurde  bereits  oben  erörtert,  daß  es  Bach  vor  allem  darauf 
ankommen  mußte,  diese  zu  veranschaulichen,  und  wir  haben  gezeigt, 
wie  stark  dieses  Bedürfnis  seinen  Stil  bestimmt  hat.  Dasselbe  Be- 
dürfnis der  lebhaften  Veranschaulichung  dieser  religiösen  Gefühle  hat 
auch  seine  eigentliche  Kompositionstechnik  nach  der  Seite  hin 
beeinflußt,  daß  er,  um  sich  seinem  Hörerkreis  verständlich  zu  machen, 
für  dieselben  Gefühlskomplexe  oder  dieselben  Versinnbildlichungen 
immer  wieder  ähnlich  gestaltete  Tonformeln  anführt.  Man  er- 
wäge, daß  der  Hörerkreis  Bachs  in  der  ganz  überwiegenden  Majorität 
aus  seinen  Parochialen  bestand,  und  einigen  Leipziger  Kunstfreunden 
anderer  Parochien,  daß  er  es  also  im  wesentlichen  mit  immer  den- 
selben Personen  zu  tun  hatte.  Da  lag  es  denn  nahe,  diese  Veranschau- 
lichungen religiöser  oder  seelischer  und  symbolischer  Natur  an  ihnen 
bereits  in  diesem  Sinne  bekannte  Motive  anzuknüpfen,  also  bestimmten 
Gefühlen  und  Gedanken  immer  wieder  mit  ähnlichen  Tonkomplexen 
nachzugehen.  Der  nichtmusikalische  oder  schwach  musikalisch  Be- 
gabte, dem  die  Eigenkraft  des  musikalischen  Melos  zu  wenig  sagte, 
konnte  sich  so  vermöge  einer  verstandesmäßigen  Operation  —  ähn- 
lich wie  für  gewisse  Leitmotive  der  Wagnerschen  Musikdramen  — 
die  Beziehungen  der  Töne  zu  den  Worten  leichter  vermitteln.  Schon 
diese  Erwägungen  lassen  die  nicht  zu  leugnende  gleichmäßige  Wieder- 
kehr ähnlicher  Tongebilde  für  verwandte  Gefühlsvorgänge  und  für 
dem  Sinne  nach  verwandte  Symbole  verstehen.  Dieser,  den  außer- 
ästhetischen Veranlassungen  verdankten  Handhabung  der  Kompo- 
sitionstechnik gesellen  sich  aber  noch  weitere  Umstände,  die  sie  in 
dieselbe  Richtung  weisen.  Man  denke  zunächst  an  den  beschränkten 
Umfang  des  geistigen  Inhalts  und  der  Gefühlskomplexe  der  Kantaten- 
dichtungen. Es  sind  im  wesentlichen  immer  ähnliche  Vorstellungen 
und  Gefühlsbewegungen,  denen  der  Dichter  nachgeht.  Es  kann  daher 
nicht  erstaunen,  wenn  selbst  ein  so  genialer  Musiker  wie  Bach  in 
seiner  Motivbildung  einer  gewissen  Gleichförmigkeit  verfiel.  Wie  die 
Meister  damals  sich  kein  Gewissen  daraus  machten,  fremdes  thema- 
tisches Gut  zu  entlehnen  und  ihrem  Zweck  dienstbar  zu  machen,  so 
trugen  sie  auch  kein  Bedenken,  sich  selbst  zu  wiederholen.  Hatte 
Bach  einmal  eine  Formel  für  besonders  gefühlsbezeichnend  erkannt, 
so  dünkte  es  ihm  richtig,  sie  auch  immer  wieder  in  mehr  oder  weniger 
starker  Umbildung  in  dieser  Funktion  einzustellen.  Endlich:  die  kom- 
positorische Arbeit  Bachs  im  Dienste  der  Kirche  war  eine  so  große, 
daß  er  sie  ohne  jene  Technik  gar  nicht  hätte  leisten  können.  Wir 
können  also  für  seine  Motivbehandlung  in  den  Kantaten  im  wesent- 
lichen folgende  Gründe  anführen,  die  jene  Ähnlichkeit  erklären:  Einmal 


28  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


das  außerästhetische  Bestreben,  den  religiösen  Inhalt  der  Worte  zu 
möglichst  kräftiger  Anschaulichkeit  zu  bringen  und  auch  dem  musika- 
lischen Unveranlagten  zuzuführen.  Dann  aber  die  Gleichmäßigkeit, 
um  nicht  zu  sagen  Einförmigkeit  der  in  die  madrigalische  Dich- 
tung aufgenommenen  Gefühlskomplexe  und  Symbole,  die  auch  die 
lebhafteste  Phantasie  zu  einer  gewissen  Gleichförmigkeit  des  Themen- 
baus hinführen  mußte,  endlich  aber  das  Bedürfnis  der  Erleichterung 
der  technischen  Herstellung  dieser  ungeheuren  Musikproduktion.  Mit 
Matthesons  und  Chr.  Krauses  durch  Konvention  festzulegende 
Musiksprache  in  dem  Sinn,  daß  einem  bestimmten  Affekt  oder  einem 
bestimmten  Begriff  eine  bestimmte  Tonfolge  so  entspreche,  daß  der 
Hörer  sie  gewissermaßen  ablesen  könne'),  hat  Bachs  Kompositions- 
technik nichts  gemein.  Ferner  ist  auch  hier  in  den  Kantaten  die  Ein- 
stellung der  Motive  in  den  Gesamtverlauf  in  solchem  Grade  entschei- 
dend, daß  diese  musikalische  Wiederholung  der  Motive  den  Genuß 
selbst  dann  nicht  stört,  wenn  mehrere  Kantaten  hintereinander  gehört 
werden,  die  auf  ähnlich  gebildeten  Motiven  beruhen.  Die  Einstellung 
der  Motive  selbst  ist  bei  Bach  von  solcher  Mannigfaltigkeit  und  von 
so  reicher  Abwechslung,  daß  eine  Empfindung  von  Monotonie  nie 
aufkommt.  IJberdies  vergesse  man  nicht,  daß  Bachs  Hörer  ja  nur 
immer  eine  Kantate  zu  hören  bekamen,  und  zwar  immer  eine  auf  den 
Tag  und  seine  kirchliche  Bedeutung  abzielende.  Es  ist  endlich  zu 
bemerken,  daß  es  sich  in  der  Bachschen  Themenbildung  nur  um 
Ähnlichkeiten,  um  Grade  der  Ähnlichkeit  handelt,  niemals  aber  um 
Wiederanführung  von  durchaus  Gleichem.  Niemals  hat  der  Meister 
eine  charakterisierende  Phrase  für  dasselbe  Gefühl  oder  für  denselben 
Vorgang  unverändert  angewendet.  Ich  erinnere  an  die  mannigfaltigen 
Varianten  des  Jesusmotivs  in  der  Matthäuspassion.  So  wie  es  dort 
in  immer  anderer  Gestalt  erscheint,  so  bedeutet  auch  jede  Wieder- 
aufnahme dieses  Motivs  in  den  Kantaten  eine  Variante.  Und  diese 
Umbildung  ist  überall  eingegeben  durch  den  Wunsch  nach  Charakte- 
ristik. Die  thematischen  Elemente  erfahren  ihre  Abwandlung  aus  zwei 
Rücksichten,  nämlich  einmal  aus  der  auf  den  besonderen  Gefühls- 
gehalt, dann  aus  derjenigen  nach  Versinnbildlichung  eines  Begriffes 
oder  Gedankens.  Und  zwar  überwiegt  auch  hier  bald  diese,  bald 
jene  Rücksicht.  Aber  Gefühlsinhalt  führen  sie  alle,  selbst  dort, 
wo  der  Text  das  Abstrakte  hervorhebt.  Das  ist  der  Fall  in  den 
Choralkantaten  97,  98  und  111,  die  das  schlichte  Vertrauen  auf  Gottes 
Güte  zum  Hauptinhalt  haben.  Bach  aber  führt,  diesen  Begriff  zu  be- 
zeichnen,  die  Bildung   ein,    die    man    in    der   neueren    Literatur    das 


')  Meine  Musikästhetik  des  18.  Jahrhundert;;  S.  64,  144,  148  und  149. 


TONSYMBOLIK. 


29 


Thema  der  Freude  zu  nennen  pflegt   R|      Rl  und  mit  ihm  das 

freudige  Gefühl  des  gläubigen  Christen.  Erst  aus  ihm  löst  sich 
dann  jenes  Symbol  ab.  Und  so  kann  man  überall  innerhalb  dieser 
Ähnlichkeitsthemen  sehen,  welche  Einflüsse  gefühlsmäßiger  oder  sym- 
bolbezeichnender Art  ihnen  maßgebend  waren. 

Am  klarsten  nachweisbar  sind  die  jeweiligen  Gestaltungen  des 
Themas  in  ihren  Beziehungen  zum  Text,  dort,  wo  sein  Charakteristi- 
sches in  erster  Linie  im  Rhythmus  liegt.  Nehmen  wir  einmal  die 
Tonreihen,  die  Bach  anwendet,  wo  es  sich  um  ein  besonders  Feierliches 

handelt.     Er    benutzt    dann    immer    den    Rhythmus:    |  "'i  |  i      j  "^   n 

Aber  was  in  ihm  sich  abspielt,  ist  recht  Verschiedenes,  abgestuft  nach 
dem  Gefühls-  und  symbolischen  Gehalt  der  Dichtung.  Innige  Freude 
und  lauter  Jubel  gesellt  sich  diesem  feierlichen  Rhythmus  in  der  Arie 
»Fürst  des  Lebens,  starker  Streiter«  der  Kantate  »Der  Himmel  lacht, 
die  Erde  jubilieret«  (31  Vll,  S.  35)  und  deutet  gleichzeitig,  versinnbild- 
lichend, auf  den  »Fürst  des  Lebens«  schon  mit  dem  Hauptthema  im 
Baß: 
15.    Molto  adagio 


;^=e^E!EfeEj§ 


1  '  1  M  I  1  M 


Dann  ist  in  denselben  feierlichen  Rhythmus  das  Gefühl  der  Beseli- 
gung von  Christi  Erscheinen  auf  Erden  und  durch  dieses  und  über 
dieses  hinaus:  die  Versinnbildlichung  der  Göttlichkeit  Christi  hinein- 
gebaut durch  das  nachstehende  Motiv  der  Kantate  »Himmelskönig,  sei 
willkommen«  (182  XXXVII,  S.  23). 


Qniv.   Adagio 


16. 

Violino 
concertante 


Dagegen  errichtet  sich  auf  demselben  rhythmischen  Untergrund  eine 
hochernste,  feierliche  Stimmung  und  eine  prachtvolle  Symbolik  des 
Begriffes:  Ewigkeit  des  göttlichen  Wortes  in  der  ersten  Bearbeitung 
der  Kantate  »O  Ewigkeit,  du  Donnerwort«  (20  11,  S.  293,  erste  Komposi- 
tion, F-Dur). 

17. 


Violini  I 


i^^S^taq 


*0- 


Ganz  besonders  reich  ist  die  Skala  der  Varianten  der  Gefühle  und 
der  symbolischen  Elemente,  die  an  das  rhythmische  Motiv  der  Ruhe 


anknüpft:  ^   I  |  j  |     |  in  den  Choralbearbeitungen  wie  in  den  Kantaten. 

»»000  " 


30  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Schweitzer  ^)  hat  eine  Reihe  solcher  Verknüpfungen  nachgewiesen.  In 
den  gleichen  Rhythmus  sind  dann  ferner  Tonkombinationen  eingelegt, 
die  erhebliche  und  sofort  bemerkh'che  Nuancen  aufweisen.  Die  Nuance 
in  dem  Duett  der  Kantate  »Erschallet  ihr  Lieder«  (172  XXXV,  S.  62)  bei 
den  Worten  »Komm,  laß  mich  nicht  länger  warten,  komm  du  süßer 
Himmelswind« 


''■  feEeEgjgg^^^g^l^l 


usw. 


ist  ganz  Gefühl  des  Friedens,  der  Ruhe,  und  damit  und  darüber 
hinaus,  Versinnbildlichung  der  Todessehnsucht  in  der  Vereinigung 
der  Seele  mit  Gott,  diejenige  in  der  Arie  »Sei  getrost«  der  Kan- 
tate »Weinen,  Klagen,  Sorgen«  (12  !!,  S.  76)  zu  den  Worten  »Sei 
getreu  .  .  .  nach  dem  Regen  blüht  der  Segen«  dagegen  setzt  dem  Ge- 
fühl der  seelischen  Ruhe  und  dem  Gedanken  der  stillen  Gottesergeben- 
heit eine  merkliche  Nuance  der  Kraft,  des  festen  Vertrauens,  der  Hoff- 
nung hinzu: 


g^lElJ^: 


Die  Farbe  ist  die  gleiche  wie  die  in  jenem  Thema  der  Kantate  172 
(Nr.  18),  aber  doch  merklich  nuanciert.  Zu  diesem  Verfahren  des 
Umbildens  gehört  auch  die  Bereicherung  des  thematischen  Gehalts 
durch  Gänge  und  Passaggien  im  Dienste  der  Charakteristik.  So  weist 
unser  Ruhethema  einen  Einschlag  freudiger  Begeisterung  auf  in  der 
skalenreichen  Bearbeitung  des  Baßthemas  der  Kantate  »Lobe  den  Herrn 
meine  Seele«  (143  XXX,  S.  4Q).  Sehr  häufig  kombiniert  auch  Bach  zwei 
Ähnlichkeitsthemen,  wie  das  der  Ruhe  mit  dem  der  Freude, 
und  zwar  in  der  Absicht,  einerseits  das  freudige  Gefühl  des  gläubigen 
Christen  zu  verstärktem  Ausdruck  zu  bringen,  das  aus  der  ruhigen 
Ergebenheit  in  den  Willen  Gottes  und  der  Bereitschaft,  zu  ihm  einzu- 
gehen, entspringt,  dann  aber,  um  das  Symbol  der  Allgüte  Gottes 
und  der  Liebe  seines  Sohnes  noch  sicherer  zu  treffen.  So  vereinigt 
der  erste  Chor  der  Kantate  »Gottlob,  nun  geht  das  Jahr  zu  Ende« 
(28  V,  1,  S.  247)  das  Freuden-  und  Ruhemotiv. 

Neben  diesen  Motiven,  die,  wenn  auch  reich  verändert,  immer 
wiederkehren,  geht  für  denselben  Gefühlskomplex  und  eine  gleich- 
gerichtete Symbolik  noch  zuweilen  eine  zweite  Tonfigur  nebenher. 
So  die  Legatobindungen  in  vier  Sechzehnteilen  der  Kantate  >lhr  Men- 
schen rühmet  Gottes  Liebe«  (167  XXXIII,  S.  125)  auf  die  Worte  »Gnade 
und  Liebe 


•)  A.  a.  O.  S.  378,  379. 


TONSYMBOLIK. 


3T 


20. 


ii§=Eg3g?]=E|2^i 


usw. 


oder  die  ähnliche  Bindung  in  der  Arie  »Vergib  Vater«   der  Kantate 
»Bisher  habt  ihr  nichts  gebeten«  (87  XX,  S.  140) 


hE^&J^: 


'^m 


oder   die   leichtwiegende  Bewegung   zweier  Sechzehnteile   im   ersten 
Chore  der  Kantate  »Es  ist  nichts  Gesundes  an   meinem  Leibe«  (25 
V,  1,  S.  155)  auf  das  Wort  Friede. 
22. 


usw. 


Schweitzer  findet  hier  überall  eine  tonmaierische  Grundlage,  indem  er 
beide  Typen  als  eine  Nachahmung  ruhiger  Wellenbewegungen  be- 
trachtet. Für  jene  viernotigen  (Nr.  17  und  20)  sehe  ich  gar  keine  Be- 
ziehung zu  diesem  Naturvorgang.  Für  diese  (Nr.  21)  könnte  ich  allen- 
falls eine  leichte  tonmalerische  Inspiration  zugeben,  die  aber  vom  Hörer 
gar  nicht  bemerkt,  sondern  nur  vom  Kenner  durch  Vergleich  mit  ähn- 
lich lautenden  Stellen  festgestellt  wird,  für  die  der  Text  ein  entspre- 
chendes optisches  Bild  enthält').  Ich  hatte  bereits  erwähnt,  daß  solche 
Bildungen  für  den  Hörer  tatsächlich  in  das  Gebiet  der  freien  Charak- 
teristik fallen,  mögen  sie  in  Wirklichkeit  auch  auf  tonmalerischer  In- 
spiration beruhen,  denn  diese  Inspiration  hat  eben  greifbare  ton- 
malerische Gestalt  nicht  angenommen. 

Das  Motiv,  das  wir  in  den  Passionen  als  das  Jesusmotiv  an- 
gesprochen hatten,  erscheint  auch  sehr  häufig  in  den  Kantaten  als 
Charakteristik  des  Schmerzes  und  zwar  eines  milden  Schmerzes.  Für 
schärfere  Schmerzgefühle  greift  Bach  mit  der  vorangegangenen  Genera- 
tion auf  Chromatik,  übermäßige  Intervalle,  Sospiri,  die  sich  im  Schöße 
der  Motette  und  des  Madrigals,  später  in  Oper  und  Kantate  zu  kon- 
ventionellen Ausdrucksmitteln  in  diesem  Sinne  herausgebildet  hatten. 
Das  Motiv  des  milden  Schmerzes  hingegen  ist  jener  Duolenrhythmus 
des  Jesusmotivs  der  Passionen.  Nur  sind  hier  der  Nuancen  mehr,, 
und  deshalb  auch  die  musikalischen  Varianten  zahlreicher.  Ungemein 
reich  tönt  Bach  den  Grad  des  Schmerzes  ab,  indem  er  die  klangliche 


')  Schweitzer  a.a.O.  S.  380  und  381.  Er  zieht  die  weltliche  Kantate  .Auf, 
schmetternde  Töne«  und  die  Stelle  »Die  stille  Pleiße  spielt  mit  ihren  kleinen  Wellen« 
an,  wo  die  »kleinen  Wellen  der  Pleiße«  durch  solche  Bewegungen   iMustriert  sind. 


32  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Bewegung  bald  für  eine  gefaßtere  Stimmung  in  Sekundenschritte  ver- 
legt, dort,  wo  der  Schmerz  aber  ein  lebhafterer  ist,  in  übermäßige  Inter- 
valle, vorzüglich  Sekunden  und  Quarten.  Den  höchsten  Grad  des 
schmerzlichen  Leidens,  der  noch  in  diesen  Duolenrhythmus  eingegangen 
ist,  stellt  wohl  die  Arie  vor  »Ächzen  und  erbärmlich  Weinen«  der 
Kantate  »Meine  Seufzer,  meine  Tränen«  (13  II,  S.  Q3).  Hier  tritt  die 
rhythmische  Grundlage  mit  ihrer  Betonung  der  Milde  hinter  der  klang- 
lichen zurück,  die  auf  Angst  und  Sorge  abgestimmt  ist. 

Eine  ähnliche  Bewandtnis  hat  es  mit  dem  Freudenmotiv:  Jj ', 
J^  J.  Die  an  dieses  gebundenen  Gefühle  umfassen  mehr  die  heitere 
Genügsamkeit  und  freudige  Zufriedenheit  des  gläubigen  Christen,  und 
wiederum  in  reichster  Nuancierung.  Wo  sie  sich  zur  Ekstase  stei- 
gern, herrscht  ein  ganz  freies  Ausschweifen  in  phantastische  Passaggien, 
meist  in  den  Oboen  und  Violinen  i).  Innerhalb  der  von  diesem  Rhyth- 
mus beherrschten  Tonkomplexe  ist  einmal  die  Rolle,  die  sie  gegen- 
über dem  musikalischen  Gesamtverlaufe  einnehmen,  eine  variable,  dann 
aber  ist  die  in  sie  selbst  verlegte  charakterisierende  Kraft  eine  schwan- 
kende. Was  wir  hier  feststellen,  das  gilt  auch  mehr  oder  weniger  für 
alle  anderen  gefühlsmäßigen  und  symbolisch  erfundenen  Wendungen. 
Schweitzer  und  Pirro  begehen  hier  mehrfach  Irrtümer.  Sie  sprechen 
immer  nur  von  der  deskriptiven  Qualität  des  Motivs  und  über- 
sehen, oder  wollen  nicht  sehen,  daß  ihm  überall  auch  Gefühlsinhalt 
beiwohnt.  Das  tritt  besonders  hervor,  wie  wir  bereits  feststellten,  bei 
den  tonmalerischen  Motiven,  ebenso  wieder  bei  denjenigen  der- Ton- 
symbolik. Dann  aber  ignorieren  sie  das  Verhältnis  des  tonsymboli- 
schen Motivs  zum  musikalischen  Gesamtverlaufe.  Von  ihm  ist  noch 
im  folgenden  zu  handeln.  Endlich  betonen  die  Franzosen  nicht  ener- 
gisch genug  die  Abstufungen  der  Intensität  des  Motivs  selbst. 

Betrachten  wir  zunächst  die  Behandlung  unseres  Freuden- 
motivs in  seiner  von  dem  poetischen  Gefühlsgehalt  bestimmten 
Intensität.  Es  ist  überreich  an  Nuancen.  Je  lebhafter  die  Freude,  desto 
kräftiger  und  energischer  die  musikalische  Bewegung.  Man  vergleiche 
bei  Schweitzer^)  die  Zusammenstellung  der  Bässe  im  Rhythmus  des 
Freudenmotivs.  Sie  lassen  unser  Prinzip  ganz  deutlich  erkennen.  Aber 
noch  mehr  ist  es  die  ganze  Anlage  d.  h.  die  Bewegung  desselben 
Rhythmus  in  den  anderen  Stimmen.  In  der  Arie  »Erholet  euch  be- 
trübte Stimmen«  der  Kantate  »Ihr  werdet  weinen  und  heulen«  (103 
XXIII,  S.  8Q)  ist  eine  Fülle  von  freudig  heiteren  Bildungen  in  den 
Rhythmus  des  Freudenmotivs  hineingelegt.    Schon  das  Ritornell  mit 


')  Beispiele  bei  Schweitzer  S.  293  ff. 
-)  A.  a.  O.  S.  392  ff. 


TONSYMBOLIK. 


33 


seinen  kräftigen  Dreii<langschritten  nuanciert  das  Gefühl  der  Freude 
nach  der  Seite  der  Energie  hin  (Nr.  22a).  Dazu  treten  die  kurzen, 
mehrfach  wiederhohen  Aufsprünge  in  den  Violinen  und  das  Schmet- 
tern des  Tromba  (22  b). 

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Oboi,  Violini 
23.  und 

Tromba  (C) 


Viola 

und 

Continuo 


Oboi,  Violini 

und 
Tromba  (C) 

Viola 

und 
Continuo 


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Dieser  Stimmung  angeschlossen  ist  die  Symbolisierung  des  Gott- 
vertrauens. Den  Höhepunkt  erreicht  das  Ganze  bei  den  Worten: 
»Mein  Jesus  läßt  sich  wieder  sehen«,  wo  die  in  das  Freudenmotiv 
gesenkten  Töne  noch  durch  jubilierende  Koloraturen  in  der  Sing- 
stimme gehoben  werden.  Wichtiger  noch  ist  die  Bedeutung  des 
Motivs  für  den  musikalischen  Verlauf  des  Stückes,  also  die  Be- 
deutung, die  ihm  für  das  Gefühl  der  ruhigen  Freude  und  das  Symbol 
des  Gottvertrauens  in  der  musikalischen  Gesamtanlage  zukommt.  Da 
tritt  es  denn  bald  stark  hervor,  geht  aus  dem  Baß  in  die  anderen 
Stimmen  über,  und  reißt  sogar  die  Singstimme  mit  sich  fort.  Lehr- 
reich ist  hier  auch  der  Eingangschor  der  Kantate  »Nun  kommt 
der  Heiden  Heiland«  (62  XVI,  S.  21).  Wo  die  Dichtung  mehr 
eine  feierliche  Lobpreisung  des  Herrn  und  seiner  Güte  aus- 
spricht, die  Freude  etwas  anderes  ist  als  die  des  stillen,  inneren  Glücks, 
also  mehr  ein  Gefühl  triumphierenden  Stolzes,  da  gewinnt  das  schlichte 
Freudenmotiv  der  inneren,  ruhigen  Glückseligkeit  keine  führende  Be- 
deutung und  bleibt  meist  auf  den  Baß  beschränkt.  Das  ist  der  Fall 
in  der  Kantate  »Meine  Seele  erhebt  den  Herrn«,  deutsches  Magnifikat 
(10  1,  S.  277)  im  ersten  Chor  »Meine  Seele  erhebt  den  Herrn«.  Selbst 
die  Worte  »Unser  Jesus  freuet  sich«  nehmen  das  Freudenmotiv  nicht 
auf.  Den  Baß  nur  beherrscht  es  völlig.  Bezeichnend  ist  dann  der 
erste  Chor  der  Kantate  »Herr  Gott,  dich  loben  wir«  (16  II,  S.  175). 
Er  häh  sich  in  seinem  ersten  Teil  bis  zu  den  Worten:   >Herr  Gott, 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  Mg.  Kunstwissenschaft.    XV.  3 


34  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


wir  danken  dir«  in  der  Stimmung  einer  innigen  abgel<lärten  Frömmig- 
l<eit,  die  eine  innere  Glückseliglceit  und  erwärmende  Freude  aus  sich 
erzeugt.  Hier  bemächtigt  sich  das  Freudenmotiv,  das  den  Baß  durch- 
aus von  Anfang  an  beherrscht  hatte,  schon  vom  neunten  Takt  an 
auch  der  anderen  Stimmen.  Mit  der  zweiten  Strophe  »Dich  Oott 
Vater  in  Ewigkeit  ehret  die  Welt  weit  und  breit«  erfolgt  eine  Um- 
färbung  des  Gefühls  der  stillen,  heiteren  Freude,  und  dem  festen  Gott- 
vertrauen gesellt  sich  die  Vorstellung  der  Unterwerfung  des  Menschen 
unter  seine  Allmacht.  Hier  herrscht  das  Erhabene  und  der  Begriff 
Ewigkeit.  Da  ziehen  sich  denn  die  Motive  der  Freude  wieder  ganz 
in  den  Baß  zurück  und  erscheinen  nur  ein  einziges  Mal  wieder  in  den 
Mittelstimmen.  Und  aus  dem  ekstasischen  Schlußchore  »Laßt  uns 
jauchzen«  (S.  181)  sind  sie  sogar  völlig  ausgeschaltet.  Ebenso  fein- 
sinnig wie  typisch  für  Bachs  Verfahren  ist  die  Behandlung  des  Duettes 
»Wohl  mir,  Jesus  ist  gefunden,  nun  bin  ich  nicht  mehr  betrübt«  in 
der  Kantate  »Mein  liebster  Jesus  ist  verloren«  (154  XXXIl,  S.  75).  Der 
erste  Teil  gehört  wieder  der  erbaulichen  stillen  Freude,  Jesum  gefun- 
den zu  haben.  Daher  ein  Freudenmotiv  im  Baß,  durchgehend,  das  auch 
die  Instrumentalstimmen,  besonders  hervortretend  in  den  Takten  12 
und  13  ergreift  und  im  Takt  22 — 23  vermöge  Nachahmung  in  der 
Viola  in  engster  Stimmführung  auftritt.  Der  Mittelsatz  entwickelt  mit 
den  Worten:  »Ich  will  dich  mein  Jesus  nun  nimmer  mehr  lassen,  ich 
will  dich  im  Glauben  ständig  umfassen«  aus  jenem  Gefühl  stiller 
Freude  das  Versprechen  innigster  Hingabe  an  ihn.  Es  dominiert  in 
ihm  das  Symbol  der  unbedingten  Unterwerfung  und  Hingabe.  Zwar 
ist  auch  dieses  Gefühl  dem  stillen  Glückseligkeitsgefühl  des  ersten 
Satzes  nahe  verwandt,  aber  das  Symbol  ist  hier  in  der  Dichtung 
stärker  betont.  Darum  setzt  Bach  das  Freudenmotiv  hier  ab  und  be- 
gnügt sich  mit  zwar  auch  gefühlsinhaltlichen,  aber  doch  stark  sym- 
bolisierenden Tonkombinationen.  Der  Begriff  des  Umfassens  ist  noch 
besonders  in  der  Stimmführung  des  Soloaltes  und  Solotenors  hervor- 
gehoben, ja  ich  glaube  fast,  daß  die  Form  des  Duettes  mit  Rücksicht 
auf  die  Symbolisierung  dieses  Begriffes  gewählt  wurde. 

Wir  haben  schließlich  noch  diejenigen  Tonformeln  zu  betrachten, 
deren  symbolische  Funktion  nur  vermöge  gewisser  musikwissen- 
schaftlicher Kenntnisse  oder  Vertrautheit  mit  der  prak- 
tischen Musik  verstanden  werden  kann.  Es  war  oben  bereits  einer 
solchen  Symbolik  bei  Schütz  gedacht  worden,  die  auf  Vorgänge  der 
musikalischen  Bestrebungen  der  jüngeren  Vergangenheit  so  Bezug 
nimmt,  daß  die  Stelle  ohne  ihre  Kenntnis  unverständlich  bleibt.  Jenes 
Tremolo  hatte  nur  einen  Sinn,  wenn  es  als  eine  Neuerung,  als  neues 
musikalisches  Ausdrucksmittel  erkannt  wurde.    Es  besteht   aber   eia 


I 


TONSYMBOLIK.  35 


Wesensunterschied  zwischen  diesem  Verfahren  Schützens  und  dem- 
jenigen Bachs.  Jene  Tonkombinationen  sind  sinnlos,  wenn  das  Symbol 
nicht  erkannt  ist.  Diejenigen  Bachs  aber  behaupten  auch  ohne  die 
verstandesmäßige  Apperzeption  der  symbolischen  Funktion  doch  immer 
noch  ihren  gefühlsmäßigen  Wert.  Bach  ist  also  zwar  hier  dem  17.  Jahr- 
hundert angeschlossen,  von  seinen  Ausschreitungen  aber  bewahrt,  denn 
seine  symbolisch  gemeinten  Tonformeln  sind  durchaus  Oestaltquali- 
tät,  also  eine  Verschmelzung  von  Gefühlsinhalt  und  charakterisieren- 
der Kraft.  Der  Gedanke,  daß  jede  Bitte  an  den  Höchsten,  an  ihn  ge- 
richtet im  Namen  seines  Sohnes,  ihre  notwendige  Erfüllung  finde, 
erhält  in  der  Kantate  »Wahrlich,  ich  sage  euch«  (86  XX,  1,  S.  121) 
seinen  Ausdruck  durch  eine  fünfstimmige  strenge  Fuge  von  vier 
Instrumenten  und  der  Baßstimme.  Der  intellektuelle  Prozeß  besteht 
hier  in  einem  Schluß  von  der  musikalischen  Form  auf  den 
geistigen  Inhalt  des  Textes.  Der  Begriff  der  Notwendigkeit, 
den  dieser  gibt,  erhält  seine  Versinnbildlichung  durch  die  Anwendung 
einer  musikalischen  Form,  die  auf  festen  Gesetzen,  auf  musikalischer 
Notwendigkeit  beruht.  Es  ist  also  vorausgesetzt,  daß  der  Hörer  einmal 
die  musikalische  Form  als  Fuge  erkennt,  dann  aber  auch  den  Schluß 
zieht,  daß  der  Komponist  durch  die  Anwendung  der  Form  auf  eine 
Notwendigkeit  im  außermusikalischen  Leben  habe  hindeuten  wollen. 
Dem  Hörer  wird  zugemutet,  aus  dem  Erkennen  der  auf  Notwendig- 
keiten logisch  errichteten  Musikform  auf  den  Begriff:  Notwendigkeit 
zu  schließen.  Das  ist  ein  ziemlich  fernliegender  und  komplizierter  Ver- 
standesakt, der  sich  nur  in  sehr  wenigen  Hörern  vollziehen  dürfte.  Die 
Sache  hat  aber  noch  eine  andere  Schwierigkeit.  Daß  die  Form  einer 
Fuge,  und  zwar  einer  streng  durchgeführten,  vorliegt,  kann  doch 
vom  Hörer  erst  wahrgenommen  werden,  wenn  sie  bis  zu  Ende  ge- 
hört wurde.  Die  intellektuelle  Inbeziehungsetzung  des  Begriffes  der 
Fugenform  zum  Begriff  Notwendigkeit  erfolgt  also  erst  dann,  wenn 
es  schon  zu  spät  ist.  Bis  zum  letzten  Themeneinsatz  weiß  der  Hörer 
ja  nicht,  daß  es  sich  um  eine  ganz  strenge  Fuge  handelt.  Er  kann 
den  Schluß  erst  ziehen,  wenn  das  Tonstück  bereits  zu  Ende  ist.  Was 
geschieht  aber  bis  dahin?  Die  Töne  sprechen  für  sich  selbst.  Ohne 
bewußt  zu  charakterisieren  entsprechen  sie  doch  in  ihrer  Gesamt- 
anlage dem  inneren  Gehalt  der  Dichtung,  der  Liebe  der  Gläubigen  zu 
Jesu  Christ,  dem  freudigen  Gefühle  überhaupt,  er  werde  erhöht  werden, 
wenn  er  in  seinem  Namen  sich  an  Gott  wende.  Es  liegt  ein  ähnliches 
Verhältnis  vor,  wie  in  jenen  tonmalerischen  Inspirationen  Schuberts, 
die  auch  erst  verstandesmäßig  erfaßt  werden  können,  wenn  ein  mehr 
oder  weniger  großer  Teil  des  Liedes  schon  vorüber  ist.  Daß  Bach 
selbst  unsere  Stelle  symbolisch  gemeint  hat,  halte  ich  mit  Schweitzer 


36  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


für  zweifellos.  Aber  ebenso  klar  ist  es,  daß  auf  diesem  symbolischen 
Hinweis  ihr  musikalischer  Wert  nicht  beruhen  kann.  Denn  einmal  ist 
der  Verstandesprozeß  ein  so  komplizierter,  daß  ihn  nur  ein  sehr  kleiner 
Teil  der  Hörer  überhaupt  vollziehen  wird,  dann  aber  tritt  er  auch,  wo 
er  statthat,  so  spät  ein,  daß  nur  ein  Rückschluß  auf  bereits  Gehörtes 
und  Verklungenes  erfolgt.  Daß  während  des  Ablaufes  des  Stückes, 
innerhalb  seiner  Apperzeption,  eine  verstandesmäßige  Bezugnahme 
auf  das  Symbol  gar  nicht  statthaben  kann,  also  der  Schluß  von  der 
Form  auf  den  außermusikalischen  Inhalt,  auf  den  Begriff  Notwendig- 
keit, zu  spät  erfolgt,  hat  Schweitzer  völlig  übersehen  i). 

Die  Form  des  Kanon  hat  regelmäßig  keine  poetische  Bedeutung 
und  existiert  nur  als  tonerfüllter  Inhalt  ^).  Nur  in  wenigen  Fällen  unter- 
legt ihr  Bach  eine  ähnliche  symbolische  Bedeutung,  wie  sie  die  Fuge 
im  obigen  Beispiel  beansprucht.  Die  Kantate  »Aus  tiefer  Not  schrei 
ich  zu  dir«  (38  VII,  S.  297)  enthält  ein  Terzett,  dessen  erster  Satz,  den 
Worten  zugehörig  »Wenn  meine  Trübsal  als  mit  Ketten  ein  Unglück 
an  dem  anderen  hängt«,  das  ununterbrochene  Unglück  gefühlsmäßig 
und  den  Begriff  der  Ketten  als  eine  Folge  von  ganz  gleichmäßigen 
Gliedern  symbolisch  wiedergibt  durch  einen  Kanon  a.  3.  v.,  übrigens 
wie  wir  noch  erfahren  werden,  in  einem  gewissen  Gegensatz  zur  Ge- 
samtstimmung. Einigermaßen  seltsam  ist  der  Kanon  in  der  großen 
Choralbearbeitung  »Das  sind  die  heiligen  zehn  Gebote« 
(VI,  S.  IQ).  Bach  schildert  hier  zunächst  die  moralische  Unordnung, 
die  dem  Eriaß  der  zehn  Gebote  vorausging,  durch  eine  bis  zur  Un- 
schönheit  gesteigerte  Selbständigkeit  der  Führung  der  Stimmen,  die 
ohne  Rücksicht  aufeinander  ihren  Weg  verfolgen.  Der  anschlie- 
ßende Teil,  der  in  Kanonform  gehalten  ist,  will  zweifellos  nun  die 
Ordnung  symbolisieren,  die  jener  Erlaß  der  zehn  Gebote  zustande 
gebracht.     Der  Kanon  ist  also   in   demselben  Sinne  gebraucht,  wie 


')  Ob  die  erste  Sopranarie  der  Kantate  >0  heiliges  Geist-  und  Wasserbad« 
(165,  XXXIil,  S.  91)  hierher  gehört,  ist  mir  zweifelhaft,  insbesondere  ob  Bach  wirk 
h'ch  durch  Anwendung  dieser  Form  auf  das  Symbol  der  Taufe  habe  hinweisen 
wollen ,  wie  Pirro  S.  325  annimmt.  Plausibler  anzunehmen,  er  habe  sie  gewählt, 
um  die  Worte  der  Schrift  nicht  in  die  Arienform  zu  verlegen,  was  er  auch  sonst 
gern  vermeidet. 

')  Die  Anklage  der  beiden  falschen  Zeugen  in  der  Matthäuspassion  (Eulen- 
burg S.  213;  Ges.  Ausg.  S.  152)  vollzieht  sich  im  Kanon.  Hier  liegt  ein  Symbol 
insofern  vor,  als  die  gleichen  Notenfolgen  anzeigen,  wie  sie  bemüht  sind,  nur  ja 
durchaus  dasselbe  auszusagen.  Die  Symbolik  der  Fuge  und  des  Kanon  ist  gleichfalls 
ein  Erbe,  das  Bach  angetreten  hat.  Ein  sehr  eigenartiges  Beispiel  gibt  Wellesz, 
Studien  zur  Musikwissenschaft,  Beihefte  der  Denkmäler  der  Tonkunst  in  Österreich, 
1913,  in  seinem  Aufsatz  Cavalli«  (S.  22).  In  dessen  Prolog  zu  »Giro«  steht  die 
Strophe  der  Architettura  in  Kanon,  die  kunstreiche  Zusammensetzung  der  Maschinen 
anzudeuten! 


» 


TONSYMBOLIK.  37 


jene  strenge  Fuge  der  Kantate  86.  Aber  durch  den  Gegensatz  zu 
jenen  rücksichtslosen  Tonfolgen  des  ersten  Satzes,  welche  die  Un- 
ordnung andeuteten,  wird  schon  der  Eintritt  des  Kanon  den  Begriff 
der  Ordnung  zu  versinnbildlichen  imstande  sein.  Hierin  ist  also  das 
Verfahren  glücklicher  als  das  der  Fuge  der  Kantate  86.  Zwei  berühmt 
gewordene  Versinnbildlichungen  dieser  Art  stehen  in  der  großen 
Messe  in  H-Moll.  Im  >01oria«  will  die  kanonische  Engführung 
der  Stimmen  den  Begriff  der  Einheit  Gott- Vater  und  Gott- Sohn  in  den 
Worten:  *FiU  unigenite*  treffen  und  im  »Credo«  die  Symbolik  der 
Worte:  y>Et  in  ununn  ähnlich,  durch  die  denkbar  engste,  nachahmende 
Abwechslung  des  Motivs 


24. 


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nämlich  in  der  Entfernung  eines  einzigen  Viertels').  Auch  hier  muß 
ich  dem  großen  Meister  entgegenhalten,  daß  seine  Intention  nur  von 
recht  Wenigen  erkannt  werden  wird.  Ungemein  geistreich  ist  die 
kanonische  Engführung  zwischen  der  Baßstimme  und  dem  Kontinuo 
in  dem  Arioso  der  Kantate  »Der  Himmel  lacht«  (31  VII,  S.  34)  auf  die 
Worte:  »Lebt  unser  Haupt,  so  leben  auch  die  Glieder«.  Hier  be- 
zeichnet die  Stimmführung  in  einer  auch  dem  naiven  Hörer  faßlichen 
Weise  die  untrennbare  Vereinigung  Christi  und  seiner  Gemeinde:  Wo 
er  hingeht,  da  folgt  ihm  diese  nach. 

Seltsamerweise  ist  gerade  diese  ästhetisch  immerhin  anfechtbare 
Symbolik  in  die  neuere  Musik  übergegangen.  Ich  führe  an:  Brahms 
»Deutsches  Requiem«  und  den  Orgelpunkt  des  Schlußsatzes,  in  dem 
das  gehaltene  D  der  Bässe  die  schützende  Hand  Gottes  versinnbild- 
licht, aus  der  Programmmusik  die  Quinten  in  Rieh.  Strauß'  Helden- 
leben, die  neidische  Bosheit  und  geistige  Beschränktheit  der  Wider- 
sacher des  Helden  andeuten.  In  neuester  Zeit  hat  Siegfried  Wagner  in 
seiner  Märchenoper  »An  allem  ist  Hütchen  schuld«  einen  Kanon  in  der 
Sekunde  gebraucht  (und  ihn  später  in  die  Oktave  umgesetzt),  um  die 
zögernd  gegebene,  dann  aber  restlos  erfolgende  Übereinstimmung  des 
Liebespaares  auszudrücken.  (Nach  W.  Nagel  in  den  Signalen  75.  Jahr- 
gang Nr.  50,  12.  Dezember  1917.)  Diese  Beispiele  führen  uns  bereits 
in  ein  anderes  verwandtes  Gebiet.  Die  Symbolik  stützt  sich  auf  Ton- 
bildungen, die  die  Gesetze  des  musikalischen  Satzes  aus- 
schalten. Rieh.  Strauß  hat  da  keinen  neuen  Gedanken  in  die  Musik 
eingeführt.  Er  kann  sich  auf  Bachs  Autorität,  und  dieser  wiederum 
auf  diejenige  Lassos  und  Palestrinas  berufen.  Wir  hatten  bereits 
oben  mehrere  Beispiele  so  gearteter  Bachscher  Symbolik  angeführt. 

')  Kretzschmar,  Führer  12,  1  S.  183  ff. 


38  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Ich  erinnere  an  die  Choralkantate,  die  sich  vornimmt,  die  moralische 
Unordnung  vor  dem  Erlaß  der  zehn  Gebote  auszudrücken.  Wäre 
dieses  Beispiel  das  einzige  dieser  Art,  so  könnte  man  es  als  eine 
Laune  des  Meisters  ansehen.  Es  ist  aber  nicht  vereinzelt  und  es 
kann  deshalb  kein  Zweifel  darüber  bestehen,  daß  Bach  hier  ein 
ästhetisches  Prinzip  statuiert  hat:  die  Charakteristik  dürfe  auch 
vor  dem  Häßlichen  nicht  zurückweichen.  Auch  hierin  sind  Bach  die 
großen  Meister  der  Kirchenmusik  vorangegangen.  Da  symbolisiert 
Orlando  di  Lasso  den  Begriff  der  allzugroßen  Sünde  y>Quia  nimis  pec- 
cavU  in  der  Motette  ^Domine,  quando  veneris<<  *)  durch  Quintenpar- 
allelen, und  Palestrina,  von  dem  das  am  wenigsten  zu  erwarten  war, 
greift  einmal  dort,  wo  er  die  höchste  seelische  Verwirrung  bezeichnen 
will,  zur  Verwirrung  der  Harmonie  *).  Streifen  viele  der  Themen  Bachs, 
insbesondere  die  durch  optische  Bilder  eingegebenen,  die  Grenzen 
akustischer  Schönheit,  so  ist  der  Schritt  ins  Häßliche  getan  in  der 
Kantate  »Ach  Gott  vom  Himmel  sieh'  darein«  (2  I,  S.  63).  In  der 
Arie  »Tilg  o  Gott  die  Lehren«  ist  von  den  gefährlichen  Lehren  die 
Rede,  die  Gottes  Wort  zu  verdrehen  und  zu  entkräften  suchen.  Vor 
dem  Unternehmen,  diesen  Gedanken  musikalisch  auszudrücken,  wäre 
wohl  jeder  andere  zurückgeschreckt.  Nicht  so  Bach.  Es  muß  den 
Parochialen  durch  die  Musik  klar  gemacht  werden,  nicht  nur  durch 
den  Text,  welche  Gefahr  ihnen  droht.  So  ruft  er  denn  nach  dem 
Teufel  in  der  Musik,  dem  Häßlichen.  Er  erfindet  zwei  monströse 
Themen,  das  eine  in  Achteln,  das  andere  in  Triolen  und  setzt  sie  in 
Gegenbewegung.  Hierher  gehört  auch  die  Harmonieverwirrung  in  der 
Antwort  des  Petrus  in  der  Matthäuspassion,  wenn  man  sich  Heuß'^) 
Interpretation  anschließt.  Hier  ist  die  Verwirrung  des  Petrus  durch 
Aufgeben  musikalisch-harmonischer  Grundregeln,  also  durch  ein  Häß- 
liches, charakterisiert.  Zu  demselben  Mittel  der  Harmonieverwirrung 
hat  übrigens  schon  Orlando  di  Lasso  gegriffen,  wenn  er  das  Gefühl 
höchster  Angst  zu  den  Worten  ^Ubi  me  nascondam«^  der  Motette  a. 
4.  V.  ^Domine  quando  veneris«^  durch  querständige  Harmonien  an- 
zeigt*). Für  Bach  wären  dann  noch  aufzuführen  die  Kantate  »Herr 
Christ,  der  ein'ge  Gottessohn«  (96  XXII,  S.  180)  und  die  Baßarie  vBald 
zur  Rechten,  bald  zur  Linken  lenkt  sich  mein  verirrter  Schritt«,  die  mit 
der  Ausmalung  dieses  Bildes  und  Symboles  das  Groteske  streift.  Ferner 
gehört  hierher  die  Augenmusik  der  Umkehrung  eines  Themas  in 


')  Ges.  Ausg.  Bd.  III  op.  musicum.    Siehe  Leichtentritt,  Geschichte  der  Motette 
S.  104. 

»)  Leichtentritt  a.  a.  O.  S.  151. 

')  A.a.O.  S.  113. 

*)  Leichtentritt  a.  a.  O.  S.  104. 


TONSYMBOLIK.  3g 


tonsymbolischem  Sinn  in  der  Choralbearbeitung  »Christ  unser  Herr 
zum  Jordan  kam«')  (VI,  S.  18). 

Auch  die  auf  mehrfache  Wiederholung  einer  kurzen  Phrase  basier- 
ten Themen  wie 


»Mein  liebster  Jesus  ist  verloren«  (154  XXXll,  S.  61)  sind  als  musi- 
kalisch schöne  Gebilde  kaum  zu  rechtfertigen.  Sie  erzielen  ihren 
gefühlsmäßigen  und  symbolischen  Eindruck  gerade  durch  die  Mono- 
tonie der  Wiederholung,  also  durch  ein  Häßliches.  Obiges 
Thema  bezieht  sich  auf  die  dichten  Wolken  unserer  Sünden,  und  die 
Wiederholung  des  Themas  versinnbildlicht  den  immer  wieder- 
holten Rückfall  in  die  Sünden').  Indessen  ist  die  Behandlung 
des  Themas  und  seine  Beziehung  zu  den  anderen  Stimmen  geeignet, 
das  Gefühl  unschöner  Monotonie  zu  mildern.  Dasselbe  gilt  für  die 
bereits  erwähnte  zehnmalige  Wiederholung  eines  Melodienteils  des 
Chorals  »Das  sind  die  heil'gen  zehn  Gebote«  und  das  zehnmalige 
Auftreten  des  Themas  in  der  Fuge  für  Orgel  über  denselben  Choral 
(VI,  S.  20)  und  in  noch  höherem  Grade  für  das  Thema  des  Duettes 
der  Matthäuspassion  »So  ist  mein  Jesus  nun  gefangen«^).  Aus  der 
neueren  Musik  wüßte  ich  nur  ein  Beispiel  anzuführen.  Löwe  sym- 
bolisiert in  der  Meerfahrt  der  »Vier  Phantasien«  (Nr.  2)  die  Monotonie 
der  Meerfahrt  durch  die  Eintönigkeit  einer  ununterbrochenen  Sech- 
zehntelbewegung *). 

Für  die  moderne  Programmmusik  habe  ich  bereits  eine  Reihe  von 
Beispielen  einer  Charakteristik  unter  Ausschaltung  des  Schönen  an- 
geführt. Es  sei  hier  noch  erinnert  an  den  Schluß  des  »Zarathustra«, 
der  mit  dem  abschließenden  H-Dur-Dreiklang  das  Naturmotiv  mit  den 
Tönen  C,  g,  c  gleichzeitig  erklingen  läßt,  als  Versinnbildlichung  des 
Gedankens,  daß  Zarathustra  das  Welträtsel  nicht  gelöst  habe.  Ferner 
die  durchaus  unschönen  Trugfortschreitungen  in  der  Introduktion  des 
»Don  Quixote< ,  die  seine  Neigung  zu  falschen  Schlüssen  andeuten.  Auch 
gehört  hierher  der  Verlauf  der  Introduktion  mit  der  rücksichtslosen 
»Verkuppelung  und  Zerstückelung  einer  Reihe  von  Themen«  bis  zu 
der  plötzlich  aufschreienden  Dissonanz,  die  anzeigt,  daß  sein  Verstand 
übergeschnappt  ist.  Hier  wird  Symbolik  getrieben,  nicht  einmal  eine 
geistreiche,  auf  Kosten  des  Urwesens  aller  Musik,  des  Sinnlich-Schönen. 


')  Siehe  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  345. 
')  Vgl.  Schweitzer  a.  a.  O.  S.  362. 
»)  Eulenbiirg  S.  138  ff.;  Oes.  Ausg.  S.  88. 
')  Klauwell  a.  a.  O.  S.  192. 


40  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


Versöhnen  kann  uns  mit  diesem  Gebilde  nur  der  Gedanke,  daß  es 
sich  um  einen  musikalischen  Scherz  handelt.  Für  die  Oper,  das  hatte 
ich  bereits  erwähnt,  zwingt  die  Dichtung  und  das  Bedürfnis,  Charaktere 
zu  schildern,  die  Musik  hie  und  da,  das  Häßliche  herbeizurufen. 
Wenn  das  mit  der  Diskretion  geschieht,  wie  sie  den  Szenen  des 
Alberich  und  Mime  im  Nibelungenring  eignet,  so  wird  der  modern 
geschulte  Hörer  keinen  Anstoß  an  ihm  nehmen.  Aber  gefährlich  war 
dieses  Vorgehen  Wagners  doch.  Denn  die  nächste  Generation 
glaubte  solchen  Vorbildern  entnehmen  zu  dürfen,  daß  der  große 
Dramatiker  die  Gesetze  der  Schönheit  mißachte  und  sie  zugunsten 
der  Charakteristik  beiseite  zu  schieben  für  erlaubt  halte.  Und  das 
war  seine  Ansicht  durchaus  nicht. 

Von  der  Anführung  nicht  zum  Werke  selbst  gehöriger 
Tonformeln,  in  der  Voraussetzung,  daß  sie  dem  Hörer  bekannt 
seien,  war  bereits  oben  gesprochen  worden.  Solche  Zitate  stellt  nun 
Bach  vielfach  in  den  Dienst  der  Symbolik.  Zumeist  sind  es  Choräle, 
die  er  in  die  Instrumente  verlegt  oder  einer  oder  mehreren  Vokal- 
stimmen anvertraut  und  in  den  musikalischen  Verlauf  einbaut.  Zu- 
weilen sind  diese  Zitate  aber  auch  dem  alten  gregorianischen  Gesänge 
oder  alten  katholischen  Kirchenmelodien  entnommen.  In  der  Kantate 
»Es  ist  nichts  Gesundes  an  meinem  Leibe«  (25  V,  1,  S.  155)  erscheint 
als  vierstimmiger  Trompetenchor  der  Choral  »Ach  Herr,  mich  armen 
Sünder«,  der  schon  vorher  Motive  zu  diesem  Chor  hergegeben  hatte, 
um  die  Zerknirschung  des  armen  Sünders  zu  vergegenwärtigen.  Das 
konnte  Bach  wohl  wagen.  Die  Kenntnisse  der  Choräle  durfte  er  ohne 
weiteres  voraussetzen  und  damit  auch  die  Apperzeption  ihres  Gefühls- 
inhaltes und  ihrer  symbolischen  Qualität.  Heute  dürfte  nur  ein  sehr 
kleiner  Kreis  von  Musikern  und  Laien  diese  Beziehungen  erfassen. 
Wenn  auch  der  Gefühlsinhalt  der  Stelle  durch  Vermittlung  des  Sinn- 
lich-Schönen auf  den  Hörer  auch  dann  übergeht,  wenn  er  jene  Be- 
ziehungen nicht  erfaßt,  so  empfiehlt  es  sich  doch,  für  das  heutige 
Musikleben  ein  Programm  mit  einem  entsprechenden  Hinweis  dem 
Hörer  in  die  Hand  zu  geben,  hier  wie  an  jenen  immerhin  zahlreichen 
Stellen,  die  ohne  jenes  Verstehen  mindestens  seltsam  anmuten,  vor 
allem  bei  Zitaten  im  Rezitativ.  Die  Anführung  des  Chorals  »Es  ist 
gewißlich  an  der  Zeit«  in  dem  Rezitativ  der  Kantate  ; Wachet,  betet, 
seid  bereit  alle  Zeit«  (70  XVI,  S.  329)  durch  die  Trompete  muß  den- 
jenigen Hörer  verwundern,  der  die  Melodie  nicht  als  jenen  Choral 
erkennt  oder  durch  ein  Programm  belehrt  wird.  Ähnlich  dürfte  die 
Wirkung  geschmälert  sein,  wenn  die  symbolische  Hindeutung  durch 
die  Choralmelodie  »O  Haupt  voll  Blut  und  Wunden«  in  der  Kantate 
»Sehet,  wir  gehen  hinauf  nach  Jerusalem«  (15Q  XXXII,  5.  157)  über- 


TONSYMBOLIK.  41 


sehen  würde.  Wenn  die  neuere  Musik  von  ähniiclien  Voraussetzungen 
für  das  volle  Verstehen  der  Zitate  ausgeht,  so  befindet  sie  sich  doch 
der  Bachs  gegenüber  insofern  im  Nachteil,  als  sie  nicht  mehr  auf  eine 
Kenntnis  der  angeführten  Choräle  der  Kirchenmusik  rechnen  kann. 
Selbst  Beethovens  bekanntes  Zitat  des  Händeischen  Messiashalle- 
luja  im  iDona  nobis  pacetn«  der  Missa  solemnis  ist,  trotz  der  großen 
Verbreitung  jenes  Musikstückes  gerade  um  1823  herum,  gewagt.  Was 
Beethoven  mit  ihm  gewollt  hat,  ist  klar:  »Er  hat  uns  den  Frieden  wieder 
gegeben,  er,  der  regieret  in  Ewigkeit« ').  Aber  durfte  er  wirklich  bei 
der  großen  Menge  voraussetzen,  daß  sie  das  Messiasmotiv  kannte 
und  in  seiner  symbolischen  Bedeutung  erkannte?  Schwerlich.  Aller- 
dings müssen  wir  bedenken,  daß  sich  dieses  Werk  mit  seinen  un- 
geheuer gesteigerten  Ausführungs-  und  Ausdrucksmitteln  nur  an  einen 
kleinen  und  auserwählten  Kreis  besonders  Gebildeter  richtete.  In 
neuerer  Zeit  hat  wieder  Alb.  Becker  in  sehr  wirksamer  Weise  Choräle 
in  seiner  großen  B-Moll-Messe  zitiert,  überall  in  symbolischer  Funk- 
tion. Kretzschmar -)  erinnert  bei  dieser  Gelegenheit  an  Cornelius,  der 
seinen  Weihnachtsliedern  »die  kunstmäßige  Hausmusik  des  Chorals 
wieder  zuführt«.  Einen  großen  Teil  ihrer  Popularität  verdanken  diese 
Lieder  in  der  Tat  den  Choralzitaten. 

Ich  fasse  die  Ergebnisse  dieser  Studie  dahin  zusammen: 
1.  Symbolische  Bedeutung  kann  die  Musik  aus  innerer  Kraft 
heraus  nur  in  seltenen  Fällen  gewinnen.  Regelmäßig  bleibt  der  ab- 
soluten Musik  die  Symbolik  verschlossen.  Ein  verstandesmäßiges 
Beziehen  von  Tönen  auf  Begriffe  und  Gedanken  findet  kaum  je  statt 
Nur  dort,  wo  Dichtung  und  Programm  selbst  symbolische  Elemente 
aufweisen,  braucht  die  Musik  nicht  in  allgemeiner  Parallelität  zur  Dich- 
tung zu  verharren  und  sich  auf  die  reine  Tonschönheit  zu  beschrän- 
ken. Sie  kann  vielmehr,  sei  es  durch  Hilfe  tonmalerischer  Vorstellungen, 
sei  es  durch  analogiebare  Charakteristik  Tonreihen  aufstellen,  die  eine 
verstandesmäßig  erfaßbare  Beziehung  zum  Symbol  des  Textes  ent- 
halten. Aber  ebensowenig  wie  die  auf  Tonmalerei  begründeten 
Tonwendungen  eben  nur  eine  Analogie  mit  optischen  und  akustischen 
Außenvorgängen  vorstellen,  vielmehr  überall  gleichzeitig  Gefühlswerte 
besitzen,  ist  auch  die  auf  Versinnbildlichung  eines  Abstrakten  ge- 
richtete Vokal-  bzw.  Programmmusik  immer  bis  auf  gewisse  Ausnahmen 
in  den  Bildungen  des  17.  Jahrhunderts  gleichzeitig,  ja  in  erster  Linie 
gefühlserfüllt,  so  daß,  wenn  die  verständesmäßige  Aufnahme  versagt, 
immer  noch  die  gefühlsmäßige  Einwirkung  lebendig  bleibt.     Wie  wir 


')  Kretzschmar,  Führer  II,  1  S.  216. 
ä)  A.  a.  O.  S.  248. 


42  HUGO  GOLDSCHMIDT. 


für  das  Gebiet  der  Tonmalerei  ein  Fortschreiten  von  der  Treue  des 
Bildes  zu  einer  immer  mehr  erstarkenden  Stilisierung  und  Kräftigung 
des  gefühlsmäßigen  Inhalts  feststellen  konnten,  so  dürfen  wir  auch 
für  die  Symbolik  ein  immer  mehr  fortschreitendes  Hervortreten  des 
Gefühls  gegenüber  den  symbolischen  Elementen  feststellen.  Nur  hat 
sich  geschichtlich  dieser  Prozeß  für  das  Gebiet  der  Symbolik  schneller 
vollzogen,  eigentlich  in  dem  Wirken  eines  Mannes,  Seb.  Bachs.  Er 
hat  keine  symbolisch  gedachten  Tonkomplexe  mehr  aufgestellt  oder 
doch  nur  ganz  vereinzelt,  die  ohne  das  Erkennen  ihrer  symboli- 
schen Eigenschaft  eines  Sinnes  völlig  entbehrten.  Sie  bleiben  alle- 
mal gefühlsinhaltlich  bedeutungsvoll,  mögen  sie  sich  nun  auf  Ton- 
malerei stützen,  also  an  die  Vorstellung  eines  äußeren  Vorganges  an- 
lehnen, oder  aus  freier  analogiebarer  Charakteristik  herauswachsen. 

2.  Gegenüber  gewissen  Ausschreitungen  der  Bachschen  Kirchen- 
musik muß  daran  erinnert  werden,  daß  sie  eben  nicht  ausschließ- 
lich ästhetische  Zwecke  verfolgt,  sondern  auch  außerästhetische: 
religiöse.  Sie  will  der  Gemeinde  den  Inhalt  der  Dichtung  recht  nahe 
bringen.  Wie  die  Kunst  des  Porträtmalers  auf  die  Ähnlichkeit,  so  geht 
die  Kirchenmusik  auf  die  Veranschaulichung  des  Textes  in  erster  Linie 
aus.  Einen  bedeutenden  Einfluß  auf  Bachs  Schaffensweise  hat  hier 
auch  die  rationalistische  Denkweise  seiner  Zeit  ausgeübt. 

3.  Die  nicht  überall  abzuleugnende  Realistik  der  Themenkonstruk- 
tion erfährt  aber  eine  wohltätige  Abschwächung  durch  die  künstliche 
Einstellung  in  den  Gesamtverlauf.  Von  diesem  Gegenstand  denke 
ich  ein  anderes  Mal  zu  handeln. 


■I 


II. 

Erfindung  und  Entdeckung. 
Zwei  Grundbegriffe  der  Literaturpsychologie. 

Von 

Charlotte  Bühler. 


I.  Dichtungsinhalt 

1.  Einleitung.  Die  Begriffe.  Es  ist  in  der  Kunst  wie  in  der 
Wissenschaft:  nur  der  irgendwie  Neues  zu  bieten  hat,  und  sei  es 
auch  noch  so  klein,  kann  überhaupt  den  Anspruch  erheben,  irgend 
etwas  zur  Kunst  oder  Wissenschaft  Gehöriges  geschaffen  zu  haben. 
Diese  Neuheiten  können  zweierlei  Art  sein.  In  der  Wissenschaft  hat 
man  schon  längst  zwei  Ausdrücke  dafür  mit  präzis  unterschiedenem 
Sinn,  in  der  Kunst  hoffen  wir  sie  heimisch  zu  machen  und  ihnen  in 
exakter  Sinnbestimmung  Platz  anzuweisen:  es  sind  das  die  Begriffe 
Erfindung  und  Entdeckung. 

Jedermann  sind  wohl  schon  zwei  in  der  Kunst  vorherrschende 
Hauptbestrebungen  aufgefallen,  der  Wunsch  der  einen,  möglichst 
originell  zu  sein,  möglichst  Seltenes,  Seltsames,  Außergewöhnliches 
interessant  Erfundenes  zu  gestalten,  und  das  diesem  feindliche  Be- 
streben der  anderen,  möglichst  gar  nicht  aus  der  Wirklichkeit  heraus- 
zugehen, ihre  Erscheinungen  und  Gesetze  getreu,  aber  in  neuer  Be- 
leuchtung wiederzugeben,  Entdeckungen  an  ihr  zu  machen.  Da- 
zwischen gibt  es  vermittelnde  Verfahren.  Aber  die  beiden  Arten  sind 
die  einzig  möglichen,  Neues  zu  bringen.  Wir  enthalten  uns  jeder 
Wertäußerung  über  die  eine  und  die  andere.  Das  große  Kunstwerk 
ist  eine  harmonische  Synthese  beider.  Wir  wollen  hier  ohne  Wertung 
nur  die  eine  und  die  andere  kennen  lernen,  psychologisch  ihr  Wesen 
ergründen  und  ihre  Leistungen  analysieren.  Das  ist  die  Aufgabe  dieses 
und  später  folgender  Versuche. 

Franz  Kafka  erzählt  in  einer  grotesken,  symbolisierenden  Novelle, 
»Die  Verwandlung«  betitelt,  wie  ein  junger  Mann,  Reisender  von 
Beruf,  eines  Morgens  mit  einer  merkwürdigen  Starrheit  in  den  Gliedern 
in  seinem  Bette  aufwacht,  wie  er  vergebens  wartet,  daß  diese  Unmög- 
lichkeit sich  zu  rühren  und  aufzustehen,  von  ihm  weiche;  wie  er  ver- 


44  CHARLOTTE  BÜHLER. 


gebens  hofft,  aus  einem  gräßlichen  Traum  zu  erwachen,  der  ihm  vor- 
täuscht, er  sei  über  Nacht  plötzlich  ein  riesengroßer  Käfer  geworden; 
wie  sich  ihm  allmählich  durch  eine  Reihe  zwingender  Beweise  das 
Gräßliche  als  Wahrheit  bestätigt:  in  der  Tat,  er  ist  über  Nacht  ein 
riesiger  Käfer  geworden.  Seine  Familie  entsetzt;  er  selbst  ratlos,  un- 
fähig etwas  zu  tun.  Alle  naturwissenschaftlichen  Folgen  einer  so 
gräßlichen  Verwandlung  werden  konsequent  entwickelt,  bis  dieser 
arme  Käfermensch  nach  kurzer  körperlich  und  seelisch  qualvoller 
Leidenszeit  zugrunde  geht.  —  Man  sieht:  eine  Erfindung,  symbolisch 
zu  deuten.  Erfindungen  dieser  Art,  Verwandlungen  bietet  auch  das 
Märchen,  nur  harmlos,  ohne  Überlegung  tragischer  Folgen,  ohne  Aus- 
malung grauenerregender  Einzelheiten.  Es  gibt  noch  andere  wie  Ver- 
wandlungserfindungen. Riese  und  Zwerg  sind  Erfindungen  der 
steigernden  Phantasie,  die  Sphinx  ist  eine  Kombinationserfindung. 
Das  sind  ein  paar  wichtigste  Formen.  Jeder  versteht  sofort  ohne 
weiteres  die  Anwendung  unseres  neuen  Terminus. 

Etwas  schwieriger  ist  es  mit  der  Entdeckung.  Einen  als  Ganzes 
neu  entdeckten  Inhalt  mit  Sicherheit  nachzuweise:i,  möchte  ich  mir 
nicht  zutrauen,  es  ist  das  eine  spezifisch  literarhistorische  Aufgabe. 
Gemeinhin  bestehen  die  Entdeckungen  in  der  Kunst  in  Entdeckung 
von  Qualitäten,  weiter  von  neuartig  geschauten  Beziehungen  zwischen 
Menschen  und  Dingen,  von  Sachverhalten,  die  an  sich  vielleicht  schon 
bekannt,  aber  durch  neue  Analyse,  neue  Einfühlung  wie  in  neuem  Ge- 
wände neu  entdeckt  dastehen.  Ich  erinnere  z.  B.  nur  an  die  Ent- 
deckung des  Milieu  in  seiner  Wichtigkeit  für  die  Erklärung  und  Be- 
schreibung der  Persönlichkeit;  an  die  Entdeckung  des  alltäglichen 
Menschen  für  das  Kunstwerk,  das  vorher  nur  den  außergewöhnlichen 
Menschen  darstellte;  an  die  Entdeckung  der  Detailschilderung  im  Natu- 
ralismus. Ich  möchte  als  Beleg  vorläufig  nur  auf  einige  überraschende 
Prädikats-  und  Attributsbezeichnungen  hinweisen,  wie  man  sie  in 
moderner  Dichtung  gehäuft  vorfindet,  Bezeichnungen,  die  durch  neu 
entdeckendes  Schauen  gewonnen  wurden.  Ich  entnehme  etwa  einem 
Gedicht  von  Rilke:  »die  Gassen  haben  einen  sachten  Gang, /wie 
manchmal  Menschen  gehen  im  Genesen  /  nachdenkend:  was  ist  früher 
hier  gewesen? /und  die  an  Plätze  kommen,  warten  lang  auf  eine 
andre,  die  mit  einem  Schritt  /  über  das  abendklare  Wasser  tritt...« 
Oder:  »In  jenen  kleinen  Städten,  wo  herum  /  die  alten  Häuser  wie 
ein  Jahrmarkt  hocken  . . .«    Oder:  Spanische  Tänzerin: 

»Wie  in  der  Hand  ein  Schwefelzündholz,  weiß, 
Eh  es  zur  Flamme  kommt,  nach  allen  Seiten 
Zuckende  Zungen  streckt  — :  beginnt  im  Kreis 
Naher  Beschauer,  hastig,  hell  und  heiß 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  45 

Ihr  runder  Tanz  sich  zuckend  auszubreiten. 

Und  plötzlich  ist  er  Flamme  ganz  und  gar. 

Mit  ihrem  Blick  entzündet  sie  ihr  Haar 

Und  dreht  auf  einmal  mit  gewagter  Kunst 

Ihr  ganzes  Kleid  in  diese  Feuersbrunst, 

Aus  welcher  sich,  wie  Schlangen  die  erschrecken. 

Die  nackten  Arme  wach  und  klappernd  strecken. 

Und  dann,  als  würde  ihr  das  Feuer  knapp. 

Nimmt  sie  es  ganz  zusamm  und  wirft  es  ab 

Sehr  herrisch,  mit  hochmütiger  Gebärde 

Und  schaut:  da  liegt  es  rasend  auf  der  Erde 

Und  flammt  noch  immer  und  ergibt  sich  nicht. 

Doch  sieghaft  sicher,  und  mit  einem  süßen 

Orüfknden  Lächeln  hebt  sie  ihr  Gesicht 

Und  stampft  es  aus  mit  kleinen  festen  FüBen.« 

Das  sind  Entdeckungen  am  Tanz.  Es  müßte  eine  fesselnde  Auf- 
gabe sein,  eine  Sammlung  von  Entdecl<ungen  und  Erfindungen  aus 
der  Literaturgeschichte  herauszuanalysieren.  Ein  so  für  den  Psycho- 
logen bereitgestelltes  Material  wäre  eine  glänzende  Forschungsgrund- 
lage zu  systematischer  Analyse  der  Leistungen  dichterischer  Phantasie. 
—  Entdeckung  und  Erfindung  sind  psychologisch  natürlich  keine 
einfachen  Begriffe,  aber  zwei  psychologisch  brauchbare  Sammelbegriffe, 
von  denen  aus  man  weiterkommt.  Mich  dünkt,  die  Erforschung  der 
Abhängigkeitsverhältnisse  in  Inhalt  und  Form  von  Kunstwerken  würde 
bedeutend  an  Klarheit  und  Übersichtlichkeit  gewinnen,  wenn  man 
das  jedesmalige  Neue  mit  genauen  Begriffen  fassen  und  analysieren 
könnte. 

2.  Wechselseitiges  Sichbedingen,  Beeinflussen,  Kompli- 
zieren der  Begriffe  in  der  Entwicklung.  In  den  Realwissen- 
schaften haben  die  beiden  Worte  > Erfinden«  und  »Entdecken«  einen 
sehr  präzis  umschriebenen  Sinn.  Erfindung  ist  die  absolute  Neu- 
schöpfung, aus  der  Analyse  und  Synthese  bekannter  Komplexe  und 
Elemente  hervorgehend;  Entdeckung  ist  die  Auffindung  vorhandener 
Dinge,  die  man  vorher  nicht  kannte  und  nicht  sah.  Amerika  und  die 
Fallgesetze  wurden  entdeckt,  aber  Buchdruckerkunst  und  Schießpulver 
wurden  erfunden. 

Die  Unterscheidung  der  beiden  Begriffe  hat  auch  psychologisch 
ihren  guten  Sinn.  Jede  Abstraktion,  die  neu  vollzogen  wird  (sei  es 
die  eines  einzelnen  Objektes,  einer  Qualität,  eines  Sachverhalts  oder 
einer  Gruppierung  von  Elementen,  womit  eine  vereinfachende  Kombi- 
nation geschaffen  wird),  ist  eine  Entdeckung.  Mittel  zu  abstrahieren- 
dem Entdecken  ist  nicht  nur  die  Abstraktion,  welche  aus  dem  Wahr- 
nehmen und  aus  dem  Denken  entnimmt,  sondern  vor  allem  auch  die 
Abstraktion  aus  einem   sehr  komplexen  Auffassungsprozeß,  aus   der 


46  CHARLOTTE  BÜHLER. 


Einfühlung ').     Der  Erfindung  dient  die  neuartige  Zusammenfassung, 
neuartige  Übertragung,  steigernde  Ausgestaltung. 

Auf  den  ersten  Blick  sollte  man  meinen,  daß  gewisse  Abstrak- 
tionen, also  Entdeckungen,  etwa  das  Erfassen  von  Dingen  und  Eigen- 
schaften, Voraussetzungen  alles  übrigen  und  das  Erste  sind.  Eine 
Analyse  der  Schimpansenleistungen  hat  indessen  die  Annahme  einer 
Art  handwerklicher,  technischer  Erfindungen  des  spielenden  Zufalls 
wahrscheinlich  gemacht,  die  von  Entdeckungen  unabhängig  entstünde^). 
Gleichviel,  ein  Prioritätsstreit  hat  hier  kein  Interesse.  Auch  nicht  der 
Prioritätsstreit,  ob  wohl  die  Abstraktion  von  Qualitäten  oder  von  Sach- 
verhalten früher  ist.  Es  kommt  hier  nichts  darauf  an.  Daß  die  Sonne 
scheint,  muß  aus  dem  Komplex  von  Wahrnehmungen  ebenso  wohl 
einmal  abstrahierend  herausgelöst  werden  wie  ihre  Helligkeit  oder 
Wärmekraft  oder  die  Sonne  überhaupt  als  Gegenstand.  Im  Kindes- 
alter differenziert  das  Stadium  der  Benennungen  die  Objekte,  und  so- 
bald nur  einige  Termini  da  sind,  werden  auch  Sachverhalte  und  Quali- 
täten herausgelöst.  Jedes  erstmalige  Herauslösen  ist  eine  Entdeckung, 
von  der  Person  aus  betrachtet,  die  sie  zum  ersten  Male  macht.  Jeder 
einzelne  muß  für  sich  eine  große  Anzahl  solcher  Entdeckungen  noch 
einmal  machen,  die  für  die  Gesamtheit  schon  gemacht  wurden. 
Schöpferisch  nennt  man  die  Entdeckungen,  welche  der  Gesamtheit 
Neues  zeigend  vorangehen.  Ein  Pädagoge  wie  Rousseau  war  der 
Ansicht,  man  solle  jeden  Menschen  alle  wichtigen  Errungenschaften 
der  Kultur  und  Zivilisation  von  neuem  entdecken  lassen.  Gegen 
dieses  Prinzip  hat  man  indes  eingewandt,  daß  es  viel  Fehlwege  un- 
nötig beschreiten,  viel  falsche  Assoziationen  unnötig  sich  bahnen  läßt, 
abgesehen  davon,  daß  es  zeitraubend  und  umständlich  ist,  und  so 
teilt  man  denn  das  meiste  an  überkommenem  Gut  praktischer  und 
theoretischer  Funde  dem  Zögling  als  Tatsache  mit.    Die   Fülle  der 


')  Worringer  hat  in  seinem  gehaltvollen  Buch  »Abstraktion  und  Einfühlung« 
die  beiden  Prozesse  in  einen  vielleicht  kunstgeschichtlich  berechtigten,  aber  psycho- 
logisch nicht  haltbaren  Gegensatz  gebracht.  Die  durch  einfühlende  Versenkung 
in  einen  Gegenstand  gewonnene  Erfassung  schließt  eine  nachmalige  Abstraktion 
d.  h.  eine  Vernachlässigung  gewisser  unwichtiger  Teile  des  Erlebnisses  nicht  aus, 
ja  die  künstlerische  Darstellung  kann  solcher  Auslese  gar  nicht  entraten.  Das 
Problem  der  Einfühlung,  dieses  vielumstrittenen  Phänomens,  erfordert  eine  ge- 
sonderte Behandlung.  Setzen  wir  hier  den  Komplex  von  Prozessen,  der  als  Ein- 
fühlung zu  bezeichnen  ist,  als  gegeben  wie  die  Wahrnehmung  und  das  Denken, 
so  können  wir  zweifellos  auch  von  einer  Abstraktion  aus  der  Einfühlung,  einer 
Auslese  aus  dem  durch  Einfühlung  Erfaßten  sprechen.  Eines  weiteren  bedarf  es 
hier  nicht. 

')  Karl  Bühler,  Abriß  der  geistigen  Entwicklung  des  Kindes.  Wissenschaft 
und  Bildung  156,  1919.    S.  54  »das  Werkzeugdenken«. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  47 

also  Übernommenen  Tatsachen  ist  unübersehbar,  und  es  läßt  sich 
oft  gar  nicht  mehr  zuverlässig  erkennen  und  unterscheiden,  ob  ur- 
sprünglich Entdecktes  oder  Erfundenes  vorliegt.  Mit  dieser  Frage 
stehen  wir  in  der  Literatur  zum  Beispiel  häufig  den  Märchenmotiven 
gegenüber.  Sie  scheinen  uns  oft  von  fabelhaftem  Erfindungsgeist, 
d.  h.  Kombinationsfalent  zu  zeugen,  wenn  in  Wahrheit  vor  alten  Zeiten 
ihnen  eine  uns  nicht  mehr  erkennbare  Entdeckung,  Beobachtung 
zugrunde  lag.  (Beispiel:  das  Kentaurenmotiv.)  Im  Märchen  ist  es 
daher  ungeheuer  schwer  und  gefährlich,  die  Motive  hinsichtlich  ihrer 
Entstehung  einzureihen,  eine  Aufgabe,  die  dem  erfahrenen  Märchen- 
forscher von  Fach  überlassen  bleiben  muß. 

Die  einfachsten  Qualitäten  mußten  ebenso  erst  einmal  entdeckt 
werden  wie  später  die  subtileren.  >Da  wurden  ihrer  beider  Augen 
aufgetan,  und  sie  wurden  gewahr,  daß  sie  nackt  waren,«  heißt  es  in 
der  Bibel  von  Adam  und  Eva.  Gerade  einjährig  entdeckte  meine 
Tochter  die  erste  Qualität,  zu  der  sie  sogleich  die  Benennung  lernte, 
das  »heiß«  der  Heizung.  Als  Qualität  von  Speisen  wurde  es  später 
wiedererkannt,  dem  Namen  nach  anfangs  auch  oft  mit  dem  Gegenteil 
»kalt«  verwechselt,  aber  gar  nicht  allzu  lange  später  doch  schon  von 
dem  »nur  warm«  nuanciert  und  unterschieden.  Mit  den  einfachen 
Einzelqualitäten  werden  auch  ihre  Grade  und  Differenzierungen  bald 
entdeckt,  vermutlich  auf  Grund  von  Vergleichungen.  Erfindung  aber 
erst  gestaltet  sie  steigernd  aus  über  das  gekannte  Maß  hinaus,  nach- 
dem das  Verfahren  der  Weiterbildung  am  Beobachteten  erfaßt  ist. 
Riese  und  Zwerg,  Zwölfmännerkraft  und  Siebenmeilenstiefel,  das 
Schlaraffenland  und  das  Tischlein  deck  dich  und  andere  Erfindungen 
dieser  Art  sind  Steigerungen  über  das  Beobachtete  hinaus. 

Neue  subtilere  Entdeckungen  überflügeln  sie  und  bereiten  neue 
Erfindungen  vor.  Da  sind  z.  B.  die  Ähnlichkeiten  von  Qualitäten,  die 
Grundlage  des  dichterischen  Vergleichs.  Oft  gleiciit  der  Nebel  oder 
eine  Wurzel  des  Waldes  einer  Gestalt,  man  glaubt  eine  menschliche 
Gestalt  zu  entdecken  und  erfindet  ihr  ein  Wesen,  wie  es  zum  Beob- 
achteten paßt.  Hier  ist  bereits  die  kombinierende  Erfindung  mittätig 
und  zwar  ist  sie  hier  geleitet  von  der  Beobachtung,  die  Erfindung  hat 
Direktive.  Anatole  France  beschreibt  in  »Putois«  psychologisch  sehr 
interessant  und  einleuchtend  das  Zustandekommen  einer  Phantasie- 
gestalt durch  eine  in  bestimmter  Weise  dirigierte  Erfindung:  um  dem 
unliebsamen  Besuch  einer  Tante  zu  entgehen,  sagt  die  Hausfrau,  sie 
beschäftige  nächsten  Sonntag  einen  Gärtner  mit  allerlei  Arbeiten. 
Warum  aber  gerade  Sonntag?  fragt  die  Tante.  Nun  weil  er  gerade 
dann  durch  die  Gegend  komme  und  Zeit  habe,  er  sei  ein  wandernder 
Handwerksbursch.    Sieht  er   am  Ende  so  und    so  aus?    Die  Tante 


48  CHARLOTTE  BÜHLER. 


glaubt  ihn  gesehen  zu  haben.  Ja,  gewiß.  Die  erfundene  Person  be- 
kommt Gestah,  Physiognomie,  auch  einen  Namen  Putois.  Man  schiebt 
sie  bei  jeder  Gelegenheit  als  Sündenbock  vor.  Schließlich  schiebt 
man  ihr  alle  in  der  Gegend  vorkommenden  Diebstähle  in  die  Schuhe, 
auch  die  Verführung  eines  Dienstmädchens,  das  den  Täter  nicht 
nennen  will  —  kurz  Putois  bekommt  mit  der  Zeit  einen  Charakter, 
und  jedermann  glaubt  an  seine  Existenz.  Dieser  geistreiche  Einfall 
ist  psychologisch  höchst  lehrreich.  Das  Zustandekommen  des  Cha- 
rakters heidnischer  Götter,  mythologischer  Personen  ist  nicht  immer 
verschieden  davon.  So  berichtet  ein  chinesisches  Märchen  von  der 
Himmelskönigin,  sie  sei  einem  scheiternden  Schiff  plötzlich  rettend 
erschienen,  das  zur  Zeit  Kienlungs  unter  dem  Minister  Dschou  Ling 
eine  Meerfahrt  unternahm.  Seitdem  gilt  sie  als  Schützerin  der  See- 
fahrer. »Seitdem  stehen  an  allen  Hafenorten  Tempel  der  Himmels- 
königin.« Beobachtung  oder  eine  bestimmte  Absicht  leitet  die  Er- 
findung, wo  sie  nicht  als  Spiel  der  assoziativ  aneinandergereihten, 
einander  zufällig  herbeiziehenden  Vorstellungen  zustandekommt.  Auf 
den  Glasberg  gelangt  das  Mädchen  im  Märchen  vom  »Eisenofen«  mit 
drei  Nadeln,  einem  Pflugrad  und  drei  Nüssen.  Wenn  diese  Zusammen- 
stellung ursprünglich  nicht  einen  heute  vergessenen  Sinn  und  Zu- 
sammenhang hatte,  so  kann  sie  nur  ein  Spiel  solcher  assoziierenden 
Erfindung  sein. 

Doch  die  Erfindung  mit  bestimmter  Absicht  setzt  bereits  die  sub- 
tilere Beobachtung  der  Kausalzusammenhänge  voraus.  (Steter  Tropfen 
höhlt  den  Stein.  Wenn  man  das  und  das  unternimmt,  so  ist  das  und 
das  allemal  der  Effekt.)  Einsichtiges  Erfinden  basiert  auf  dem  Ver- 
ständnis von  Kausal-  und  Zweckzusammenhängen  und  zu  der  Ent- 
deckung von  Zusammenhängen  gehört  dieses  Verständnis  eo  ipso.  In 
welcher  Weise  sich  die  Entdeckung  von  Zusammenhängen  aus  der 
atomisierenden  Herauslösung  einzelner  Momente  entwickelt  hat,  darüber 
könnte  man  nur  Vermutungen  anstellen.  Mein  Mann  meinte,  daß  das 
»machen«,  das  Bewirken  der  erste  derartige  vom  Kind  erlebte  Zu- 
sammenhang sei  *).  Das  Kind  beobachtet,  wieviel  der  Erwachsene  an 
ihm  und  für  es  bewirkt,  macht,  schafft.  Die  Mutter  macht  Essen,  wenn 
man  Hunger  hat,  macht  das  Bett,  macht  den  Ofen  warm,  macht  das 
Spielzeug  ganz  usw.  Die  Art  der  Zusammenhänge,  die  sich  dem  ein- 
zelnen aufdrängen,  zeigt  eine  gewisse  Beharrlichkeit,  ist  eine  Auswahl, 
wie  sie  nicht  nur  Sinnen  und  Verstand,  sondern  auch  dem  Tempe- 
rament des  Individuums  entspricht.  Das  Lustvolle  macht  sich  dem 
einen,  das  Unlustvolle  dem  andern   mehr  und  häufiger  geltend,  das 


')  Karl  Bühler,  a.  a.  O.  S.  147. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  4g 

Müssen  und  Sollen  scheint  sich  dem  einen,  das  Wollen  und  Können 
dem  andern  als  herrschendes  Prinzip  zu  erweisen.  Das  führt  zu  den 
Deutungen  und  zu  den  Weltanschauungen.  Lassen  wir  das  für  später 
und  fragen  wir  uns  zunächst:  wie  sind  Erfindungen  allererst  über- 
haupt möglich?  Was  sind  sie  psychologisch?  Die  Entdeckung  ist  in 
erster  Linie  Abstraktion  aus  der  Wahrnehmung,  dem  Denken,  der  Ein- 
fühlung, wie  zu  besprechen  sein  wird,  und  darauf  beruhende  Kombi- 
nation.    Was  ist  die  Erfindung? 

3.  Psychologie  der  Begriffe.  Nicht  erst  seit  Locke  und 
Hume  besteht  die  Ansicht,  daß  die  Vorstellungen  nur  genaue  Repro- 
duktionen der  Wahrnehmungen  sind.  Nihil  est  in  intelledu,  quod  non 
antea  fuerit  in  sensu.  Das  läßt  sich  für  die  Elemente  zweifellos 
nicht  bestreiten,  für  Gestalten,  Komplexe,  Anzahlen,  Größen  und  so 
weiter,  also  Kombinationen,  aber  keinesfalls  aufrecht  erhalten.  In  dieser 
Hinsicht  ist  schon  die  einfach  reproduzierende  Vorstellung  keine  exakte 
Reproduktion  mehr.  Unter  allen  Umständen  ist  die  Vorstellung  schon 
eine  Vereinfachung  des  Wahrnehmungsbildes  —  wie  weit  sie  auch 
eine  Komplizierung  sein  kann,  darauf  kommt  es  vorerst  nicht  an. 
Vereinfachung  muß  sie  sein,  denn  wahrscheinlich  bringt  die  Vor- 
stellung immer  nur  so  viel,  als  gleichzeitig  beachtet  ist.  Zwischen- 
teile oder  Teile  um  das  Beobachtungsfeld  herum  fallen  aus.  Man 
denke  nur  daran,  wie  zahlloser  Wiederholungen  eines  Anblicks  es 
bedarf,  um  einen  Gegenstand  zeichnerisch  exakt  wiederzugeben. 
Niemals  nimmt  ein  Vorstellungsbild  ihn  in  seiner  Gesamtheit  auf. 
Alles  Vorstellen  steht  daher  bereits  im  Dienste  der  Abstraktion,  der 
beim  Wahrnehmen  die  Aufmerksamkeit  durch  Hervorhebung  schon 
auslesend  in  die  Hand  arbeitet.  Auch  die  Zusammenfassung  in  der 
Vorstellung  ist  daher  selbst  bei  einfacher  Reproduktionstendenz  niemals 
exakte  Reproduktion,  sondern  unter  allen  Umständen  vereinfachende 
Zusammenstellung  (wie  weit  unter  gewissen  Umständen  auch  er- 
weiternde, gehört  wiederum  nicht  hierher).  Zwischenteile  fallen  aus 
oder  Umgebung  fällt  fort,  —  des  letzteren  Verfahrens  bedient  sich  in 
der  Kunst  z.  B.  der  detailschildernde,  scheinbar  völlig  naturgetreue 
Naturalismus.  Es  besteht  also  schon  bei  der  bloßen  Reproduktion 
nicht  nur  die  Möglichkeit,  sondern  sogar  die  Notwendigkeit  einer 
Abweichung  von  der  Wahrnehmung.  Selz  nennt  diesen  Prozeß  repro- 
duktive Ausscheidung.  Wie  weit  geht  indes  darüber  hinaus  nun  die 
Möglichkeit  zu  weiteren  willkürlichen  Abweichungen?  Das  ist  die 
Frage  der  Erfindung  und  Entdeckung.  Leicht  einzusehen  ergibt  sich 
diese  Möglichkeit  bei  einer  weiteren  Ausnutzung  der  Verfahrungsweisen, 
deren  sich  jede  Vorstellung  gegenüber  der  Wahrnehmung  wie  eben 
entwickelt   ohnehin    bedient,   nämlich    aus  der  willkürlichen   weiteren 

Zeitichr.  f.  Ästhetik  u.  «IIk.  Kunstwissenschaft.     XV.  4 


50  CHARLOTTE  BÜHLER. 


Ausnutzung  der  Abstraktionsfähigkeit  und  Kombinationsfähigkeit. 
Überlegen  wir,  was  alles  die  Folge  der  Abstraktion  sein  kann:  zu- 
nächst natürlich  die  Herauslösung  verschiedenster  selbständiger  und 
unselbständiger  Momente  des  Wahrgenommenen,  der  Größe,  Farbe, 
Form  und  aller  Qualitäten,  aber  auch  die  Herauslösung  von  Teilen, 
die  Zerlegung.  Kann  ich  zerlegen,  so  erlaubt  mir  die  Kombinations- 
fähigkeit nun  auch  ohne  weiteres  jede  willkürliche  Zusammenstellung, 
Gruppierung  und  Gestaltung,  auch  jede  Färb-  und  Größenübertragung, 
vorausgesetzt,  daß  ich  auch  solche  unselbständigen  Elemente  willkürlich 
zu  Kombinationen  verwenden  kann,  wie  ja  die  Erfahrung  beweist. 
So  komme  ich  kombinatorisch  zweifellos  zu  ganz  neuen  Objekten,  zu 
Erfindungen.  Das  ist  die  qualitativ  unbegrenzte  Möglichkeit  des  An- 
einanderbaus.  Es  gibt  aber  auch  eine  quantitativ  unbegrenzte  Mög- 
lichkeit desselben.  Niemand  hindert  mich,  Zahlen  und  Größen  ins 
Unendliche  aufeinander  zu  türmen  oder  zu  zerteilen. 

Doch  alle  diese  Möglichkeiten  wären  auf  Grund  der  bisherigen 
Voraussetzungen  nicht  so  unbegrenzte,  wenn  nicht  eine  neue  Ein- 
richtung des  Geistes  hinzukäme,  nämlich  die  Fähigkeit,  diese  Verfah- 
rungsweisen  weit  über  die  Grenzen  des  Angeschauten  oder  Vorstell- 
baren hinaus  auszunützen,  die  Fähigkeit  zu  denken.  Die  erlernte 
Verfahrungsweise,  dazu  ein  anschauliches  Schema  als  Teilgerüst  des 
Weiterbaus  und  die  Sprache  erlauben  es,  im  Gedanken  unbegrenzt 
weiter-  und  auszuführen,  was  die  Vorstellung  nicht  mehr  mitmachen 
kann.  Niemand  hat  Billionen  gesehen  oder  vorgestellt,  aber  er  kann 
die  Anzahl  Billion  denken.  Charakterqualitäten  lassen  sich  überhaupt 
weder  anschauen  noch  vorstellen,  aber  denken  und  darum  doch  kom- 
binieren. Die  Kenntnis  des  Verfahrens  ermöglicht  alles.  Sie  ermög- 
licht vielleicht  auch  jenen  von  Hume  mit  einer  gewissen  Ratlosigkeit 
vorgebrachten  Spezialfall  der  Qualitätenbildung  in  der  Reihe,  den  Hume 
als  unwichtigen  Ausnahmefall  schnell  beiseite  schiebt '). 


')  David  Hume,  Eine  Untersuchung  über  den  menschlichen  Verstand,  heraus- 
gegeben von  R.Richter,  Philos.  Bibl.  35,  6.  Aufl.,  1907,  S.2L  Hume  legt  sich  hier 
die  Frage  vor,  ob  ein  Mensch,  der  alle  Schattierungen  einer  Farbe  bis  auf  eine 
Schattierung  gesehen  habe,  sich  in  der  Schattierungsreihe  dieser  Farbe  die  Lücl<e 
aus  der  Phantasie  ergänzen  i<önne.  Hume  i<ann  nicht  umhin,  diese  Frage  zu  be- 
jahen, so  wenig  das  in  sein  System  paßt,  wonach  nur  das  in  der  Wahrnehmung 
Dagewesene  auch  in  der  Vorstellung  wiederkehren  darf.  Daher  tut  er  diesen  Fall 
auch  schnell  als  einen  ganz  unwesentlichen  und  vereinzelten  ab.  Mit  Unrecht, 
denn  er  ist  ein  Musterbeispiel  für  die  unserer  Phantasie  gesteckten  Grenzen,  die 
nur  dann  noch  um  einen  Schritt  weiter  hinausgeschoben  werden  können,  wenn 
eine  gewisse  in  Ebbinghaus'  »Orundzüge  der  Psychologie«  L  Bd.,  4.  Aufl.,  S.  577  f. 
besprochene  Annahme  zurecht  besteht,  und  in  diesem  Fall  als  durchaus  nicht  ver- 
einzehe,  erfindende  Analogiebildung  auf  Grund  erlernten  Verfahrens  zustandekommt. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  51 

Kombination  und  Abstraktion  sind  keine  Begriffe,  mit  denen  man 
in  der  Literaturwissenschaft  ohne  weiteres  etwas  anfangen  könnte. 
Auch  geben  sie  nicht  vollständig  wieder,  was  in  den  psychologisch 
komplexen  Begriffen  Erfindung  und  Entdeckung  enthalten  ist,  die  in 
der  Literaturwissenschaft  als  Grundbegriffe  gelten  können.  Die  weitere 
psychologische  Auflösung  der  beiden  Prinzipien  ist  des  Psychologen 
Sache  und  noch  eine  schwierige  Aufgabe.  Beides  sind  Prinzipien 
der  Neuschöpfung,  das  eine  jedoch  nur  das  Prinzip  der  Aufzeigung 
des  Neuen,  das  andere  das  der  Neubildungen.  Synthese,  Einheits- 
bildung, Gestaltung  ist  dem  zweiten  von  Natur  eigen,  dem  ersten 
nicht  ohne  weiteres  mitgegeben.  Man  kann  zwar  auch  Zusammen- 
hänge, d.  h.  Komplexe  entdecken,  so  wie  Elemente  selbständiger 
oder  unselbständiger  Natur,  Beziehungen,  Sachverhalte  usw.  Aber 
dem  Prinzip  nach  wäre  das  Zusammenfassen  immer  erst  noch  zu 
vollziehen.  So  ist  die  Natur  des  entdeckenden  Prinzips  relativ  ein- 
fach: es  erschöpft  sich  im  Herauslösen  oder  Abstrahieren.  Das  kann 
in  der  Wahrnehmung,  im  Denken  und  durch  die  Einfühlung  ge- 
schehen. Das  Prinzip  des  Erfindens  ist  erheblich  komplizierter.  Das 
Erfinden  ist  nicht  Neufinden,  sondern  Neubilden.  Da  bedarf  es  erstens 
eines  Materials,  das  entweder  zufällig  gegeben,  selber  schon  entdeckt 
oder  durch  reproduktive  Ausscheidung  und  assoziative  Ergänzung 
bereitgestellt,  nun  zweitens  irgendwie  zu  neuer  Einheit  weitergebildet 
wird,  und  zwar,  wie  die  Beobachtung  lehrt,  auf  zweierlei  Weise:  durch 
additives  oder  kombinierendes  und  durch  steigerndes 
oder  entwickelndes  Verfahren.  Kombination  ist  Einheits- 
bildung durch  Zusammenfügung,  das  Resultat  ist  der 
Komplex.  Otto  Selz  in  seinem  überaus  scharfsinnigen  Aufsatz  »Über 
die  Gesetze  der  produktiven  Tätigkeit« ')  läßt  das  kombinierende  Ver- 
fahren der  künstlerischen  Einheitsbildung  durch  reproduktive  Aus- 
scheidung und  assoziative  Ergänzung  einerseits  und  durch  analogie- 
bildende Konstruktion  andererseits  Zustandekommen.  Dem  schließen 
wir  uns  nicht  ganz  an.  Das  steigernde  Verfahren,  das  unserer  An- 
sicht nach  auch  analogiebildend  ist,  unterscheidet  sich  von  der  Kombi- 
nation. Andererseits  muß  nicht  jede  zielbewußt  konstruierende  Kombi- 
nation analogiebildend,  sondern  kann  auch  allein  von  Zielen  bestimmt, 
auf  entdeckenden  Beobachtungen  fußend  ganz  neubildend  sein.  Also 
die  Analogiebildung  ist  ein  die  anderen  kreuzender  Begriff.  Um  die 
Prozesse  der  Analogiebildung  ein  wenig  genauer  zu  studieren,  gab 
ich  eine  Reihe  von  Aufgaben  zur  Selbstbeobachtung  beim  Verständ- 
nis analogisfischer  Bildungen.     Der  einfachste  Typ  ist  die  Steige- 


')  Archiv  für  die  gesamte  Psych.  Bd.  27,  S.  369. 


52  CHARLOTTE  BÜHLER. 


rungi).  Die  Steigerung  ist  erstens  eine  Wahrnehmungs-  und  Vorstel- 
lungsbiidung  und  kommt  dort  als  Vergrößerung,  Verkleinerung  und 
Häufung  vor,  zweitens  eine  gedankliche  Bildung  und  kommt  dort  als 
Steigern,  Übertreiben,  Aufschneiden  bis  zum  Lügen  vor.  Die  Lüge  hat 
aber  auch  eine  kombinatorische  Form.  Die  Idee  zu  vergrößern,  zu  ver- 
kleinern, zu  häufen,  konnte,  wenn  sie  nicht  als  formale  grundlegende 
Fähigkeit  unseres  Geistes  auch  in  jenen  abstrakten  Formen  angelegt  wäre, 
sonst  noch  aus  Traumbeobachtungen  und  aus  den  Erlebnissen  bei 
dem  Sehen  im  Raum,  das  noch  nicht  perspektivisch  gedeutet  war,  her- 
kommen. Ein  Mensch,  der  aus  der  Ferne  herbeikommt,  wird  immer 
größer,  ein  sich  entfernender  immer  kleiner.  Konnte  das  Prinzip 
dieser  Größenverschiebung  der  Wahrnehmung  und  Vorstellung  ab- 
strahierend entnommen  werden,  so  ist  doch  seine  Ausnutzung  über 
bekannte  Maße  hinaus  Erfindung.  Eine  qualitative  Form  ist  hier  das 
durch  Einfühlung  zu  entnehmende  sich  Entwickeln,  Werden.  Riese 
und  Zwerg  sind  erfunden,  auch  Ahasver,  der  ewige  Jude,  der  ewig 
segelnde  fliegende  Holländer,  der  uralte  Methusalem,  die  Siebenmeilen- 
stiefel usw.  Überall  bei  dem  Auftreten  dieser  Gestalten  in  der  Volks- 
literatur wird  der  Prozeß  der  Steigerung  selbst  oder  der  durch  Steige- 
rung entstehende  Kontrast  der  Größenverhältnisse  genossen  ^).  Anders 

')  Hier  kann  ein  Waclistums-  und  Quantifizierungsprozeß  direkt  erlebt  werden. 
Beispiel:  Aufgabe:  L.  sieht  noch  genau  so  aus  wie  früher,  nur  ist  sie  schlanker 
geworden.  Protokoll:  Ich  sah  zuerst  L  so  wie  sie  jetzt  aussieht,  aber  dick.  Stellte 
mir  L  in  Miniatur  dieser  jetzigen  auf  der  Schulbank  vor.  Von  diesem  Bild  ging 
ich  dann  aus,  ließ  es  wachsen,  stellte  mir  L.  länger  und  dadurch  schlanker  vor. 
Vgl.  auch  die  Protokolle  bei  Sterzinger,  diese  Zeitschr.  Bd.  12,  S.  71,  Prot.  89. 

')  Vgl.  meine  Untersuchung  über  »Das  Märchen  und  die  Phantasie  des 
Kindes«.  Beiheft  17  der  Zeitschr.  f.  ang.  Psych.  1918.  —  Der  Referent  meiner  Mär- 
chenarbeit in  dieser  Zeitschrift  Bd.  14,  S.  311  betont,  »daß  das  Thema  weit  mehr 
Schwierigkeiten  enthält,  als  die  Verfasserin  angenommen  zu  haben  scheint,«  und 
weist  dann  vor  allem  darauf  hin,  daß  der  Volksroman  und  die  Schundliteratur  mit 
dem  Märchen  verglichen  werden  müßten.  Dieser  Rat  freut  mich  sehr,  wenn  er 
auch  etwas  nach  dem  Feste  kommt.  Als  ich  die  Märchenarbeit  schrieb,  waren 
schon  viele  tausend  Seiten  (ich  schätze  zwei  Zentner)  aller  erreichbaren  Volks-  und 
Schundliteratur  durchgearbeitet  und  dieses  Quantum  ist  seither  beträchtlich  gestiegen. 
Von  meinen  Skizzen  in  der  »Hoch wacht«  (8.  und  9.  Jahrg.:  »Zur  Psychologie  der 
Volksliteratur«,  »Die  Personenwelt  im  Volksroman«,  »Die  Motivgruppen  im  Massen- 
roman« usw.)  und  ihrer  praktischen  Verwertung  durch  die  Zensurstelle  im  Berliner 
Polizeipräsidium  brauchte  der  Referent  nichts  zu  wissen.  Aber  jenen  Gedanken, 
den  vor  ihm  und  mir  schon  F.  von  der  Leyen  gehabt  und  angewandt  hat  (vgl. 
meine  Arbeit  S.  3)  und  manches  andere  noch,  was  er  im  Ton  des  Kenners  mir 
vorhält,  hätte  er  in  der  Märchenarbeit  bereits  finden  können.  Wenn  er  noch  ein 
wenig  Geduld  übt,  die  Serie  der  hiermit  eingeleiteten  Studien  abwartet  und  inzwi- 
schen vielleicht  uns  auch  seine  eigenen  Kenntnisse  über  diese  Dinge  mitteilt,  dann 
wollen  wir  am  Ende  aufatmend  gemeinsam  bekennen:  es  war  in  der  Tat  nicht  ganz 
leicht,  aber  wir  sind  durchgekommen. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG. 


53 


ist  es  in  der  hohen  Literatur.  Hier  dient  die  Steigerung  der  Hervor- 
hebung, Verdeutlichung,  Auszeichnung,  kurz  der  ästhetischen  Stili- 
sierung. Stilisierende  Kunst  übertreibt,  hebt  einzelne  Eigenschaften, 
das,  worauf  es  ankommt,  steigernd  hervor  und  über  Mittelmaß  hinaus. 
Man  denke  an  Pfere  Goriots  Vaterliebe,  an  Michael  Kohlhaasens  Ge- 
rechtigkeitssinn. All  das  sind  nur  Andeutungen.  Alle  Arten  größen- 
verschiebender Erfindung  sind  in  primitiver  Literatur  höchst  beliebt, 
sind  Hauptmotive  des  Märchens. 

Nehmen  wir  gleich  die  zweite  Form,  die  dazu  gehört,  die  Ver- 
wandlungen. Die  Verwandlungen  sind  Vorstellungswechsel  be- 
stimmter Art,  Vorstellungsabwandlungen  nach  dem  Gesetz  assoziativer 
Ergänzung.  Die  Verwandlung  behält  die  Identität  der  Person  oder  eines 
Gegenstandes  bei  und  ersetzt  assoziativ  blitzschnell  das  erste  Bild 
durch  ein  zweites.  Die  Schnelligkeit  und  das  Überraschende  des 
Wechsels  sind  hier  zunächst  das  unmittelbar  Belustigende.  Das  zum 
Reh  verwandelte  Brüderchen  des  Märchens  gehört  ebenso  hierher 
wie  der  Zauber  des  Tischlein  deck  dich  und  der  Tarnkappe  sowie 
der  Schlafzauber  im  Dornröschen.  Alles  blitzschnelle  überraschende 
Verwandlung  von  Menschen,  Gegenständen  oder  Situationen.  Im 
Märchen  beruht  wie  im  Traum  die  Verwandlung  meist  nur  auf  zufällig 
einfallender  beliebiger  Assoziation.  Doch  gibt  es  gelegentlich  auch 
determinierte  Verwandlungen  (einer  soll  sich  verstecken  und  wird  so 
klein  wie  eine  Maus).  Zur  Kategorie  der  Verwandlungen  gehört 
psychologisch  auch  das  religiöse  Wunder  und  die  Erscheinung.  Die 
nicht  mehr  naive  Volksliteratur  ersetzt  die  Verwandlungszauber  durch 
ganz  unvermutet  und  plötzlich  freudig  oder  erschreckend  eintretende 
Ereignisse.  Moderne  Erfindungsliteratur  nützt  die  Verwandlung  wieder 
aus  (Kafka,  Die  Verwandlung),  baut  sogar  eine  Metaphysik  der  Ver- 
wandlungen in  ihre  Kunst  hinein  (Wolf,  Das  bist  du!)  oder  benutzt 
eine  spaßhafte  Abart  dieser  Kategorie,  die  psychologisch  ähnliche 
Verkleidung.  Hier  spielt  aber  nicht  das  Moment  der  Plötzlichkeit 
eine  Rolle,  sondern  allein  das  des  Kontrastes,  der  Vorstellungsunter- 
schiebung. Paul  Keller  gründet  in  seinem  Roman  »Ferien  vom  Ich« 
ein  Sanatorium,  wo  jeder  sich  von  seinem  Ich  erholen  soll,  indem  er 
Namen,  Kleid  und  Stand  wechselt  und  niemandem  erkenntlich  als 
Bauer,  Nachtwächter,  Magd  oder  Schankwirt  auf  den  Gütern  des 
Sanatoriums  fungiert.  Ein  Fürst  wird  Knecht  unter  dem  Namen  Pie- 
secke,  der  reiche  Amerikaner,  der  das  Unternehmen  finanziert,  taucht 
in  verschiedenen  Personen  versteckt  immer  wieder  auf  und  gibt  sich 
überraschend  erst  am  Schluß  zu  erkennen,  d.  h.  der  kluge  Leser  durfte 
sich  vorher  schon  ratend  und  ahnend  vergnügen. 

Wie  bei  der  Steigerung  kann  hier  einmal  der  Verwandlungs- 


54  CHARLOTTE  BÜHLER. 


prozeß  erlebt  und  genossen  werden  oder  allein  der  Kontrast  nach 
der  Veränderung.  Johannes  im  Märchen  vom  getreuen  Johannes  wird 
in  dreimaliger  stückweiser  Fortsetzung  des  Prozesses  von  Fuß  bis 
Kopf  zu  Stein,  und  Hofmannsthal  in  seiner  »Frau  ohne  Schatten«  be- 
schreibt die  Versteinerung  seines  Königs  in  mählichem  Fortschritt  des 
Vorgangs. 

Bei  dieser  Form  der  Verwandlung  bleibt  der  Gegenstand  identisch 
und  braucht  nicht  durch  Zusammenfassung  hergestellt  zu  werden,  die 
Handlung  ist  Bildwechsel,  das  Bild  könnte  hin  und  zurück  verwandelt 
werden,  man  geht  gleichwohl  immer  weiter;  doch  eine  andere  Form 
assoziativen  Vorstellungswechsels  läßt  eine  Zusammenfassung  nach- 
träglich erfolgen,  es  sind  das  gewisse  additive  Neukombinationen. 
Nicht  alle  Neukombinationen  sind  assoziativ  gebildet,  denn  Beobach- 
tung statt  Assoziation  kann  hier  auch  die  Grundlage  sein.  Ich  er- 
innere an  den  Kentauren,  den  angeblich  die  Griechen  »entdeckt« 
haben,  als  sie  die  mit  ihren  Pferden  verwachsenen  afrikanischen  Reiter 
kennen  lernten.  Im  Märchen  vom  »Eisenofen«  dagegen  das  Motiv 
drei  Nadeln,  drei  Nüsse  und  ein  Pflugrad  als  Hilfsmittel,  auf  den 
Glasberg  zu  kommen  halte  ich  für  assoziativ  kombiniert.  Nun, 
hier  gebührt  dem  Literarhistoriker  die  Entscheidung.  Es  gibt  da  im 
russischen  Märchen  das  »Hüttchen  auf  Hühnerfüßchen  mit  einem 
Hahnenköpfchen«,  die  griechische  neunköpfige  Hydra,  den  Drachen, 
das  Meerweibchen  mit  Fischschwanz,  dann  Gruppen  dieser  Art  wie: 
die  Hexe  auf  dem  Besenstiel,  die  vier  Bremer  Stadtmusikanten  usw. 

Ich  suchte  schon  an  anderer  Stelle  darzutun  (vgl.  Anm.  2,  S.  52),  daß 
diese  Neukombinationen  in  der  Vorstellung  nicht  ganz  leicht  vollzieh- 
bar sind.  Erstens  bestehen  hinsichtlich  der  Anzahl  der  in  einer 
Gruppe  anschaulich  zusammenfaßbaren  Elemente  offenbar  Beschrän- 
kungen. Die  Vierzahl  bei  den  Bremer  Sfadtmusikanten  überschreitet 
für  meine  persönliche  Vorstellungsfähigkeit  schon  die  Grenze  des  zu- 
sammen und  gleichzeitig  Auffaßbaren.  Das  Märchen  übt  in  dieser 
Hinsicht  eine  weise  Beschränkung.  Es  weiß,  daß  seine  Hörer  wesent- 
lich auf  die  Anschauung,  weniger  auf  das  Denken  angelegt  sind,  und 
gibt  statt  gleichzeitig  aufzufassender  Gruppen  bei  mehr  als  zwei  bis 
drei  Elementen  vorzugsweise  Sukzessionsreihen:  es  läßt  in  der  Vor- 
stellung wandern.  Es  ist  hier  wie  bei  den  Steigerungen:  nur  das 
Denken  erlaubt  uns,  mit  der  bekannten  Verfahrungsweise  die  der  An- 
schauung gesetzten  Grenzen  zu  überschreiten.  Eine  zweite  Schwierig- 
keit besteht  für  die  Anschauung  hinsichtlich  der  Qualität  des  Zu- 
sammenfaßbaren. Kann  ich  in  der  Vorstellung  beliebige  Stücke  an- 
einandersetzen?  Wie  ist  es  da  mit  den  Ansatzstellen?  Schon  Berkeley 
hat  sich  mit  dem  Problem  beschäftigt.    Er  meint:  »Ich  kann  die  Hand, 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  55 

das  Auge,  die  Nase,  jedes  für  sich  abstrakt  oder  getrennt  von  den 
übrigen  Teilen  des  Körpers  betrachten,  und  ich  kann  dann  beliebig 
die  abstrahierten  Teile  zu  neuen  Gebilden  zusammensetzen,  »kann  mir 
einen  Mann  mit  zwei  Köpfen  oder  auch  die  oberen  Teile  eines  Men- 
schen mit  dem  Leibe  eines  Pferdes  verbunden  vorstellen«  ^).  Hier 
leistet  unsere  Phantasie  ja  in  der  Tat  Erstaunliches.  Zahllose  Kombi- 
nationen sind  uns  geläufig  wie  Naturgegenstände:  Der  Engel  mit 
Flügeln  am  Menschenleib,  der  Teufel  mit  Bockfuß  und  Hörnern,  der 
Kentaur,  die  Sphinx,  die  Nixe.  Beträchtlich  schwerer  fällt  mir  schon 
die  Vorstellung  der  russischen  Baba-Jaga,  mit  einem  Knochenbein  auf 
dem  Ofen,  den  Kopf  im  Rauchfang,  die  Beine  auf  der  Erde.  Da  hilft 
sich  die  Phantasie  oft  mit  einem  Vorstellen  im  Nacheinander,  mit  suk- 
zessiver Beachtungshervorhebung  und  überläßt  die  Zusammenfassung 
allein  dem  Erfassen  durch  das  Wissen.  Ich  sehe  bei  dem  russischen 
Hüttchen  auf  Hühnerfüßchen  mit  einem  Hahnenköpfchen  etwa  nach- 
einander den  unteren  und  oberen  Teil  der  Hütte.  Die  Kunst  der 
Frau,  sich  geschmackvoll  zu  kleiden,  beruht  im  wesentlichen  auf  der 
Gabe,  verschiedene  Kleidungsbestandteile  im  voraus  richtig  zusammen 
vorzustellen,  was  eben  bekanntlich  nicht  ganz  leicht  ist. 

Erfundene  Neukombinationen  sind  auch  die  erfundenen  Deutungen, 
d.  h.  die  erfundenen  Kombinationen  von  Ursache  und  Wirkung,  von 
Kausation.  So  wenn  Naturvölker  In  ihren  Mythen  die  Entstehung 
von  Naturphänomenen  (Farbe  von  Tieren,  Entstehung  des  Ungeziefers) 
erklären  oder  wenn  sie  die  Seele  ins  Ei  lokalisieren,  sie  mit  dem  Hauch 
oder  Atem  identifizieren  usw. 

Hierher  gehört  nun  schließlich  die  kombinierende  Analogie- 
bildung, die  zweite  Form  der  Analogiebildungen,  die  dem  oben 
beschriebenen  Wachstums-,  Quantifizierungs-  oder  Entwicklungspro- 
zeß entgegensteht. 

Auch  von  diesem  Vorgang  geben  unsere  Protokolle  eine  Vor- 
stellung-).   Er  besteht  in  einem  dauernden  Vergleichen,   Angleichen 


')  Berkeley-Überweg,  2.  Aufl.,  187Q,  Einl.  S.  6. 

')  Aufgabe:  Adolf  sah  von  hinten  aus  wie  Bernhard,  von  vorn  allerdings  ganz 
anders  (B.  war  der  Vp.  gut  bekannt,  aber  lange  nicht  mehr  begegnet,  A.  am  Tag 
zuvor  zum  ersten  Male  gesehen  worden).  Protokoll:  »Sehe  B.  von  mir  fortgehend. 
Ich  versuchte  krampfhaft,  auch  von  vorn  eine  Ähnlichkeit  herzustellen,  dachte  z.  B. 
gar  nicht  an  die  viel  dunklere  Haarfarbe  von  A.,  Nase  verlängert,  Kneifer,  schwarze 
Augen  nicht  gesehen.  Umbildung  in  helleren  Typ  absichtlich.  Identität  mit  A., 
aber  B.'s  Bild  immer  viel  lebendiger.  B.  in  der  Stadt  B.  gewußt,  A.  in  M.,  vor  mir 
gesehen,  in  Haltung,  die  A.  gar  nicht  innehatte.  Dann  wanderten  meine  Augen  zwi- 
schen A.  und  B.  hin  und  her.  Haare  von  A.  wurden  heller,  A.  hatte  dann  plötzlich 
B.'s  Gesicht,  ich  vergaß  ganz  A.'s  eigenes  Gesicht.«  Aufgabe:  Der  Orizzly-Bär  ist  ein 
Bär  von  besonderer  Größe.    Protokoll:  Bären  mit  spitzen  Ohren  auf  einem  Baum 


55  CHARLOTTE  BÜHLER. 


bis  ZU  schließlichem  Identifizieren  der  analog  zu  bildenden  Gegen- 
stände, die  in  der  Vorstellung  oder  auch  nur  in  Gedanken  zu  eins 
verschmelzen,  wobei  sie  dann  in  der  Vorstellung  ruhig  nebeneinander 
bestehen  bleiben.  So  geht  praktisch  etwa  der  Zoologe  vor,  der  aus 
Knochenresten  ein  Skelett  rekonstruiert  (Selz).  Aber  auch  die  einfache 
Übertragung  eines  Merkmals,  einer  Eigenschaft  gehört  hierher.  Sie 
ist  einfacher  als  die  vorhin  besprochene  Neukombination.  Dem  Stuhl, 
den  Kleidern,  dem  Teller,  Besteck  und  dem  Apfel  des  Märchenkönigs 
wird  im  Vorübergehen  oder  auch  dauernd  das  Merkmal  »golden« 
beigelegt.  Da  bleibt  alles  gleich,  nur  eins  tritt  hinzu  oder  verwan- 
delt sich. 

Die  Entdeckung  erlangt  ihre  Bedeutung  für  Kunst  und  Wissenschaft 
dadurch,  daß  sie  im  Dienst  einer  Deutung  der  Welt  und  des  Lebens 
vorzüglich  verwendbar  ist,  nachdem  die  erfindende  Deutung  versagt  hat. 
Sie  befriedigt  stets  das  kausale  Fragen  und  Denken.  Die  Erfindung 
ist  in  der  Kunst  das  eigentliche  Spiel.  Sie  kann  aus  bloßem  Spiel 
der  sich  selbst  überlassenen  Vorstellungen  hervorgehen,  ist  aber  auch 
zwecksetzendem  Denken  dienstbar  zu  machen,  in  Kunst  und 
Wissenschaft.  Man  kann  mit  Einsicht  und  unt^r  der  Direktive  einer 
Aufgabe  erfinden,  aber  auch  durch  bloßen  Zufall,  d.  h.  durch  Spiel 
assoziierter  Vorstellungen.  Diese  beiden  Formen  der  konstruktiven 
und  der  assoziativen  Erfindung  seien  schon  hier  unterschieden. 

4.  Formen  von  Erfindungen  und  Entdeckungen.  Das 
beste  Beispiel  eines  zum  größeren  Teil  auf  Konstruktion  beruhenden 
Erfindungsromans  scheint  mir  unter  älteren  Vorbildern  »der  Graf  von 
Monte  Christo«  von  Dumas  zu  sein.  Determiniert  ist  hier  das  Ziel, 
die  Geschichte  einer  Rache  soll  in  Form  eines  außerordentlichen  und 
spannenden  Schicksals  dargestellt  werden.  Doch  kommt  es  nicht 
darauf  an,  die  Außerordentlichkeit  in  Eigenschaften  aufzuspüren,  wie 
das  Leben  sie  weist,  wie  etwa  Balzac  sie  an  seinen  lebenswahrsten 
Gestalten  erstaunlich  enthüUt.  Sondern  es  muß  erfunden,  ganz  neu 
gemacht  sein.  Auch  Balzac  zeigt  gewöhnlich  nicht  alltägliche  Figuren. 
Aber  es  ist  bei  ihm  so,  daß  eine  im  Leben  faßbare  Eigenschaft,  oft 
eine  Tugend  (Pere  Goriot)  zum  Extrem  gesteigert,  ad  absurdum  ge- 
führt und  mit  den  tragischen  Konsequenzen  ihrer  Ausschließlichkeit 
und  Gewaltsamkeit  belastet  wird.     Der  Graf  von  Monte  Christo  da- 


sitzen sehen,  wie  ich  ein  Bild  kenne.  Bei  »Größe«  sehe  ich  ein  riesiges  Tier,  das 
hat  aber  eigentlich  nichts  mit  Bär  zu  tun,  ist  ein  ungeheurer  Klotz,  vierschrötiges, 
behaartes  und  ungegliedertes  Ungetüm,  mehr  eine  Art  Ochsenkopf.  Das  Ungetüm 
löste  das  Bild  von  dem  Bären  direkt  ab,  stand  statt  dessen  da,  wurde  nur  noch 
gedanklich  identifiziert  mit  jenem  Bären.  Diese  kombinatorische  Form  der  Analogie- 
bildung findet  sich  auch  bei  Sterzinger,  a.  a.  O.  Prot.  41. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG. 


57 


gegen  ist  ein  Mensch  von  einem  Lexikon  gesteigerter  Qualitäten,  deren 
Besitz  in  summa  ihn  gottähnlich  erfolgreich  werden  läßt.  Ihre  Zu- 
sammenstellung ist  konstruiert,  konstruiert  dem  Zweck  des  Ganzen, 
dem  Gelingen  des  Plans  zuliebe.  Balzacs  Gestalten  sind  Typen,  die 
er  im  Leben  entdecken  konnte  und  stilisierend  steigerte  mit  allen 
Folgerungen  dieses  gesteigerten  Wesens.  Dumas'  Geschöpfe  sind 
konstruierte  Idealbilder,  die  einem  Zwecke  dienen,  der  vor  ihrer  Er- 
schaffung liegt,  einem  ihnen  nicht  immanenten  Zweck.  Dasselbe  ist 
es  mit  der  Handlung.  Sie  folgt  nicht  aus  dem  Gesetz  der  Charaktere, 
aus  dem  Ineinanderschalten  dieser  interessanten  Typen,  sondern  sie 
ist  hier  zuerst  da,  ist  zuerst  erfunden.  Eine  Rache  soll  es  sein,  bis 
ins  einzelne  der  verschiedenen  Akte  hinein  konstruiert,  die  gegen  diese 
oder  jene  Person  gerichtet  sind,  entsprechend  den  von  diesen  Personen 
aus  unternommenen  ganz  systematisch  und  schematisch  angeordneten 
Verbrechen.  Ein  System  von  Verbrechen,  auf  einzelne  Personen  ver- 
teilt, wird  zusammengestellt,  jedes  findet  die  ihm  gemäße,  raffiniert 
ins  Werk  gesetzte  Strafe. 

Der  neuere  Detektivroman  geht  ganz  systematisch  vor  und  hat 
das  mechanische  Konstruktionssystem  zur  Vollendung  gebracht.  Er 
bringt  in  kurzen  Kapiteln  eine  Reihe  von  Tatsachen  und  schließt  die- 
selben im  Kapitel  mit  einem  Knalleffekt  ab.  Dieser  Knalleffekt  soll 
womöglich  zu  gleicher  Zeit  überraschen,  spannen  und  in  einen  Affekt 
versetzen,  am  liebsten  in  den  der  Furcht  und  des  Grauens,  minde- 
stens aber  erschrecken.  Beispielsanalyse:  Das  Grand  Hotel  Babylon 
von  Arnold  Bennett: 

1.  Kapitel:  Theodore  Racksole  verlangt  im  Grand  Hotel  Babylon 
ein  Beafsteak,  bekommt  es  nicht,  weil  dem  Oberkellner  in  einem  so 
feinen  Hotel  diese  Forderung  unerhört  erscheint.  Er  will  den  Auftrag 
durchsetzen.    Wie? 

2.  Kapitel:  Racksole  kauft  das  Hotel  sofort,  erhöht  das  Gehalt  des 
Kochs,  hat  10  Minuten  später  ein  Beafsteak.  Inzwischen  hat  an  dem 
Tisch  seiner  Tochter  Nella  ein  Gast  Platz  genommen,  den  die  selb- 
ständige junge  Amerikanerin  aus  Paris  kennt.  Beim  Essen  gewahrt 
Racksole  plötzlich  im  Spiegel  einen  Blick  des  Einverständnisses,  den 
dieser  Herr  Dimmock  mit  Jules,  dem  Oberkellner,  austauscht.  Was 
hat  das  zu  bedeuten? 

3.  Kapitel:  Verdächtige  Beobachtungen.  Was  macht  Jules  nachts 
im  Zimmer  des  Herrn  Dimmock? 

4.  Kapitel:  Jules  wird  von  Racksole  entlassen.  Prinz  Aribert, 
dessen  Begleiter  Dimmock  ist,  stellt  sich  ein.  Er  erbleicht  am  Schluß 
des  Kapitels  bis  unter  die  Haare,  als  Nella  sich  im  Gespräch  ihrer 
Begegnung  in  Paris  erinnert.    Hier  hat  der  Autor  entweder  den  späteren 


58  CHARLOTTE  BÜHLER. 


Verlauf  des  Romans  im  einzelnen  noch  nicht  gewußt  und  nachträglich 
umgebogen  oder  absichtlich  sensationell  und  nach  falscher  Seite  hin 
verdächtigend  wirken  wollen.  Denn  Prinz  Aribert  hatte  wegen  der 
Schulden,  um  deren  Tilgung  willen  er  inkognito  in  Paris  war,  keinen 
Grund,  vor  der  Amerikanerin  so  tief  zu  erbleichen.  Vielleicht  hatte 
er  ursprünglich  mit  in  eine  Verbrecheraffäre  verwickelt  werden  sollen. 

5.  Kapitel:  Dimmock  wird  tot  umsinkend  gefunden.  Mordverdacht. 
Fragezeichen. 

6.  Kapitel:  Ball  von  Sampson  Levi,  den  Prinz  Ariberts  Neffe  um 
einer  Anleihe  willen  im  Grand  Hotel  Babylon  treffen  soll.  —  Dim- 
mocks  Leiche  soll  zur  Besichtigung  abgeholt  werden.  Sie  ist  ver- 
schwunden.    Wo  ist  sie?  usw. 

Bis  zu  einem  gewissen  Zeitpunkt  endet  jedes  Kapitel  mit  einer 
neuen  Frage  und  eröffnet  eine  neue  Beziehung.  Von  einem  gewissen 
Zeitpunkt  an  beginnen  die  Beziehungen  geschlossen  zu  werden,  aber 
trotzdem  bringt  der  Autor  es  bis  zum  Schluß  fertig,  jedes  Kapitel  mit 
Fragen  zu  endigen,  oder  doch  mit  überraschenden  Knalleffekten,  z.  B.: 

Jules,  der  ehemalige  Oberkellner  und  Verbrecher  ist  von  Racksole 
gefaßt  und  gefesselt  worden.  Man  hat  ihn  zunächst  ohne  Aufsehen 
in  sein  ehemaliges  Zimmer  im  Hotel  geschafft  und  auf  dem  Bett  fest- 
gebunden. 

»Die  Türe  wurde  geöffnet,  und  Nella  trat  ein.  Ihre  Augen 
schwammen  in  Tränen.  »Ach  Papa,«  rief  sie,  »ich  habe  erst  jetzt  er- 
fahren, daß  du  im  Hotel  bist,  wir  haben  dich  überall  gesucht.  Komm 
sofort  mit  mir,  Prinz  Eugen  stirbt  — «  Plötzlich  verstummte  sie,  denn 
sie  hatte  den  Mann  im  Bett  erblickt.«     Kapitelschluß. 

Das  einzige  Ziel  ist  hier  immer  wieder  nur,  durch  immer  wieder 
neue  Fragen  und  Andeutungen  und  später  durch  unerwartete  Ant- 
worten zu  überraschen.  Mit  wem  steht  dieser  Mensch  in  Beziehung 
und  dieses  Ereignis?  Ist  etwa  auch  dieser  verdächtig  und  jener?  Das 
ist  der  erste  Teil.  Die  Antwortreihe  kann  verschieden  sein.  Entweder 
es  wird  zuerst  mitgeteilt,  wer  schuldig  ist,  dann  müssen  die  Über- 
raschungen mit  der  Art  der  Überführung  und  Irreführung  des  Ver- 
brechers zusammengebracht  werden.  Oder  die  Person  des  Verbrechers 
bleibt  bis  zum  Schluß  geheim  und  wird  als  Hauptüberraschung  am 
Schluß  erst  genannt. 

Die  Muse  dieser  Dichtung  ist  nüchterne  Logik  und  traurige  Ab- 
sichtlichkeit. Was  die  hohe  Muse  dieser  erfindenden  Kunstgattung 
beflügelt,  Reichtum  und  Pracht  der  Erfindung  und  inneres  Gesetz  der 
daraus  wachsenden  Gestalt  (Homer,  Dantes  Göttliche  Komödie,  Artus- 
romane), das  fehlt  hier  völlig.  Von  Dante  über  Dumas  zum  Detektiv- 
roman führt  fortgesetzt  zunehmende  Starrheit,  Nüchternheit  und  Enge 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  59 

les  erfindenden  Geisfes,  der  aus  der  göttlichen  Fülle  von  reichen 
Bildern,  Formen  und  wogenden  Gestalten  über  ein  System  hinweg 
zu  ein  paar  Erfindungsformeln  nach  immer  gleichem  Rezept  ohne 
Vision  und  Urbild  herabsteigt.  Gestaltete  Vision  und  Konstruktionen 
in  Bilderfolgen  umgesetzt  sind  hier  die  Pole. 

Die  in  assoziativer  Folge  aneinanderreihende  Dichtung  ist  anders, 
ist  noch  primitiver.  Sie  überläßt  sich  ganz  dem  Zufall,  der  sie  führt, 
und  geht  daher  wie  alle  Assoziationen  immer  wieder  dieselben  Wege, 
die  Wege  der  erinnerten  Zusammenhänge  ab.  Sie  unterscheidet  sich 
vielleicht  in  dem  reicheren  Schatz  der  Vorstellungen,  nirgends  aber 
dem  Prinzip  nach  von  den  Konfabulationen  der  kleinsten  Kinder,  der 
Zweijährigen,  die  ihre  ersten  Geschichten  erfinden,  Gespinste  aus  Lüge 
und  Wahrheit,  wie  sie  der  Moment  ergibt.  Der  Volksroman  nieder- 
ster Sorte  entsteht  auf  diesem  Wege.  Die  Ausführung  bei  den  etwas 
besseren  Fabrikaten  eines  Karl  May  und  Robert  Kraft  überläßt  sich 
demselben  Zufallsspiel,  Karl  May  allerdings  setzt  dem  gewöhnlich  eine 
unsterbliche  Idee  voran,  die  er  indes  im  Gedränge  der  Handlung  meist 
bald  ganz  vergißt.  Es  ist  besonders  lehrreich,  in  den  unendlichen 
Bänden  von  Karl  May  die  unaufhörliche  Rekapitulation  derselben 
Mittel  und  Maßnahmen  zur  Einleitung  und  Ausführung  von  Hand- 
lungen zusammenzusuchen.  Von  Verfolgungsszenen  beispielsweise 
war  Karl  May  wahrlich  verfolgt.  Sie  häufen  sich  zu  so  unbegrenzten 
Malen,  daß  man  die  Ausdauer  oder  Geistesschwäche  eines  Lesers  be- 
staunt, der  die  immerwährende  Gleichförmigkeit  über  dem  wenig 
wechselnden  Aussehen  der  Bilder  und  Situationen  nicht  bemerkt.  Ich 
greife  zum  Nachweis  eines  der  ewig  wiederholten  Motive  auf,  das  Er- 
lauschen. Es  ist  in  jedem  Reiseroman  ein  bis  zur  Ermüdung  wieder- 
holtes Motiv,  höchst  wichtig  für  alle  Unternehmungen,  die  irgendwie 
glücken  sollen.  Für  das  Erlauschen  gibt  es  zwei  verschiedene  Situa- 
lionen,  das  unbeabsichtigte  zufällige  Erlauschen  und  das  beabsichtigte 
durch  List  erzwungene  Erlauschen,  welches  regelmäßig  durch  Heran- 
schleichen möglich  gemacht  wird,  worin  Karl  May  natürlich  unüber- 
troffener Meister  ist.  Die  ausschlaggebende  Rettung  kann  in  allen 
Geschichten  kaum  auf  anderem  Wege  erreicht  werden.  In  China  z.  B. 
werden  erst  alle  Möglichkeiten  erschöpft,  offene  Überfälle,  Prügeleien, 
Gefangennahme  —  immer  gibt  es  noch  eine  Möglichkeit  zu  ent- 
kommen. Schließlich  bleibt  den  Gegnern  nur  übrig,  durch  listigen 
und  geheimen,  gut  überlegten  Plan  Karl  Mays  Herr  werden  zu  wollen, 
und  hier  bleibt  Karl  May  als  Rettung  nur  übrig,  diesen  Plan  zu  er- 
lauschen, um  ausreichende  Gegenmaßnahmen  treffen  zu  können.  Ver- 
dächtige Anzeichen  bewegen  ihn,  sich  nachts  in  den  Garten  seines 
Gastgebers  zu  schleichen,  dort  hört  er  die  Verabredungen  mit  an.    Die 


50  CHARLOTTE  BÜHLER. 


entscheidende  Rettung  eines  Moskauer  Freundes  erfolgt  infolge  erst 
zufälligen,  dann  beabsichtigten  Erlauschens  von  Anschlägen.  Das 
Erlauschen  ist  überall  da  die  Regel,  wo  es  sich  um  listige  Gegner 
handelt  und  um  Gegner,  die  nicht  durch  Gewalt  und  Einschüchterung, 
sondern  nur  durch  Überlistung  zu  überwinden  sind.  In  dem  Reise- 
romanband »In  der  Wüste«  kommt  das  Motiv  beispielsweise  relativ 
selten  vor,  da  die  Gegner  dort  immer  als  sehr  feige  und  borniert  hin- 
gestellt sind  und  stets  durch  Einschüchterung  oder  Anwendung  von 
einiger  Gewalt  überwunden  werden.  In  den  in  Amerika  und  bei  den 
Indianern  sich  abspielenden  Reisen  hingegen  kehrt  das  Motiv  auf 
Schritt  und  Tritt  wieder,  da  die  Indianer,  listig  und  kühn,  nur  durch 
List  und  Kühnheit  zu  überwinden  sind.  Von  Überwindung  durch 
Einschüchterung  muß  dort  abgesehen,  Überwindung  durch  Gewalt 
sehr  eingeschränkt  werden.  Nur  Klugheit  und  List  verschaffen  Karl 
May  hier  seine  Überlegenheit,  dazu  ein  neues  Motiv:  seine  Anständig- 
keit und  Ehrenhaftigkeit.  Wortbrüchigkeit  gilt  hier  als  verächtlich, 
für  Billigkeit  und  Glaubwürdigkeit,  wo  sie  mit  Kühnheit,  Kraft  und 
Kenntnissen  vereint  auftreten,  wird  Achtung  gefordert.  —  Ich  kann  mich 
in  Einzelheiten  hier  noch  nicht  verlieren  und  gehe  kurz  auf  die  ent- 
deckende Dichtung  ein. 

Jedermann  kennt  das  mittelalterliche  Faustbuch.  Faust  ist  hier 
charakterisiert  einmal  durch  die  Nennung  gewisser  Eigenschaften, 
seiner  Intelligenz,  seiner  Hoffart,  Gottlosigkeit,  seines  freventlichen 
Übermutes,  sodann  aber  durch  seine  Taten.  Er  zitiert  den  Teufel, 
verbündet  sich  ihm,  führt  das  und  das  unerhört  ausschweifende  Leben, 
erwirbt  umfassende  Kenntnisse  usw.  Lessing  und  Goethe,  jeder  ent- 
deckt in  diesem  Komplex  von  Eigenschaften  und  Taten  ein  Wesen, 
jeder  ein  anderes,  ihm  adäquates,  aus  der  Erfühlung  eigenen  Wesens 
in  jenes  übertragenes.  Lessing  entdeckt  im  Faust  den  Erkenntnis- 
durstigen, Goethe  den,  der  Leben  und  Wissen  und  alles  zugleich 
umfassend  auskosten  will. 

Hier  eine  Nebenbemerkung.  Wir  verfolgen  hier  nicht  historische 
Probleme.  Den  Historiker  interessieren  Goethe  und  Lessing  und  Aus- 
maß, Inhalt  und  Charakter  dessen,  was  jeder  von  ihnen  dem  Altüber- 
lieferten hinzuzuschaffen  wußte.  Uns  beschäftigt  die  Struktur  des 
Neugeschaffenen  in  ihrer  sachlichen  Eigenart.  So  versuchen  wir  mit 
unserer  Forschung  systematische  Grundbegriffe  zu  erarbeiten,  mit 
denen  auch  der  Historiker  exakter  als  seither  die  Leistungen  des  ein- 
zelnen bestimmen  kann. 

Goethe  und  Lessing  in  dem  oben  erwähnten  Beispiel  entdecken 
das  Allgemeine  eigenen  Erlebens  in  einer  anderen  Persönlichkeit  wieder, 
durch  deren  Darstellung  sie  eigenes  Problem  stellen  und  lösen.    Das 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  61 

Erleben,  das  Fragen,  das  Tun  und  Erleiden,  alles  gewinnt  Sinn  in 
der  Deutung  am  Schluß.  Ähnlich  formt  Schiller.  In  immer  wieder  neuen 
Formen  wird  z.  B.  das  Freiheitsproblem  entdeckt  und  dargestellt,  und 
immer  wieder  gewinnt  die  dargestellte  seelische  Entwicklung,  das 
Erleben,  Tun  und  Erleiden  Sinn  in  der  Lösung:  Sieg  der  inneren 
Freiheit  (Räuber)  oder  ideeller  Sieg  des  Freiheitsgedankens  (Don  Car- 
los) usw.  Marquis  Posas  Tod  gewinnt  Sinn  und  Rechtfertigung  im 
Sieg  seiner  Idee.  Entdeckt  ist  das  Problem,  entdeckt  seine  Deutung. 
Die  Darstellung  des  Entwicklungsganges  von  Charakter  und  Hand- 
lung bis  zum  Sinn  wurden  seit  der  Klassik  festgehalten.  Neueste 
Kunst  entdeckt  die  Wendung  des  Problems,  fragt:  wie  wird  der  Sinn 
zum  Erlebnis,  zur  Wirklichkeit?  Gegeben  ist  etwa  der  Sinn:  Selbst- 
aufopferung fürs  Vaterland,  wie  erlebt  ihn  und  verwirklicht  ihn  dieser 
Menschentyp  und  jener?  Kaiser  in  den  »Bürgern  von  Calais«  führt 
uns  Typen  des  Lebens  vor,  den  Geschäftsmann,  den  Gatten  und  Vater, 
den  Bräutigam,  den  Sohn,  die  Brüder;  Göring  in  der  »Seeschlacht« 
zeigt  uns  Weltanschauungstypen,  wie  verwirklichen  sie  das  Opfer? 
Charakteristisch  ist  die  Art,  wie  der  Sinn  gesetzt  wird.  Gewisse 
Arten  von  objektiv  Sinnvollem  sind  uns  Modernen  nicht  mehr  Problem, 
sondern  eo  ipso  gültig,  gewisse  andere  scheinbar  ebenso  objektive 
Gegebenheiten  in  unserem  Leben  sind  faktisch  nur  traditionell,  sind 
durch  nichts  zu  rechtfertigen,  sollen  ihrer  angemaßten  Gültigkeit  be- 
raubt werden:  so  vernichtet  Hasenclever  durch  seinen  »Sohn<  die 
traditionelle  autoritative  Macht  der  älteren  Generation  über  die  jüngere, 
ähnlich  zeigt  Unruh  das  sich  befreiende  »Geschlecht«,  und  Kornfelds 
»Legende«  macht  aus  der  traditionellen  Unfreiheit  der  Beziehung  Herr 
und  Knecht  die  freie  Beziehung  Mensch  zu  Mensch.  Strindberg  ist 
als  Entdecker  dieser  Problemwendung  zu  nennen. 

Im  übrigen  strebt  moderne  Kunst  wie  die  Romantik  auch  inhaltlich 
wieder  nach  der  Erfindung*).  Die  Verwandlung  in  verschiedener 
Form  wird  wieder  Motiv  (vgl.  S.  53).  Wie  weit  es  glücken  wird,  eine 
neue  Erfindungsdichtung  auf  den  Plan  zu  stellen,  bleibt  abzuwarten. 
Niemand  wird  bezweifeln,  daß  die  Zeiten  des  naiv  märchenhaften  Er- 
findens  in  der  Hauptsache  der  Vergangenheit  angehören.  Der  unge- 
heure Reichtum  der  überlieferten  Märchen  an  erfundenen  Gestalten, 
erfundenen  Motiven  und  Handlungen  ist  kaum  noch  zu  überbieten. 
Unsere  Zeit  ist  nicht  mehr  spielnaiv  genug,  ist  allzu  intellektuell  und 
erfindet  bisher  stets  allzuviel  symbolisierend.  Am  ehesten  möchte 
man  die  Art  in  Kafkas  erwähnter  »Verwandlung«  als  eine  auch  ohne 


')  Inwiefern  die  eben  genannten  Modernen  forma!  zum  Erfindertypus  der 
neuen  Kunstrichtung  gehören,  vgl.  S.  81. 


62  CHARLOTTE  BÜHLER. 

Deutung  ganze  und  gewachsene  Erfindung  bezeichnen.  In  der  Ro- 
mantik ist  der  vom  Hauptstrom  abseits  stehende  E.  Th.  A.  Hoffmann 
wohl  der  einzige  urnatüriich  Erfindende.  Seine  Bewertung  steigt  heute 
mit  der  Bewertung  der  Erfindung  überhaupt,  sein  Ruhm  bei  den  Fran- 
zosen erklärt  sich  aus  ihrer  Veranlagung  in  dieser  Richtung. 

Neben  Entdeckungen  der  Gesamtfragestellung  gibt  es  Entdeckungen 
in  der  Art  der  Darstellung.  Während  ein  Victor  Hugo,  ein  Balzac 
direkt  durch  unmittelbare  Charakterbeschreibung,  ein  Flaubert  durch 
minutiöse  psychologische  Analyse  der  Gedanken,  Gefühle  und  Sinnes- 
eindrücke in  das  Wesen  der  Menschen  einzudringen  suchen,  halten 
spätere  naturalistische  Darsteller  nur  momentane  Wesenseindrücke 
ihrer  Personen  fest,  suchen  modernste  Dichter  unmittelbar  in  das  Er- 
lebnis selbst  und  allein  einzuführen.  Doch  das  gehört  alles  schon 
zu  den  Einzelheiten  der  Entdeckungen  in  der  Formung  des  Stoffes. 


11.  Dichtungsform. 

1.  Einleitendes.  Ein  Blick  in  einen  höchst  beachtenswerten, 
gründlich  durchdachten  »Versuch  einer  Grundlegung  des  Schöpfe- 
rischen«, wie  er  sich  in  dem  Buche  von  Max  Raphael  »Von  Monet 
zu  Picasso«  findet,  soll  den  zweiten  Teil  unseres  Unternehmens  ein- 
leiten. Die  außerordentliche  Sicherheit,  mit  welcher  der  Verfasser  seine 
Einsichten  dort  formuliert,  dankt  er  zum  Teil  einer  gründlichen  Fundie- 
rung seiner  Psychologie  in  der  Erkenntnistheorie  der  Marburger  Schule. 
Auf  eine  erkenntnistheoretische  Vorwegnahme  läßt  sich  unsere  Psycho- 
logie nicht  ein.  Wir  können  uns  Raphaels  Gedanken  nur  insoweit 
zunutze  machen,  als  sie  sich  unabhängig  von  ihrem  Fundament  und 
als  Analyse  des  künstlerischen  Schaffens  betrachten  lassen.  Daß  Ge- 
staltung Aufgabe  der  Kunst  sei,  werden  wir  dem  Verfasser  ebenso 
gern  zugeben,  wie  wir  nichts  gegen  die  Behauptung  einwenden,  daß 
der  Gestaltungswille  im  Wesen  des  Künstlers  vielleicht  den  Grundzug 
ausmacht.  Eine  Hauptarbeit  hat  Raphael  aber  bei  dieser  Aufstellung 
nicht  geleistet,  er  hat  uns  nämlich  nicht  verraten,  was  für  ein  psy- 
chisches Gebilde  er  sich  unter  dem  Gestaltungswillen  denkt.  Dieser 
Erlebniskomplex  wird  nicht  leicht  zu  analysieren  sein,  so  unmittelbar 
der  Begriff  einleuchtet.  Nach  Raphael  klingt  es  so,  als  liege  hier  eine 
reine  und  spezifische  Willensform  vor.  Davon  kann  keine  Rede  sein. 
Die  Tatsache,  daß  hier  Gestalt,  bestimmte  Form  und  Ordnung  gewollt 
wird,  deutet  darauf  hin,  daß  dieses  Wollen  ein  bestimmtes  intellek- 
tuelles Moment  einschließt,  das  gedankliche  Erfassen  bestimmter  Be- 
ziehungen  und   Zusammenhänge.     Der  Gestaltungswilie   enthält   die 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  63. 


I 


Idee  als  Aufgabe,  die  vom  Künstler  im  Material  und  für  gewöhnlich 
an  einem  Objekt  realisiert  wird. 

Gegenstand  der  Diskussion  ist  nun,  wie  sich  der  Gestaltungswille 
zum  Objekt  verhält.  Nach  Raphael  ist  er  ein  absoluter  Herrscher 
über  Sinne  und  Intellekt.  Vom  Gefühl  spricht  er  nicht,  aber  die  Ein- 
fühlung als  künstlerisches  Grunderlebnis  lehnt  er  ab.  Das  rezipierte 
Objekt  ist  nur  Gelegenheit,  es  hat  gar  kein  Recht,  seine  eigene  Ge- 
setzmäßigkeit vom  Künstler  berücksichtigt  sehen  zu  wollen,  es  ist  so,, 
wie  es  in  Sinne  und  Intellekt  eindringt,  nur  Anlaß  und  eventuelle 
Auslösung  des  einzelnen  künstlerischen  Gestaltungsprozesses.  Das 
Gesetz  dagegen,  das  für  den  Künstler  gilt,  das  sein  Schaffen  notwendig 
macht,  schafft  jener  Gesfaltungswille.  Das  einzige  Bedingnis,  das  von 
außen  her  noch  hinzukommt,  ist  das,  unter  welchem  allein  das  jeweils 
gewählte  Material  sich  gestalten  läßt,  also  in  der  bildenden  Kunst  nach 
Raphaels  Ansicht  die  Dreidimensionalität  des  Raumes.  Unterdrücken 
wir  eine  Kritik  der  letzteren  Behauptung  und  fragen  wir  uns,  ob  tat- 
sächlich der  Gestaltungswille  allein  das  Gesetz  für  die  zu  schaffende 
Form  bestimmt.  Dieses  Gesetz  soll  ihm  aus  dem  Erlebnis  eines  Kon- 
fliktes hervorgehen,  aus  dem  Erlebnis  der  Differenz,  die  zwischen  der 
Welt,  so  wie  sie  ist  oder  zu  sein  scheint  und  so  wie  der  Künstler- 
sinn sie  geordnet  denkt,  besteht.  Das,  wovon  wir  mit  Raphael  aus- 
gehen wollen,  ist,  daß  der  Künstler  einen  Mangel  in  der  Seinsweise 
der  Erscheinungen  empfindet.  Raphael  sieht  indes,  scheint  uns,  nur 
ein  Moment  im  Erlebnis  dieses  Mangels,  nämlich  das  Erlebnis,  daß 
etwas  fehlt  zu  dem  Gestaltideal,  wie  der  Künstler  es  in  sich  trägt. 
Mir  scheint  noch  etwas  anderes  hinzuzukommen.  Nämlich  zu  der 
Konstatierung:  es  fehlt  etwas,  kommt  die  Frage:  was  fehlt?  und  mit 
ihr  das  Bedürfnis  nach  Verständnis  des  zur  Ergänzung  und  Vervoll- 
kommnung Nötigen,  nach  Deutung  des  Gegebenen  hinzu.  Man 
kann  nicht  annehmen,  daß  das  zu  Ergänzende  von  vornherein  klar 
und  im  Künstler  gegeben  ist,  ohne  daß  er  zu  fragen,  zu  deuten  noch 
nötig  hätte.  Es  kommt  also  die  Deutung  helfend  hinzu,  um  den 
Künstler  zu  lehren,  wie  er  gestalten  muß,  um  das  Gegebene  im  Sinne 
des  Ideals  zu  vervollkommnen.  Die  Neugestaltung  des  Künstlers  be- 
deutet dann  eine  Abschließung  des  unabgeschlossen  Gegebenen,  eine 
Abschiießung  der  Lebensform  und  der  Welt.  Die  Form  wird  voll- 
endet und  die  Fragen  werden  beantwortet. 

Die  Vernachlässigung  dieses  Erkenntnismomentes  im  Erlebnis  des 
Künstlers  ist  die  Ursache,  daß  Raphael  den  Impressionismus  nicht  zu 
schätzen  versteht.  Im  Impressionismus  steht  dieses  Moment  zweifel- 
los voran.  Der  Impressionismus  strebt  nur  die  gegebene  Form  zu 
erfassen,  strebt  nicht  danach,  sie  zu  überbieten  und  zu  vollenden. 


^  CHARLOTTE  BÜHLER. 


Es  fragt  sich  nun,  in  welcher  Weise  die  vollendende  Formung 
durch  den  Künstler  vor  sich  gehen  kann.  Stets  ist  es  eine  Gestaltung 
seines  Welt-  und  Lebenserlebnisses  durch  irgend  ein  sinnfälliges  Mittel, 
durch  Sprache  oder  Töne,  durch  Malerei,  Zeichnung  oder  Bildnerei. 
Dieses  Sinnfällige  ist  Darstellungsmittel  zur  Darstellung  des  Gestal- 
tungs-  und  Deutungserlebnisses.  Es  wird  nun  entweder  versucht, 
das  Erlebnis  unmittelbar  zu  fassen,  und  dem  Material  unmittelbar  eine 
Form  zu  geben,  die  etwas  ausdrückt  (mit  Erfolg  bisher  nur  in  der 
Musik  oder  durch  das  Ornament),  oder  aber  sich  an  die  Form  ge- 
gebener Dinge,  Sachverhalte,  Gedanken  sie  ausgestaltend  anzuschließen, 
und  in  der  Art  ihrer  Wiedergabe  die  gestaltende  Idee  zu  betätigen 
und  die  Deutung  aufzuzeigen.  Diese  Kunst  nennen  wir  darstellende 
Kunst,  weil  sie  mit  Hilfe  einer  Darstellung  ausdrückt,  die  andere 
nennen  wir  kundgebende  Kunst,  weil  sie  unmittelbar  ausdrückt 
oder  kundgibt ').  Die  Sprache  scheint  uns  wie  die  bildenden  Künste 
im  Unterschied  zur  Musik  in  erster  Linie  dazu  berufen,  durch  Dar- 
stellung auszudrücken,  weil  ihr  erster  Zweck  ist,  verstanden  zu 
werden,  weil  sie  durch  Vermittlung  der  Darstellung  das  Erlebnis  faß- 
barer macht,  wie  man  das  auch  von  der  darstellenden  Malerei  und 
Plastik  im  Unterschied  zu  der  expressionistischen  entschieden  be- 
haupten muß.  Doch  hat  die  Sprache  auch  Mittel,  unmittelbar  auszu- 
<lrücken,  kundzugeben,  sobald  sie  von  ihren  musikalischen  Qualitäten 
Gebrauch  macht.  Es  geschieht  das  vorwiegend  in  der  Lyrik,  doch 
mit  Erfolg  auch  in  anderen  Gebieten  der  Dichtung.  Wir  wollen  uns 
zunächst  mit  darstellender  Dichtkunst  befassen,  welche  in  Roman  und 
Novelle  am  meisten  zu  ihrem  Recht  kommt.  Zwei  Seilen  sind  als 
spezifisch  künstlerisch  in  der  Darstellung  herauszuanalysieren,  die  Art 
der  Deutung  und  die  Art  der  Gestaltung. 

Das  Gesetz  der  Gestaltung  kann  der  Künstler  nicht  allein,  wie 
Raphael  behauptet,  aus  seinem  eigenen  Gestaltungswillen  und  der 
darin  schaffenden  Idee  empfangen,  sondern  gleichzeitig  aus  dem  Er- 
gebnis seiner  Deutung.  Beides  wird  sich  durchdringen.  Je  nachdem 
die  gestaltende  eigene  Idee  oder  die  Deutung  im  Vordergrund  seines 
Erlebnisses  steht,  wird  er  unter  der  Notwendigkeit  der  Idee  oder  unter 
der  Notwendigkeit  des  dem  Gegenstande  innewohnenden  Gesetzes 
schaffen,  wie  er  es  deutend  erfaßte.  Die  vorangegangene  impressio- 
nistische, psychologische  und  naturalistische  Epoche  gibt  uns  das 
Bild  einer  Kunst,  die  ganz  von  dem  Gesetz,  das  dem  Gegenstand 
innewohnt  und  das   sie  zu  erfassen   suchte,  beherrscht,  ja  fasziniert 


')  Über  den  Unterschied  von  Darstellung,  Kundgabe  und  Auslösung  vgl. 
K.  Bühler,  »Kritische  Musterung  der  neueren  Theorien  des  Satzes«.  Idgerm.  Jahr- 
buch Bd.  6,  1919. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  65 

war,  und  es  erscheint  nicht  nur  begreiflich,  sondern  fast  notwendig, 
daß  die  expressionistische  Gegenströmung  in  das  andere  Extrem  fällt 
und  nur  noch  das  Gesetz  einer  eigenwillig  gestaltenden  Idee,  kein 
Gesetz  des  Gegenstandes  mehr  anerkennen  will,  wie  Raphaels  Kunst- 
theorie lebendig  bezeugt. 

2.  Über  die  Form  des  Kunstwerks.  Nach  der  Entdeckung 
und  Aufzeigung  der  »Gestaltqualitäten«  durch  Ehrenfels  wurde  eine 
lebhafte  Diskussion  darüber  geführt,  ob  die  Gestaltqualitäten,  diese 
>figuralen«  oder  »Einheitsmomente«,  wie  Husserl  sie  nennt,  noch 
anderes  mehr  als  die  Beziehungen  der  Elemente  untereinander  seien, 
oder  ob  sich  nicht  vielmehr  die  Gestalt  aus  der  Summe  aller  Be- 
ziehungen ergebe^).  In  experimentellen  Untersuchungen  ȟber  Ge- 
dankenentstehung«'') und  »über  die  Prozesse  der  Satzbildung« ')  meine 
ich  ein  Gesetz  der  Einheitsbildung  faktisch  nachgewiesen  zu  haben, 
welches  die  bloße  Beschränkung  auf  nebengeordnete  Beziehungsreihen 
ausschließt.  Es  gelang  mir  dort,  in  der  Entstehung  des  Satzes,  der 
einfachsten  Sprach-Sinneinheit,  ein  durchgehendes  Gesetz  der  Zentrali- 
sation nachzuweisen.  Zwar  war  die  dort  vorgenommene  Satzbil- 
dung nicht  die  übliche  Art,  deren  wir  uns  im  täglichen  Denken  be- 
dienen, sondern  natürlich  eine  konstruierte,  experimentell  beobachtbare 
Art  und  Weise.  Aber  es  war  doch  nicht  eine  absolut  künstliche 
und  weltfremde  Manier,  die  gar  keinen  Rückschluß  auf  das  normale 
Denken  verstattete.  Vielmehr  läßt  sie  sich  gut  damit  vergleichen,  wie 
der  Historiker  den  lückenhaften  Text  einer  Quelle  rekonstruiert  und 
deutet,  oder  wie  wir  ein  Telegramm  verstehen.  Wir  gaben  nämlich 
aus  einem  sprachlich  formulierten  Gedanken  die  Haupt-Worte,  die  ihn 
konstituieren  und  ließen  die  Versuchspersonen  aus  diesen  Worten  den 
Gedanken  rekonstruieren.  Die  Methode  ist  nicht  zu  verwechseln  mit 
der  Meumannschen  Dreiwortmethode,  die  als  Intelligenztest  bekannt 
ist,  in  der  drei  beliebige  Worte  beliebig  zum  Satz  zu  binden  sind. 
Bei  uns  war  ein  dem  Wortkomplex  schon  innewohnender  Sinn  Vor- 
aussetzung. Beispiel:  Edelstein  —  Fassung  —  Preis  —  Wert  —  er- 
höhen —  nicht.  Lösung:  Die  Fassung  des  Edelsteins  erhöht  zwar 
seinen  Preis,  aber  nicht  seinen  Wert.  Auf  das  Nähere  der  Aufgaben- 
stellung und  Lösung  können  wir  uns  hier  nicht  einlassen.  Nur  aus 
den  allgemeinen  Resultaten  wollen  wir  folgendes  hervorheben:  der 
Prozeß  verlief  stets  in  derselben  Weise:  aus  zahlreichen  Beziehungen 


')  Kritische  Übersicht  über  diese  Diskussion  in  den  »Oestaltwahrnehmungen« 
meines  Mannes  1.  Bd.,  1913;  weitere  Literatur  und  Beiträge  zu  der  Frage  in  meiner 
Untersuchung  .Über  Oedankenentstehung.,  Zeitsehr.  f.  Ps.  Bd.  80,  1918,  S.  16Z,' 

')  A.  a.  O. 

>)  Ebenda  Bd.  81,  1919. 

Zettschr.  f.  Ästhetik  u.  illg.  Kunstwissenschaft.    XV.  5 


66  CHARLOTTE  BÜHLER. 


der  verschiedenen  Worte  untereinander  (Preis  des  Edelsteins  —  Wert 
des  Edelsteins  —  Wert  nicht  erhöhen  —  Fassung  des  Edelsteins  — 
Preis  nicht  erhöhen)  hebt  sich  eine  Beziehung  oder  ein  Gegenstand 
mit  zahlreichen  Beziehungen  als  Mittelpunkt  allmählich  heraus,  wo- 
durch die  Einheitsbildung  gesichert  ist.  Im  obigen  Beispiel  ergibt 
sich  also  aus  allen  möglichen  Beziehungsgruppen,  daß  es  sich  um 
die  Fassung,  den  Preis  und  Wert  des  Edelsteins  handeln  muß.  Das 
»erhöhen«  drückt  eine  Beziehung  zweier  Größen  zueinander  aus,  da 
kommen  nur  »Preis  und  »Wert«  in  Betracht,  die  Nich4erhöhung  kann 
nur  hinsichtlich  eines  dritten  Gesichtspunktes  gelten  —  es  ist  die  Fassung 
des  Edelsteins,  die  sich  allmählich  in  den  Mittelpunkt  aller  Beziehungen 
stellt.  In  vielen  hundert  Versuchen  erweist  sich  immer  wieder  eine 
solche  Zentralisation  —  deren  es  verschiedene  Formen  gibt  —  als 
Grundlage  der  sprachlichen  Einheitsbildung  zum  Satz. 

Es  ist  im  allgemeinen  gefährlich,  sich  auf  Aussprüche  von  Dich- 
tern über  ihr  Schaffen  zu  stützen,  aber  ein  so  kritischer,  objektiv 
analysierender  Denker,  wie  der  Dichter  Otto  Ludwig  war,  darf  wohl 
einmal  eine  Ausnahme  bilden,  wenn  uns  seine  Analyse  eine  höchst 
beachtenswerte  Parallele  zu  jenen  ganz  anders  und  künstlich  einge- 
richteten Experimenten  weist.  In  einem  Aufsatz  »Mein  Verfahren 
beim  poetischen  Schaffen«  beschreibt  Ludwig  den  dichterischen 
Schaffensprozeß  wie  folgt:  als  das  erste  beim  poetischen  Schaffen 
drängen  sich  ihm  nach  einer  musikalischen,  in  Farben  übergehenden 
Stimmung,  Gestalten  und  Gebärden,  Gruppen  und  Stellungen,  und 
dann  allmählich  auch  Bruchstücke  von  Reden,  Aussprüche  usw.  auf. 
Wir  können  kurz  sagen:  Formstücke.  In  einem  zweiten  Stadium  des 
Schaffensprozesses  wird  »der  Generalnenner  aller  dieser  Einzelheitenc 
kritisch  und  denkend  gesucht,  die  Idee,  auf  die  schon  vorher,  dem 
Dichter  unbewußt,  die  Gestaltung  hindrängte  und  zu  deren  klarer, 
geschlossener  und  einheitlicher  Darstellung  in  einem  dritten  Stadium 
die  Gestaltung  revidiert  werden  muß. 

Nun  die  Reihenfolge  und  der  Weg  dieser  Gestaltung  müssen 
durchaus  nicht  allgemein  sein,  von  einem  bewußten,  denkenden  Suchen 
nach  der  Idee  kann  schon  deshalb  in  vielen  Fällen  gar  keine  Rede 
sein,  weil  die  Idee  auch  nur  in  einer  Stimmung  oder  Handlung,  oder 
im  Charakter  einer  Persönlichkeit  bestehen  kann.  Davon  später.  Aber 
auf  das  Gesetz  kommt  es  hier  an,  und  das  gilt:  Formstücke  und  Ver- 
einheitlichung, wobei  die  Ideeneinheit  auch  das  Frühere  oder  gar  nicht 
so  gesondert  von  jenem  gegeben  sein  kann.  Beides  aber  wirkt  zu- 
sammen zum  Ganzen,  sei  es  die  kleinste  Einheit  des  Satzes  oder  die 
komplizierte  Einheit  einer  Dichtung. 

Denn  kompliziert  ist  die  Einheitsbildung  der  Dichtung,  wo  eine 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  67 


Unzahl  niederer  zu  immer  höheren  Einheiten  .zusammengefaßt  sind. 
Kleinste  Einheiten  sind  Aussehen,  Bewegung,  Mimik  und  Charakter 
einer  Person  oder  ein  Sachverhalt,  ein  Ereignis  und  die  Wiedergabe 
dieser  Momente.  Abhängigkeitsverhältnisse  aller  Art  verknüpfen  die 
kleinen  Einheiten  zu  höheren  übergreifenden  Einheiten.  Beeinflussung 
durch  verschiedene  Personen  und  Umstände  sowie  Beweggründe  im 
Individuum  selbst  verbinden  sich  zum  Komplex  einer  Tat,  die  Tat  hat 
andere  zum  Gefolge  oder  entwickelt  das  Wesen  des  Erzeugers  wiederum 
in  bestimmter  Weise,  so  entstehen  eine  Handlung,  eine  Entwicklung. 
Über  die  Art  der  Verknüpfung  der  Oestaltstücke  und  kleinen  Einheiten 
zu  höheren  und  schließlich  zu  der  Einheit  der  Dichtung  werden  wir 
später  noch  ausführlich  handeln.  Hier  nur  soviel:  Die  einzig  maß- 
gebende Art,  hier  eine  wirkliche  Einheit,  nicht  nur  eine  Reihe  mit 
Anfang  und  Schluß  zu  bilden,  ist  natürlich  auch  wieder  nur  die 
Zentralisation  in  der  »Idee«,  wie  der  alte,  vielfach  einseitig  mißver- 
standene und  mißverständliche  Ausdruck  lautet.  Konstruierend  erfundene 
oder  kausal  aufzeigende  Abhängigkeitsreihen  können  zu  diesem  Ganzen 
führen,  die  rein  assoziierend  verknüpfenden  Ketten  dagegen  führen 
nicht  zu  einer  das  Ganze  übergreifenden  Einheit.  Die  Dichtung  ist 
Sprachgestalt  und  empfängt  aus  den  Gesetzen  der  sprachlichen  Ein- 
heitsbildung ihr  Gesetz. 

Zwei  Bestandteile  fanden  wir  ^vorhin  in  Otto  Ludwigs  Analyse: 
Formstücke  und  vereinheitlichende  Idee.  Das  sind  Bestandteile,  die 
ein  im  Praktischen  Beobachtender  stückweis  auffindet,  wenn  er  unge- 
fähr kritisch  sortiert,  aber  es  sind  natürlich  keine  Elemente,  aus  denen 
sich  letzten  Endes  der  Aufbau  fügt.  Die  Quellen,  aus  denen  beides 
fließt,  suchen  wir  mit  folgender  Betrachtung  auf:  jeder  Mensch  sammelt 
im  Laufe  der  Zeit  einen  Schatz  von  Erfahrungen,  das  sind  Erinne- 
rungsbilder von  Personen,  Tieren,  Sachen,  Situationen,  Vorgängen, 
gedankliche  Verarbeitungen  von  Erlebnissen,  gedankliche  Deutungen 
und  Urteile  über  Menschen  und  Dinge,  über  Ereignisse  im  einzelnen 
und  den  Weltlauf  im  allgemeinen.  Strebungen  und  Gefühle,  Willens-, 
Wert-  und  gefühlsmäßige  Stellungnahmen,  kurz  eine  Unsumme  ver- 
arbeiteten oder  nicht  verarbeiteten  Erlebnismaterials,  kann  man  sagen. 
Erfahrungen  liefern  dem  Künstler  Stücke  teils  zu  unmittelbarer  Wieder- 
gabe des  Geschauten  oder  Erinnerten,  teils  zu  gedanklicher  Verarbei- 
tung, umgekehrt  drängen  Überlegungen,  Einsichten,  theoretische  An- 
sichten, Gefühle  oder  Wünsche  des  Künstlers  zur  Umsetzung  in 
schaubare  Gestalt.  Ich  stelle  mir  den  Prozeß  als  eine  fortgesetzte 
Metamorphose  vor,  Veranschaulichung  des  Allgemeinen  und  Verallge- 
meinerung des  Einzelfalles.  Der  Dichter  sieht  Menschen,  abstrahiert 
Eigenschaften,    Gestalt-    und    Wesenseindrücke    und    verarbeitet    sie 


58  CHARLOTTE  BÜHLER. 

stellungnehmend,  deulend,  erkennend,  einfühlend  und  umformend  zu 
neuen  Gestalten.  Bei  der  Darstellung  nun  wird  der  sogenannte  Ein- 
druckskünstler, dem  an  dem  unmittelbaren,  getreuen  Aufnehmen  des 
Erfaßten  liegt,  sich  mehr  an  die  Aufzeigung  des  Vorgefundenen,  des 
Eindrucks,  halten,  dem  sogenannten  Ausdruckskünstler  dagegen  dient 
das  Vorgefundene  nur  als  Material,  das  er  mit  Eigenem  umgestaltet. 
Das  sind  die  Extreme.  Wo  sie  Neues  schaffen,  ist  der  erste  der,  wel- 
cher Neues  aufzeigt,  welcher  entdeckt,  der  zweite  der,  welcher  erfindet. 

Das  Erfinden  und  das  Entdecken  sind  keine  elementaren  psychi- 
schen Prozesse,  sondern,  wie  wir  gleich  zu  Beginn  aufzeigten,  in 
dauernder  Wechselwirkung  miteinander  fortgebildet.  Oleichwohl  lassen 
sich  wie  bei  den  Kunst  in  halten  so  auch  bei  der  Kunst  form  die 
Elemente  nachweisen,  die  den  Grundbestandteil  des  einen  und  des 
andern  bilden,  das  Kombinieren  und  das  Abstrahieren.  Als  Inhalt 
bezeichnen  wir,  wie  sich  aus  der  Praxis  der  vorangegangenen  Dar- 
stellung ergibt,  alles,  was  den  Gegenstand  eines  Kunstwerks  aus- 
macht, seine  Motivreihen,  seine  Personen  und  Handlungen,  sowie  alle 
eigenen  Erlebnisse  des  Künstlers,  die  etwa  versinnbildlicht  werden 
sollen.  Inhalt  ist  das  einer  bestimmten  Dichtung  zugrunde  liegende 
Material,  Formung  die  Art  seiner  Verarbeitung.  Für  diese  Formung 
kann  man  nun  folgendes  Prinzip  formulieren:  auslesend  aus  der  Fülle 
des  Materials  mit  eventuellen  Neuaufzeigungen  daran  gestaltet  der 
Künstler  durch  eine  Idee  vereinheitlichend.  Dabei  muß  er  zweierlei 
berücksichtigen:  die  Konsequenz  oder  Notwendigkeit  in  der  Durch- 
führung der  Idee  und  das  Gesetz  der  Objekte  (d.  h.  das  Gesetz  der 
Charakterentwicklungen,  Ereignisabläufe  usw.),  Oestaltnotwendigkeit 
und  Objektnotwendigkeit. 

Zweierlei  also  kommt  von  entgegengesetzten  Enden  zusammen 
zur  Form  des  Kunstwerks:  die  Auslese  des  Objekts  und  am  Objekt 
und  die  Gestaltung  des  Objekts  durch  die  Idee.  Die  Auslese,  in 
erster  Linie  eine  Leistung  der  Abstraktion,  beruft  das  Objekt  und  be- 
tätigt sich  entdeckend  an  ihm  und  seinen  Qualitäten  und  Beziehungen. 
Die  Gestaltung,  in  erster  Linie  eine  Kombinationsleistung,  drängt  zu 
Erfindungen,  indem  sie  das  Gegenständliche  zu  neuartigen  Kombi- 
nationen verwendet.  Die  Auslese  isoliert  und  hebt  hervor,  betätigt 
sich  künstlerisch  am  Gegebenen;  der  »Gestaltungsdrang«  der  kombi- 
natorischen Phantasie  dagegen  geht  eher  am  Wirklichen,  Gegebenen 
vorüber  und  will  Neues,  Nichtvorhandenes  oder  doch  so  nicht  Vor- 
handenes schaffen.  Grundlegend  für  alle  Gestaltung  ist  die  »Oestalt- 
bindung« '),  und  damit  ist  ein  Doppeltes  gesagt:  die  Gestaltbindung 


')  F.  Seifert,  Zur  Psychologie  der  Abstraktion  und  Oestaltauffassung.    Zeitschr. 


I 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  69 

bedeutet  eine  Zusammenfassung  der  Gestaltelemente  in  der  Gestalt 
und  ihre  Abschließung  nach  außen.  Die  Gestaltbindung  ist  eine  Ein- 
heitsbildung. Die  primitivste  Form  ist  ein  Neben-  oder  Nacheinander 
von  Elementen  mit  Abschluß  gegen  die  Umgebung.  Mag  sein,  daß 
dies  die  Auszeichnung  erklärt,  welche  die  Dichtungsschlüsse  gemein- 
hin erfahren.  Jegliche  sprachliche  Einheitsbildung  verlangt  aber  Zen- 
tralisation ').  Jeder  Satz  ist  eine  zentralisierte  Sinneinheit.  Auch  die 
Dichtung  ist  zentralisiert  und  zwar  je  nach  ihrem  Charakter  primitiver 
oder  kunstvoller. 

Wenn  ich  von  morgens  bis  abends  die  Erlebnisse  eines  Tages 
überschaue,  so  bilden  diese  eine  Reihe,  eine  Aufeinanderfolge  von  Er- 
eignissen, die  vereinzelt  nebeneinander  bestehen  bleiben,  im  besten 
Fall  kettenartig  in  bestimmten  Zusammenhängen  verknüpft.  Die  einzige 
Zusammenfassung  geschieht  hier  durch  meine  Person,  durch  die  Tat- 
sache, daß  allemal  ich  der  Erlebende  bin.  Es  gibt  literarische  Erzeug- 
nisse, bei  denen  nicht  anders  verfahren  wird.  Auch  hier  wird  dann 
eine  Folge  von  Ereignissen  vorgetragen,  deren  einzigen  Zusammenhalt 
der  gemeinsame  Bezug  auf  eine  Person  bildet.  Diese  Einheitsbildung 
ist  indes  die  lockerste,  welche  man  bieten  kann.  Es  ist  dann  gewöhn- 
lich so,  daß  im  Mittelpunkt  des  Interesses  die  Ereignisfolge  steht,  die 
nur  wie  an  einem  Bindfaden  an  einer  bestimmten  Person  aufgehängt  ist. 

Anders  ist  es,  wenn  die  Person  im  Mittelpunkt  des  Interesses 
steht  und  die  Ereignisse  nur  der  Gestaltung  ihres  Typus  dienen. 
Dieser  Typ  gibt  für  die  Anordnung  und  Auswahl  der  Ereignisse  dann 
ebenso  ein  einheitliches  Prinzip  wie  in  einem  dritten  möglichen  Fall 
ein  Gedanke,  den  die  Bilder  nur  veranschaulichen,  in  einem  vierten 
Fall  eine  Stimmung,  auf  welche  die  GestaUung  einheitlich  zurückweist. 
Die  nähere  Ausführung  dieser  Aufstellung  später. 

Außerdem  verläuft  nun  aber  jede  Dichtung  zielstrebig.  Sie  ent- 
hält eine  Handlung  oder  eine  Entwicklung  mit  bestimmter  Vorberei- 
tung, bestimmtem  Ausbau  und  Abschluß,  eine  Rhythmisierung  der 
Spannungen,  der  Motive,  wo  das  Kunstwerk  durchgebildet  ist.  Ein- 
heitsbildung und  Organisation  des  Inhalts  sind  die  Grundgesetze. 
Das  letztere  behandelt  Walzel  schon  seit  langem  und  zwar  unter  dem 
Namen  »Architektur«  der  Dichtung.  Man  hat  ja  vorher  auch  schon 
vom  Aufbau  gesprochen.  An  vielen  Dichtungen  wies  Walzel  bereits 
nach,  wie  diese  Organisation  bis  in  die  Einzelheiten  einer  Szene,  eines 
Kapitels,  durchgeführt  oder  nur  auf  Grundgesetzlichkeiten   beschränkt 

f.  Psych.  Bd.  78,  1907.  Dieser  psychologisch  exakte  Terminus  »Oestaltbindung«  ist 
nicht  zu  verwechseln  mit  dem  von  Steinweg  in  der  Literatur  gleichnisweise  ge- 
brauchten Ausdruck    »Bindung«. 

')  Vgl.  Verf.  üb.  Gedankenentstehung  a.  a.  O. 


70  CHARLOTTE  BOHLER. 


bleibt  oder  ganz  vernachlässigt  wird.  Wären  die  Ausdrücke  nicht 
schon  so  abgegriffen  und  vieldeutig,  so  könnte  man  bei  Einheits- 
bildung und  Organisation  von  innerer  und  äußerer  Struktur  sprechen. 
Wie  die  äußere  Struktur  des  Gemäldes  zur  Auszeichnung  gewisser 
Punkte  führt,  etwa  des  Mittelpunktes,  der  Diagonalen,  der  Vertikalen 
und  Horizontalen,  so  kann  auch  die  Dichtung  belieben,  Momente  und 
Strecken  auszuzeichnen:  sie  kann  einen  Aufstieg  bis  zu  einem  ge- 
wissen Höhepunkt  mit  nachfolgendem  Abstieg  oder  stetige  Entwick- 
lung zu  einem  End-  und  Höhepunkt  vorziehen  oder  noch  in  anderer 
Weise  betonen ;  das  nachzusuchen  ist  Sache  einzelner  Untersuchungen. 
Die  Auszeichnung  solcher  Punkte  wird  in  der  Dichtung  häufig  durch 
Affekte  unterstützt,  die  sich  an  diesen  Stellen  steigern,  auch  wohl 
häufen. 

Wir  wissen  aus  optischen  Experimenten,  daß,  wo  die  Gestalt- 
bildung im  Vordergrund  steht,  die  Abstraktion  zurücktritt  und  ver- 
nachlässigt wird.  Die  Gestaltung  geht  auf  Zusammenfassung,  nicht 
auf  Isolierung,  in  gewissen  Grenzen  schließen  beide  sich  aus  %  Darum 
liegt  der  vorwiegend  gestaltbildenden  Phantasie  wenig  an  der  Analyse, 
mehr  an  Synthesen,  an  freier  straffer  Zusammenfassung.  Je  ausschließ- 
licher der  Gestaltungsdrang  den  Künstler  beherrscht,  desto  emoörter 
wird  er  die  Zumutung  zurückweisen,  sich  an  das  Objekt  zu  binden, 
dessen  durch  Sinne  oder  Erkenntnis  erfaßten  Formen  und  Gesetze  zu 
wiederholen,  desto  willkürlicher  wird  er  mit  den  Gegenständen  schalten 
wollen  und  sie  zu  freien  Erfindungen  neuer  Formen  benutzen.  •  Das 
ist  der  augenblickliche  Stand  der  Kunst,  wenigstens  einer  Hauptrich- 
tung. Diese  sucht  allein  Gestaltungsformen,  nicht  Objektformen.  Diese 
Kunst  bindet  sich  nicht  an  Gesetze  der  Objekte,  braucht  und  will 
nicht  ihren  Kausalzusammenhang,  kann  mit  Zufällen  und  erfundenen 
Geschöpfen  arbeiten.    Solche  Kunst  ist  etwa  das  Märchen. 

3.  Gestaltnotwendigkeit  und  Objektnotwendigkeit.  Man 
spricht  viel  von  der  künstlerischen  Notwendigkeit  in  der  Entwicklung 
einer  Handlung.  Sie  kann  zweierlei  sein,  Gestaltnotwendigkeit  und 
Objektnotwendigkeit.  Erstere  ist  der  konsequente  Ausbau  der  Gestalt- 
fragmente, die  sich  dem  Dichter  aufdrängen,  die  aus  dem  Künstler 
erschaffen  hervorgehen  und  etwas  Neues,  Selbständiges  gegenüber 
allen  bisherigen  Gestalten  darstellen.  Gestalten,  die  durch  irgend 
welche  Abstraktions-  und  Umformungsprozesse  aus  der  erlebten  Wirk- 
lichkeit des  Lebens  hervorgehen  und  den  ersten  Teil  des  Weltbildes 
ausmachen,  das  der  Künstler  in  sich  trägt  und  zur  Anschauung  bringen 
will.     Der  zweite  Teil    ist  eine  Auffassungs-   und   Deutungsleistung. 


')  Seifert  a.  a.  O. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  71 


Zum  vollständigen  Weltbild  gehört  die  Deutung  der  gegebenen  Welt, 
der  Versuch,  die  Erscheinungen  in  irgend  einem  Sinne  zu  verstehen 
als  sinnvoll  oder  sinnlos,  optimistisch,  pessimistisch,  ethisch,  ästhe- 
tisch, idealisierend,  kurz,  in  irgend  einer  Einheitlichkeit.  Dieser  Ver- 
such, die  Erscheinungen  zu  deuten,  bildet  die  Gegenströmung  gegen 
die  freie  Gestaltung  des  Schaffenden,  hindert  ihn  am  willkürlichen 
Ausschweifen  und  bindet  ihn  schließlich  an  ein  Gesetz,  wie  es  ihm 
den  Objekten  und  dem  Ablauf  der  Weltereignisse  innezuwohnen 
scheint.  Als  grundlegendes  Entwicklungsgesetz  gilt  ja  heute  die  durch 
die  Wissenschaft  entdeckte  kausale  Folge  der  Ereignisse.  Sie  ist  aber 
nur  die  Grundlage  aller  Ereignisfolge  in  unendlicher  Reihe.  Spricht 
man  dagegen  von  einer  zusammenhängenden  Entwicklungsreihe,  so 
werden  sich  noch  andere  Gesetze  aufzeigen  lassen,  welche  den  Zu- 
sammenhang zum  Ausdruck  bringen,  so  daß  eventuell  sogar  die 
kausale  Folge  vernachlässigt  werden  kann,  z.  B.  die  Einsinnigkeit  der 
Richtung.  Diese  ließe  sich  als  Ab-  und  Aufstieg  quantitativ  und  quali- 
tativ, moralisch  oder  in  den  Lebensverhältnissen,  im  Erfolg,  im  Besitz 
oder  sonstwie  nachweisen,  quantitativ  als  dauernde  Steigerung  einer 
Eigenschaft,  eines  Hasses  und  seiner  Betätigungen  usw.  Die  Ein- 
sinnigkeit der  Richtung  braucht  wellenartige  Auf-  und  Abbewegung 
nicht  auszuschließen.  Wo  in  der  Aufeinanderfolge  das  Gesetz  der 
Entwicklung  nicht  geltend  gemacht  wird,  gibt  es  eigentlich  nur  Ver- 
wandlungen, diese  können  kausal  notwendige  ziellose  Tatsachenabläufe 
sein  oder  assoziative  Reihungen. 

Eine  Tat  und  eine  Entwicklung  im  Leben  haben  ihre  natürlichen 
Gesetze  des  Anfangs,  Verlaufs  und  Endes,  ihren  Zusammenhang  in 
Vorbereitung,  Entwicklung  und  Abschluß,  ihre  natürlichen  Gesetze 
sich  auszuwirken.  Nur  Erfahrung  kann  über  diese  Art  der  Zusammen- 
gehörigkeit belehren,  nur  Auffindung,  Entdeckung.  Die  Gestaltnot- 
wendigkeit aus  künstlerischem  Schaffen  ist  eine  andere,  eine  nicht 
von  der  Natur,  sondern  von  ihrem  Schöpfer,  dem  Künstler  begründete 
Zusammengehörigkeit,  die  auf  einem  Akt  der  Zusammenfassung  durch 
den  Künstler  beruht  und  Ausdruck  finden  muß.  »Es  sterbe  jeder 
seinen  eigenen  Tod«,  diese  Forderung  Rilkes  gilt  dem  Leben,  das 
einer  Idee  getreu  abläuft  und  zu  Ende  geht  und  gilt  vor  allem  dem 
vom  Künstler  geschaffenen  Dasein.  Kausalnotwendig  geht  aus  einer 
Reihe  von  Umständen  hervor,  wenn  einer  von  der  Straßenbahn  über- 
fahren wird,  trotzdem  er  mit  der  Idee  ausging,  für  das  Vaterland  in 
der  Schlacht  zu  sterben.  Will  ein  Kunstwerk  etwa  diese  Idee  dar- 
stellen, so  würde  für  die  künstlerische  Betrachtung  jene  kausalnot- 
wendige Tatsache  zum  Zufall;  der  künstlerisch  notwendige  Verlauf 
ist  der  der  Idee  gemäße,  hier  der  Tod  für  das  Vaterland. 


72  '      CHARLOTTE  BÜHLER. 


Es  gibt  eine  Anzahl  vielleicht  zusammenstellbarer  Kausalnotwendig- 
keiten, die  heutzutage  ein  Künstler  nicht  ungestraft  vernachlässigen 
kann,  dazu  gehört  in  der  Dichtung  der  Zusammenhang  von  Charakter 
und  Erlebnis.  Bestimmte  Charakterzüge  garantieren  unter  allen  Um- 
ständen eine  bestimmte  Art,  Auffassung  und  Gestaltung  des  Erlebens. 
Wie  eine  bestimmte  Beleuchtung  in  der  Natur  nur  ganz  bestimmte 
Lichtwirkungen  und  nur  diese  hervorbringen  kann,  so  wäre  hier  auch 
jede  Willkür  und  Erfindung  verfehlt,  die  aller  Erfahrung  ins  Gesicht 
schlüge  und  das  sicherste  Wissen  beleidigte.  Derartige  im  Verhältnis 
von  Ursache  und  Wirkung  stehende  Zusammenhänge  können  und 
dürfen  nicht  verfälscht  werden,  da  sie  schon  im  Leben  Einheiten 
bilden.  Anders  steht  es  mit  der  Anordnung  des  Nebeneinander  in 
Raum  und  Zeit,  wo  Einheiten  nur  zum  Teil  vorhanden  sind  und  die 
Auseinanderreißung  und  Zusammenfügung  weitgehend  natürlich  er- 
scheint, wenn  auch  dem  Unbefangenen  noch  nicht  ganz  so  weit,  wie 
der  Expressionist  sie  treibt,  nämlich  bis  zur  Auflösung  der  Dingeinheit. 
Vielleicht  sind  die  Grenzen  hier  verschiebbar  und  liegen  in  ver- 
schiedenen Künsten  jedenfalls  auf  verschiedenem  Gebiet  —  prinzipiell 
aber  gilt  der  Kunst  zunächst  nur  die  ideelle  künstlerische  Einheit. 

4.  Notwendigkeit  und  Zufall.  Alle  Erfindungsdichtung,  die 
nicht  durch  Beobachtung  und  Einfühlung,  durch  das  Erfassen  von 
Kausalzusammenhängen,  wie  sie  gegeben  sind  und  wie  sie  einfühlen- 
dem Erfassen  wahrscheinlich  sind,  kurz  durch  die  Prinzipien  des  ent- 
deckenden Geistes,  sondern  statt  dessen  von  dem  konstruktiven  oder 
dem  assoziativen  Prinzip  des  rein  erfindenden  Geistes  sich  leiten  läßt, 
duldet  in  ihren  Entwicklungsreihen  den  Zufall  neben  dem  Kausal- 
gesetz oder  statt  seiner  den  Zufall  als  Ursache  eines  Geschehens,  wie 
die  Konstruktion  es  braucht  oder  wie  bloße  assoziative  Aneinander- 
reihung es  herbeiführt.  Die  rein  beobachtende,  ganz  einfühlende  und 
durch  die  moderne  Wissenschaft  belehrte  Dichtung  läßt  den  Zufall 
in  ihren  Reihungen  nicht  gelten,  fügt  auch  die  Bausteine  der  Dich- 
tung mit  kausaler  Notwendigkeit.  Trotzdem  gibt  es  jene  über  der  rein 
kausalen  Notwendigkeit  thronende  Form  innerer  Notwendigkeit  der 
Idee  des  Ganzen,  welche  auch  der  reinen  Erfindungsdichtung  zugäng- 
lich, welche  künstlerisch  grundlegend  ist.  Als  Ganzes  kann  auch  ein 
solches  Werk  innerlich  notwendig  erscheinen,  welches  sich  in  Einzel- 
heiten des  Aufbau s  vom  Zufall  leiten  läßt.  Diese  Notwendigkeit 
der  Idee  ist  von  der  kausalen  Notwendigkeit  des  Auf- 
baus streng  zu  unterscheiden.  Denn  diese  ist  nur  die  Objekt- 
notwendigkeit, wie  der  heutige  Stand  unserer  Erkenntnis  sie  sieht, 
jene  aber  künstlerische,  schöpferische  Gestaltnotwendigkeit.  Für  die 
Gestaltnotwendigkeit   ist   maßgebend  das  Gesamtverhältnis   der  vom 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  73 

Künstler  angesetzten  Voraussetzungen  und  Konsequenzen,  für  die 
Objektnotwendigkeit  jeder  einzelne  Entwickiungsschritt  der  Handlung. 
Ibsens  Nora  hat  zwei  Schlüsse,  einen  Theaterschluss  und  einen  wirk- 
lichen Schluß.  Kausalnotwendig  ist  keiner  von  beiden,  innerlich  not- 
wendig nach  der  Idee,  künstlerisch  notwendig  nur  der  letztere.  Dieser 
läßt  Nora  bekanntlich  ihrer  Einsicht  getreu  Haus  und  Familie  ver- 
lassen, jener  läßt  sie  in  mütterlichem  Mitleid  mit  der  vorauszusehenden 
Verlassenheit  ihrer  Kinder  bei  dem  Gatten  bleiben,  von  dem  sie  sich 
innerlich  trennen  mußte.  Nun,  kausalnotwendig  ist  die  heroische 
Trennung  der  kleinen  Nora  keineswegs,  der  Kompromiß  mit  den  ge- 
gebenen Verhältnissen  liegt  im  Leben  immer  den  meisten  Menschen 
viel  näher,  als  daß  sie  die  strikte  Konsequenz  aus  einem  Erlebnis 
ziehen.  Aber  das  eben  ist  die  innere  Notwendigkeit  der  Dichtung: 
sie  hat  die  Voraussetzungen  nur  für  dieses  Erlebnis  angelegt,  hat  nur 
auf  dieses  Erlebnis  hingearbeitet  und  muß  die  Konsequenz  daraus 
ziehen.  Aus  Noras  Charakter,  wenn  auch  seine  Einfachheit  es  nahe- 
legt —  folgt  dieses  konsequente  Verhalten  noch  keineswegs.  Wäre 
sie  ein  lebendes  Geschöpf,  so  würde  man  ihr  mit  Recht  Bedenken 
wie  die  Existenz  der  Kinder  oder  dergleichen  vorlegen,  die  gegebenen- 
falls einen  Kompromiß  in  der  Reihe  der  möglichen  Handlungen  herbei- 
zögen. Aber  diese  Dichtung  mußte  die  Konsequenz  ziehen,  auf  die 
sie  angelegt  war. 

So  kann  es  auch  mit  rein  erfindender  Dichtung  sein.  Der  De- 
tektivroman, so  zahlloser  Zufälle  er  sich  im  Verlauf  der  Darstellung 
bedienen  mag,  endet  doch  meist  notwendig  mit  dem  Schluß,  auf  den 
hin  er  konstruiert  und  der  vorbereitet,  ja  vorher  ausgerechnet  war. 
Das  Märchen,  das  in  der  Welt  des  Wunders  lebt,  kann  doch  insofern 
auch  notwendig  enden,  als  es  irgend  eine  Idee  gelegentlich  konse- 
quent bis  zu  Ende  verfolgt,  etwa  die  Eitelkeit,  den  Haß  der  Stief- 
mutter in  Schneewittchen  oder  die  Belohnung  des  Guten  oder  der- 
gleichen. Die  Idee  eines  Charakters,  eines  menschlichen  Lebensver- 
hältnisses oder  schließlich  eines  gedanklichen  Problems  oder  eines 
Stimmungsbildes  führt  die  innerlich,  ideell  notwendige  Dichtung  not- 
wendig zu  Ende.  Davon  unabhängig  bedient  sich  die  konstruierende 
assoziierende,  die  erfindende  Dichtung  in  ihrem  Verlauf  des  Zufalls 
statt  des  Kausalprinzips.  Notwendigkeit  der  Idee  ist  die  Einheit  des 
Kunstwerks  und  seine  Grundbedingung;  Kausalnotwendigkeit  aber  ist 
nur  ein  Prinzip  entdeckender  Kunst,  die  mehr  im  Wissen  ankert  und 
nicht  im  Spiel  wie  die  Erfindung. 

5.  Anwendung.  Den  Typ  des  Erfinders  und  Entdeckers  kann 
man  überall  wiederfinden,  wo  es  sich  um  geistige  Neuschöpfung 
handelt.    Wem  sind  nicht  in  der  Philosophie  die  heftig  einander  be- 


74  CHARLOTTE  BÜHLER. 


fehdenden  Gegensätze  des  Systeme  konstruierenden  Metaphysikers 
und  des  die  wissenschaftlichen  Entdeckungen  hypothetisch  fortführen- 
den Realisten  bekannt?  Wer  kennt  nicht  jenen  zurzeit  aufs  äußerste 
zugespitzten  Gegensatz  der  die  Weit  durch  den  Geist  konstruierenden 
Idealisten  der  Marburger  Schule  und  des  vorsichtig  mehr  forschenden 
Realismus?  Jeder  sieht  wohl  den  Zusammenhang  neuer  Kunstströ- 
mungen mit  der  in  derselben  Generation  ausgesprochenen  Vorliebe 
für  jene  Form  des  Idealismus.  Lust  an  der  rein  geistigen  Neuschöpfung 
unabhängig  von  aller  Wirklichkeit  und  demgegenüber  die  Lust  der 
anderen  aru  Neuschaffen  in  immer  feinerem  gesteigerten  und  differen- 
zierteren Erfassen  des  Gegebenen,  etwa  noch  seines  Sinnes  und  Zweckes, 
so  in  der  Kunst,  so  in  der  Philosophie. 

Mannigfaltig  sind  die  Erfindungsmotive,  die  wir  besprechen. 
Aber  ihr  Geist  ist  derselbe:  frei  sprießen  sie  wie  die  Blume,  frei 
nutzen  sie  alle  Möglichkeiten  des  Geistes  zur  Neuschöpfung  über  das 
Gegebene  hinaus:  verwandelnd,  steigernd,  neu  zusammenfassend. 

Verschieden  sind  nun  die  Gesichtspunkte,  die  zu  einer  Vernach- 
lässigung der  kausalen,  der  Objektnotwendigkeit  führen  können.  Im 
ganzen  bedeutet  diese  Abkehr  eine  Wendung  gegen  das  Vorherrschen 
des  Erkenntnisprinzips,  des  Entdeckens  und  Deutens  in  der  Kunst. 
Sie  führt  heutzutage  oft  über  das  berechtigte  Maß  hinaus  zu  einer 
Vernachlässigung  des  positiv  Gewußten,  des  tatsächlich  mit  den  Sinnen 
Erfaßten.  So  wichtig  scheint  allein  die  Idee,  das  Gefühl,  der  Wille. 
Das  ist  nun  zweifellos  eine  Verirrung,  denn  je  höher  die  Kunst,  desto 
umfassenderes  Menschentum,  desto  vollständigeres  Erleben  ist  in  sie 
eingegangen. 

Die  Gründe  zur  Vernachlässigung  der  gegebenen  Gesetze  in  der 
Kunst  können  aber  noch  andere,  weniger  prinzipielle  sein.  In  der 
Volkskunst  stehen  affektive  Gründe  im  Vordergrund.  Man  will  den 
Hörer  für  sich  gewinnen,  will  ihn  fesseln,  spannen,  überraschen,  auf- 
regen; da  sind  die  Einsinnigkeit  der  Richtung  und  gesetzmäßige  Folge 
nicht  immer  zu  wahren,  es  kommt  auch  auf  sie  gar  nicht  an,  es 
sollen  nur  jene  Affekte  und  lebhafte  Vorstellungen  dazu  hervorgerufen 
werden,  auch  wohl  starke  Begehrungen,  nicht  aber  Erkenntnisse,  Ge- 
danken, einheitliche  Stimmungen  oder  ein  einheitliches  Weltbild.  Man 
will  etwa  immer  wieder  spannen,  so  fällt  die  Einsinnigkeit  der  Ent- 
wicklungsrichtung von  selbst,  dann  löst  sich  die  Richtungseinheit  in 
eine  Anzahl  nebeneinandergerichteter  Stücke,  in  einzelne  Stöße  gleichsam, 
in  Verwandlungen  auf,  —  soll  eine  Einheit  bestehen  bleiben,  so  muß 
sie  auf  andere  Weise,  etwa  durch  die  Identität  der  Hauptperson  oder 
des  Ereignisses  erhalten  werden.  Oder  man  will  nur  plaudern  und 
unterhalten   und   überläßt  sich  ganz  der  Führung  des  Zufalls,   dem 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  75 


plötzlichen  Einfall,  das  ist  der  Weg  der  assoziierenden  Phantasie- 
leistung. 

Solche  assoziierenden  Dichtungen,  die  nur  plaudern  wollen,  nur 
unterhalten,  sind  manche  Märchen,  sind  manche  Romane  von  Robert 
Kraft  und  Karl  May,  von  Volksschriftsteilern,  die  das  Gesetz  der  Lust 
ihres  Publikums  an  bunt  assoziierender  Reihung  zwar  nicht  theoretisch 
kennen,  aber  praktisch  befolgen.  Bei  Karl  May  muß  noch  etwas 
anderes  hinzugefügt  werden.  Vielfach  sind  seine  Romane  von  einer 
Idee  beherrscht.  Aber  es  muß  betont  werden,  daß  niemals  jeder  ein- 
zelne Schritt  der  Handlung  von  dieser  Idee  getragen,  daß  Idee  und 
Handlung  niemals  organisch  in  eins  verschmolzen  sind.  Damit  wollen 
wir  Karl  May  nicht  schmähen,  er  ist  der  Dichter  des  Volkes,  das  sich 
an  assoziierenden  Folgen  erfreut,  und  dient  manchem  Gebildeten  — 
warum  sollte  er  es  nicht  gestehen?  —  zur  Erholung  von  angestreng- 
tem geistigem  Arbeiten,  wenn  er  auf  künstlerische  Strenge  und  Einheit 
nicht  achtet,  sich  an  Wiederholungen  nicht  stößt,  kurz,  wenn  er 
nur  leicht  unterhalten  sein  will.  Wie  diese  Art  Unterhaltungsliteratur 
statt  eigenen  »Vor  sich  Hinträumens«  genossen  wird,  hat  sie  auch 
eine  Verwandtschaft  mit  dem  wirklichen  Traum,  in  dem  auch  das 
Richtunggebende,  die  Determination  und  Einheit  fehlt  und  assoziative 
Folgen  vorherrschen. 

Mir  scheint,  daß  im  Traum  die  Menschen  alle  einander  ähnlicher 
werden,  als  sie  im  Wachleben  sind.  Wenigstens  werden  alle  grund- 
legenden Unterschiede  der  intellektuellen  Befähigung  und  Ausbildung, 
der  ganzen  straffen  Organisation  des  konzentrierten  schaffenden 
Geistes  und  des  undisziplinierten,  geistig  Ungeschulten  nahezu  völlig 
aufgehoben.  Mögen  Reste  des  Wissens,  der  kritischen  Besinnung  im 
Traum  des  leichten  Schlafes  noch  bleiben,  jedenfalls  grundlegend  ist, 
daß  auch  im  gebildeten  Geist  das  Denken  seine  dirigierende  Stellung 
gegenüber  den  Vorstellungen  vollständig  eingebüßt,  ja  daß  dieses  Ver- 
hältnis sich  umgekehrt  hat.  Es  ist  eine  Folge  des  Auseinanderfallens 
von  Denken  und  Vorstellen,  das  oft  zu  völligem  Ausfall  des  Bedeu- 
tungs-  und  Beziehungsbewußtseins  führt,  wie  Hacker')  und  Köhler'*) 
trotz  aller  sonstigen  großen  Verschiedenheiten  ihres  Traumlebens  in 
ihren  sorgfältigen  Beobachtungen  übereinstimmend  feststellen  konnten. 
Während  das  Denken  sonst  die  Richtung  für  das  Vorstellen  abgibt, 
indem  es  beziehend,  bestimmend,  auslesend,  zusammenfassend,  immer 
zielbewußt  voran  schreitet,  behält  es  im  Traume  nur  mehr  einen  akzes- 
sorischen Charakter.  Bei  Gelegenheit  des  Vorstellens  wird  auch  ein- 
mal gedacht,  geurteilt,  geschlossen,  kritisiert.    Aber  ebenso  wohl  und 


')  Archiv  f.  d.  ges.  Psych.  Bd.  21.  1911. 
>)  Ebenda  Bd.  23,  1912;  26,  1913. 


76  CHARLOTl'E  BÜHLER. 


noch  häufiger  geht  es  auch  ohne  Denken,  reiht  sich  eine  Vorstellung 
nach  eigenen,  nach  den  Assoziationsgesetzen  an  die  andere.  Mit  dem 
Zurücl<treten  des  Urteils  hängt  auch  das  Zurücktreten  der  Sprache  im 
Traum  zusammen.  Man  wundert  sich,  wie  wenig  tatsächlich  im  Traum 
gesprochen,  gelesen  oder  geschrieben  wird.  Der  Grundstock  eines 
jeden  Traumes  sind  Bilder.  Auch  der  Grundstock  der  niederen  Voiks- 
literatur  sind  Bilderfolgen.  Was  diese  zusammenhält,  ist  häufig  nichts 
als  geläufige  Assoziationen  oder  Reminiszenzen  aus  anderswo  Ge- 
lesenem, vor  allem  aber  die  Person  des  Helden,  die  im  Traum  gar 
häufig  mit  allem  Ich-  und  Bedeutungsbewußtsein  verloren  geht.  Einer 
der  besten  dieser  Volksschriftsteller,  Robert  Kraft,  beschreibt  in  einer 
interessanten  Einleitung  zu  seinem  sechzigheftigen  Lieferungswerk  »Die 
Augen  der  Sphinx <  die  Art,  in  der  seine  Romane  Zustandekommen. 
Das  stimmt  in  der  Tat  mit  unseren  Behauptungen  aufs  beste  überein. 
Dieser  junge  Mann  hatte  als  Matrose,  als  Jäger,  als  Globetrotter  jeder 
Art  alle  Teile  der  Welt  bereist  und  unter  den  seltsamsten  Abenteuern 
die  seltsamsten  Eindrücke  empfangen.  In  einem  arabischen  Brutofen 
findet  er  eine  ägyptische  Sphinx  mit  rotglühenden  Augen,  deren  starrer 
Blick  ihn  bannt.  Er  nimmt  sie  mit  nach  Deutschland  und  sie  ist  es, 
die  seine  Werke  inspiriert.  Hinter  dem  Schreibtisch  vor  ihm  stehend 
versetzen  ihre  Blicke  ihn  in  eine  Art  Trance,  in  einen  Traumzustand, 
in  dem  ein  buntes  Gemisch  von  Erinnerungsbildern  und  Einfällen  sich 
vor  ihm  aufrollt.  Hören  wir  ihn  selbst.  Nach  einem  Spaziergang 
morgens  um  5  Uhr  im  Winter  und  Sommer  kehrt  Robert  Kraft  in  sein 
Haus  zurück.  »Nachdem  ich  mich  in  einem  Vorraum  der  Stiefel  und 
des  Mantels  entledigt  habe,  steige  ich  zum  Turmzimmer  empor.  Es 
ist  eine  enge  niedrige  Kammer,  enthält  nur  einen  Kachelofen,  einen 
alten  Großvaterstuhl  und  einen  großen  Schreibtisch.  Außerdem  ziehen 
sich  durch  das  Zimmer  noch  mehrere  Drähte. 

Auf  dem  Schreibtisch  steht  eine  Schreibmaschine,  über  deren 
Walze  Papier  ohne  Ende  läuft,  das  sich  durch  eine  einfache  Vorrich- 
tung auch  selbsttätig  wieder  aufrollt.  Darüber  hängt  eine  Lampe  von 
besonderer  Konstruktion. 

Ich  setze  mich,  den  Rücken  gegen  den  wohlgeheizten  Ofen,  ver- 
stelle die  Lampe,  so  daß  ein  ganz  kleiner  Blendstrahl  nur  gerade 
dorthin  aufs  Papier  fällt,  wo  beim  Schreiben  auf  der  Maschine  die 
letzte  Schrift  zum  Vorschein  kommt.  Sonst  ist  das  Zimmer  voll- 
ständig dunkel,  auch  ich  sitze  so  gut  wie  im  Finstern. 

Einige  Minuten  der  Sammlung.  Dann  ziehe  ich  an  einem  Drahte. 
Und  da  rollt  im  Hintergrund  ein  Vorhang  weg,  und  da  liegt,  von 
gelbem  Licht  umflossen,  eine  ungeheure  Sphinx,  die  mich  mit  rot- 
glühenden Augen  anblickt. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  77 

Tatsächlich,  es  scheint  ein  riesenhaftes  Ungeheuer  zu  sein!  Das 
ist  natürlich  nur  eine  perspektivische  Täuschung,  in  Wiri<lichkeit  ist 
es  eine  spannenlange  Steinfigur  mit  roten  Glasaugen,  die  sich  in  einem 
an  der  Wand  angebrachten  Kasten  befindet;  sie  wird  von  einem  ver- 
steckten Lämpchen  erleuchtet,  und  durch  Drähte  kann  ich,  ohne  vom 
Schreibtisch  aufstehen  zu  müssen,  das  Ganze  hin-  und  her  rücken,  bis 
die  Täuschung  der  Perspektive  eine  vollständige  ist. 

Für  mich  ist  es  eine  ungeheure  Sphinx,  welche  dort  in  weiter, 
weiter  Ferne  liegt  und  mir  dennoch  handgreiflich  nahe.  Unverwandt 
blicke  ich  sie  an  wie  sie  mich.  Und  die  rotglühenden  Augen  bohren 
sich  in  mein  Hirn  und  brennen  mir  bis  ins  Herz.  Und  dann  fangen 
diese  rotglühenden  Augen  auch  zu  sprechen  an.  Unbewußt  legen 
sich  meine  Finger  auf  die  Tasten  der  Schreibmaschine.  Und  so  immer 
starr  in  die  rotfunkelnden  Augen  der  Sphinx  blickend,  beginne  ich  zu 
schreiben.  Stunde  um  Stunde. 

Was  ich  schreibe?  Ich  weiß  es  selbst  nicht.  Ich  schreibe  ganz 
unbewußt.  Aber  wenn  ich  es  hinterher  lese,  so  hat  alles  Hand  und 
Fuß.  So  entstehen  meine  Romane,  mit  denen  ich  seit  vierzehn  Jahren 
das  Publikum  unterhalte. 

Ich  bin  ein  Trance-Schreiber. 

Ich  bin  ein  lebendiger  Zeuge  dafür,  daß  es  Dinge  gibt  zwischen 
Himmel  und  Erde,  von  denen  sich  unsere  Schulweisheit  nichts  träumen 
läßt!«    (Augen  der  Sphinx  S.  2  und  folgendes  S.  2Q): 

»Wie  ich  meine  Romane  schreibe,  habe  ich  eingangs  ge- 
schildert. 

Doch  man  darf  mich  nicht  mißverstehen.  Nicht  etwa,  daß  ich 
ein  spiritistisches  Medium  bin,  dem  ein  Geist  oder  die  Sphinx  diktiert. 
Nein,  es  ist  meine  eigene  Phantasie,  und  ohne  meine  eigenen  Erfah- 
rungen und  Erlebnisse  wäre  dies  alles  gar  nicht  möglich,  meine  ganze 
Entwicklung  war  dazu  nötig. 

Allerdings  ist  Seltsames  genug  dabei.  Früher  habe  ich  mich  in 
den  Pausen  und  bei  nächtlicher  Weile  immer  abgequält,  wie  ich  denn 
nun  die  Fortsetzung  gestalten  solle,  wie  ich  dies  und  jenes  noch  ent- 
wickeln möchte.  Bald  aber  erkannte  ich,  daß  diese  Sorge  gar  nicht 
nötig  ist.  Ganz  unvorbereitet  setze  ich  mich  an  die  Schreibmaschine, 
blicke  in  die  Augen  der  Sphinx,  oder  kann  auch  meine  Augen  schließen, 
sehe  sie  dennoch,  nehme  den  letzten  Gedanken  auf  —  die  anderen 
kommen  ganz  von  selbst,  der  Roman  wickelt  sich  ab  wie  meine 
Papierrolle.  Und  habe  ich  einmal  eine  Fortsetzung,  einen  ganzen 
Roman  im  Entwurf  schon  aufgestellt,  so  zeigt  sich  dann,  daß  alles 
ganz,  ganz  anders  kommt,  und  zwar  immer  viel  besser,  als  ich  ge- 
plant hatte. 


78  CHARLOTTE  BÜHLER. 


Schließlich  gibt  es  für  dieses  unbewußte  Schreiben,  wenn  man 
durchaus  will,  eine  ganz  einfache  Erklärung. 

Es  ist  nicht  anders  als  mit  dem  Träumen.  Wir  können  den  Inhalt 
unserer  Träume  doch  ebenfalls  nicht  bestimmen.  Bei  mir  ist  es  ein 
Träumen  in  wachem  Zustande.  Oder  doch  im  halbwachen.  Denn 
ganz  wach  bin  ich  nicht.  Während  des  Schreibens  weiß  ich  absolut 
nicht,  was  um  mich  her  vorgeht,  und  wenn  ich  aufhöre,  weiß  ich 
nicht,  ob  ich  fünf  Stunden  oder  fünf  Minuten  geschrieben  habe. 

Ja,  es  ist  nichts  weiter  als  eine  Art  von  Träumen,  dessen  inhalt- 
liche Ausgestaltung  ich  nur  mehr  in  meiner  Gewalt  habe,  so  dass 
sich  die  Bilder  nicht  verzerren,  und  die  Sphinx  dient  mir  nur  zur 
besseren  Erzeugung  dieses  Traumzustandes.  Was  sonst  damit  zu- 
sammenhängt, wie  ich  zu  der  Sphinx  gekommen  bin,  davon  wollen 
wir  nicht  mehr  sprechen. 

Ich  bin  mit  Absicht  Volksschriftsteller  geworden.  Ich  weiß,  was 
ich  will,  wer  ich  bin  und  was  ich  tue.  Meine  Romane  sind  keine 
epochemachenden  Erzeugnisse  der  Literatur.  Ich  schreibe  zur  Unter- 
haltung des  Volkes. 

Ich  bin  Arbeiter  gewesen,  bin  es  noch  heute,  will  nichts  anderes 
sein.  Man  muß  nur  immer  recht  und  billig  denken.  Ich  tanze  nicht, 
habe  niemals  Gefallen  daran  gefunden,  aber  ganz  fern  liegt  mir,  des- 
halb das  Tanzen  verurteilen  zu  wollen.  Im  Gegenteile,  ich  freue  mich 
über  fröhlich  tanzende  Menschen. 

Ich  achte  den  Schuster,  der  mir  gute  Stiefel  macht,  genau  so  hoch 
wie  den  Dichter,  der  mich  durch  ein  Theaterstück  ergötzt,  und  wie 
den  Fürsten,  der  sein  Land  und  Volk  nach  bester  Einsicht  regiert, 
und  ich  ziehe  vor  meiner  Waschfrau,  die  mir  auf  der  Straße  Gutentag 
wünscht,  genau  so  höflich  den  Hut  wie  vor  der  Frau  Geheimrat.  So 
seid  auch  ihr  recht  und  billig,  laßt  meine  Romane  nach  des  Tages 
Arbeit  lesen,  wem  sie  gefallen,  sie  dienen  zur  Unterhaltung,  und  wem 
sie  nicht  gefallen,  der  kritisiere  sie  nicht!« 

Diese  Auslassungen  eines  naiven  Beobachters  über  seinen  eigenen 
Zustand  sind  höchst  interessant,  nicht  nur  weil  sie  uns  zeigen, 
daß  dieser  Volksdichter  selbst  die  Art  seines  Schaffens  mit  einem 
Träumen  vergleicht,  sondern  auch,  weil  sie  uns  mancherlei  über  den 
Entstehungsprozeß  dieser  Art  Dichtungen  verraten,  was  zu  sagen  viel- 
leicht nicht  beabsichtigt  war.  Der  wesentlichste  Satz  darüber  ist  dieser: 
Die  Volksdichtungen  entstehen  als  Improvisationen.  Sie  haben 
alle  Vorzüge  und  Fehler  von  solchen,  die  Unmittelbarkeit,  Frische 
und  Aufrichtigkeit,  aber  auch  den  Mangel  an  Überlegung  und  Ge- 
danken überhaupt,  mangelnde  Vorarbeit,  keinen  Überblick,  keine  Vor- 
aussicht  und  daher  auch   weder  Zentralisation   noch  Formung  über- 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  7Q 


haupt,  sondern  bloße  Assoziation.  Der  Dichter  weiß  oft  nicht,  wie 
es  nun  weitergehen  soll.  Er  begibt  sich  oft  unvorsichtig  in  eine 
Lage,  aus  der  er  dann  I<aum  hinausfindet.  Ein  sehr  amüsantes  Bei- 
spiel der  Art  findet  sich  in  dem  ersten  Stück  dieser  Romanserie  »im 
Panzerautomobil  um  die  Erde«.  Es  kommt  nämlich  mitten  drin  zu 
einer  Katastrophe,  in  welcher  der  Held  das  Leben  verliert.  Hier  fallen 
dem  Autor  momentan  die  Zügel  gänzlich  aus  der  Hand.  Die  Sache 
wäre  nun  ja  eigentlich  zu  Ende.  Aber  das  Ende  soll  doch  gut  sein, 
und  was  soll  nun  die  Heldin  machen,  die  ihren  Jüngling  doch  am- 
Schluß  heiraten  müßte!  Ich  war  sehr  gespannt,  wie  Kraft  sich  aus 
dieser  Klemme  heraushelfen  würde,  war  schon  auf  Scheintod  oder  der- 
gleichen gefaßt,  obwohl  ich  mir  sagte,  daß  jedes  Wunder  durch  das 
wissenschaftliche  und  realistische  Air,  das  sich  der  Volksroman  zu 
geben  sucht,  ausgeschlossen  ist.  Nun  der  Autor  hilft  sich  schließlich 
viel  einfacher,  aber  es  wirkt  doch  etwas  albern.  Die  ganze  Angelegen- 
heit stellt  sich  nämlich  nachträglich  als  ein  Mißverständnis  heraus,  nicht 
der  Held,  sondern  der  Gegenspieler  war  auf  der  Bahre,  auf  welcher  die 
Heldin,  da  es  gerade  dunkel  und  der  halbtote  Körper  verstümmelt 
war,  ihren  Geliebten  zu  erkennen  meinte.  Daß  allerdings  der  Mann 
auf  der  Bahre  auf  die  Anrede  »Georg«  im  Sterben  geantwortet  hatte 
»ich  bin  es  und  sich  damit  als  den  Helden  zu  erkennen  gegeben 
hatte,  müßte  man  inzwischen  wieder  aus  dem  Gedächtnis  verloren 
haben. 

Robert  Kraft  sagt  es  in  seiner  Einleitung  selbst:  oft  habe  er  sich 
mit  Überlegungen  gequält,  wie  seine  Geschichte  nun  wohl  weiter- 
gehen solle.  Später  sind  ihm  die  assoziativen  Anschlüsse  in  einer 
Art  Autosuggestion  von  selbst  zugekommen.  Das  Ganze  aber  ist 
nur  im  Nacheinander  der  in  einzelnen  Einfällen  gewonnenen  Teile 
entstanden. 

Eine  so  rein  und  blindlings  assoziierende  Dichtung  wie  die  Träume 
des  Tiefschlafs  oder  die  Konfabulationen  ganz  kleiner  Kinder  oder  die 
Assoziationsreihen  der  Ideenflüchtigen  gibt  es  praktisch  kaum.  Die 
niederste  Volksliteratur  unterscheidet  sich  schon  von  diesem  Extrem 
durch  bestimmte  Zielsetzung,  welche  die  Richtung  der  Reihenabläufe 
in  etwas  determiniert.  Dies  Ziel  zu  spannen,  zu  unterhalten,  aufzu- 
regen, in  Affekte  wie  Furcht  und  Hoffnung  und  dergleichen  zu  ver- 
setzen beeinflußt  den  Verlauf.  Auch  wird  perseverierend  die  Sphäre 
konstanter  festgehalten  als  im  Traum.  Im  übrigen  aber  dient  zur  Ver- 
einheitlichung und  Zusammenfassung  nichts  weiter  wie  die  Haupt- 
person, die  durch  eine  Unzahl  Erlebnisse  wandert,  mit  Gegenspielern 
und  sonstigen  Trabanten  ausgestattet.  Ihre  Existenz  wie  die  Wünsche, 
Befürchtungen  und  Hoffnungen,  mit  denen  der  Leser  ihrem  Schicksal 


gO  CHARLOTTE  BÜHLER. 


folgt,  vereinheitlichen  den  Tatsachenstrom  in  einem  Bett.  Dieses  Band 
durch  Wunsch  und  Oefühi  ist  die  erste  einfachste  Verknüpfungsform 
zum  Ganzen  in  der  Literatur.  Psychologisch  ist  die  Sache  so  zu 
denken,  daß  ein  einheitlicher  Beziehungspunkt  für  Oefühi,  Affekt  und 
Willen  durchgehend  feststeht,  ohne  daß  nun  aber  auch  das  Ganze 
der  Tatsachen  zusammengefaßt  werden  müßte.  Alle  Ereignisse  werden 
immer  wieder  zu  denselben  Personen  in  Furcht  und  Hoffnung,  Liebe 
und  Haß  in  Beziehung  gesetzt  bis  zu  einem  letzten  Ereignis,  das 
einen  Höhepunkt  des  Glücks  darzustellen  scheint.  Das  ist  der  natür- 
liche Schluß,  der  da  befriedigt,  wo  es  nur  auf  Affekte  ankommt.  Es 
sind  Assoziationsreihen,  wie  man  sie,  ich  erwähnte  das  schon,  weniger 
sensationell  im  Wachträumen  haben  kann,  wenn  man  eine  Reihe  von 
Erlebnissen  durchgeht,  immer  wieder  im  Hinblick  auf  die  eigene 
gehabte  Lust  oder  Unlust  bis  zu  einem  schönsten  Moment,  bei  dem 
man  verweilt.  Von  Zusammenfassung  ist  hier  keine  Rede,  vereinheit- 
lichend wirkt  hier  nur  die  durchgängige  Ichbeziehung,  es  sind  eben 
alles  meine  Erlebnisse. 

Das  ist  nun  ganz  und  gar  nicht  zu  verwechseln  mit  dem  Kunst- 
werk, in  dem  etwa  eine  Stimmungseinheit  das  Prinzip  zur  Zusammen- 
fassung abgibt.  Denn  hier  wird  zusammengefaßt  zu  eben  dieser 
Stimmungseinheit,  etwa  in  dem  Gedicht  »Auf  dem  See«  von  Goethe 
oder  in  »Wanderers  Nachtlied«  oder  in  dem  berühmten  Gedicht  »Es 
schlug  mein  Herz,  geschwind  zu  Pferde!«  Inhaltsfolge,  d.  h.  Motive, 
Handlung,  Beschriebenes  sowie  die  Darstellung,  d.  h.  Wörter,  Rhyth- 
mus, Reim  und  Klang,  Aufbau  und  Aneinanderschluß,  alles  dient  hier 
zusammen  dem  einen  und  will  zusammengefaßt  sein  in  dem  einen: 
Stimmungseinheit. 

Das  höhere  Kunstwerk  stellt  solch  eine  Einheit,  sokh  ein  Ganzes 
dar,  das  nicht  nur  im  Verlauf  immer  wieder  auf  einen  Gesichtspunkt 
bezogen,  sondern  zusammengefaßt  sein  will.  Die  Stimmung  gibt  im 
einen  Fall  das  Prinzip  für  die  Zusammenfassung  ab.  Im  andern  Fall 
ist  es  ein  Gedanke.  Schillers  Bürgschaft  z.  B.  wandert  durch  ver- 
schiedene Stimmungen,  sie  bilden  keine  Einheit,  die  hier  zugrunde 
liegende  Einheit  ist  der  Gedanke  der  Freundschaft.  Es  wäre  lächerlich, 
wollte  man  in  jeder  Ballade,  jedem  Roman  eine  Gedankengrundiage 
suchen;  Münchhausen  hat  ganz  recht,  sich  darüber  zu  mokieren  i).  So 
gut  wie  Gedanken  im  einen  Fall,  können  Stimmungen  im  anderen  oder 
sonstige  Formeinheiten,  z.  B.  das  Dekorative  einer  Handlung,  einer 
Oebärdenkomposition   (Johanna  Sebus)  oder  schließlich   die  Darslel- 


')  »Zur   Ästhetik   meiner    Balladen«.     Deutsche   Monatsschr.   f.   d.    Leben   d. 
Gegenwart  Bd.  11,  1906,  S.  97. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  81 

lung  eines  Charaktertyps,  eines  Volkstyps  oder  dergleichen  die  Grund- 
idee bilden.  Auch  hier  muß  man  sich  vor  Verwechslungen  mit  obigem 
Assoziationstyp  hüten.  Eine  Persönlichkeit  war  auch  dort  durchgängige 
Beziehungsgrundiage.  Aber  es  kam  nicht  auf  die  Gestaltung  dieser 
Persönlichkeit  als  einer  im  Mittelpunkt  stehenden  alle  Beziehungen 
umfassenden  Einheit  an,  sondern  auf  eine  Anzahl  Handlungen  und 
Ereignisse  als  solche.  Vergleicht  man  den  Grafen  von  Monte  Christo 
mit  Cousine  Bette  von  Balzac  und  mit  dem  Heiligen  von  Conrad 
Ferdinand  Meyer,  so  ist  zwar  in  allen  dreien  das,  worum  sich  die 
Handlung  dreht,  eine  Rache,  aber  nur  im  ersten  Fall  ist  es  dieses 
Motiv  der  Rache  als  solches,  welches  als  Affektmotiv  einheitbildend 
im  Mittelpunkt  steht,  im  zweiten  ist  es  die  Charakteristik  eines  be- 
stimmten Menschentypus  aus  dem  Leben,  nämlich  der  Parents  pau- 
vres^),  und  im  dritten  Fall  schließlich  ist  es  die  Persönlichkeit  des 
Heiligen,  Anselms  von  Canterbury,  die  in  ein  faszinierendes  Licht, 
interessant,  problematisch  gestellt  wird. 

Entdeckender  und  erfindender  Künstler  brauchen  im  Charakter 
der  Idee  sich  nicht  zu  unterscheiden,  aber  die  Art  und  Weise,  wie  sie 
zu  ihrer  Vereinheitlichung  kommen,  weicht  voneinander  ab.  Während 
der  Erfindende  sich  nur  von  der  Notwendigkeit  seiner  Idee  abhängig 
macht,  bindet  sich  der  Entdeckende  noch  an  die  kausalen  Entwicklungs- 
gesetze. Es  liegt  in  der  Natur  der  Sache,  daß  der  Erfindende  die  Ein- 
heit konstruiert  und  synthetisch  baut,  während  der  Entdeckende  sie  aus 
Gegebenem  herausanalysiert.  So  ist  beim  Erfinder  die  Idee  vor  der 
Verlebendigung,  beim  Entdecker  springt  sie  aus  der  Erscheinung  ge- 
deutet heraus.  Dieser  Gegensatz  beleuchtet  erneut  den  Unterschied 
des  Expressionisten  und  Impressionisten.  Dieser,  der  Entdecker,  deutet 
aus  entdeckend  Geschautem,  Neudargestelltem,  Gegebenem  nachträg- 
lich kausal  entwickelnd  den  Sinn,  jener  setzt  den  Sinn  und  dazu  nach- 


')  H.  Heiß  in  seiner  glänzenden  Analyse  Balzacs  (Heidelberg  1913)  weist  zwar 
mit  Recht  darauf  hin,  wie  in  der  »Cousine  Bette«  zahlreiche  verschiedene  Hand- 
lungen sich  kreuzen,  wobei  nicht  immer  die  Cousine  Bette  im  Mittelpunkt  zu  stehen 
scheint.  Und  doch  möchte  ich  meinen,  daß  wenn  auch  faktisch  das  Ganze  in 
mehrere  nebeneinander  herlaufende  Handlungen  zu  zerlegen  ist,  der  Intention  nach 
diese  eine,  diese  ganz  eigenartige  und  neue  Gestalt  der  armen  Verwandten  als 
Typus  in  den  Mittelpunkt  tritt,  zerstörend  zu  wirken,  wo  sie  nur  kann,  nicht  nur 
aus  Eifersucht  und  verletzter  Eitelkeit,  nicht  nur  in  Wut  über  geraubtes  Glück,  son- 
dern mehr  noch  zutiefst  aus  dem  hassenden,  sich  empörenden  Instinkt  der  von  der 
Natur  vernachlässigten,  vom  Schicksal  zurückgesetzten  »armen  Verwandten«.  Dieser 
Typ  eben  scheint  mir  das  Originelle,  das  in  dem  Riesenausmaß  seiner  Möglichkeiten 
hier  so  Spannende  und  Packende.  Ich  möchte  übrigens  diese  Stelle  benutzen,  um 
Herrn  Prof.  Heiß  für  die  zahlreichen  Anregungen  und  Belehrungen,  die  ich  aus 
unseren  lebhaften  gemeinsamen  Diskussionen  auch  für  diese  Arbeit  empfangen 
habe,  freundschaftlichst  zu  danken. 

Zettschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  KiiiutwisseiiKhaft.    XV.  6 


82  CHARLOTTE  BÜHLER. 


träglich  das  Erlebnis,  das  ihn  rechtfertigt.  Der  halbkünstlerische  Er- 
finder setzt  eine  Idee  und  die  Veranschaulichung  daneben,  dazu,  bringt 
es  nicht  zu  organischer  Durchdringung,  wie  in  jenem  Fall  der  Ideen- 
verwirklichung. Dumas  z.  B.  nimmt  die  Rache  und  konstruiert  eine 
Reihe  von  Anschauungsformen  derselben,  Karl  May  nimmt  die  Freund- 
schaft oder  andere  unsterbliche  Ideen  und  setzt  ihr  in  Winnetous 
Gestalt  ein  monumentum  aere  perennius.  Auch  in  Schillers  Räubern 
sind  die  Menschen  noch  auffallend  »behangen«  mit  Eigenschaften, 
die  der  Idee  zuliebe  konstruiert  sind.  Erlebt,  durchrungen  und  ent- 
deckend herausgelöst  aus  dem  Erleben  aber  ist  das  Problem,  seine 
Freiheitsidee  und  ihre  gestaltete  Wandlung,  während  jene  anderen 
angeführten  Beispiele  die  Idee  starr  und  stabil  zeigen. 

Im  großen  Dichter  vereinigen  sich,  wie  wir  hier  sehen  und  unter- 
wegs schon  bemerken  konnten,  Analyse  und  Synthese,  Entdeckung 
und  Erfindung.  Formung  und  Materialgewinnung  stehen  ohnehin  oft 
auf  verschiedenem  Blatt. 

Den  Konstruktionsgang  eines  mit  Zufällen  arbeitenden  reinen  Er- 
findungstyps im  Gegensatz  zum  Kausalgang  eines  wesentlich  ent- 
deckenden Werkes  soll  die  Analyse  des  Monte  Christo  und  des 
i Heiligen«  von  Conrad  Ferdinand  Meyer  aufzeigen.  Dann  bleibt 
noch  die  Einheitsbildung  zum  Schluß  des  näheren  zu  besprechen. 
Zunächst  also:  »der  Graf  von  Monte  Christo«  von  Alexander  Dumas 
und  »der  Heilige«  von  Conrad  Ferdinand  Meyer.  Motiv:  Die  Rache. 
Der  Frevel,  der  sie  hervorruft,  wird  im  Falle  Monte  Christo  von 
mehreren  Personen  vollführt:  gerichtliche  Anzeige  durch  einen  Neider, 
Mitwisserschaft  eines  Eifersüchtigen  und  eines  Geldgierigen,  Justiz- 
verbrechen in  Form  ungerechter  Verurteilung  durch  einen  Ehrgeizigen. 
Von  allen  Beteiligten  aus  gesehen:  Beseitigung  eines  Unbequemen. 

Der  Frevel  im  Falle  »der  Heilige«  ist  tödliche  Beleidigung  eines 
Vaters  durch  Verführung  seiner  Tochter. 

Die  Rache  im  Falle  Monte  Christo  ist  der  Sturz  der  Verbrecher 
aus  ihren  .glänzenden  Laufbahnen  und  zwar  jedes  einzelnen  auf  be- 
sondere Weise.  Der  erste  wird  pekuniär  ruiniert,  des  zweiten  Ehr- 
losigkeit wird  bloßgestellt,  der  dritte  kommt  bei  einem  neuen  Ver- 
brechen um,  das  ihm  zur  Falle  wird,  der  vierte  wird  eines  Verbrechens 
überführt.  Es  kommt  dem  Grafen  von  Monte  Christo  und  seiner  Rache 
glücklich  zupaß,  daß  diejenigen,  die  an  ihm  frevelten,  sich  weiterer 
Ruchlosigkeiten  in  ihrem  Leben  nicht  enthalten  konnten.  Man  kann 
aber  nicht  behaupten,  daß  diese  Ruchlosigkeiten  in  irgend  einem 
inneren  Zusammenhang  mit  dem  anfangs  geschilderten  Charakter  der 
vier  Bösen  ständen,  abgesehen  davon,  daß  es  eben  wiederum  böse 
Handlungen  schlecht  veranlagter  Menschen  sind,  und  man  kann  —  da 


I 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  83 


ein  solcher  Zusammenhang  eben  nicht  notwendig  vorliegt  —  den 
Racheisefilssenen  zu  den  glücl<lichen  Zufällen  nur  beglückwünschen, 
die  ihm  in  Gestalt  dieser  neuen  Verbrechen  zu  Hilfe  kommen.  Aber 
nehmen  wir  einmal  an,  die  Tatsache  dieser  erneuten  Freveltaten  lasse 
sich  aus  dem  Wesen  jener  Bösewichter  hinreichend  notwendig  machen, 
so  wird  sich  doch  hinsichtlich  der  Durchführung  der  Rache  nicht  das 
Gleiche  sagen  lassen. 

Die  Rache  im  Falle  »der  Heilige«  erfolgt  überhaupt  nicht  als  eine 
direkt  gegen  den  Schuldigen  gerichtete  Gegenmaßnahme,  sondern  als 
eine  aus  der  Lage  des  so  tief  Getroffenen  notwendig  hervorgehende 
Charakterentwicklung,  die  im  Zusammenwirken  mit  dem  Wesen  des 
Schuldigen  eine  hoffnungslose  Schädigung  für  diesen  bedeuten  muß. 

Um  seiner  mächtigen  Gegner  habhaft  zu  werden,  muß  Monte 
Christo  einen  unermeßlichen  Reichtum,  ein  tiefgründiges  Wissen,  einen 
erstaunlichen  Scharfsinn,  Erfindungsgeist  und  Findigkeit,  einen  eisernen 
Gleichmut  und  die  Menschenkenntnis  eines  die  Menschen  überragen- 
den, leidenschaftslos  sie  durchschauenden  Gottes  besitzen.  Welcher 
Apparat  von  Hilfsmitteln!  Um  seinen  mächtigen  Feind  mitten  ins 
Herz  zu  treffen,  und  ihm  alle  Macht  und  Kraft  zu  nehmen,  braucht 
der  Heilige  nichts,  als  der  Entfaltung  seines  innersten  Wesens  Raum 
zu  gewähren.  In  beiden  Fällen  macht  der  heimlich  am  Untergang 
des  Schuldigen  Tätige  sich  diesen  verpflichtet,  diesem  unentbehrlich. 
Aber  welcher  Apparat  von  Unfällen,  Geschenken,  zufälligen  Hilfe- 
leistungen auf  der  einen  Seite,  wie  einfach  das  natürliche  Dienstver- 
hältnis auf  der  anderen.  Nun  wird  man  vielleicht  einwenden,  es  sei 
eine  dem  Leben  durchaus  entsprechende  Charakterverschiedenheit  der 
beiden  Racheübenden,  wenn  der  eine  bewußt  und  mit  der  Anwendung 
aller  ihm  zu  Gebote  stehenden  Mittel  an  der  Vernichtung  seiner  Gegner 
arbeite,  der  andere  aber  absichtlich  und  bewußt  eigentlich  nichts  tue, 
sondern  mehr  instinktiv  sich  in  der  Richtung  entwickle,  die  seinem 
Feinde  verderblich  werden  müsse.  Wir  wollen  nicht  erst  nachweisen, 
daß  diese  Gegenüberstellung  den  Unterschied  der  Handlungsweise 
ganz  unzulässig  vergrößert,  da  es  ein  so  völlig  unbewußtes  Handeln 
hier  auf  der  einen  Seite  gar  nicht  ist,  sondern  wollen  viel  radikaler 
dartun,  daß  auf  diesen  Unterschied  gar  nichts  ankommt.  Auch  der 
so  bewußt  und  aktiv  seine  Rache  Suchende  hätte  den  Weg  gehen 
können,  den  der  Heilige  weniger  bewußt,  weniger  absichtlich  und 
aktiv  beteiligt  einschlägt,  nämlich  den  Weg  der  Vernichtung  des 
Gegners  durch  Ausnutzung  seiner  natürlichen  Schwächen  im  Verein 
mit  der  eigenen  Überlegenheit.  Das  aber  ist  eben  der  Unterschied 
der  beiden  Romane,  der  Kampf  des  Monte  Christo  spielt  sich  nicht 
in  den  Seelen  ab;  Monte  Christo  gewinnt  nicht  von  den  Seelen  seiner 


84  CHARLOTTE  BÜHLER. 

Feinde  her  die  Macht  zu  ihrer  Vernichtung,  sondern  er  bereitet  von 
außen  her  einen  Angriff  vor,  der  erst  am  Schluß  durch  seinen  äußeren 
Erfolg  auch  die  Seelen  seiner  Feinde  zerstört.  Er  erfindet  seine  Rache. 
Umgekehrt  ist  es  beim  Heiligen.  Schon  durch  sich  selbst,  schon 
durch  sein  Tun  ist  der  Gegner  gebrochen,  und  von  der  Seele  her 
beginnt  der  Rächende  seinen  Kampf,  dessen  äußerer  Erfolg  nur  ein 
Schlußeffekt,  eine  notwendige  Folge  der  durch  den  inneren  Sieg  her- 
vorgerufenen neuen  Kräfteverteilung,  Schwäche  des  Unterliegenden 
und  Macht  des  Triumphierenden,  darstellt.  Nun,  es  gibt  kaltblütige 
Verbrecher,  wird  man  einwenden,  die  sich  seelisch  nicht  aufreiben 
und  nicht  ruinieren  lassen.  Vier  dieser  Art  nebeneinander  dürfte 
indes  doch  etwas  reichlich  sein.  Es  lassen  sich  nachträglich  schwer 
Vermutungen  darüber  anbringen,  wie  Monte  Christo  den  sauberen 
General,  den  sauberen  Bankier,  den  verkommenen  Gastwirt  und  den 
pharisäischen  Staatsanwalt  von  ihren  eigenen  Schwächen  her  hätte 
verderben  und  kaltstellen  können,  denn  von  den  Seelen  dieser  Männer 
wissen  wir  leider  nicht  viel.  Kein  Zweifel  indes,  daß  es  möglich 
gewesen  wäre,  daß  es  aber  eine  ganz  andere  Anlage  des  Romans 
vorausgesetzt  hätte,  als  in  der  Absicht  des  Dichters  lag.  So  wie 
der  Roman  nun  einmal  ist,  setzt  die  Möglichkeit  der  Rache  des  Grafen 
die  Kenntnis  einer  Unzahl  von  Tatsachen  und  Berechnung  einer  An- 
zahl von  Wirkungen  voraus,  wie  sie  nur  Zufälle  ihm  in  dieser  Häu- 
fung zutragen  konnten.  Er  lernt  das  Opfer  der  Ruchlosigkeit  des 
Generals  im  Orient  kennen  und  führt  es  als  liebende  Sklavin  mit  sich, 
er  hat  denjenigen  zum  unbedingt  ergebenen  Hausverwalter,  der  um 
das  Verbrechen  des  Staatsanwalts  weiß.  Er  hat  die  Möglichkeit,  an 
unsichtbaren  Fäden  alle  Personen  im  Sinne  seiner  Absichten  zu  diri- 
gieren, ohne  daß  der  geringste  Umstand  seine  Berechnung  ihrer  Hand- 
lungen, Entschlüsse  und  Überlegungen  störend  durchkreuzt  oder  als 
irrtümlich  erweist.  Eben  diese  gottähnliche  Voraussicht  und  Einsicht 
ist  indes  allzu  lebensunwahr.  Kein  lebendes  Wesen  wird  das  Leben 
in  die  Bahnen  einer  vorkonstruierten  Entwicklung  leiten  können,  es 
sei  denn,  daß  er  es  mit  Maschinen  zu  tun';hat  oder  etwa  mit  einem 
Fluß,  dem  er  ein  neues  Bett  gräbt,  indem  er  es  richtig  unternimmt, 
ihn  aus  dem  alten  abzulenken.  Der  Graf  von  Monte  Christo  ist  kein 
Werk,  das  Zufälle  nach  plötzlichen  Eingebungen  des  Verfassers  häuft, 
sondern  das  Nötige  ist  vorherbedacht.  Aber  diese  Art  autokratischer 
Konstruktion  kommt  im  objektiven  Effekt  auf  ziemlich  das  Gleiche 
hinaus  wie  die  assoziierten  Einfälle  des  Zufallromans.  Ein  allzu 
sicheres  Eintreffen  vorausberechneter  Tatsachen  sieht  von  außen  der 
Inszenierung  glücklicher  Zufälle  so  ähnlich  wie  ein  Ei  dem  anderen. 
Das  wirkliche  Leben  ist  ebensowenig  ganz  unberechenbar  wie  genau 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG. 


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zu  berechnen,  die  Wirklichkeit  liegt  in  der  Mitte.  Ein  Künstler,  dessen 
Darstellung  die  Lebendigkeit  des  Lebens  wahren  will  —  ohne  damit 
eine  Kopie  des  Lebens  geben  zu  müssen,  das  hängt  von  anderen 
Umständen,  von  dem  Grad  der  Stilisierung  des  Geschehens  und  der 
Menschen  ab  —  ein  solcher  Künstler  wird  bald  wissen,  daß  die  Ge- 
schöpfe seiner  Phantasie  von  einem  gewissen  Zeitpunkt  ab  eine  Art 
Eigenleben  zu  führen  beginnen,  in  das  er  sich  nicht  ohne  Schaden 
der  Sache  einmengen  kann.  Hat  er  gewisse  Personen  mit  Voraus- 
setzungen über  Charakter,  Lebensumstände,  Beziehungen  zu  anderen 
Personen  erst  einmal  redend  und  handelnd  in  die  Welt  gesetzt,  so 
ist  er  bald  an  die  Richtlinien  gebunden,  die  ihm  ihr  von  ihm  ge- 
schaffenes Wesen  oder  die  in  ihnen  sich  auswirkende  Idee  gibt.  Er 
kann  nun  keine  Sprünge  mehr  machen,  sondern  muß  konsequent  ent- 
wickeln, was  angelegt  war.  Die  Kräfte,  die  entfesselt  wurden,  haben 
eigene  Gesetze  sich  auszuwirken. 

Meyers  Roman  stellt  sich  die  Aufgabe,  diesen  Richtlinien  nach- 
zugehen. Der  heilige  Kanzler  ist  ein  seltsamer  Mensch,  sanft,  ver- 
weichlicht, aber  von  ungeheurer  Energie  des  Entschlusses,  von  glänzen- 
den Geistesgaben,  und  voller  Hochmut,  doch  versteckt  auch  und 
demütig  zart  aus  Furcht,  aus  Formgefühl,  aus  Ästhetizismus  wie  aus 
demselben  Grunde  auch  unberührt  rein  und  verfeinert,  doch  kalt  von 
Gemüt.  Der  kindliche  Geist  [des  ihn  bewundernden  Königs,  ohne 
viel  Kultur,  etwas  roh,  ja  brutal  und  triebhaft  in  der  Begierde,  aber 
gutmütig,  warmherzig  und  offen  und  wenig  reich  an  Gedanken  wird 
diesem  Kanzler  von  England  nicht  viel  übertriebene  Achtung  abnötigen. 
Diesem  Mann  verführt  der  König  die  Tochter,  die  einzige,  wie  ein 
Heiligtum  fromm  gehegte  und  als  verkörperte  Reinheit  und  Schönheit 
geliebte.  Man  wird  nicht  annehmen,  daß  es  nur  eine  Möglichkeit 
für  den  Dichter  gäbe,  die  Reaktion  des  Kanzlers  auf  diese  Ungeheuer- 
lichkeit darzustellen.  Doch  vielerlei  überzeugende  Wege  gäbe  es 
sicherlich  nicht.  Wenn  eine  Rache  erfolgt,  wird  sie  versteckt  und 
heimlich,  und  nicht  in  rohen  Taten,  geistreich  und  zart,  doch  ver- 
letzend gemütlos  und  vernichtend  mit  geistigen  Waffen  sein  müssen. 
Thomas  der  Kanzler  wird  Primas  von  Canterbury,  Diener  der  Kirche, 
die  vormals  Grund  hatte,  den  Kanzler  zu  fürchten  und  die  auch  jetzt 
in  dem  Bischof  kein  sehr  bequemes  Werkzeug  gewinnt.  Thomas 
wird  heilig  und  schlägt  unter  dieser  Maske  den  weltlichen  König, 
untergräbt  seine  Macht,  indem  er  die  Bedrückten,  Armen  und  Unter- 
worfenen zu  sich  ruft,  und  brandmarkt  durch  das  Gegenbild,  das  er 
in  sich  selbst  aufrichtet,  den  Feind  als  den  Unreinen,  Unheiligen,  Ver- 
worfenen. Und  doch  ist  diese  Maske  der  Entsagung  nicht  etwa  bloße 
Berechnung  des   Rachedurstigen,    sondern  gleichzeitig   und   in   erster 


85  CHARLOTTE  BÜHLER. 


Linie  von  innen  her  verständlich  die  Entwicklung  des  entsagenden, 
seines  einzigen  01üci<es  beraubten  Mannes.  Um  so  gefährlicher  dem 
Feinde  dieser  Verzicht,  der  aufrichtig  ist.  Es  erübrigt  sich,  Betrach- 
tungen darüber  anzustellen,  ob  und  wie  der  Dichter  in  anderer  Weise 
aus  den  gegebenen  Charakteren  einen  Kampf  und  eine  Rache  hätte 
entwickeln  können,  genug,  er  hat  es  getan,  wobei  die  Beachtung  histo- 
rischer Tatsachen  eine  nicht  unerhebliche  Rolle  spielte,  und  die  so 
sich  ergebende  Entwicklung  wirkt  zweifellos  kausal  notwendig  und 
bedingt  durch  die  Voraussetzungen  des  Ganzen. 

Die  letzte  Aufgabe  dieses  kurzen  Entwurfs  wäre  eine  Besprechung 
der  Einheitsbildung  und  Organisation.  Auf  Grundidee  und  formale 
Struktur  haben  Walzel  ^)  und  eine  seiner  Schülerinnen  E.  Aulhorn  ^) 
die  Wahlverwandtschaften  in  einer  vorbildlich  klaren  und  sorgfäl- 
tigen Weise  untersucht.  Inhalt  und  Bedeutung  der  Motive,  Anord- 
nung und  Rhythmus  der  Personen  und  Motive,  alle  Fragen,  die  mit 
diesen  Problemen  zusammenhängen,  sind  uns  beantwortet.  Und  doch 
ergeben  sich  für  den  Psychologen,  der  mit  präzisen  Begriffen  der 
Oestaltbedingungen  herankommt,  noch  allerhand  weitere  Aufgaben. 
Das,  was  Walzel  Leitmotiv  nennt  und  als  solches  gründlichst  be- 
sprochen und  untersucht  hat  3),  ergibt  musikalisch  gesprochen  einen 
Rhythmus,  psychologisch  die  eine  Schicht  der  aufeinandergebauten 
Einheitsbildungen  der  Dichtung.  Auch  über  die  höchste  Einheit  be- 
steht Klarheit,  sie  ist  natürlich  durch  die  »Idee«,  das  bekannte  Wahl- 
verwandtschaftsmotiv,  garantiert.  Schon  hier  wüßte  man  psychologisch 
gern  noch  mehr  über  den  Einheitsaufbau,  der  jenes  oberste  Motiv 
mit  all  den  Stellen  verbindet,  wo  es  in  irgend  einer  Weise  anklingt. 
Aber  noch  mehr.  Die  Einheitsbildung  bei  Goethe  beruht  nicht  aus- 
schließlich auf  der  Idee.  Ein  Erfindungsdichter  wie  E.  Th.  A.  Hoff- 
mann läßt  z.  B.  in  den  Elixieren  des  Teufels  die  Entwicklung  des 
Mönches  ausschließlich  auf  der  Wirksamkeit  der  Elixiere,  auf  der  Idee 
der  Weltgier,  beruhen;  auf  spezifische  Charakterzüge  des  Mönches  ist 
seine  Erlebnisreihe  nicht  zurückzuführen.  Goethe,  der  feine  Entdecker, 
fordert  neben  der  Idee  noch  einen  Realgrund  der  Einheitsbildung,  das 
ist  das  Gesetz  der  Charaktere.  Ob  und  wie  diese  doppelte  Gestalt- 
bindung ineinandergreift,  scheint  mir  ein  grundlegendes  Formproblem 
der  Dichtung,  und  ob  beides  befriedigend  zusammenwirkt,  eine  ästhe- 
tische Wertfrage  ersten  Ranges  bei  diesem  Werk.    Einerseits  ist  die 


')  Walzel,  Goethes  »Wahlverwandtschaften«  im  Rahmen  ihrer  Zeit.  Goethe- 
Jahrbuch  Bd.  27,  1906. 

^)  E.  Aulhorn,  Der  Aufbau  von  Goethes  »Wahlverwandtschaften« .  Zeitschr. 
f.  d.  deutsch.  Unterricht  32.  Jahrg.,  9.  Heft. 

=)  Walzel,  Leitmotive  in  Dichtungen.   Zeitschr.  f.  Bücherfreunde  8.  Jahrg.,  1917. 


ERFINDUNG  UND  ENTDECKUNG.  87 

Idee  gesetzt,  andererseits  soll  sie  erst  durch  das  Erleben  der  Personen 
realisiert  werden.  Auf  mich  wiri<te  bisher  die  Angieichung  des  Er- 
lebens an  das  Naturgesetz  nie  völlig  adäquat,  weil  die  Idee  der  che- 
mischen Wahlverwandtschaft  auf  Tatsachen  fußt  und  nicht  Norm  ist, 
während  die  Idee  der  psychologischen  Wahlverwandtschaft  nicht 
ebenso  einfach  tatsächlich  gesetzt,  sondern  umständlich  konstruiert 
und  psychologisch  begründet  wurde.  Ich  stelle  dagegen  einmal  die 
moderne  Wendung:  Idee  als  Norm,  und  das  sich  ihr  beugende  oder 
widerstrebende  Handeln,  oder  die  sonstige  Weise  der  Klassiker:  das 
Erleben  entwickelt  uns  das  Gesetz.  In  den  Wahlverwandtschaften 
wird  Goethe,  wie  Walzel  nachweist,  Romantiker.  Romantiker  auch 
meine  ich  in  der  unmittelbaren  Zusammenstellung  von  Konstruktion 
und  Wirklichkeit.  Wie  Hegel,  Schelling,  Fichte  ein  System  konstruieren, 
das  ein  unmittelbares  Abbild  der  realen  Verhältnisse  zu  sein  behauptet, 
bildet  Goethe  das  chemische  Gesetz  im  Psychischen  nach.  Wirkt  nicht 
auch  hier  die  unvermittelte  Angieichung  der  Wirklichkeit  an  die  Kon- 
struktion gezwungen? 

Wir  schließen  mit  einer  Frage.  Die  angewandte  Literaturpsycho- 
logie  beginnt  erst  und  soll  sich  nicht  durch  vorschnelle  Analyse  in 
üblen  Ruf  bringen.  Diese  kleine  Studie  soll  viel  mehr  Anregungen  als 
endgültige  Resultate  geben.  So  wurden  die  meisten  Fragen  der  An- 
wendung zunächst  nur  von  irgend  einem  theoretischen  Gesichtspunkt 
aus  beleuchtet  und  nicht  in  ihrer  umfassenden  Vielseitigkeit  erschöpft. 


III. 
Bewegungsphotographie  und  Kunst'). 

Von 
Konrad  Lange. 

Ist  die  Bewegungsphotographie  eine  Kunst? 

Die  Antwort  auf  diese  Frage  ist  schon  mit  dem  einen  Bestandteil 
des  Wortes,  nämlich  »Photographie«  gegeben.  Die  Bewegungsphoto- 
graphie kann  nur  insoweit  eine  Kunst  sein,  als  es  die  Photographie 
ist.  Nun  ist  aber  diese,  wie  jedermann  weiß,  keine  eigentliche  Kunst. 
Sie  kann  zwar  in  gewisser  Weise  der  Kunst  angenähert  werden  und 
berührt  sich  auch  in  einigen  Punkten  mit  ihr.  Aber  ihr  wesentliches 
Kennzeichen  ist  der  technische  Prozeß  als  solcher.  Sie  ist  keine 
Kunst,  sondern  eine  Technik.  Der  chemische  Vorgang,  durch  den 
das  natürliche  Licht  die  lichtempfindliche  Schicht  in  der  Weise  ver- 
ändert, daß  die  Lichter  und  Schatten  des  Vorbildes  in  der  Kopie 
genau  wieder  erscheinen,  muß  allerdings  vom  Menschen  reguliert 
werden.  Und  das  erfordert  eine  gewisse  Geschicklichkeit.  Allein  das 
Regulieren  eines  Naturvorgangs  ist  an  sich  noch  keine  Kunst.  Es  be- 
rührt sich  nur  mit  der  Kunst,  insofern  dabei  gewisse  Anforderungen 
an  den  Geschmack  gestellt  werden.  Der  Photograph  —  und  ebenso 
der  Kinooperateur  —  muß  bei  der  Aufnahme  seinen  Standpunkt  so 
nehmen  und  die  Beleuchtung  so  wählen,  daß  die  Formen  der  Natur 
—  in  unserem  Falle  auch  ihre  Bewegungen  —  so  deutlich  wie  möglich 
in  der  Kopie  erscheinen.  Das  erfordert  einen  gewissen  Geschmack, 
eine  gewisse  Fähigkeit,  die  Wirkung  zu  berechnen,  und  das  ist  aller- 
dings etwas  der  künstlerischen  Fähigkeit  Verwandtes.  Auch  der 
Maler  muß  sich  —  vorausgesetzt,  daß  seine  Absicht  dahin  geht,  ein 
bestimmtes  Naturobjekt  einfach  zu  reproduzieren  —  über  die  Ansicht, 
die  er  dafür  wählen  will,  klar  werden.  Auch  er  muß  aus  den  ver- 
schiedenen Möglichkeiten  der  Beleuchtung,  die  die  Natur  bietet,  die- 
jenige wählen,  die  für  die  flächenhafte  Darstellung  die  günstigste  ist. 


')  Aus  einer  demnächst  im  Verlag  von  Ferdinand  Enke  erscheinenden  Schrift: 
»Das  Kino  in  Gegenwart  und  Zukunft«.  Der  populäre  Charakter  der  Schrift,  die 
einen  wesentlich  agitatorischen  Zweck  (Verstaatlichung  des  Kinos)  verfolgt,  mußte 
auch  auf  die  Art  der  Darstellung  einen  bestimmenden  Einfluß  haben. 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST.  89 


d.  h.  die  Formen  am  besten  zur  Geltung  bringt.  Insofern  besteht  also 
zwischen  beiden  Tätigkeiten  kein  Unterschied. 

Wohl  aber  besteht  ein  solcher  insofern,  als  die  Photographie  eine 
mechanische  Reproduktion  der  Natur  ist  und  als  solche  keine  höhere 
geistige  Kraft,  also  auch  keine  künstlerische  Persönlichkeit  er- 
fordert. Jedes  wahre  Kunstwerk  dagegen  ist,  abgesehen  von  seinem 
Verhältnis  zur  Natur,  das  enger  oder  weniger  eng  sein  kann,  der 
Ausdruck  einer  künstlerischen  Persönlichkeit.  In  einem  Gemälde  wollen 
wir  nicht  bloß  die  Natur  sehen,  die  es  darstellt.  Wir  wollen  auch 
sehen,  wie  sich  diese  Natur  im  Geiste  eines  bedeutenden  Künstlers 
spiegelt.  Über  ein  Gemälde  können  wir  keinen  größeren  Tadel  aus- 
sprechen als  wenn  wir  sagen:  Es  wirkt  wie  eine  übermalte  Photo- 
graphie. Wir  wollen  damit  ausdrücken:  Es  hat  nichts  Persönliches,  ihm 
fehlt  der  persönliche  Stil.  Das  trifft  z.  B.  zu,  wenn  die  einzelnen  Seiten 
der  Natur  in  ihm  völlig  gleichwertig,  mit  temperamentloser  Objektivität 
wiedergegeben  sind,  so  etwa  wie  jedermann  sie  sehen  würde.  In  einem 
Kunstwerk  aber  wollen  wir  die  verschiedenen  Seiten  der  Natur  so  sehen, 
wie  der  Künstler  sie  sieht,  mit  seinen  Augen,  seiner  Vorliebe  für 
Einzelnes,  seiner  Subjektivität.  Das  ist  gerade  für  uns  das  Interessante, 
was  das  Kunstwerk  von  der  Natur  unterscheidet,  es  über  die  Natur 
emporhebt.  Nicht  die  Idealisierung  im  Sinne  der  Verschönerung 
—  darauf  kommt  es  durchaus  nicht  an  —  sondern  die  Idealisierung 
im  Sinne  der  Vergeistigung,  der  gefühlsmäßigen  Erfassung,  der  persön- 
lichen Technik  und  Stilisierung. 

Einen  solchen  persönlichen  Stil  kann  die  Photographie  —  und 
auch  die  Bewegungsphotographie  —  niemals  haben.  Sie  kann  wohl 
in  gewissen  Äußerlichkeiten  der  Kunst  angenähert  werden,  sei  es  durch 
die  geschmackvolle  Aufnahme,  sei  es  durch  gewisse  Kunstgriffe  der 
Entwicklung,  die  die  Kopie  etwa  einer  Handzeichnung  technisch  an- 
nähern. Aber  sie  wird  niemals  einen  wirklich  persönlichen  Stil  haben. 
Denn  von  den  beiden  Bestandteilen  jedes  wahren  Kunstwerks,  Natur  und 
Persönlichkeit,  wird  sie  immer  nur  die  eine,  nämlich  die  Natur  enthalten. 
Die  andere  wird  zwar  in  gewisser  Weise  auch  vorhanden  sein.  Aber  in 
verkümmerter  Form,  insofern  sie  sich  auf  die  technische  Geschicklich- 
keit und  den  Geschmack  des  den  Naturprozeß  regulierenden  Hand- 
werkers beschränkt.  In  einer  Photographie  sehen  wir  immer  nur  die 
Natur,  nach  der  sie  angefertigt  ist.  Das,  was  sie  als  Werk  von  Menschen- 
hand, als  Schöpfung  des  menschlichen  Geistes  charakterisiert,  ist  so 
unerheblich,  daß  es  bei  der  Anschauung  so  gut  wie  gar  nicht  mit- 
spricht. 

Das  ist  das  Eine,  entsprechend  der  einen  Hälfte  des  Wortes  »Be- 
wegungsphotographie.    Das  andere,  das  ebenfalls  in  dem  Worte  steckt, 


00  KONRAD  LANGE. 


ist  die  Bewegung.  Die  Kinematographie  untersciieidet  sich  bekannt- 
lich von  der  gewöhnlichen  Photographie  durch  den  Hinzutritt  der  Be- 
wegung. Sie  zeigt  uns  nicht  nur  die  Lichter  und  Schatten  der  Natur- 
gegenstände in  ihrem  Ausdehnungs-  und  Stärkeverhältnis  zueinander, 
sondern  sie  führt  uns  Menschen  und  Tiere  und  die  sich  bewegenden 
Elemente  der  unbelebten  Natur  in  ihrer  wirklichen  Bewegung  vor.  Ge- 
nauer gesagt:  Sie  bietet  uns  die  bewegten  Photographien  der  dargestellten 
Personen,  Tiere  und  Gegenstände.  Was  sich  im  Kinobilde  bewegt, 
sind  natürlich  nicht  die  Gegenstände  selbst,  sondern  ihre  Bilder,  ihre 
Photographien,  exakt  ausgedrückt  die  Lichter  und  Schatten,  aus  denen 
sie  sich  zusammensetzen.  Wir  sehen  diese  Lichter  und  Schatten  sich 
auf  der  Projektionsfläche  hin  und  her  bewegen.  Diese  Bewegung  er- 
zeugt in  uns  die  Illusion  sich  bewegender  Gegenstände,  ebenso  wie 
die  Lichter  und  Schatten  allein,  ohne  die  Bewegung,  die  Illusion  plasti- 
scher, räumlicher  Gebilde  hervorrufen.  Was  in  Wirklichkeit  vorhanden 
ist,  das  ist  zunächst  nur  die  weiße  unbewegte  Projektionsfläche.  So 
wie  der  Maler  nach  Marees  das  Weiß  der  Papierfläche  durch  Zeichnen 
so  »modifizieren«  muß,  daß  der  Eindruck  eines  lebenden  Menschen 
entsteht,  so  wird  das  reine  Weiß  der  unbewegten  Projektionsfläche 
durch  das  Kinobild  mit  seinen  bewegten  Lichtern  und  Schatten  so 
modifiziert,  daß  in  der  Phantasie  des  Zuschauers  die  Vorstellung  sich 
bewegender  runder  Körper  entsteht. 

Der  Laie  ist  nun  geneigt  zu  sagen:  Also  handelt  es  sich  doch 
auch  hier  um  eine  Illusion.  Und  warum  soll  diese  nicht  ebenso  eine 
künstlerische  sein  wie  die  Illusion,  die  man  beim  Anblick  einer  Zeich- 
nung oder  eines  Gemäldes  erlebt?  Hierauf  gibt  eben  die  vorhergehende 
Auseinandersetzung  die  Antwort.  Eine  Illusion  findet  allerdings  statt, 
insofern  man  sich  etwas  vorsteht,  was  nicht  vorhanden  ist,  wovon 
man  nur  ein  Scheinbild  wahrnimmt.  Aber  diese  Illusion  ist  keine 
künstlerische,  insofern  die  Vorstellung  der  künstlerischen  Persönlichkeit 
dabei  wegfällt. 

Und  was  das  bedeutet,  zeigt  eine  weitere  Analyse  der  Kinemato- 
graphie. Der  Laie  zwar  wird  sagen:  Der  Hinzutritt  der  Bewegung  ist 
gerade  das  Künstlerische  am  Laufbilde.  Denn  es  kommt  dadurch  der 
Natur  näher.  Es  spiegelt  die  Wirklichkeit,  die  ja  fast  immer  mehr  oder 
weniger  bewegt  ist,  vollständiger  und  darum  treuer  wieder  als  die  un- 
bewegte Photographie.  Ja  es  ist  sogar  der  Malerei  in  dieser  Beziehung 
überlegen.  Denn  diese  gibt  ja  ebenfalls  nicht  die  wirkliche  Bewegung, 
wenn  sie  auch  in  der  Farbe  ihrerseits  wieder  ein  Mittel  hat,  der  Natur 
näher  zu  kommen.  Der  Filmfabrikant  und  der  in  seinen  Diensten 
stehende  Kinoschriftsteller,  der  in  der  Fachpresse  des  Kinokapitals  die 
neue  Technik  feiert,  sind  in  der  Tat  überzeugt,  daß  hierin  eine  Über- 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST.  Ql 

legenheit  der  Kinematographie  über  die  gewöhnliche  Photographie  und 
die  Malerei  zu  erkennen  sei.  Er  glaubt  allen  Ernstes,  daß  der  höhere 
Grad  der  Annäherung  an  die  Natur  für  diese  Technik  auch  einen 
höheren  Kunstwert  bedeute. 

Natürlich  ist  das  ein  Irrtum.  Das  ergibt  sich  schon  aus  der  ganz 
elementaren  Erwägung,  daß  weder  die  Plastik  noch  auch  die  Malerei 
die  wirkliche  Bewegung  als  Kunstmittel  kennen.  Oder  genauer  gesagt, 
daß  diese  beiden  Künste,  über  deren  künstlerischen  Charakter  ja  kein 
Zweifel  obwalten  kann,  die  Bewegung  nicht  durch  bewegte,  son- 
dern durch  unbewegte  Formen  wiedergeben,  die  nur  so  gewählt 
sein  müssen,  daß  sie  den  Eindruck  der  Bewegung  machen.  Wenn 
Myron  seinen  Diskuswerfer  in  dem  Augenblick  darstellt,  wo  er  die 
schwere  eiserne  Scheibe  mit  der  Rechten  nach  rückwärts  schwingt, 
um  sie  dann  mit  einem  gewaltigen  Ruck  nach  vorn  zu  schleudern, 
so  hat  er  damit  ein  Kunstwerk  geschaffen»  das  sich  zwar  nicht  selbst 
bewegt,  aber  doch  Bewegungsillusion  erzeugt.  Diese  Bewegungs- 
illusion besteht  darin,  daß  der  Beschauer  sich  beim  Anblick  dieser 
Statue,  die  tatsächlich  bewegungslos  ist,  dennoch,  infolge  ihrer  künst- 
lerischen Form,  eine  bestimmte  Bewegung  vorstellt.  Er  nimmt  Un- 
bewegtes wahr,  ergänzt  es  aber  in  seiner  Phantasie  zu  Bewegtem. 
Dabei  handelt  es  sich  keineswegs  um  eine  wirkliche  Täuschung.  Der 
Beschauer  unterliegt  durchaus  nicht  der  Sinnestäuschung,  wirkliche 
Bewegung  zu  sehen,  sondern  er  weiß  ganz  genau,  daß  er  ein  un- 
bewegtes Gebilde  aus  Marmor  vor  sich  hat.  Dennoch  stellt  er  sich  — 
eben  auf  Grund  der  Kunstform  —  in  diesem  unbewegten  Marmor  in 
seiner  Phantasie  einen  bewegten  menschlichen  Leib  vor.  Er  ist  sich 
während  der  Anschauung  vollständig  bewußt,  daß  er  sich  einer  Täu- 
schung hingibt.  Das  heißt  er  erlebt  eine  freiwillige,  von  ihm  selbst 
durchschaute  Täuschung,  eine  »bewußte  Selbsttäuschung«. 

Die  Bewußtheit  der  Selbsttäuschung  ist  es  nun,  die  die  An- 
schauung zu  einer  ästhetischen  macht.  Das  Kennzeichen  jedes  Kunst- 
werks besteht  darin,  daß  es  zwar  dem  Beschauer  etwas  vortäuscht, 
daß  aber  die  Bewußtheit  der  Täuschung  bei  der  Anschauung  aufrecht 
erhalten  wird.  Diese  Bewußtheit  bedeutet  eine  dauernde  Distanz  von 
der  Natur,  eine  Distanz,  deren  Reiz  hier  darin  besteht,  daß  sie  in 
einem  Gegensatz  zu  der  mit  der  Natur  übereinstimmenden  Bewegungs- 
vorstellung steht.  Der  Beschauer  bewundert  während  der  Anschauung 
den  Künstler,  der  ihn  durch  die  von  ihm  gewählte  Kunstform  zwingt, 
trotz  der  Bewegungslosigkeit  des  Marmors  dennoch  eine  Bewegungs- 
vorstellung zu  erleben.  Der  Kunstwert  der  Statue  —  zunächst  in 
bezug  auf  die  Bewegung  —  besteht  also  in  der  ihr  vom  Künstler 
mitgeteilten  Kraft,  eine  Bewegungsillusion  beim  Beschauer  auszulösen. 


92  KONRAD  LANGE. 


Ich  nenne  das  Illusionskraft.  Jedes  Kunstwerk  muß  Illusionskraft 
haben,  wenn  es  wirklich  ein  Kunstwerk  sein  will.  Wer  das  bei  der 
Anschauung  nicht  fühlt,  kann  annehmen,  daß  ihm  das  Organ  für  Kunst 
fehlt.     Er  ist  dann  eben  künstlerisch  nicht  illusionsfähig. 

Es  gibt  nun  verschiedene  Arten  von  Illusion,  also  auch  verschiedene 
Arten  von  Illusionskraft.  Hier  interessiert  uns  zunächst  nur  die  eine, 
die  sich  auf  die  Bewegung  bezieht. 

Die  Mittel,  mit  denen  der  Künstler  Bewegungsillusion  erzeugt, 
sind  verschiedener  Art.  Das  wichtigste  ist  die  Auswahl  des  frucht- 
barsten Moments.  Der  fruchtbarste  Moment  ist  derjenige  Augenblick, 
dasjenige  Stadium  eines  größeren  Bewegungsverlaufes,  dessen  Anblick 
die  Illusion  der  ganzen  Bewegung  am  sichersten  und  stärksten  erzeugt. 
Es  läßt  sich  leicht  nachweisen,  daß  dies  beim  Diskuswurf  eben  der 
von  Myron  gewählte  Moment  ist.  Er  ist  nicht  nur  dasjenige  Stadium 
der  ganzen  Bewegung,  das  trotz  des  vorübergehenden  Charakters  der 
Bewegung  verhältnismäßig  am  längsten  dauert,  sondern  auch  dasjenige, 
von  dem  aus  man  sich  rückwärts  und  vorwärts  die  ganze  Bewegung 
am  leichtesten  in  der  Phantasie  rekonstruieren  kann.  Die  Folge  davon 
ist  die,  daß  man  angesichts  dieser  Statue  die  Bewegung  des  Diskus- 
wurfs in  ihrem  ganzen  Verlauf  am  stärksten  erlebt. 

Genau  so  ist  es  in  der  Malerei,  nur  daß  hier  noch  die  Art  der 
Ausführung  hinzukommt,  um  die  Illusion  der  Bewegung  zu  steigern. 
Wenn  Manet  oder  Liebermann  ein  galoppierendes  Pferd  oder  Liljefors 
eine  flatternde  Wachtel  malen,  so  tun  sie  das  in  einer  Weise,  daß  die 
Umrisse  nicht  an  der  Fläche  kleben,  sondern  sich  von  ihr  loslösen, 
wodurch  natürlich  die  Bewegungsvorstellung  wesentlich  verstärkt  wird. 
Auch  hier  ist  die  Ausbildung  der  Technik  ein  Verdienst  des  Künstlers, 
denn  er  hat  die  Pinselführung  gerade  so  gestaltet,  daß  die  beabsich- 
tigte Wirkung  entsteht. 

In  diesem  Sinne  also  geht  die  Absicht  des  Künstlers  auf  Be- 
wegungsillusion. Es  ist  aber  ein  vollkommener  Irrtum,  zu  glauben, 
daß  dies  zu  einer  eigentlichen  Täuschung  führen  müsse.  Im  Gegen- 
teil, das  Künstlerische  besteht  eben  darin,  daß  die  Täuschung  nicht 
erreicht  wird  und  auch  nicht  beabsichtigt  war.  Fälle,  wo  eine  wirkliche 
Bewegung  stattfindet,  fallen  nicht  in  den  Bereich  der  Kunst.  Pferde 
oder  Hunde  aus  Holz  oder  Papiermache,  deren  Köpfe  und  Beine  sich 
beim  Vorwärtsrollen  auf  dem  Fußboden  bewegen,  oder  die  bekannten 
sägenden  oder  holzhackenden  Männer  aus  ausgeschnittenem  und  be- 
maltem Blech,  die  man  wohl  in  den  Uhrläden  stehen  sieht,  wo  sie 
von  irgend  einem  Uhrwerk  in  Bewegung  gesetzt  werden,  sind  keine 
Kunstwerke,  sondern  Kunststücke. 

Schon  daraus  kann  man  entnehmen,  daß  der  Grad  der  Annäherung 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST. 


93 


an  die  Natur  nicht  das  Kennzeichen  guter  Kunst  ist.  Natürlich  bemüht 
sich  der  Künstler  —  wenn  er  nicht  gerade  der  modernsten  Richtung 
angehört  —  der  Natur  möglichst  nahe  zu  kommen.  Aber  er  hält  sich 
dabei  stets  innerhalb  der  Grenzen,  die  durch  die  Darstellungsmittel  seiner 
Kunst  gegeben  sind.  In  bezug  auf  die  Bewegungsillusion  ist  dasjenige 
Kunstwerk  das  beste,  das  innerhalb  der  Grenzen,  die  durch  die 
tatsächliche  Bewegungslosigkeit  gegeben  sind,  die  denk- 
bar stärkste  Bewegungsillusion  erzeugt.  Die  eigentliche  Arbeit  des 
Künstlers  besteht  darin,  die  Mittel  aushndig  zu  machen,  wie  das  zu 
geschehen  hat.  Gelingt  es  ihm,  so  ist  das  sein  persönliches  Verdienst. 
Die  Art  der  Illusionserzeugung  ist  dann  eine  der  Formen,  in  denen  sich 
seine  Persönlichkeit  ausspricht.  Dieses  künstlerische  Verdienst  ist  dem 
Beschauer  —  falls  er  überhaupt  etwas  von  Kunst  versteht  —  bei  der 
Anschauung  gegenwärtig.  Das  Bewußtsein  desselben  gehört  mit  zur 
bewußten  Selbsttäuschung.  Bei  aller  Annäherung  an  die  Natur  muß 
das  Kunstwerk  doch  in  einer  gewissen  Distanz  von  der  Natur  bleiben, 
wenn  es  künstlerisch  wirken  soll.  Diese  Distanz  ist  schon  durch  die 
tatsächliche  Bewegungslosigkeit  —  abgesehen  von  allem  anderen  — 
gegeben.  Letztere  zwingt  den  Beschauer  zu  einer  Phantasietätigkeit. 
Er  muß  mit  seiner  Phantasie  die  Bewegungslosigkeit  überwinden,  sonst 
kann  er  die  Handlung  nicht  wirklich  erleben.  Auf  dieser  Phantasie- 
tätigkeit beruht  im  wesentlichen  sein  künstlerischer  Genuß.  Pflicht  des 
Künstlers  ist  es  also,  ihn  dazu  anzuregen. 

Diese  ganze  Phantasietätigkeit  fällt  nun  beim  Kino 
weg.  Und  zwar  aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  die  Bewegungs- 
photographie  wirkliche  Bewegung  gibt.  Eine  Phantasietätigkeit  findet 
zwar  auch  da  noch  statt,  denn  der  Beschauer  muß  sich  unter  den 
bewegten  Lichtern  und  Schatten  bewegte  Naturgegenstände  vorstellen. 
Aber  in  bezug  auf  die  Bewegung  ist  keine  Phantasietätigkeit  nötig. 
Denn  wenn  ich  wirkliche  Bewegung  sehe,  brauche  ich  sie  mir  nicht 
erst  in  der  Phantasie  vorzustellen.  Eine  bewegte  Figur  brauche  ich 
mir  nicht  erst  aus  dem  Zustand  der  Ruhe  in  den  der  Bewegung  zu 
übersetzen.  Denn  ich  erlebe  die  Bewegung  ja  schon  durch  die  Wahr- 
nehmung, indem  ich  die  sich  bewegenden  Lichter  und  Schatten  auf 
der  Fläche  sehe.  Ich  erlebe  sie  infolge  der  bekannten  Sinnestäuschung, 
auf  der  die  Bewegungsphotographie  beruht,  nämlich  der  engen  An- 
einanderreihung zahlreicher  Einzelaufnahmen,  Momentphotographien  der 
einzelnen  Bewegungsstadien,  die  in  ihrer  raschen  Aufeinanderfolge  den 
Eindruck  einer  zusammenhängenden  Bewegung  machen.  Und  da  ich 
sie  schon  durch  die  Wahrnehmung  erlebe,  so  wird  meine  Phantasie 
durch  die  Bewegungsphotographie  nicht  angeregt,  sondern  im  Gegen- 
teil außer  Aktion  gesetzt,  ausgeschaltet,  gelähmt.     Das  heißt  also,  die 


94  KONRAD  LANGE. 


höhere  geistige  Tätigkeit  des  Beschauers  fällt  weg  und  an  ihre  Stelle  tritt 
die  rein  äußerliche,  ganz  elementare  Wahrnehmung.  Die  Bewegungs- 
photographie  ist  also  nicht  künstlerischer  als  die  gewöhnliche  Photo- 
graphie, sondern  weniger  künstlerisch.  Und  wenn  die  gewöhnliche 
Photographie  wegen  des  Wegfalls  der  persönlichen  Gestaltung  nicht 
als  Kunst  im  höheren  Sinne  gelten  kann,  so  ergibt  sich  daraus,  daß 
dies  bei  der  Bewegungsphotographie  noch  viel  weniger  der  Fall  ist. 
Sie  ist  im  Gegenteil  eine  Eselsbrücke  für  alle  diejenigen,  welche 
keine  Phantasie  haben  oder  so  faul  sind,  daß  sie  ihre  Phantasie  nicht 
anstrengen  mögen,  um  sich  etwas  vorzustellen,  was  nicht  da  ist.  Die 
Bewegungsphotographie  rangiert  in  dieser  Beziehung  nicht  mit  der 
Malerei  und  Plastik,  also  den  eigentlichen  Künsten,  sondern  mit  den 
täuschenden  Jahrmarktsillusionen,  nämlich  dem  Panorama,  dem  Panopti- 
kum und  der  höheren  Magie. 

Dementsprechend  ist  auch  das  Verdienst  des  Kinooperateurs  kein 
künstlerisches.  Er  muß  zwar  auch  den  richtigen  Standpunkt  und  die 
wirksamste  Beleuchtung  wählen,  und  darin  liegt,  wie  gesagt,  ein  ge- 
wisses Geschicklichkeitsverdienst.  Auch  muß  er  natürlich  genau  wäh- 
rend der  Zeitspanne  kurbeln,  in  der  sich  die  Bewegung,  die  er 
wiedergeben  will,  abspielt.  Aber  das  ist  keine  große  Kunst.  Dazu 
gehört  nur  eine  gewisse  Aufmerksamkeit  und  —  das  bekannte  Glück, 
das  beim  Kinematographieren  eine  noch  größere  Rolle  spielt  als  sonst 
im  Leben.  Aber  er  braucht  innerhalb  dieser  Zeitspanne  nicht  den 
fruchtbarsten  Moment  der  Bewegung  auszuwählen  und  auch  sonst 
kein  Mittel  anzuwenden,  um  die  Bewegungsillusion  zu  steigern.  Denn 
sein  Apparat  gibt  ja  ganz  automatisch  die  Bewegung  selbst  wieder, 
genau  so  wie  sie  sich  abspielt.  Das  Verdienst  dabei  ist  ein  rein  technisches, 
nämlich  das  Verdienst  der  Erfindung  der  Bewegungsphotographie.  Ein 
künstlerisches  Verdienst  ist  dabei  überhaupt  nicht  vorhanden.  So  wie 
beim  Zuschauer  die  ästhetische  Phantasietätigkeit  ausgeschaltet  ist,  weil  er 
sich  nicht  Unbewegtes  in  Bewegtes  zu  übersetzen  braucht,  so  ist  beim 
Kinooperateur  die  künstlerische  Schöpfertätigkeit  ausgeschaltet,  weil  er 
nicht  gezwungen  ist,  sich  aus  einem  ganzen  Bewegungsverlaufe  einen 
bestimmten  Moment  als  den  prägnantesten  auszuwählen.  Er  gibt  eben 
die  ganze  Naturerscheinung  wieder,  mit  allem  Zufälligen,  was  ihr  an- 
haftet. Das  heißt,  er  spart  dabei  die  auswählende,  ordnende  und 
sichtende  Tätigkeit,  die  für  die  Kunst  charakteristisch  ist. 

Das  wird  besonders  klar  bei  der  kinematographischen  Aufnahme 
von  Volksszenen  oder  Haupt-  und  Staatsaktionen,  an  denen 
viele  sich  bewegende  Menschen  teilnehmen.  Als  Adolf  Menzel  die 
Krönung  König  Wilhelms  in  Königsberg  malte,  mußte  er,  wie  er  selbst 
berichtet,  mit  dem  Vordergrunde  eine  wesentliche  Veränderung  vor- 


BEWEGUNGSPHOTÜGRAPHIE  UND  KUNST.  95 

nehmen.  Er  mußte  nämlich,  um  den  Blick  auf  den  König  und  die 
Damen  des  Hofes  frei  zu  bekommen,  die  Mitglieder  des  Bundesrats  in 
seiner  Nähe  nach  rechts  und  links  auseinanderschieben,  wodurch  er 
überdies  die  Möglichkeit  gewann,  statt  ihrer  Hinterköpfe  ihre  Profile 
oder  Halbprofile  auf  das  Bild  bringen  zu  können.  Das  ist  ein  ganz 
elementares  Beispiel  von  Komposition,  bei  einem  Bilde,  das  im 
übrigen  nach  der  Intention  seines  Schöpfers  einen  bestimmten  Vorgang 
des  Lebens  genau  darstellen  sollte.  Das  Verdienst  Menzels  in  kom- 
positioneller  Beziehung  bestand  eben  in  dieser  leichten,  aber  wichtigen 
Veränderung  der  Natur. 

Eine  solche  Veränderung  kommt  nun  in  der  Kinematographie 
nicht  in  Betracht.  Der  Vorgang  wird  da  eben  genau  so  gekurbelt, 
wie  er  sich  in  Wirklichkeit  abspielt.  Er  kann  gar  nicht  anders  ge- 
kurbelt werden  als  es  die  Natur  hergibt,  kann  also  auch  nachher  nicht 
anders  auf  der  Projektionsfläche  erscheinen.  Ob  dabei  etwas  Wich- 
tiges verdeckt  wird  oder  sonst  durch  einen  Zufall  nicht  auf  dem  Bilde 
erscheint,  berührt  den  Operateur  nicht  oder  höchstens  insofern,  als 
es  Sache  des  Glücks  ist  und  der  Film  entweder  gelingt  oder  miß- 
lingt. Es  ist  klar,  daß  dieses  mechanische  und  unüberlegte  Abkurbeln, 
wobei  alles  dem  Zufall  überlassen  bleibt,  alles  andere  eher  ist  als 
Kunst.  Die  künstlerische  Komposition  wird  erst  durch  die  Bewegungs- 
losigkeit des  Gemäldes  notwendig.  Diese  setzt  voraus,  daß  alle  Per- 
sonen in  einem  bestimmten  räumlichen  Verhältnis  zueinander  auf  der 
Fläche  fixiert  sind.  Natürlich  sucht  der  Maler  das  Bild  so  zu  gestalten, 
daß  der  Vorgang  deutlich  erkennbar  ist,  die  Hauptsache  als  Haupt- 
sache erscheint,  die  wichtigsten  Personen  nicht  durch  andere  verdeckt 
werden  usw.  In  der  Natur  und  in  der  Bewegungsphotographie  er- 
gibt sich  die  Deutlichkeit  des  Vorgangs  daraus,  daß  dieser  sich  in  der 
Bewegung,  also  zeitlich  entwickelt,  und  daß  das  räumliche  Verhältnis 
der  Personen  zueinander  wechselt,  d.  h.  sich  sukzessive  verändert.  Die 
Vorstellung,  die  sich  der  Zuschauer  von  dem  Vorgang  macht,  setzt  sich 
aus  vielen  Einzelvorstellungen  zusammen,  die  alle  voneinander  verschieden 
sind,  bei  denen  die  Personen  in  verschiedenem  räumlichen  Verhältnis 
zueinander  stehen,  sich  verschieden  bewegen  usw.  Das  Verdienst  des 
Malers  dagegen  besteht  darin,  daß  er  aus  dieser  unendlichen  Vielheit 
der  Erscheinungen  für  jede  der  vorhandenen  Personen  die  charakte- 
ristische Ansicht,  Bewegung,  Mimik  usw.  auswählt  und  das  Ganze  so 
ordnet,  daß  der  bewegte  Vorgang  trotz  der  gegenseitigen  Überschneidung 
der  Figuren  völlig  klar  und  anschaulich  auf  dem  Bilde  erscheint.  Das 
ist  Kunst.  Der  Kinooperateur  dagegen  läßt  seinen  Apparat  blindlings 
laufen  und  hofft  das  Beste.  Das  ist  Technik.  Daß  der  Kinematograph 
kein  Komponieren  kennt,  ist  wieder  ein  neuer  Beweis,  daß   ihm  das 


gö  KONRAD  LANGE. 


künstlerische  Moment  abgeht.  Die  Ausführung  des  Kinobildes  ist 
eben  eine  rein  mechanische.  Der  Geist  ist  dabei  fast  ganz  ausgeschaltet. 
Wir  haben  gesehen,  daß  die  Einführung  der  wirklichen  Bewegung 
in  die  Photographie  eine  unkünstlerische  Annäherung  an  die  Natur  be- 
deutet. Die  Absicht  geht  dabei  ohne  Zweifel  auf  wirkliche  Täuschung. 
Der  Bildhauer  und  der  Maler  verzichten  auf  diese  Täuschung.  Bei  ihren 
Schöpfungen  hat  die  Bewegungslosigkeit  die  Bedeutung  eines  »täu- 
schunghindernden Elements«.  Daraus,  daß  sie  dieses  bestehen  lassen, 
darf  man  schließen,  daß  es  ästhetisch  notwendig  ist.  Es  ist  aber  not- 
wendig, um  die  Differenz  von  der  Natur  zu  bewerkstelligen,  welche 
die  Täuschung  des  Beschauers  zu  .einer  bewußten  macht.  Auch  beim 
Kino  kommt  allerdings  eine  wirkliche  Täuschung  nicht  zustande.  Denn 
wenn  auch  durch  die  Einführung  der  Bewegung  die  Natur  in  dieser 
Hinsicht  völlig  erreicht  wird,  so  gibt  es  doch  noch  andere  Züge  der 
Natur,  die  von  der  Kinematographie  nicht  wiedergegeben  werden  können, 
nämlich  das  Geräusch,  die  Farbe  und  die  Raumtiefe.  Die  Geräusch- 
losigkeit, die  Farblosigkeit  und  die  Flächenhaftigkeit  des  Kinobildes 
sind  täuschunghindernde  Elemente,  die  vorläufig  noch  bestehen  bleiben. 
Man  könnte  daraus  vielleicht  schließen,  daß  die  Bewegungsphotographie 
eben  doch  eine  Kunst  sei,  da  sie  solche  täuschunghindernde  Elemente 
habe.  Und  vielleicht  wäre  die  Erwägung  berechtigt:  Es  komme  ja  im 
Kino  trotz  der  Bewegung  doch  keine  wirkliche  Täuschung  zustande,  also 
finde  auch  hier  der  Gesichtspunkt  der  bewußten  Selbsttäuschung  An- 
wendung, und  daraus  ergebe  sich,  daß  das  Kino  eine  Kunst  sei.  Dieser 
Einwand  wäre  gar  nicht  überraschend,  denn  er  könnte  auch  in  bezug  auf 
die  einfache  Photographie  erhoben  werden  und  ist  tatsächlich  in  bezug 
auf  sie  schon  erhoben  worden.  Ich  muß  deshalb  noch  einmal  darauf 
hinweisen,  daß  der  Ausfall  der  Persönlichkeit,  der  die  Photographie  von 
der  Kunst  unterscheidet,  auch  für  die  Bewegungsphotographie  gilt. 

Noch  wichtiger  aber  ist  ein  anderes:  die  Bewegungsphoto- 
graphie weist  zwar  solche  täuschunghindernde  Elemente  auf.  Aber 
sie  strebt  danach,  sie  möglichst  zu  verringern,  ja  schließ- 
lich sogar  ganz  aufzuheben.  Und  das  ist  immer  ein  Kenn- 
zeichen für  Pseudokunst.  Den  Beweis  dafür  haben  wir  im  Panorama 
und  im  Panoptikum.  Die  Malerei  strebt  zwar  nach  Raumvertiefung, 
die  sie  bekanntlich  durch  die  Perspektive  und  das  Helldunkel  er- 
reicht. Aber  sie  bleibt  dabei  tatsächlich  an  die  Fläche  gebunden;  im 
Panorama  dagegen  werden  Mauern,  Hügel,  Kanonen,  Karren,  Kochtöpfe, 
Eisenbahnwägen  usw.  des  Vordergrundes  in  plastischer  Wirklichkeit  an- 
gebracht. Die  Plastik  strebt  zwar  nach  Bewegungsillusion.  Sie  macht 
aber  keinen  Versuch,  den  Marmor  oder  irgend  ein  anderes  plastisches 
Material    in    wirkliche  Bewegung    zu    versetzen;    im   Panoptikum    da- 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST.  97 


gegen  kann  man  Wachsstatuen  sehen,  die  sich  automatisch  bewegen, 
die  Brust  beim  Atmen  heben  und  senken,  die  Augen  rollen  usw. 
Gerade  hier  haben  wir  es  aber  mit  unkünstlerischen  Spielereien  zu 
tun,  die  wohl  das  große  Publikum  reizen,  nicht  aber  den  Kunstkenner 
befriedigen  können.  Für  alle  diese  Pseudokünste  ist  es  bezeichnend, 
daß  sie  nach  Aufhebung  der  täuschunghindernden  Elemente  streben. 
Sie  bemühen  sich  also,  das  zu  beseitigen,  was  die  Bewußtheit  der 
Täuschung  aufrecht  erhält.  Dabei  ist  es  ganz  gleichgültig,  ob  ihnen 
das  auch  im  vollen  Maße  gelingt.  Angenommen  selbst,  der  Besucher 
eines  Panoptikums  würde  den  Betrug,  der  mit  einer  sich  bewegenden 
Statue  an  ihm  vollzogen  werden  soll,  durchschauen,  oder  angenommen, 
der  Besucher  eines  Panoramas  würde  genau  unterscheiden  können, 
was  von  der  Darstellung  gemalt  und  was  plastische  Wirklichkeit  ist, 
so  würden  diese  Schöpfungen  darum  doch  keine  Kunstwerke  sein, 
weil  in  ihnen  wenigstens  die  Absicht  der  Täuschung  offen  zu- 
tage träte,  eine  Absicht,  die  nur  infolge  technischen  Unvermögens  nicht 
zum  Ziel  geführt  hätte. 

Diesen  Pseudokünsten  ist  nun  auch  das  Kino  zuzurechnen.  Von 
der  Bewegung  haben  wir  schon  gesprochen.  Schon  ihre  Einführung 
in  die  Photographie  bedeutet  die  Aufhebung  eines  täuschunghindern- 
den Elements.  Wenn  dabei  auch  die  Täuschung  nicht  perfekt  wird, 
weil  noch  andere  täuschunghindernde  Elemente  vorhanden  sind,  so 
ist  doch  schon  die  Absicht  der  Täuschung  unkünstlerisch.  Wir  können 
ganz  allgemein  sagen,  daß  jede  Aufhebung  eines  täuschunghindernden 
Elements  der  Kunst  Abbruch  tut,  weil  sie  die  Absicht  einer  wenn 
auch  nur  partiellen  Täuschung  in  sich  schließt.  Die  Annäherung 
an  die  Natur  darf  in  der  Kunst  nicht  in  der  Weise  er- 
folgen, daß  die  täuschunghindernden  Elemente  auf- 
gehoben werden,  sondern  nur  in  der  Weise,  daß  inner- 
halb der  durch  sie  gezogenen  Grenzen  die  denkbar 
stärkste   Naturwahrheit  angestrebt  wird. 

Sehen  wir  nun,  in  welcher  Weise  die  Bewegungsphotographie  die 
anderen  täuschunghindernden  Elemente  auszuschalten  sucht.  Da  ist 
zuerst  die  Geräuschlosigkeit.  An  sich  ist  die  Bewegungsphoto- 
graphie wie  jede  Photographie  stumm.  Die  Schauspieler  im  Kino- 
drama sprechen  nicht  wirklich.  Sie  mögen  bei  der  Aufnahme  ge- 
sprochen haben,  weil  es  ihnen  so  leichter  wurde,  ihr  Spiel  mimisch 
ausdrucksvoll  zu  gestalten.  Jedenfalls  hat  das  aber  für  die  Vorführung 
selbst  keine  Bedeutung,  da  der  normale  Zuschauer  ihnen  die  Worte 
ja  doch  nicht  von  den  Lippen  ablesen  kann  *).     Einen  Wasserfall  in 


')  Es  wird  übrigens  erzählt,  daß  ein  Taubstummer  einmal  in  einem  Kinodrama 

Zcitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunttwisscnschtll.     XV.  7 


98  KONRAD  LANGE. 


einem  landschaftlichen  Naturfilm  sehen  wir  zwar  vom  Felsen  herab- 
stürzen, allein  wir  hören  das  Oeplätscher  des  Wassers  nicht.  Bei  der 
Darstellung  einer  festlich  bewegten  Volksmenge,  die  irgend  ein  wich- 
tiges Ereignis  feiert,  sehen  wir  zwar,  wie  die  Menschen  Hüte  und 
Taschentücher  schwenken,  aber  wir  hören  sie  nicht  Hurra  rufen.  Das 
ist  zunächst  einmal  insofern  störend,  als  es  einen  Widerspruch  in  sich 
schließt.  Nämlich  den  Widerspruch  zwischen  der  Geräuschlosigkeit 
des  Kinobildes,  das  wir  sehen,  und  den  wirklichen  Bewegungen,  die 
die  Menschen,  das  Wasser  usw.  ausführen.  Wir  erwarten,  wenn  wir 
eine  Bewegung  sehen,  die  in  der  Wirklichkeit  von  Geräusch  begleitet 
ist,  auch  dieses  Geräusch  zu  hören.  Und  wir  sind  enttäuscht,  wenn 
es  ausbleibt.  Das  wird  schon  mehr  als  ein  Kinobesucher  empfunden 
haben.  Der  Gegensatz  zur  Bewegungslosigkeit  macht  die  Geräusch- 
losigkeit nur  um  so  fühlbarer.  Man  fragt  sich,  was  es  für  einen  Zweck 
hat,  den  Zuschauer  in  einer  Hinsicht,  d.  h.  durch  Einführung  der  wirk- 
Uchen  Bewegung  zu  täuschen,  wenn  andererseits  der  Verzicht  auf  das 
Geräusch  die  Täuschung  doch  wieder  aufhebt  oder  illusorisch  macht. 
Entsteht  dadurch  nicht  ein  unorganischer,  unkünstlerischer,  wenn  ich 
so  sagen  soll  hinkender  Eindruck? 

Die  Kinoindustrie  hat  diesen  Mangel  sehr  wohl  erkannt.  Sie  hat 
argumentiert:  Wer  A  sagt,  der  muß  auch  B  sagen.  Das  heißt  sie  hat 
sich  bemüht,  auch  die  Geräusche  künstlich  zu  erzeugen.  Zwei  Formen 
kommen  dafür  in  Betracht.  Die  eine  besteht  in  mechanischen  Ge- 
räuschen von  der  Art  des  Theaterdonners,  der  bekanntlich  durch 
Schütteln  eines  großen  Bleches  hervorgebracht  wird.  In  ähnlicher 
Weise  wird  wohl  auch  im  Kino  das  Rauschen  einer  Fontäne,  das 
Rasseln  eines  Eisenbahnzuges,  der  Regen,  der  Wind,  der  Sturm  usw. 
imitiert. 

Die  zweite  Form  ist  die  Reproduktion  des  Geräusches  durch  das 
Grammophon.  Dabei  schwebt  der  Technik  das  Ideal  der  gleich- 
zeitigen Aufnahme  der  optischen  und  akustischen  Naturerscheinungen 
vor.  Gleichzeitig  mit  der  Bewegung,  die  aufgenommen  wird,  soll  der 
Phonograph  das  dazu  gehörige  Geräusch  aufnehmen.  Und  bei  der  Re- 
produktion im  Kinotheater  wirkt  beides  zusammen.  Diese  Aufgabe  ist 
allerdings  noch  nicht  völlig  gelöst.  Die  sogenannten  »Tonbilder«,  von 
denen  man  sich  früher  einmal  so  viel  versprach,  sind  aus  unseren 
Lichtspieltheatern  fast  ganz  verschwunden.  Bewegung  und  Geräusch 
sind  offenbar  schwer  zum  völligen  Zusammenstimmen  zu  bringen. 
Ein   singender  Mensch   z.  B.  öffnet,   wie   ich   das  wohl   beobachtet 


plötzlich  in  lautes  Lachen  ausgebrochen  sei,  weil  er  einem  Schauspieler  die  schnod- 
drigen Worte,  die  er  bei  der  Aufnahme  gesprochen  hatte,  von  den  Lippen  ab- 
gelesen habe. 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST.  QQ 


habe,  den  Mund  zu  anderen  Zeiten,  als  die  gesungenen  Töne  an  das 
Ohr  des  Zuschauers  dringen.  Aber  an  sich  ist  das  Problem  nicht 
unlösbar  und  wird  auch  gewiß  in  nicht  allzu  langer  Zeit  einmal  ge- 
löst werden. 

Das  Entscheidende  ist  aber  garnicht,  ob  die  Lösung  jetzt  schon 
erreicht  ist  oder  nicht,  sondern  in  welcher  Richtung  die  Absicht  der 
Technik  geht.  Und  da  kann  wohl  kein  Zweifel  sein,  daß  es  die 
Richtung  auf  die  Natur  ist,  die  ihr  dabei  vorschwebt.  Das  Kino- 
bild soll  in  seiner  Wirkung  der  Natur  möglichst  angenähert  werden. 
Sein  Eindruck  soll  mit  dem  der  entsprechenden  Natur  möglichst  iden- 
tisch sein.  Angenommen  nun,  dieses  Ideal  wäre  in  bezug  auf  das 
Geräusch  erreicht.  Was  wäre  damit  gewonnen?  Eigentlich  nur,  daß 
das  Kinobild  noch  in  einem  zweiten  Punkte  mit  der  Natur  überein- 
stimmte. Völlig  zusammenfallen  würde  es  mit  ihr  auch  dann  nicht. 
Denn  es  würde  ja  dann  noch  die  Farbe  fehlen,  da  die  Bewegungs- 
photographie  ebenso  wie  die  gewöhnliche  Photographie  farblos  ist. 

So  dürfen  wir  uns  denn  nicht  wundern,  daß  die  Kinoindustrie 
sich  längst  bemüht  hat,  auch  die  Naturfarben  in  der  Bewegungs- 
photographie  zur  Anwendung  zu  bringen.  Es  lag  in  der  Tat  nahe, 
die  Farbenphotographie  auch  in  den  Kinematographen  einzuführen.  Ge- 
lungen ist  das  freilich  auch  noch  nicht  vollständig.  Offenbar  ist  die 
Technik  noch  immer  zu  schwierig  und  auch  zu  teuer.  Dennoch  ist 
nicht  daran  zu  zweifeln,  daß  das  Problem  einmal  gelöst  werden  wird. 
Vorausgesetzt  nun,  das  wäre  der  Fall:  Was  wäre  damit  gewonnen? 
Wiederum  nur  ein  weiterer  Grad  der  Annäherung  an  die  Natur. 

Denn  auch  dann  bliebe  immer  noch  ein  wichtiges  täuschung- 
hinderndes Element,  nämlich  die  Flächenhaftigkeit.  Jetzt  liegt 
die  Sache  so,  daß  wir  nicht  nur  theoretisch  wissen,  daß  wir  eine 
hellerleuchtete  Fläche  vor  uns  haben,  sondern  daß  wir  diese 
Fläche  auch  wirklich  sehen.  In  der  Natur  erhalten  wir  den 
Eindruck  des  räumlichen  Verhältnisses  der  Dinge  zu  einander  bekannt- 
lich —  abgesehen  von  der  taktilen  Erfahrung  —  durch  das  stereo- 
skopische Sehen  unserer  Augen,  d.  h.  dadurch,  daß  wir  von  jedem 
Gegenstand  zwei  Bilder  erhalten,  die  einander  zwar  sehr  ähnlich,  aber 
—  entsprechend  der  Entfernung  der  beiden  Augen  voneinander  —  doch 
etwas  verschieden  sind.  Wir  sehen  gewissermaßen  ein  wenig  um  die 
Dinge  herum.  Bei  einer  Photographie,  auch  einer  bewegten,  ist  das 
nicht  der  Fall.  Wir  erhalten  hier  in  jedem  Augenblick,  d.  h.  in  jedem 
Stadium  der  Bewegung  immer  nur  ein  Bild,  wodurch  uns  das  Ge- 
fühl der  plastischen  Rundung  unmöglich  gemacht,  dagegen  das  Be- 
wußtsein der  Flächenhaftigkeit  aufrecht  erhalten  wird.  Die  meisten 
Kinobesucher  haben  dieses  Gefühl  der  Flächenhaftigkeit  in  sehr  hohem 


100  KONRAD  LANGE. 


Grade.  Das  ergibt  sich  schon  daraus,  daß  man  in  der  Literatur  sehr 
oft  die  Bemerkung  lesen  kann,  die  Kinofiguren  »huschten  auf  der 
Fläche  hin  und  her«.  Dieser  Eindruck  ist  also  ein  wichtiges  täu- 
schunghinderndes Element.  Bei  der  gewöhnlichen  Photographie  gibt 
es  nur  ein  Mittel,  dieses  täuschunghindernde  Element  zu  überwinden. 
Das  ist  das  Stereoskop,  dessen  Wirkung  bekanntlich  darauf  beruht, 
daß  zwei  Aufnahmen  gemacht  werden,  von  zwei  Punkten  aus,  die 
genau  so  weit  voneinander  entfernt  liegen  wie  unsere  Augen,  und 
daß  nachher  bei  der  Anschauung  beide  Bilder  dem  Beschauer  gleich- 
zeitig dargeboten  und  vermöge  eines  optischen  Zwangs  in  eines  ver- 
schmolzen werden. 

Dieser  optische  Zwang  des  Stereoskops  ist  nun  auf  das  Kino 
nicht  anzuwenden.  Aus  dem  einfachen  Grunde,  weil  er  eine  Fixierung 
der  beiden  Augen  voraussetzt,  also  immer  nur  individuell,  d.  h.  auf 
eine  Person  ausgeübt  werden  kann.  Im  Lichtspieltheater  aber  sitzen 
viele  Personen,  und  sie  wollen  sich  auch  nicht  den  Guckkasten  vor 
die  Augen  halten,  der  beim  Stereoskop  Anwendung  findet.  Es  kann 
also  mit  Sicherheit  behauptet  werden,  daß  das  täuschunghindernde 
Element  der  Flächenhaftigkeit  niemals  aufgehoben  werden  wird.  Der 
Eindruck  des  Flächenhaften  ist  aber  deshalb  besonders  stark,  weil  die 
Einführung  der  wirklichen  Bewegung  eine  Naturannäherung,  d.  h.  eine 
Täuschung  bedeutet,  zu  der  die  Flächenhaftigkeit  in  einem  unversöhn- 
lichen Gegensatz  steht.  Durch  den  Kontrast  zu  der  wirklichen  Be- 
wegung kommt  die  Flächenhaftigkeit  doppelt  stark  zum  Bewußtsein. 
Ebenso  kann  man  auch  sagen,  daß  die  Farblosigkeit  bei  der  Bewegungs- 
photographie  stärker  empfunden  wird  als  bei  der  gewöhnlichen  Photo- 
graphie, weil  sie  im  Gegensatz  zu  der  wirklichen  Bewegung  steht. 
Es  ist  eine  bekannte  Tatsache,  daß  die  Figuren  der  Kinobilder  wie 
mit  Mehl  bepudert  aussehen.  Das  möchte  ich  auf  diesen  Kontrast 
zurückführen. 

Angenommen  aber  auch,  das  täuschunghindernde  Element  der 
Flächenhaftigkeit  wäre  ebenfalls  durch  irgend  einen  technischen  Kunst- 
griff, den  wir  uns  vorläufig  noch  nicht  ausdenken  können,  über- 
wunden, d.  h.  alle  täuschunghindernden  Elemente,  Bewegungslosig- 
keit, Geräuschlosigkeit,  Farblosigkeit  und  Flächenhaftigkeit  fielen  einmal 
in  Zukunft  weg,  was  wäre  die  Folge?  Einfach  die,  daß  das  Bild 
gar  nicht  als  Bild,  sondern  als  Natur  erschiene.  Man 
würde  dann  überhaupt  keine  Kunst,  sondern  Natur  vor  sich  zu  sehen 
glauben.  Das  hieße  aber:  die  Täuschung  würde  perfekt  werden. 
Denn  was  man  sähe,  wäre  zwar  nicht  wirkliche  Natur,  erschiene 
aber  so,  und  zwar  ganz,  restlos,  ohne  jede  Einschränkung.  Damit 
wäre  aber  die  Vorstellung  einer  künstlerischen   Persönlichkeit  völlig 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST,  IQl 


ausgeschaltet.  Eine  derartige  Darstellung  der  Natur  wäre  nun  ebenso- 
wenig ein  Kunstwerk,  wie  man  das  erste  beste  Spiegelbild  der  Wirk- 
lichkeit als  ein  solches  ansprechen  könnte.  Unsere  Großeltern  pflegten 
im  Erdgeschoß  ihrer  Stadtwohnungen  an  den  Fenstern  außen  nach 
der  Straße  zu  schräge  Spiegel  anzubringen,  in  denen  sie  das  Leben 
der  Passanten,  besonders  der  auf  dem  Bürgersteig  gehenden  Personen 
beobachten  konnten.  Was  sie  dabei  sahen,  die  Spiegelbilder,  die  sie  da, 
am  Fenster  sitzend,  in  sich  aufnahmen,  waren  keine  Kunstwerke.  Sie 
waren  vielmehr  Wirklichkeit,  die  man  nur  aus  Bequemlichkeitsgründen, 
um  das  Fenster  nicht  aufmachen  und  sich  nicht  hinauslehnen  zu 
müssen,  ins  Spiegelbild  übertragen  hatte.  Nichts  anderes  sind  die 
Kinobilder  oder  wären  die  Kinobilder,  vorausgesetzt,  daß  es  gelänge, 
alle  täuschunghindernden  Elemente  zu  überwinden.  Sie  wären  Wirk- 
lichkeit, die  man  nur,  um  sie  zu  fixieren  und  überall  einer  größeren 
Zahl  von  Menschen  zugänglich  machen  zu  können,  durch  ein  technisch 
ingeniöses  Verfahren  auf  die  Projektionsfläche  eines  größeren  Saales 
übertragen  hätte.  Das  ist  kein  künstlerisches,  sondern  lediglich  ein 
technisches  Verdienst.  Die  Bewegung  macht  also  diese  Bilder  nicht 
zu  Kunstwerken.  Sie  sind  nicht  nur  deshalb  keine  Kunst,  weil  sie 
Photographien,  sondern  auch  ganz  besonders  deshalb,  weil  sie 
Bewegungs  Photographien  sind. 

Je  mehr  täuschunghindernde  Elemente  in  einer  Kunst  ausgeschaltet 
werden,  um  so  mehr  nähert  sie  sich  der  Natur.  Ein  farbiges  Bild  steht 
der  Natur  näher  als  eine  farblose  Zeichnung,  eine  polychrome  Skulptur 
näher  als  eine  farblose  Marmorskulptur;  ein  Farbenkupferstich  ist  ceteris 
paribus  »natürlicher«  als  ein  farbloser  Holzschnitt  oder  eine  schwarz- 
weiße Radierung.  Bei  diesen  eigentlichen  Künsten  ist  nun  aber  das 
Charakteristische,  daß  sie  gar  nicht  unbedingt  und  allgemein  nach 
der  Überwindung  der  täuschunghindernden  Elemente  streben.  Zwar 
können  wir  immer  von  Zeit  zu  Zeit  Bemühungen  dieser  Art  beobachten. 
Dazu  gehört  z.  B.  die  Polychromie  der  griechischen  Plastik.  In  der 
Tat  ist  die  Farblosigkeit  des  weißen  Marmors  ein  so  starkes  täuschung- 
hinderndes Element,  daß  es  sehr  merkwürdig  wäre,  wenn  man  keine 
Versuche  gemacht  hätte,  die  Farbe  in  die  Plastik,  auch  in  die  Marmor- 
plastik einzuführen.  Dennoch  hat  man  das  in  der  Regel  nicht  in  der 
Weise  getan,  daß  dabei  die  Naturfarbe  genau  imitiert  worden  wäre. 
Man  begnügte  sich  vielmehr  mit  einer  konventionellen  Kolorierung, 
z.  B.  mit  einer  Färbung  der  Haare,  Augen,  Schmucksachen  und  Ge- 
wänder, während  man  das  Nackte  weiß  oder  nahezu  weiß  ließ,  wobei 
dann  eben  die  nicht  realistisch  bemalten  Teile  als  täuschunghindernde 
Elemente  verblieben.  Und  selbst  diese  beschränkte  Polychromie 
ist  keineswegs  allgemein  durchgeführt  worden.    Z.  B.  sind  es  heutzu- 


102  KONRAD  LANGE. 


tage  nur  wenige  Bildhauer,  die  sie  prinzipiell  anwenden;  ein  sicherer 
Beweis,  daß  es  Künstler  gibt,  die  das  täuschunghindernde  Element 
der  Farblosigkeit  gar  nicht  als  störend  für  den  Kunstgenuß  empfinden, 
im  Gegenteil  gerade  in  ihm  eine  Förderung  desselben  sehen. 

Auch  in  den  graphischen  Künsten  ist  die  Farbe  wiederholt  und 
zu  verschiedenen  Zeiten  angewendet  worden.  Der  Holzschnitt  wurde 
in  seinen  Anfängen  im  15.  Jahrhundert  koloriert,  im  16.  Jahrhundert 
wurde  der  Farbholzschnitt  mit  mehreren  Platten  erfunden.  Im 
18.  Jahrhundert  folgte  dann  die  Ausbildung  des  farbigen  Kupfer- 
stichs, im  19.  Jahrhundert  die  der  farbigen  Lithographie.  Aber  zwi- 
schendurch wurde  auch  immer  wieder  die  farblose  Graphik  geübt. 
Und  zwar  gerade  von  den  größten  Meistern.  Dürers  und  Holbeins 
Holzschnitte  sind  in  der  Regel  nicht  koloriert  worden,  weil  diese 
Künstler  eine  Technik  ausgebildet  hatten,  die  auch  ohne  Farben  die 
gewünschte  Wirkung  erreichte.  Sie  trauten  offenbar  ihrem  Publikum 
genug  Phantasie  zu,  um  sich  eine  farblos  dargestellte  Natur  farbig  zu 
denken.  Rembrandt  hat  seine  Radierungen  nicht  koloriert,  weil  er 
seinen  Ehrgeiz  darein  setzte,  auch  mit  der  einfachen  Schwarzweiß- 
technik farbige  Wirkungen  zu  erzielen.  Die  Anwendungen  der  Farbe 
in  den  graphischen  Künsten  sind  eigentlich  immer  nur  Episoden  ge- 
wesen, die  die  Entwicklung  nicht  ernstlich  bestimmt  haben.  Selbst 
in  der  Steinzeichnung  hat  sich  die  Farbigkeit  nicht  allgemein  durch- 
gesetzt, wie  denn  neben  dem  modernen  farbigen  Künstlerholzschnitt  der 
expressionistische  Schwarzweißholzschnitt  steht.  Und  alles  das,  obwohl 
die  technischen  Schwierigkeiten,  die  früher  der  Anwendung  der  Farbe 
entgegenstanden,  längst  überwunden  sind.  Das  ist  doch  ein  Beweis, 
daß  die  künstlerische  Entwicklung  keineswegs  in  der  Richtung  auf  die 
völlige  Übereinstimmung  mit  der  Natur  geht,  sondern  daß  das  Phan- 
tasiebedürfnis immer  wieder  dazu  führt,  eine  gewisse  Distanz  von  der 
Natur  innezuhalten. 

Diese  Tatsachen  sind  für  die  Beurteilung  des  Kinos  von  entschei- 
dender Bedeutung.  Sie  beweisen,  daß  die  Bewegungsphotographie 
sich  in  ihrem  Streben  nach  möglichster  Übereinstimmung  mit  der 
Natur  und  entsprechender  Aufhebung  der  täuschunghindernden  Ele- 
mente prinzipiell  von  der  wahren  Kunst  unterscheidet.  Für 
diese  ist  die  Distanz  von  der  Natur  etwas  Selbstverständliches,  ein 
künstlerisches  Moment,  dessen  Wert  darin  besteht,  daß  es  die  Phan- 
tasie anregt,  zur  Mittätigkeit  anreizt.  Für  das  Kino  dagegen  ist  charak- 
teristisch das  bedingungslose  Streben  nach  Annäherung  an  die  Natur, 
bis  zum  Punkte  des  völligen  Zusammenfallens  beider  Eindrücke.  Das 
Ideal  des  Kinos  liegt  in  der  Richtung,  die  durch  die  Verse  Goethes 
gegeißelt  wird: 


BEWEGUNGSPHOTOGRAPHIE  UND  KUNST. 


103 


»Die  Kunst  darf  nie  die  Wirklichkeit  erreichen, 
Denn  wo  Natur  ist,  muß  die  Kunsl  entweichen.« 

Unsere  naturalistische  Ästhetii«  war  bekanntlich  anderer  Ansicht.  Arno 
Holz  hat  in  der  Blütezeit  des  Naturalismus  das  Wort  geprägt:  »Die 
Kunst  strebt  danach,  wieder  Natur  zu  sein.  Sie  wird  es  nach  Maß- 
gabe ihrer  technischen  Bedingungen.«  Diese  Definition  paßt  wörtlich 
auf  das  Kino.  Sie  paßt  aber  nicht  auf  die  Kunst.  Die  Kunst  strebt 
nicht  danach,  Natur  zu  sein,  sondern  Natur  darzustellen.  Ihr 
Ideal  ist  nur,  bis  zu  einem  gewissen  Grade  Natur  zu 
scheinen.  Und  zwar  muß  dieser  Schein,  wie  schon  Schüler  wußte, 
ein  «aufrichtiger«  sein,  er  darf  nie  zur  Täuschung  ausarten.  Eine 
Technik,  deren  Wesen  darin  besteht,  daß  sie  nach  absolutem  Zu- 
sammenfallen mit  der  Natur,  d.  h.  nach  Täuschung  strebt,  kann  nie- 
mals Kunst  sein.  Und  da  nun  das  Kino,  wie  wir  gesehen  haben,  in 
seiner  ganzen  technischen  Entwicklung  dieses  Streben  zeigt,  so  ist  es 
keine  Kunst.  Seine  Entwicklung  führt  nicht  zur  Kunst  hin,  sondern 
von  der  Kunst  ab.  Und  zwar  um  so  mehr,  je  mehr  sie  eine  Annäherung 
an  die  Natur  bedeutet.  Jeder  Schritt  weiter  zur  Natur  stellt  einen  Schritt 
von  der  Kunst  fort  dar.  Eine  Technik,  die  danach  strebt,  Bilder  zu 
schaffen,  deren  Eindruck  mit  dem  der  Natur  zusammenfällt,  ist  ebenso- 
wenig Kunst  wie  etwa  die  täuschende  Imitation  von  Vogelstimmen 
oder  die  Herstellung  künstlicher  Blumen  aus  Papier  oder  gewebten 
Stoffen.  Man  macht  so  etwas  wohl  einmal  aus  irgend  einem  Grunde, 
sei  es  aus  Bequemlichkeit,  sei  es,  um  seine  technische  Virtuosität  zu 
zeigen.  Aber  man  macht  es  nicht  mit  dem  Anspruch,  Kunst  zu  schaffen. 
Mag  auch  bei  diesen  täuschenden  Techniken  die  Täuschung  aus  irgend 
einem  Grunde,  vielleicht  infolge  technischer  Mängel,  nicht  perfekt  werden, 
schon  die  Absicht  der  Täuschung  charakterisiert  sie  als  unkünst- 
lerische Tätigkeiten.  Und  diese  Absicht  ist  es,  die  das  Kino  aus  dem 
Reiche  der  Künste  ausschließt.  Die  Kinematographie  ist  nicht  nur  des- 
halb keine  Kunst,  weil  sie  Photographie  ist  und  als  solche  die  Vor- 
stellung von  der  Persönlichkeit  eines  schaffenden  Künstlers  ausschließt, 
sondern  auch  deshalb,  weil  ihre  Entwicklung  in  der  Richtung  auf 
absolutes  Zusammenfallen   mit   der  Natur,  d.  h.  auf  Täuschung  geht. 


Bemerkungen. 


Zur  Bedeutung  des  Tiefenerlebnisses  im  Raumgebilde. 

Von 

August  Schmarsow. 

»Der  Untergang  des  Abendlandes«  ist  der  Titel  eines  Werkes  von  Oswald 
Spengler  in  München,  das  »Umrisse  einer  Morphologie  der  Weltgeschichte«  geben 
will.  Dessen  erster  Band  (1917)  behandelt  aber  im  allgemeinen  »Gestalt  und  Wirk- 
lichkeit«. Er  ist  mir  vor  kurzem  erst  in  seiner  zweiten  Auflage  (von  1919)  vor  Augen 
gekommen.  So  fand  ich  erst  jetzt,  was  der  Name  des  Ganzen  kaum  im  voraus  er- 
warten läßt:  außerordentlich  wichtige  Bestätigungen  meiner  noch  im  zweiten  Heft 
des  XIV.  Bandes  dieser  Zeitschrift  wiederholten  Ansicht  über  die  Vorzugsrechte  der 
dritten  Dimension  im  menschlichen  Raumgebilde.  Deshalb  mag  es  nicht  anders  als 
berechtigt  erscheinen,  wenn  hier  einige  entscheidende  Stellen  aus  dem  genannten  Buch 
herausgehoben  und  im  Zusammenhang  mit  den  eigenen,  damals  gegenüber  Walzel 
verfochtenen,  psychologischen  Beobachtungen  erörtert  werden.  Dieser  Nachtrag  wird 
um  so  notwendiger  gefordert,  als  auch  bei  Spengler  sich  mehr  als  einmal  über  die 
drei  Dimensionen,  die  wir  herkömmlicherweise  nun  einmal  zu  unterscheiden  pflegen, 
die  nämliche  irreführende  Angabe  findet,  die  uns  bei  Walzel  befremdet  hatte,  näm- 
lich mit  Auslassung  der  Vertikalachse  des  Koordinatensystems,  die  wir  Fach- 
leute als  »Höhe«  zuerst  zu  nennen  gewöhnt  sind. 

»Das  eigentliche  Problem  im  Phänomen  des  Ausgedehnten«,  heißt  es  bei  Speng- 
ler S.  240,  »knüpft  sich  an  das  Wesen  der  Tiefe  —  der  Ferne  oder  Entfernung  — , 
deren  abstraktes  Schema  im  System  der  Mathematik  neben  Länge  und  Breite  als 
»dritte  Dimension«  bezeichnet  wird«.  Da  fehlt  also  offenbar  die  Höhe,  die  wir  an- 
deren als  erste  Dimension  ansetzen.  Und  dies  Vergessen  der  eigentlich  kon- 
stituierenden Hauptachse  der  Koordinaten  zieht  seine  unausbleiblichen  Folgen  nach 
sich  —  für  das  Verständnis  des  Raumgebildes,  sei  es  der  allgemeine  Raum,  den 
Kant  als  Anschauungsform  a  priori  gegeben  hielt,  oder  sei  es  ein  konkreter  Raum, 
von  Menschenhand  geschaffen,  ja  unter  Menschenhänden  soeben  erst  erwachsend, 
die  architektonische  Raumgestaltung,  auf  die  es  uns  ursprünglich  allein  ankam.  Ist 
das  überhaupt  nur  ein  Flüchtigkeitsfehler,  auch  eines  anscheinend  gewiegten  Mathe- 
matikers, oder  eine  bewußte  Ausschaltung  der  Vertikale,  die  wohl  jeder  Architekt  als 
die  wesentlichste  Mitgift  der  eigenen  Körperlichkeit  des  Menschen  voraussetzt?  Ich 
wenigstens  hatte  schon  in  meiner  Leipziger  Antrittsrede  von  1893  über  »das  Wesen 
der  architektonischen  Schöpfung«  gerade  von  ihr  den  Ausgangspunkt  genommen: 
»Solch  Raumgebilde  ist  eine  Ausstrahlung  des  in  ihm  gegenwärtigen  Menschen«  — 
schrieb  ich  —  »eine  Projektion  aus  dem  Inneren  des  Subjekts«,  um  sogleich  die 
schöpferische  Tätigkeit  in  ihre  Rechte  einzusetzen.  Der  Mensch  trägt  ja  »die  Domi- 
nante des  Achsensystems,  das  Höhenlot  vom  Scheitel  an  die  Sohlen  in  sich  selber«.  — 
»Die  Architektur,  unsere  Raumgestalterin,  schafft  als  ihr  Eigenstes,  das  keine  andere 
Kunst  zu  leisten  vermag,  Umschließungen  unserer  selbst,  in  denen  die  senkrechte 


BEMERKUNGEN.  105 


Mittelachse  nicht  körperlich  hingestellt  wird,  sondern  leer  bleibt,  damit  sie  nur  idea- 
liter  wirke  und  lediglich  als  Ort  des  Subjekts  bestimmt  sei«  —  als  die  Zentralstelle 
wie  des  menschlichen  Schöpfers  auch  des  lebendigen  Bewohners  selbst.  >  Immer 
ist  die  Raumumschließung  dieses  Subjektes  die  erste  Hauptangelegenheit,  d.  h.  die 
Einfriedigung  oder  Umwandung  nach  den  Seiten  zu,  nicht  etwa  die  Bedachung 
nach  oben  oder  gar  die  Bezeichnung  und  Ausbildung  des  Höhenlotes  (in  körper- 
licher Form).    Lange   mag  sich   solche  Umhegung  unter  freiem  Himmel  erheben«. 

Was  aber  sind  die  beiden,  auch  von  Spengler  genannten  Dimensionen  »Länge 
und  Breite«,  wenn  er  ihnen  die  Tiefe  als  dritte  Dimension  gegenüberstellt?  Ent- 
weder sind  beide  zusammen  nur  eine,  nämlich  die  zweite,  die  dann  allein  noch 
fehlt.  Und  wir  nennen  sie  gewöhnlich  Breitenausdehnungen,  reden  von  Länge  nur 
in  einem  besonderen  Fall  —  wenn  wir  nämlich  daran  entlang  sehen  oder  gar  gehen; 
dann  aber  verwandeln  wir  sie  durch  die  sukzessive  Auffassung  erst  in  die  Länge, 
d.  h.  im  Vollzuge  von  einem  Ende  zum  anderen  aus  der  zweiten  Dimension  in  die 
dritte.  Dies  geschieht  auch  ebenso  mit  der  ersten  Dimension,  durch  den  Aufstieg 
in  die  Höhe,  etwa  als  Wachstumsachse  eines  JV\enschen,  eines  Baumes,  den  wir 
dann  auch  als  einen  »langen«  Kerl,  einen  »langen«  Stamm  bezeichnen.  So  könnte 
sich  unter  der  »Länge«  in  dem  angegebenen  Wortlaut  bei  Spengler  die  Vertikalachse 
verbergen,  wenn  nicht  andere  Stellen  bewiesen,  daß  er  tatsächlich  die  beiden  Hori- 
zontalerstreckungen meint.  Und  so  bliebe  als  letzte  Möglichkeit  nur  übrig,  daß  sie 
auch  ihm  »in  die  vierte  Dimension  geraten«  sei,  wie  wir  scherzend  von  Walzel  ge- 
sagt. Denken  wir  aber  im  Ernst  an  mathematische  Begriffe  solcher  Art,  wie  etwa 
die  vierdimensionale  Vektoranalyse,  so  kommen  wir  zu  einem  wichtigen  Übergang 
aus  dem  Reich  des  Raumes  in  das  der  Zeit.  Sind  die  gewohnten  drei  Dimensionen 
des  Raumes  x,  y,  z,  so  wählen  wir  als  vierte  Größe  t  (=  tempus)  für  die  Zeit,  als 
wäre  sie  ein  gleichwertiger  Faktor.  Dann  verbindet  sich  t  in  den  Transformationen 
beliebig  mit  jedem  der  drei  räumlichen  Zeichen,  und  diese  Verbindung  entscheidet 
eben  die  Verwandlung  aus  der  Starrheit  simultaner  Koexistenz  in  sukzessiven  Voll- 
zug, aus  Raumdistanz  in  Zeitverlauf,  aus  Ruhe  in  Bewegung.  Wie  die  erste  und 
die  zweite  Dimension  wird  auch  die  dritte  durch  solche  Oesellung  mit  t  zur  »Länge«. 
Das  ist  entscheidend  für  die  Lehre  vom  Rhythmus. 

»Nächst  dem  Höhenlot,  dessen  lebendiger  Träger  (das  menschliche  Subjekt) 
mit  seiner  leiblichen  Orientierung  nach  oben  und  unten,  vorn  und  hinten,  links  und 
rechts  bestimmend  weiterwirkt«  —  liest  man  a.  a.  O.  S.  16  bei  mir  weiter  — ,  »ist 
die  wichtigste  Ausdehnung  für  das  eigentliche  Raumgebilde  vielmehr  die  Richtung 
unserer  freien  Bewegung,  also  nach  vorwärts,  und  zugleich  unseres  Blickes  durch 
Ort  und  Stellung  unserer  Augen  bestimmt,  also  die  Tiefenausdehnung.  Ihre 
Länge  bedeutet  für  das  anschauende  Subjekt  das  Maß  seiner  freien  Bewegung  im 
gegebenen  Raum  (oder  seines  Anspruchs  an  solche  im  entstehenden)  so  notwendig, 
wie  es  gewohnt  ist  vorwärts  zu  sehen  oder  zu  gehen«  usw. 

»Der  Mensch  fühlt  sich«,  erklärt  Spengler  (S.  246),  »und  das  ist  der  Zustand 
des  wirklichen  Wachseins,  in  einer  ihn  rings  umgebenden  Ausgedehntheit.  Man 
braucht  diesen  Ureindruck  des  Weltmäßigen  nur  zu  verfolgen,  um  festzustellen,  daß 
es  tatsächlich  nur  eine  wahre  Dimension  des  Raumes  gibt,  die  Richtung  nämlich 
von  sich  aus  in  die  Ferne,  und  daß  das  abstrakte  System  dreier  Dimensionen  eine 
mechanische  Vorstellung,  keine  Tatsache  des  Lebens  ist.  Das  Tiefenerlebnis,  die 
Richtung  in  die  Ferne,  dehnt  die  Empfindung  zur  Welt«. 

Wie  ich  1896  ein  eigenes  Schriftchen  über  den  »Wert  der  Dimensionen  im 
menschlichen  Raumgebilde«  folgen  ließ,  in  dem  eben  die  Ungleichheit  dieser  Werte 
und  ihres  wechselnden  Verhältnisses  durchgeführt  ward,  so  fährt  auch  Spengler  an 


106  •  BEMERKUNGEN. 


der  vorhin  begonnenen  Stelle  (240)  fort.  »Die  Dreizahl  (der  Dimensionen,  als) 
koordinierter  Faktoren  ist  von  vornherein  irreführend.  Ohne  Zweifel  sind  im  räum- 
lichen Eindruck  diese  Elemente  nicht  gleichwertig,  geschweige  denn  gleich- 
artig.« Dann  aber  heißt  es  weiter:  »Länge  und  Breite  sind  sicherlich  als  Er- 
lebnis eine  Einheit,  keine  Summation.  Sie  sind,  mit  Vorsicht  gesagt,  Form  der 
Empfindung.  Sie  repräsentieren  den  urmenschlichen,  rein  sinnlichen  Eindruck.  Die 
Tiefe  repräsentiert  den  Ausdruck,  mit  ihr  beginnt  die  ,Welt'.  —  Diese  der  Mathe- 
matik selbstverständlich  ganz  fremde  Unterscheidung  in  der  Bewertung  der  dritten 
Dimension  gegenüber  den  sogenannten  beiden  anderen  liegt  auch  in  der  Gegen- 
überstellung der  Begriffe  Empfindung  und  Anschauung.  Die  Dehnung  in  die  Tiefe 
verwandelt  die  erste  in  die  letzte.  Erst  die  Tiefe  ist  die  eigentliche  Dimen- 
sion im  wörtlichen  Sinne,  das  Ausdehnende.  In  ihr  ist  der  Geist  aktiv,  in  den 
anderen  streng  passiv«. 

Hier  aber  fehlt  ja  wieder  die  Höhe,  nach  unserer  Zählung  die  erste  Dimen- 
sion, und  damit  der  lebendige  Träger,  das  menschliche  Subjekt,  von  dem  allein 
auch  das  Erlebnis  der  Tiefe  ausgehen  kann,  in  deren  Vollzug  wenigstens  die  Ver- 
tikalachse des  eigenen  Körpers  immer  darin  steckt  und  im  Vorwärtsdringen  als  Maß 
der  Entfernung  vom  vorigen  Standpunkt  her  mitgenommen  wird,  wie  es  selbst  bei 
rein  optischer  Aufnahme  der  Distanz  zu  deren  Einschätzung  notwendig  mitwirkt. 
Damit  fehlt  überhaupt  das  Bindeglied  zwischen  den  horizontalen  Erstreckungen,  so 
wahr  auch  die  Breitenausdehnung  von  unserem  eigenen  Mittellot  her  ihren  Aus- 
gang nimmt,  nach  beiden  Seiten.  Das  heißt  also:  hier  ist  nichts  Geringeres  als  die 
Dominante  des  ganzen  Achsensystems  außer  acht  gelassen,  die  sich  doch  im  Raum- 
schaffen oder  Raumsehen,  aktiv  erlebend  oder  passiv  empfangend,  vorwärts  bewegt 
in  einer  durchgehenden  Richtung.  Und  nach  welcher  Seite  sich  der  Vollzug  der 
Bewegung,  des  Gehens,  des  Tastens  oder  des  Schauens  richtet,  dahin  kehrt  sich 
auch  die  Dominante  des  Ich,  in  diese  Ausdehnung  legt  sich  mit  dem  Willensimpuls 
das  Gefühl;  in  diese  Richtung  erstreckt  sich  oder  ergießt  sich  das  Tiefeneriebnis, 
das  entscheidende,  alles  übrige  mit  sich  fortreißende  Erlebnis  der  dritten  Dimension. 

In  allem  anderen  stimmt  Spengler  mit  meinen  Beobachtungen  von  18Q6  überein, 
aus  denen  ich  nur  folgende  Sätze  über  den  Wert  der  dritten  Dimension  noch  heraus- 
heben möchte.  »Sie  ist  fast  ausschließliche  Inhaberin  des  wichtigsten  Faktors,  unserer 
Ortsbewegung.  Sie  erst  bringt  die  Ausdehnung  zum  unmittelbaren  Erleben,  zum 
unleugbaren  Gefühl,  zum  vollen  Bewußtsein.  Nach  welcher  Himmelsrichtung  wir 
das  Antlitz  kehren,  da  liegt  für  uns  die  Welt.«^  Und  das  hat  für  die  Entstehung  des 
selbstgeschaffenen  Raumgebildes  der  Architektur  ebenso,  wie  für  dessen  ästhetische 
Aufnahme  durch  das  genießende  Subjekt  entscheidende  Bedeutung.  Denken  wir  uns 
in  eine  mehrgliedrige  Raumkomposition,  die  wir  nicht  anders  als  im  Nacheinander 
erfassen  können,  wie  eine  dramatische  oder  eine  musikalische  Aufführung,  die  wir 
doch  auch  als  Ganzes  anerkennen.  »Schon  der  perspektivische  Durchblick  durch 
weitere  und  weitere  Raumteile  hat  diesen  Vollzug,  wenigstens  in  der  Vorstellung  des 
Betrachters  zur  Folge :  er  kann  jeden  Augenblick  mehr  und  mehr  in  eine  Reihe  ver- 
schiedener Eindrücke  aufgelöst  werden,  die  doch  fühlbar  in  Zusammenhang  stehen, 
einer  aus  dem  anderen  sich  entwickeln  und  wieder  im  Ganzen  aufgehen.  Die  Tiefen- 
dimension repräsentiert  also  auch  im  menschlichen  Raumgebilde  die  Lebensachse, 
um  die  sich  das  System  von  inneren  Zwecken  herumordnet,  das  der  Bau  als  Ein- 
heit zusammenschließt.  Hier  erfüllt  sich  das  ruhende  Dasein  der  Form  (die  Gruppen 
koexistenter  Bauglieder,  Gewölbjoche  u.  dgl.)  mit  Leben,  und  die  Grenzen  der  Gegen- 
wart scheinen  das  Unendliche  zu  streifen.  Hier  begreifen  wir  die  eigentliche  Trieb- 
feder der  Kunst,  die  sich  solche  Raumgestaltung  zur  Aufgabe  stellt:  die  psycho- 


BEMERKUNGEN.  107 


logische  Wurzel  der  Architektur  liegt  in  der  dritten  Dimension.« 
»Die  Tiefendimension  ist  stets  Anfang  und  Kndziel  ihres  Schaffens,  wo  immer  sie 
ihrem  eigensten  Wesen  getreu  bleibt.«  —  »Gerade  im  Vordringen  der  Richtung  in 
die  Weite  liegt  auch  der  Fortschritt  des  eigensten  Wachstums  dieser  Kunst  (vom 
Innenraum  zur  Straßenflucht,  zur  Platzanlage  im  Städtebau,  zur  Parkanlage,  zum 
Landschaftsprospekt)  —  liegt  also  gerade  der  Wert,  den  sie  zu  bleibendem  Genuß 
zu  bringen  trachtet  und  sie  allein  zu  bieten  weiß«,  wie  keine  andere  Kunst  simul- 
taner Anschauungsform  (a.  a.  O.  8.  55—59;  vgl.  ebenso  Grundbegriffe  der  Kunst- 
wissenschaft 1905,  S.  33-41). 

Damit  hängt  denn  auch  die  weitere  Frage  zusammen,  wie  kommt  in  den  starren 
Stillstand  des  Architekturwerkes,  in  das  feste  System  des  Raumes  der  zeitliche  Ver- 
lauf überhaupt  hinein  ?  Die  Antwort  muß  lauten :  mit  der  fortschreitenden  Bewegung 
des  schöpferischen  Subjekts,  unter  dessen  Händen  oder  nach  dessen  Willen  durch 
andere  Hände  es  entstand,  wie  mit  der  vorwärts  dringenden  oder  rückwärts  kehren- 
den Ortsbewegung  des  genießenden  Subjekts,  unter  dessen  einherschreitendem  Gang, 
einwärts  und  aufwärts  oder  abwärts  gleitendem  Blick  sich  die  Koexistenz  der  be- 
nachbarten Teile  in  die  Sukzession  des  Empfangens  und  Verfolgens,  des  Aufnehmens 
der  Einzelheiten  und  der  Verbindung  zu  Einheiten  sich  notwendig  vollzieht.  Durch 
diese  Zurückversetzung  des  fertig  Dastehenden  in  den  zeitlichen  Verlauf  der  Ent- 
stehung des  Werkes  kommen  auch  die  beiden  Gestaltungsprinzipien  für  sukzessive 
Aufnahme  herein,  die  wir  Richtung  und  Rhythmus  nennen. 

Hier  haben  wir  Oswald  Spengler  willkommenste  Beiträge  zur  Klärung  des  Ver- 
hältnisses zwischen  Raum  und  Zeit  zu  danken,  das  selbst  einem  Kenner  der  Wort- 
kunst mit  ihrer  Metrik  und  Rhythmik  wie  Walzel  und  nicht  nur  mathematisch  ge- 
schulten Architekten  soviel  Bedenken  und  Zweifel  verursacht  hat.  Spengler  sagt 
(S.  176  ff.)  mit  Entschiedenheit,  es  sei  ein  Mißgriff  »Raum  und  Zeit«  als  morpho- 
logisch gleichartiges  Qrößenpaar  der  messenden  Betrachtung  zu  unterwerfen.  Das 
schließe  jedes  Verständnis  für  das  wahre  Zeitproblem  aus.  »Was  nicht  eriebt  und 
gefühlt,  was  nur  gedacht  wird,  nimmt  notwendig  räumliche  Qualitäten  an.  Die 
physikalische  und  die  Kantische  Zeit  ist  eine  Linie.  Ihre  organische  Bewegtheit, 
ihr  seelenhafter  Gehalt  sind  in  den  Formeln  und  Begriffen  verschwunden.«  Damit 
wird  es  freilich  ermöglicht,  Raum  und  Zeit  »als  Größen  derselben  Ordnung  in  funk- 
tionale Abhängigkeit  voneinander  zu  bringen«;  aber  der  lebendige  Mensch  hat  bei 
dem  Worte  ,Zeit',  in  dem  was  er  beim  Klang  des  Wortes  wirklich  fühlt,  ein  ganz 
anderes  Erlebnis  von  durchaus  »organischem  Charakter«,  das  zum  »toten  Raum«  im 
Gegensatz  steht.  »Damit  aber  verschwindet  die  von  Kant  und  allen  anderen  ge- 
glaubte Möglichkeit,  die  Zeit  neben  dem  Räume  einer  parallelen  erkenntnistheoreti- 
schen Erwägung  unterwerfen  zu  können.«  Und  was  weiß  Sp.  uns  über  das  rätsel- 
hafte Wesen  des  Zeitertebnisses  oder  die  geheimnisvolle  Entstehung  unserer  Zeit- 
vorstellung selber  zu  künden  ?  Wir  müssen  uns  ertauben,  auch  diese  Stellen  heraus- 
zulesen und  für  unseren  Zweck  aneinander  zu  fügen.  »Alles  Werden  besitzt  das 
Merkmal  der  Richtung,  ein  unaussprechliches  Gefühl  {Lebensgefühl),  das  der  Mensch 
in  allen  höheren  Sprachen  durch  das  Wort  ,Zeit'  und  die  daran  sich  knüpfenden 
Probleme  geistig  zu  bannen  und  —  vergeblich  —  zu  deuten  versucht  hat.«  »Wer 
die  Umwelt,  wie  Goethe,  als  ein  Lebendiges  anschaut,  das  Gewordene  als  Werden 
nachfühlt,  für  den  ist  die  Zeit  plötzlich  kein  Rätsel  mehr,  kein  Begriff,  keine  Dimen- 
sion, sondern  etwas  innertich  Gewisses.  Ihr  Gerichletsein,  ihre  Nichtunikehrbarkeit, 
ihre  Lebendigkeit  erscheint  als  der  Sinn  dieser  Intuition.«  »Alles  Lebendige  besitzt 
—  hier  können  wir  nur  wiederholen  —  Leben,  Richtung,  Streben,  Wollen,  eine  mit 
der  Sehnsucht  aufs  tiefste  verwandte  Bewegtheit,  die  mit  der  Bewegung  des  Physi- 


108  BEMERKUNGEN. 


kers  nicht  das  geringste  zu  tun  hat.«  »Das  Lebendige  ist  unteilbar  und  nicht  um- 
kehrbar, einmalig,  nie  zu  wiederholen  —  und  in  seinem  Verlaufe  mechanisch  völlig 
unbestimmbar:  das  alles  gehört  zur  Wesenheit;  des  Schicksals.«  Und  so  erst  be- 
greift sich  das  Verhältnis  von  Menschenseele  und  Welt. 

»Das  Tiefenerlebnis  verwirklicht,  schafft  mit  einem  Schlage  die  ausgedehnte 
Welt,  es  ordnet  mit  schicksalhafter  Notwendigkeit  die  Masse  der  Empfindungen 
(Breite)  durch  die  lebendige  Richtung  (Tiefe)«  (427). 

»Dies  Erlebnis  ist  identisch  mit  dem  Bewußtwerden  der  eigenen  Seele.«  Die 
Innenwelt  ist  eine  Funktion  der  Außenwelt.  Die  empirische  Seele  ist  ihrer  Gestalt 
nach,  das  alter  Ego,  der  Reflex  der  empirischen  Natur.  Hier  liegt  also  eine  wunder- 
bare Wirkung  des  Tiefenerlebnisses  vor.  »Zur  Welt  gehört  die  Spiegelung  einer 
Gegenwelt.  Auch  die  empirische  Seele  hat  ihren  Raum,  ihre  Tiefe,  ihre  Weite.  Ein 
,inneres  Auge'  sieht,  ein  ,inneres  Ohr*  hört.  Es  gibt  eine  deutliche  Empfindung  von 
einer  inneren  Ordnung,  die  wie  die  äußere  das  Merkmal  der  Notwendigkeit  trägt,  — 
hier  entsteht  das  ethische  Grundproblem  von  Freiheit  und  Notwendigkeit.  Ihm  liegt 
der  Widerspruch  zugrunde,  zwischen  der  Seele,  die  wir  haben,  fühlen,  erleben,  und 
der,  welcher  wir  uns  verstandesmäßig  bewußt  sind.  Was  wir  erkennen  ist  nur  das 
Seelenbild,  gleichsam  eine  Landschaft  im  reflektierten  Lichte  des  Tagesbewußtseins. 
In  bedeutenden,  ganz  innerlichen  Momenten  des  Lebens  ist  es  verschwunden,  und 
der  Mensch  ist  sich  seiner  Seele  und  seiner  ,Freiheit'  unmittelbar  bewußt.« 

Aus  solcher  tiefeindringenden  Analyse  geht  uns  wohl  auch  die  Einsicht  auf, 
was  das  menschliche  Raumgebilde  als  künstlerische  Schöpfung  bedeutet,  welche 
Erlebnisse  äußerer  und  innerer  Schau  sich  in  ihm  verquicken  mögen,  und  welchen 
seelisch-geistigen  Inhalt  die  verschlungenen  Wege  des  Gehens,  des  Entlangschrei- 
tens,  des  auf  und  ab,  hin  und  wieder  gleitenden  Sehens  mitsamt  ihren  Vermittlungen 
in  der  Tastregion  dem  genießenden  Besucher  zu  bieten  vermögen.  Das  bestätigen 
auch  die  Beispiele,  die  Spengler  aus  der  Geschichte  der  Baukunst  zu  geben  weiß. 
Da  ist  zunächst  der  ägyptische  Tempel '). 

»Für  den  Ägypter  war  das  über  seine  Weltform  entscheidende  Tiefenerlebnis  so 
streng  hinsichtlich  der  Richtung  betont,  daß  der  Raum  gewissermaßen  in  steter  Ver- 
wirklichung begriffen  blieb.  Das  ägyptische  Dasein  ist  das  eines  Wanderers;  sein 
Ursymbol  ist  der  Weg  —  das  Bild  dieses  im  Bewußtsein  andauernden  wehschaffen- 
den Aktes.  Weg  bedeutet  zugleich  Schicksal  und  dritte  Dimension.  Die  mächtigen 
Wandflächen,  Säulenreihen,  an  denen  er  vorüberführt,  repräsentieren  Länge  und 
Breite,  d.  h.  die  Empfindung,  das  Fremde,  welches  das  Leben  erst  zur  Welt  dehnt. 
So  erlebt  der  Wanderer  den  Raum  gewissermaßen  in  seinen  noch  unvereinigten 
Elementen  (a.  a.  O.  270).  —  Das  weltbildende  Tiefenerlebnis  dieser  Seele  empfängt 
seinen  Gehalt  vom  Richtungsfaktor  selbst:  die  Tiefe  des  Raumes  als  erstarrte  Zeit, 
die  Ferne,  der  Tod,  das  Schicksal  selbst  beherrschen  den  Ausdruck;  die  bloß  sinn- 
lichen Dimensionen  der  Länge  und  Breite  werden  zur  begleitenden  Fläche,  die  den 
Weg  des  Schicksals  einengt  und  vorschreibt«  (286).  »Diese  Kunst  gestattet  keine  die 
Spannung  der  Seele  erleichternde  Ablenkung«-). 

»Die  ,altchristlichen  Basiliken',  im  inneren  Syrien  und  in  Nordafrika,  zeigen  die 
geheimnisvollen  Schwingungen  eines  voll  umschlossenen  Raumes.  Das  war  der 
erste  starke  Eindruck  einer  neuen  Seele  (gegenüber  dem  Baugedanken  der  Antike).« 


')  Vgl.  Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft,  S.  18  ff.  27. 

^)  Außer  in  den  Reliefdarstellungen,  bei  denen  doch  die  Herrschaft  der  Verti- 
kalen innerhalb  der  Horizontalen  anerkannt  wird,  die  im  Raumgebilde  selbst  ver- 
gessen ward. 


BEMERKUNGEN.  IQQ 


»Sobald  der  germanische  Oeist  diesen  basilikalen  Typus  in  Besitz  nimmt,  beginnt 
eine  wunderbare  Veränderung  alier  Bauelemente  nacii  Lage  und  Sinn,  die  strenge 
Ausbildung  abgestufter  Seitenschiffe  und  vor  allem  des  für  die  Symbolik  der  Dome 
so  unendlich  wichtigen  Querschiffes,  durch  das  nach  dem  Malk  der  Vierung  eine 
strophische  Gliederung  des  bewegten  Rauminneren  erzeugt  wird  (a.a.O. 322)'). 

»In  den  gotischen  Domen  geleiten  hochgewölbte  Schiffe  mit  ihren  Pfeilerreihen 
vom  Portal  zur  Tiefe  des  Chores,  dem  Hochaltar  zu  (263,  275).  Auch  der  gotische 
Dom  symbolisiert  den  Weg  zu  Gott  (280).« 

Nach  diesen  Stichproben  darf  ich  bei  Spengler  wohl  überhaupt  auf  Kenntnis 
oder  Einverständnis  schließen. 

Damit  wäre  die  Bedeutung  des  Tiefenerlebnisses  im  menschlichen  Raumgebilde 
wesentlich  geklärt,  und  nicht  allein  der  einen  Dimension,  die  wir  vorzugsweise  so 
benennen.  Für  die  beiden  anderen  gilt  annähernd  dasselbe,  für  die  Höhe  zumal, 
wie  auch  für  die  Breite,  wenn  auch  in  minderer  Stärke.  Und  dies  liegt  daran:  jede 
Ausdehnung,  die  der  sukzessiven  Auffassung  unterzogen  wird,  gewinnt  eben  da- 
durch Leben,  im  Unterschied  vom  starren  Bestände  des  Systems.  Die  Ortsbewe- 
gung ist  der  stärkste  Faktor,  mit  dem  sie  sich  verbindet;  zunächst  kommt  ihr  die 
Abtastung;  am  leichtesten  und  wandelbarsten  vollzieht  sich  das  rein  optische  Ver- 
halten, vom  schwebenden  Schweifen  zum  Stillstand  der  Schau,  der  doch  niemals 
der  Aktivität  entbehrt,  solange  er  in  seelischer  Dynamik  als  Erlebnis  gespürt  wird. 
Die  motorische  Kraft  entscheidet  den  Vorrang  der  Dominante  im  dreidimensionalen 
Komplex  und  löst  die  Statik  der  Symmetrie  und  Proportion  in  Rhythmus  auf. 


')  Vgl.  Bd.  IX  dieser  Zeitschrift  meinen  Vortrag  über  Raumgestaltung  als  Wesen 
der  architektonischen  Schöpfung  für  den  Kongreß  der  Ästhetiker  in  Berlin  1913. 


Besprechungen. 


E.  Waldmann,  Albrecht  Dürers  Handzeichnungen.  Leipzig,  Insel-Verlag, 
1918.    57  Seiten  Text  und  80  Vollbilder. 

Der  —  nunmehr  erschienene  —  3.  Teil  von  Waldmanns  Dürer-Buch  bringt 
dem  Titel  nach  die  Handzeichnungen.  In  der  Vorbemerkung  des  1.  Bandes 
(S.  8)  hieß  es,  der  3.  Band  wird  »an  der  Hand  vieler  Zeichnungen  über  Dürers 
Stil«  handeln.  Dürers  Stil  und  Dürers  Zeichnungen:  Dürer  war  kein  geborener 
Maler,  wie  Grünewald  einer  war,  sondern  ein  geborener  Zeichner,  schreibt  auch 
Waldmann  (Bd.  III  S.  38).  Nur  fügt  er  hinzu,  es  sei  ungerecht,  seine  Leistung  in 
der  Malerei  gering  zu  schätzen,  »besonders  angesichts  des  Allerheiligenbildes«. 

Für  Waldmanns  Stilanalyse  bilden  aber  die  Handzeichnungen  keineswegs 
die  ausschließliche  Grundlage.  Reichlich  wird  der  Kupferstich,  »das  ,vornehmste' 
Material  des  Zeichners«,  herangezogen.  Und  auch  der  Holzschnitt,  der  nach  einem 
Wort  Wölfflins  »unmittelbar  auf  dem  Boden  der  Handzeichnung  steht«  (Die  Kunst 
Albrecht  Dürers  =  S.  295.  S.  302  berücksichtigt  die  Verschiedenheit).  Zu  diesen 
Arten  der  Schwarz-Weiß-Kunst  treten  auch  noch  die  Gemälde.  Diese  Breite  der 
Basis  erhöht  die  Geschlossenheit  der  stilistischen  Betrachtung,  läßt  aber  die  Eigen- 
bedeutung der  Handzeichnung  doch  zurücktreten,  trotz  solch  ergiebiger  Seiten 
wie  18,  40  ff.,  50,  55  u.  a.  Daß  Waldmann  seine  Stilbetrachtung  nicht  ohne  Berück- 
sichtigung des  Momentes  der  Entwicklung  wie  überhaupt  des  historischen  Gesichts- 
punktes durchführt,  braucht  nicht  besonders  betont  zu  werden.  Ausdrücklich  sei  aber 
daraufhingewiesen,  wie  er  Technisches,  Psychologisches,  Formales  in  den  Gesichts- 
punkt der  Entwicklung  hineinarbeitet  (S.  25  f.,  31  f.,  37,  50  f.,  56  f.  u.  a.).  Was  Waldmann 
an  Formanalyse  im  3.  Band  bietet:  Das  Raumproblem,  der  Bildraum,  Raum  und  Gestalt, 
Raum  und  Landschaft;  die  Gruppenbildung;  Perspektive  und  Körperbewegung;  der 
Figurenstil ;  die  Form  der  Monumentalität;  das  Licht ;  die  Linie  u.  a.  m.,  das  ist  reichlich 
viel,  eigentlich  zuviel  für  »ein  einfaches  und  schlichtes  Buch  über  Dürer«.  Leser  aus  dem 
breiteren  Publikum,  Laien  also,  werden  sich  manchmal  etwas  schwer  tun  (z.  B.  S.  40  ff., 
25).  Aber  wir  geben  dem  Verfasser  im  Grunde  doch  recht:  selbst  Dürer  kann  nicht  ohne 
weiteres  genossen  werden,  d.  h.  nicht  vom  Gemüt,  von  der  Phantasie,  vom  Gegen- 
stand allein  aus,  wie  die  noch  immer  nachwirkende  romantische  Auffassung  Laien 
vielfach  glauben  läßt.  Gerade  Dürer  interessierte  sich  bei  seinen  neuen  Errungen- 
schaften im  ersten  Stadium  nicht  selten  sogar  zu  ausschließlich  für  das  formale 
Problem  (S.  43).  In  der  Enge  des  Formalen  bleibt  Waldmann  aber  nicht  stecken. 
Als  letztes,  im  Sinne  der  sachlichen  Bestimmung  wie  des  persönlichen  Urteils,  hat 
er  an  den  Schluß  seines  Dürer-Buches  die  Worte  gesetzt:  »Dürers  künstlerischer 
Stil  ist,  in  den  entscheidenden  Punkten  betrachtet,  nie  eine  reine  Formangelegenheit, 
sondern  tief  verwurzelt  in  menschlichen  Fragen.  Das  Wachsen  und  das  Reifwerden 
seines  Stiles  bleibt  bis  zuletzt  innig  verflochten  mit  dem  Reifwerden  seines  Charak- 
ters« (S.  57;  z.  V.  S.  54,  52  f.,  25).  Ebenso  glücklich  ist  Waldmanns  Stellungnahme 
zu  der  Frage  nach  dem  Verhältnis  Dürers  zur  deutschen  Gotik  und  zur  italienischen 
Renaissance.     So   schreibt   er  von  der  Kunstweise  Dürers  zwischen  1500  und  1505, 


BESPRECHUNGEN.  Hl 


wie  sie  sich  spiegelt  zum  Teil  im  »Marienleben«  und  in  der  ^-Grünen  Passion«,  die 
der  Verfasser  Dürers  Hand  zuerkennt:  »Das  war  sein  letztes  Wort  an  den  Geist 
des  15.  Jahrhunderts,  dem  er  nun  Valet  sagt,  im  Bewußtsein  dessen,  daß  er  viel- 
leicht sein  Bestes  und  Stärkstes  an  Kapital,  an  heimlich  versammeltem  Schatz,  diesem 
Geist  verdankt«  (S.  26).  In  »der  Ausdruckskraft  der  Gotik«  sieht  Waldmann  »die 
wahren  Quellen  seiner  künstlerischen  Kraft.  (S.  46;  z.  v.  S.  48).  Wir  denken  von 
selber  hinzu:  So  rückt  Waldmann  Dürer  unaufdringlich  dem  Kunstwollen  unserer 
Tage  nahe,  insofern  diese  so  etwas  wie  den  Geist  der  Gotik  suchen.  Aber  Wald- 
mann sieht  im  Werke  Dürers  auch  die  Einwirkung  Italiens.  Er  sagt  aber  nicht, 
Italien  habe  Dürer  verdorben.  Er  sagt,  Dürer  habe  sich  in  Italien  das  Verständnis 
für  das  Problem  der  Form  im  Tiefenrauni  und  des  menschlichen  Körpers,  die  Kunst 
der  klassischen  Bildgestaltung  und  besonders  die  monumentale  Empfindung  und 
die  malerische  Anschauung  der  Welt  erobert  (S.  8,  14,  10,  29,  38).  Und  dazu  setzt 
er  noch  die  Erklärung  (S.  46),  mit  all  dem  gab  Italien  Dürer  nur  »die  Anregung 
und  die  Klarheit  über  seine  Ziele«.  Man  spürt  es,  Waldmann  Ist  es  um  die  wurzel- 
echte Eigenkraft  Dürers  zu  tun,  wie  er  sie  selbst  bei  seiner  Beschäftigung  mit  Dürer 
gefunden  hat.  Darum  wird  sein  Urteil  so  lebendig  und  gewichtig:  »Was  Dürer 
aus  diesen  Anregungen  machte,  den  neuen  großen  Stil  der  Graphik,  hatten  die 
Italiener  selber  nicht,  lernen  und  sich  erobern  mußte  Dürer  dies  alles  für  sich  allein 
und  ganz  auf  sich  gestellt«  (S.  46;  z.  v.  8,  10,  12).  Es  mag  hier  die  rechte  Stelle 
sein,  den  etwaigen  Eindruck  abzuwehren,  als  wollte  das  Referat  vor  allem  in  dem, 
was  es  an  Waldmanns  Aufstellungen  besonders  hervorgehoben  hat,  erstmalige  Er- 
gebnisse sehen.  Das  kann  bei  dem  ausgebildeten  Stand  der  Dürer-Forschung  zumal 
für  eine  zusammenfassende  Darstellung  nicht  in  Frage  kommen.  Das  Wertvolle 
an  Waldmanns  Buch  liegt  für  uns  (wie  es  zum  Teil  oben  schon  ersichtlich  wurde) 
in  der  glücklichen  Stellungnahme  in  den  Fragen,  die  Dürers  Künstlertyp  und  den 
Kern  seiner  Kunst  betreffen  und  dann  In  der  Art  die  Frische  der  sinnlichen  An- 
schauung mit  der  Schärfe  der  begrifflichen  Abstraktion  zu  verknüpfen,  um  das 
jeweilige  Werk  dem  künstlerischen  Genuß  zu  erschließen.  Davon  eine  Probe.  Es 
ist  die  Rede  von  der  Federzeichnung  »Hl.  Familie  unter  dem  Baume«  (1511,  Lipp- 
mann 443):  ».  .  .  Jede  Form«,  Sagt  Waldmann,  »wird  mit  den  knappsten  Mitteln, 
mit  der  erschöpfendsten  Formel  angedeutet,  und  daher  hat  jeder  Strich  den  Cha- 
rakter des  Absolut-Notwendigen,  Unbedingten.  Es  ist  ein  beinahe  abstraktes  Zeichnen, 
man  findet  den  Punkt  nicht  mehr,  wo  Wahrnehmung  und  Vorstellung  sich  trennen. 
.  . .  Diese  Art  zu  zeichnen,  der  wegen  ihrer  Unabhängigkeit  vom  jedesmaligen 
Natureindruck  eine  hohe  kalligraphische  Schönheit  eignet,  konnte  Dürer  wagen,  weil 
er  nun  alles  gelernt  hat,  was  er  wissen  will,  weil  der  Formenreichtum,  den  er  in 
seinem  Gedächtnis  angesammelt  hat,  so  groß  ist,  daß  er  ihn  nicht  mehr  im  Stiche 
läßt  ...  Er  weiß  das  jetzt  auswendig  und  braucht  nicht  mehr  umständlich  zu 
sagen:  dies  ist,  sondern  darf  kurz  behaupten:  dies  bedeutet»  (S.  42).  Das  Wort: 
»dies  bedeutet«  birgt  etwas  Besonderes  in  sich :  die  Spur  des  Impressionismus.  Es 
ist  wohl  so,  daß  Dürer  als  Zeichner  sich  doch  nicht  ganz  in  das  Wort  Wölfflins 
fügt  (a.  a.  O.  S.  298):  »Dürer  sucht  die  Dinge  so  zu  geben,  wie  sie  sind,  nach  Ihrem 
ganzen  plastischen  Inhalt,  und  nicht  wie  sie  erscheinen.«  Auf  das  Urteil  Wölfflins 
bezieht  sich  auch  Werner  Welsbach  in  seinem  Werk  über  den  Impressionismus  in 
der  Antike  und  Neuzeit  und  bestätigt  es  von  sich  aus.  Des  näheren  schreibt  er: 
»In  der  altdeutschen  Malerei  fehlten  die  Vorbedingungen  für  eine  impressionistische 
Gestaltung  von  Naturbildern.  Die  Künstler  standen  unter  einem  bestimmten  Formen- 
zwange und  arbeiteten  mit  gewissen  in  der  Gotik  wurzelnden  Vorurteilen  die  Natur 
um.  (a.  a.  O.  II  S.  281).    Und  an  andere    Stelle  (S.  292)  heißt  es:  »Ein  Impressio- 


112  BESPRECHUNGEN. 


nismus  vermag  nur  dann  aufzukommen,  wenn  die  Natur  als  solche  Gegenstand  des 
Interesses  und  des  Studiums  ist.«  Diesen  in  negativer  und  positiver  Form  erschei- 
nenden »Vorbedingung  für  eine  impressionistische  Gestaltung  von  Naturbildern« 
gegenüber  nimmt  Waldmanns  Charakteristik  eine  bestimmte  Nuance  an,  Wfenn  er 
in  Dürer  so  gern  den  heimlichen  Naturforscher  sieht  (Bd.  II)  und  schließlich  schreibt: 
»Die  beiden  Pole,  um  die  sich  Dürers  Kunst  von  Anfang  an  im  Gegensatz  zur 
gotischen  Weise  dreht,  sind  seine  Empfindung  für  den  menschlichen  Körper  als 
plastischer  Wert  auf  der  einen  und  sein  eigenartiges  Landschaftsgefühl  ...  auf  der 
anderen  Seite«  (Bd.  III  S.  20).  Und  jetzt  nochmals  die  obengenannte  Federzeich- 
nung »Hl.  Familie  unter  dem  Baume«  und  in  ihr  die  Baumkrone  mit  dem  schreiten- 
den Mann  darunter.  Oder:  das  Aquarell  »Dorf  Kalckreuth«  (Lippmann  105).  Und 
dazu  Waldmanns  Worte:  ».  .  .  Kein  Detail  bedeutet  für  sich  allein  etwas,  jedes 
ist  für  sich  allein  sogar  vollkommen  interesselos  .  .  .  zum  Problem  des  Bildes  wird 
die  farbige  Luft  über  den  Dingen.  Das  konnte  nur  jemand  malen,  dem  die  Natur 
ein  Augenerlebnis  bedeutete,  der  ihr  ganz  unabhängig  und  absichtslos  gegenüber- 
trat. (S.  13  f.). 

München.  Georg  Schwaiger. 

Hugo  Kehrer,  »Zurbarän«.  Hugo  Schmidt,  Verlag  München.  1918.  Groß- 
Oktav.    168  Seiten  und  87  Tafeln. 

Als  Gegenstück  zu  seinem  Oreco  hat  Kehrer  ein  Werk  über  Zurbarän«  folgen 
lassen.  Nach  einem  kurzen,  einleitenden  Vorwort  wird  die  Lebensgeschichte  erzählt, 
werden  Voraussetzungen  und  Anfänge  der  Kunst  des  Meisters  aufgewiesen.  Dem 
Bonaventura-Zyklus  folgt  der  Stil  der  dreißiger  Jahre,  um  von  seinen  reifsten  Werken 
abgelöst  zu  werden.  Dem  Spätstil  unter  dem  Einfluß  Murillos  wird  ein  besonderes 
Kapitel  gewidmet :  in  einem  letzten  Abschnitt  wird  die  Brücke  zum  19.  Jahrhundert 
zu  Courbet  geschlagen. 

Die  nicht  einfache  Aufgabe,  eine  Monographie  zu  schreiben,  beruht '  auf  der 
Lösung  sachlicher  Gegensätze.  Einmal  kommt  es  darauf  an,  eine  systematische 
Aufweisung  der  wesentlichen  Bestimmtheiten  des  als  Einheit  betrachteten  künst- 
lerischen Lebenswerkes  zu  geben,  anderseits  hat  der  Kunsthistoriker  die  zeit- 
lose Betrachtung  aufzugeben,  um  den  Wechsel  der  künstlerischen  Bestimmtheits- 
besonderheiten zu  verfolgen.  Zeitlose  systematische  und  zeitvolle  historische  Be- 
trachtung bekämpfen  sich.  Eine  andere  immanente  Schwierigkeit  liegt  in  der  Aus- 
gleichung des  Einzigen  und  Allgemeinen.  Inwieweit  ist  es  Pflicht  des  Monographen, 
losgelöst  vom  Wechsel  der  in  der  Zeit  liegenden  allgemeinen  künstlerischen  Ge- 
sinnung, einschließlich  der  durch  die  Zeit  begründeten  Wesensformen,  sich  auf  die 
individuelle  Erscheinung  des  einen  Künstlers  zu  beschränken?  Inwieweit  darf  der 
Forscher  Grundbegriffe,  in  unserem  Fall  z.  B.  »spanischer  Barock«,  bereits  voraus- 
setzen, und  inwieweit  soll  es  seine  Aufgabe  sein,  den  fraglichen  Kunstbegriff  zu 
erfüllen  oder  zu  erweitern? 

Die  Arbeit  Kehrers  ist  sich  dieser  Gegensätze,  die  sich  mehr  oder  weniger  in 
dem  Gegensatz  künstlerischen  Aufbaus  und  wissenschaftlicher  Zergliederung  zu- 
sammenfassen lassen,  wohl  bewußt.  Es  kommt  ihm  darauf  an,  die  Gesinnung 
Zurbaräns,  die  Zeitstimmung,  wie  er  sie  auffaßte,  die  Gestalten,  wie  der  Meister 
sie  sah,  lebendig  werden  zu  lassen  (S.  73—74):  »Wir  treten  ein  in  die  stille  Welt 
der  spanischen  Heiligen.  Mönche,  deren  Namen  fast  nie  zu  uns  gedrungen  sind, 
stehen  vor  uns  wie  in  einer  fürstlichen  Ahnengalerie,  stehen  vor  uns  lebensgroß 
in  einer  fast  starren  Selbstvergessenheit.  Mächtige  Folianten,  Kelche,  das  Kruzifix, 
ihre  Attribute  halten  sie  in  der  Hand,  sie  lesen  oder  murmeln  feieriich  ihre  lateinischen 


BESPRECHUNGEN.  113 


Oebete.  Manche  haben  einen  furchtbaren  Ernst  im  Ausdruck,  und  das  Zusammen- 
gehaltene der  Stimmung  setzt  uns  in  tiefes,  frommes  Staunen.  Das  ist  eine  Welt 
für  sich,  und  der  nordisch-germanische  Besucher  braucht  Zeit,  um  mit  jenen  Menschen 
im  Bilde  in  innere  Fühlung  zu  kommen«  (S.  73,  74). 

Das  kunstleibliche  Problem  wird,  soweit  es  überhaupt  vom  Kunstseelischen 
trennbar  ist,  in  eine  überzeugende  Formel  gefaßt,  wofür  reichliche  Beispiele  zeugen. 
Es  heißt  von  Zurbarän:  »Von  Jugend  ab  hat  er  nur  eine  Aufgabe  gekannt,  wie 
die  menschliche  Einzelgestalt  beschaffen  sein  müsse,  um  monumental  zu  erscheinen« 
(S.  131).  Damit  wird  ein  Kennzeichen  des  Barock  genannt,  das  bei  Zubarän  seinen 
besonderen  Akzent,  die  ihm  eigene  Note,  erhält.  Oft  werden  die  Einzelerscheinungen, 
soweit  sie  sich  ähnlich  in  der  Zeit  wiederfinden,  ihrer  fremden  Sonderzüge  ent- 
kleidet und  damit  wissenschaftlich  festgestellt.  So  geht  Kehrer  bisweilen  auf  die 
Grundbegriffe  zurück,  um  bei  dieser  sichtenden,  vergleichenden  Arbeit  neue  Probleme 
zu  finden,  die  er  später  zu  lösen  gedenkt.  So  heißt  es  auf  S.  132:  »Die  Begriffe 
Bewegung  und  Masse  gelten  für  diesen  Spanier  ganz  ähnlich  wie  für  den  Holländer 
Rembrandt  nur  in  sehr  bedingtem  Sinne.  Sic  passen  ebenso  schlecht  für  sie,  wie 
sie  gut  für  den  Flamen  Rubens  passen.  Der  spanische  Barock  ist  anders  als  der 
italienische  und  germanische,  und  es  muß  einer  späteren  Arbeit  vorbehalten  bleiben, 
seine  besondere  Stellung  innerhalb  der  Stilentwicklung  des  17.  Jahrhunderts  zur 
Anschauung  zu  bringen.« 

Danzig-Langfuhr.  Alfred  Werner. 

Max  Deri,  Die  Malerei  im  19. Jahrhundert;  Entwicklungsgeschicht- 
liche Darstellung  auf  psychologischer  Grundlage.  In  zwei  Bän- 
den. Verlegt  bei  Paul  Cassirer,  Berlin  1919.  I;  588  Seiten.  II;  200  Bild- 
beispiele. 
Das  Buch  verfolgt  verschiedene  Ziele.  Deri  will  seine  —  im  siebenten  Bande 
dieser  Zeitschrift  erschienenen  —  kunstpsychologischen  Untersuchungen  durch  prak- 
tische Anwendung  auf  einem  Teilgebiete  des  kunstwissenschaftlichen  Materials  er- 
proben. Hierfür  erscheint  aber  die  Beschränkung  auf  das  19.  Jahrhundert  und  die 
Malerei  —  mit  nur  gelegentlichen  Hinweisen  auf  andere  Zeiten  und  Kunstarten  — 
einigermaßen  willkürlich;  auch  hätte  es  dazu  nicht  einer  so  breiten  Ausmalung  einer 
Kunstepoche  bedurft.  Aber  es  handelt  sich  ja  —  und  das  ist  das  zweite  Ziel  dieses 
Werkes  gerade  um  eine  Entwicklungsgeschichte  der  Malerei  im  19.  Jahrhundert. 
Die  Erfüllung  dieser  Aufgabe  zeigt  jedoch  keine  Gleichmäßigkeit,  denn  eine  dritte 
Absicht  mischt  sich  ein :  zum  Verständnis  besonders  der  jüngsten  Kunstströmungen 
anzuleiten,  des  Kubismus,  Futurismus,  Expressionismus  usw.  Auf  diese  Weise  rasen 
wir  zuerst  im  D-Zug-Tempo,  um  später  auch  bei  kleineren  Stationen  längeren  Aufent- 
halt zu  nehmen.  Denn  noch  ein  neuer  Gesichtspunkt  drängt  sich  vor:  der  päd- 
agogische. Deri  spricht  zu  seinem  Publikum  —  zu  »weitesten  Kreisen«  — ,  um  zu 
erziehen,  nicht  mit  der  ruhigen  Ausgeglichenheit  des  Psychologen  oder  Historikers, 
sondern  in  der  werbenden  und  warnenden  Einstellung  des  Pädagogen,  der  stark 
vereinfacht,  um  Schwierigkeiten  wegzuräumen,  der  bestimmte  Ergebnisse  immer 
wieder  unterstreicht,  um  sie  dem  Gedächtnis  der  Leser  einzuhämmern  usw.  Weil 
aber  der  Verfasser  so  verschiedene  Ziele  in  einem  einzigen  Buche  zu  verwirklichen 
trachtet,  leidet  die  Reinheit  der  Problemsetzungen. 

So  erscheint  mir  die  Umrahmung  des  Buches  mit  einer  ganzen  Kunsttheorie 
als  unnötiger  Ballast.  Deri  beklagt  häufig  den  Mangel  an  Anerkennung  bei  den 
Fachgenossen,  aber  diese  Durchsetzung  einer  Kuustpsychologie  oder  Kunstphilo- 
sophie  kann  doch  nicht  »volkstümlich«   erfolgen,  sondern  allein  im   Betriebe  der 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u   allt;.  Kunstwissenschaft.     XV.  8 


1 14  BESPRECHUNGEN. 


Wissenschaft.  Um  ihre  Ergebnisse  beitümmert  sich  Den  gar  nicht.  Lipps,  Dessoir, 
Voll<elt  u.  V.  a.  werden  nicht  einmal  erwähnt ;  auch  i  c  h  glaube  in  meinen  Schriften 
mich  mit  den  meisten  Problemen  auseinandergesetzt  zu  haben,  um  deren  Lösung 
Deri  ringt.  Zu  seinem  eigenen  Standpunkt  versuchte  ich  in  meiner  »Grundlegung 
der  allgemeinen  Kunstwissenschaft«  Stellung  zu  nehmen.  Sollte  Deri  all  jene  For- 
schungsarbeit für  so  minderwertig  halten,  daß  jede  Beachtung  unnötig  ist,  könnte 
er  sich  doch  der  dann  gewiß  leichten  Aufgabe  unterziehen,  die  gegnerischen  Auf- 
fassungen zu  widerlegen.  So  ist  es  wenigstens  in  aller  Wissenschaft  üblich.  Wenn 
aber  unter  Mißachtung  jeglicher  Gemeinschaft  jeder  allein  für  sich  arbeitet,  entsteht 
als  Frucht  einer  derartigen  Freiheit  nur  ein  Chaos.  Sachlich  bewegt  sich  Deri  — 
mit  dem  ihm  eigenen  Scharfsinn  —  häufig  auf  der  Bahn  zum  Richtigen,  wobei  es 
interessant  zu  verfolgen  ist,  wie  er  unter  der  Enge  der  älteren  Ästhetik  leidet  und 
ihre  Schranken  zu  durchbrechen  trachtet.  Ihn  behindert  aber  nicht  nur  sein  extremer 
Psychologismus,  sondern  auch  die  reichlich  grobschlächtige  Psychologie,  deren  er 
sich  bedient.  Theoretisch  schwelgt  er  immer  in  »Gefühlen«,  während  er  es  im  Einzel- 
fall trefflich  versteht,  von  den  objektiven  Formproblemen  des  Kunstwerks  auszugehen, 
und  von  diesen  aus  nach  der  einen  Richtung  den  Weg  zum  Künstlererleben  zu  finden, 
nach  der  anderen  zum  angemessenen  Kunstverhalten.  Was  Deri  den  Zugang  zu  dem 
systematischen  Ursprung  der  Probleme  versperrt,  zu  ihren  wurzelhaften  Tiefen,  das 
ist  gerade  —  so  paradox  es  vielleicht  klingen  mag  —  seine  ganz  außerordentliche 
pädagogische  Begabung.  Er  denkt  schon  pädagogisch,  d.  h.  in  einer  schematisch- 
linearen  Vereinfachung,  die  dem  Verständnis  sich  leicht  erschließt;  aber  diese  Ver" 
einfachung  ist  etwas  ganz  anderes  als  letzte  Erhellung  und  Verankerung.  Er  bleibt 
auf  Hügeln,  von  denen  aus  deutliche  Überschau  möglich  ist;  so  erfreulich  es  ist, 
daß  er  nicht  in  dunkle,  alles  verwischende  Nebelmassen  hinaufsteigt,  so  gewiß  muß 
Wissenschaft  den  Kampf  aufnehmen  und  Mittel  finden,  um  die  Nebel  zu  zerreißen. 
Es  ist  eben  ein  Unterschied,  ob  ich  etwa  die  italienische  Renaissance  in  handlicher 
Klarheit  darstelle,  ohne  ihre  ganze  Problematik  aufzuwirbeln,  oder  ob  ich  sie  durch- 
schreitend zu  einer  Klarheit  gelange,  die  sich  dann  auf  einer  ganz  anderen  Schicht 
bewegt  Die  elegante  und  oft  wunderbar  durchsichtige  Rationalität  der  Schaffens- 
weise Deris  blendet,  und  erst  hinterher  bemerkt  man,  wie  gewandt  und  sicher  Klip- 
pen umschifft  wurden,  und  daß  sich  doch  nicht  alles  so  reinlich  und  glatt  ein- 
schachteln läßt.  Aber  pädagogisch  ist  diese  Art  zum  Teil  sogar  mustergültig:  der 
Leser  wird  wahrhaft  »eingeführt«  und  »lernt«  viel.  Klug,  besonnen  und  vorurteils- 
frei würdigt  Deri  die  einzelnen  Künstler  und  Stilstufen;  niemals  verfällt  er  der  schön- 
rednerischen Phrase,  sondern  jede  Einzelheit  wird  am  Bildbeispiel  nachgeprüft.  Es 
ist  wirklich  ein  Vergnügen,  diesen  knappen,  aber  inhaltreichen  Analysen  zu  folgen. 
Wo  Werturteile  auftreten,  herrscht  stets  das  Streben  nach  sorgsam  abwägender  Ge- 
rechtigkeit, und  vor  allem  wird  jede  Schätzung  oder  Ablehnung  genau  begründet. 
Nur  in  zwei  Fällen  geht  das  Temperament  mit  ihm  durch:  Marees  wird  leiden- 
schaftlich, geradezu  erbittert  bekämpft,  Hodler  enthusiastisch  emporgeschraubt.  Ferner 
scheint  mir  der  Entwicklungsrhythmus  zu  sehr  der  französischen  Malerei  entnommen, 
in  der  deutschen  ergeben  sich  dann  »Ausnahmen«,  die  aber  gerade  für  diese  Kunst- 
weise besonders  kennzeichnend  sind.  Überhaupt  kommt  die  deutsche  Malerei  etwas 
zu  kurz,  obgleich  hier  und  da  sogar  eine  ziemlich  kräftige  nationale  Note  an- 
geschlagen wird;  die  klare  Stetigkeit  im  Ablauf  der  französischen  Kunst  liegt 
jedoch  mehr  der  gliedernden  Art  Deris.  Sein  Werk  ist  zweifellos  eine  kunstpäd- 
agogische Leistung,  deren  man  sich  ehrlich  freuen  darf.  Aber  diese  Freude  wird 
durch  einen  äußeren  —  leider  sehr  wichtigen  —  Umstand  wesentlich  getrübt:  sind 
denn  die  »weitesten  Kreise«  in   der  Lage,   eine  »Einführung«  zu   bezahlen,  die  — 


BESPRECHUNGEN.  HS 


ohne  alle  Teuerungszuschläge  des  Buchhandels  —  fünfundsechzig  Mark  kostet?  wo- 
bei noch  die  Abbildungen  so  jämmerlich  unscharf  sind,  daß  man  sich  wundern  muß, 
wie  ein  großer  Verlag  für  sie  verantwortlich  zeichnen  kann. 

Rostock.  Emil  Utitz. 


OttomarWichmann.PlatosLehrevonlnstinktundOenie.  (Ergänzungs- 
hefte der  Kantstudien  Nr.  40.)    Berlin,  Reuther  und  Reichard,  1917.   112  S. 

Die  Schrift  ist  eine  fleißige  philologische  Erstlingsarbeit,  die  eindringliche  Be- 
schäftigung mit  Piatons  Werken  verrät.  Aber  man  vermißt  dabei  doch  das  rechte 
philosophische  Verständnis  der  platonischen  Lehren.  Im  ersten  Teil  der  Unter- 
suchung, der  Piatons  Teleologie  behandelt,  war  eine  genauere  Beziehung  auf  die 
Ideenlehre  notwendig  (was  z.  B.  S.  27  f.  über  die  Ideenlehre  im  Phädon  gesagt  wird, 
ist  unzureichend),  erst  dadurch  wären  die  Begriffe  des  Lebens,  des  Seelischen,  des 
Zweckes  ins  rechte  Licht  gerückt  worden.  Und  wenn  Wichmann  die  Prinzipien 
platonischer  Philosophie  schärfer  erfaßt  hätte,  dann  wäre  er  wohl  auch  vor  einer 
Vermengung  allgemeiner  griechischer  Volksvorstellungen  mit  den  eigenen  Ansichten 
Piatons  bewahrt  geblieben;  so  aber  nimmt  er  Äußerungen  über  Göttliches,  die 
stilistisches  Beiwerk  sind  und  traditioneller  Anschauung  sich  anpassen,  ohne  weiteres 
als  ernste  Meinungen  Piatons  und  gelangt  dadurch  nicht  zu  einer  richtigen  Ein- 
schätzung des  Oottesbegriffes  im  platonischen  System.  Auch  die  Bedeutung  des 
Mythischen  wird  nicht  nach  ihrem  philosophischen  Sinn  gewürdigt,  wenn  auch 
S.  33  ff.  einige  gute  Bemerkungen  über  ^xüü-o;  und  So^a  gemacht  werden. 

Der  zweite  Teil  erörtert  das  eigentliche  Thema  »Instinkt  und  Genie«.  Aber 
wer  hier  neue  Aufschlüsse  über  die  platonische  Ästhetik  erwartet,  wird  enttäuscht 
Wie  im  ersten  Teil,  so  hat  Wichmann  auch  hier  die  eigenen  Lehren  Plafons  nicht 
scharf  genug  herausgearbeitet.  Was  Piaton  über  das  Instinktive  sagt,  stammt  teil- 
weise aus  Volksvorstellungen ,  teilweise  ist  es  auch  als  Ansicht  des  historischen 
Sokrates  zu  verstehen;  derartiges  muß  natürlich  von  Piatons  eigenen  Theorien  ge- 
sondert werden.  Den  >lon«  schätzt  Wichmann  doch  allzu  ernst  ein,  wenn  er  auch 
mit  Recht  den  platonischen  Charakter  des  kleinen  Dialogs  verficht.  Vom  Wesen 
des  Genies  nach  Piaton  erfahren  wir  in  Wichmanns  Darstellung  recht  wenig;  die 
Eroslehre  ist  nicht  in  ihrer  vollen  Bedeutung  erfaßt. 

Neue  Untersuchungen  der  platonischen  Ästhetik  auf  Grund  der  Fortschritte  der 
philologischen  wie  der  philosophischen  Piatonforschung  sind  durchaus  wünschens- 
wert. Wichmanns  Schriftchen  weist  dafür  zwar  keinen  großen  philosophischen  Ertrag 
auf,  aber  es  bietet  eine  Reihe  guter  Einzelbeobachtungen,  die  der  Kenner  verwerten 
kann. 

Greifswald.  Willy  Moog. 


Schriftenverzeichnis  für  191Q. 

Erste  Hälfte. 

I.  Ästhetik. 

1.  Geschichte  und  Allgemeines. 

Diez,  M.,  Allgemeine   Ästhetik.    Neudruck.    180  S.    Sammlung  Göschen.    Nr.  300. 

Hamann,  R.,   Ästhetik.    2.  Aufl.  133  S.    Natur  und  Geisteswelt.    345.  Bdchn. 

JVlüller-Freienfels,  R.,  Persönlichkeit  und  Weltanschauung.  Psychologische  Unter- 
suchungen zur  Religion,  Kunst  und  Philosophie.  Mit  4  Abbildungen  im  Text 
und  5  auf  Tafeln.    XII,  274  S.  8».     Leipzig,  Teubner.    7.50  M. 

Krieck,  E.,  Philosophie  und  Dichtung.    Die  Tat.   11.  Jahrg.  S.  278— 290. 

Werner,  A.,  Wissenschaftliche  Prinzipien  und  künstlerische  Elemente  in  der  Philo- 
sophie.   Sammlung  wissenschaftlicher  Arbeiten.  Heft  54.  Langensalza.    27  S. 

Otto,  E.,  Zur  Grundlegung  der  Sprachwissenschaft.  VII,  155  S.  Bielefeld,  Vel- 
hagen  u.  Klasing.    4.40  M. 

Niuck,  J.,  Sprachkunstlehre.  Formen  und  Normen  der  Dichtung  und  Prosa.  I.  Vers- 
kunst.   VIII,  123  S.    Frauenfeld,  Huber  &  Co.    5  M. 

Leos  er,  G.,  Mommsens  Kunst  der  Darstellung.  Studien  zu  seiner  römischen  Ge- 
schichte.   101  S.  8».    Zürich  1918,  Seemann. 


Bis  sing.  Fr.  W.  v..  Die  Kultur  des  alten  Ägyptens.  Mit  58  Abbildungen.  2.,  ver- 
besserte Aufl.  VIII,  S.  225.  Abbildungen  und  88  S.  Wissen  und  Bildung.  121.  Bd. 
1.25  M. 

Koch,  M.,  Deutsche  Vergangenheit  in  deutscher  Dichtung  (deutsche  Renaissance). 
Rede.  72  S.  Breslauer  Beiträge  zur  Literaturgeschichte.  Neue  Folge.  50.  Heft. 
6M. 

Bezold,  F.  V.,  Aus  Mittelaher  und  Renaissance.  Kulturgeschichtliche  Studien.  VII, 
457  S.    München,  R.  Oldenbourg.    18  M. 

Burdach,  K.,  Reformation,  Renaissance,  Humanismus.  Zwei  Abhandlungen  über 
die  Grundlagen  moderner  Bildung  und  Sprachkunst.  220  S.  Berlin  1918.  Gebr. 
Paetel.    7.50  M. 

Burckhardt,  J.,  Die  Kultur  der  Renaissance  in  Italien.  Ein  Versuch.  12.  Auf L 
besorgt  von  L.  Geiger.  2  Bde.  XXX,  334,  XI,  372  S.  Leipzig,  B.  Kröner.  21  u. 
28  M. 

Burckhardt,  J.,  Vorträge.  1844—1887.  Im  Auftrage  der  historischen  und  anti- 
quarischen Gesellschaft  zu  Basel.  Herausgeg.  von  Emil  Dürr.  2.  Aufl.  XIII, 
485  S.  gr.  8".    Basel  1918.    B.  Schwabe  &  Co.    26  M. 

C  h  I  e  d  o  w  s  k  i ,  C.  v..  Der  Hof  von  Ferrara.  Mit  32  Vollbildern.  Übersicht  von 
R.  Schapire.    545  S.  2.-4.  Taus.  gr.  8».    München,  G.  Müller.    44.50  M. 

Schlosser,  J.,  Materialien  zur  Quellenkunde  der  Kunstgeschichte.  VII.  Heft.  Die 
Kunstliteratur  des  Manierismus.  Akademie  der  Wissenschaften  in  Wien.  Phil, 
hist.  Klasse.  Sitzungsberichte.  192.  Bd.  137  S.  2.  Abh.  Wien,  A.  Holder  (in 
Kommiss.). 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919.  117 


I 


Michael,  Fr.,  Die  Anfänge  der  Theaterkritik  in  Deutschland.  VI,  llOS.  8». 
Leipzig  1918,  H.  Haessel.    4  M. 

Korff,  H.A.,  Voltaire  im  literarischen  Deutschland  des  18.  Jahrhunderts.  XXVI, 
494  S.  und  497—834  S.  1918.  Beiträge  zur  neueren  Literaturgeschichte.  Neue 
Folge.  Herausgeg.  von  M  Freiherr  V.  Waldberg.  10.  und  11.  Heft.  Heidelberg, 
Carl  Winter.    29  M. 

Goetz.W.,  Das  Wesen  der  deutschen  Kultur.  518.  8".  Darmstadt,  O.  Reichl. 
1.50  M. 

Sehe  mann,  L„  Qobineau  und  die  deutsche  Kultur.  4.— 6.  Aufl.  172  S.  16*.  Leip- 
zig, Oldenburg  &  Co.    3  JV\. 

Literarischer  Ratgeber  des  Dürerbundes.  Begründet  von  F.  Avenarius.  Ge- 
leitet und  zum  fünften  Male  bearbeitet  von  W.  Schumann.  Bedeutend  erweiterte 
5.  Aufl.    XI,  1053  S.  Lex.  8».    München,  G.  D.  W.  Callwey.    14  M. 

2.   Prinzipien  und   Kategorien. 

Rover,  H.,  Kunstanschauung  unserer  Zeit.    30  S.    Hamburg,  Freideutscher  Jugend- 
verlag.   1.80  M. 
Graf,   Ü.M.,   Die  Aufgabe  der  kommenden  Kunst.    Die  Tat.    11.  Jahrg.  S.  44— 50. 
Kayser,   R.,   Der  Weg  der  neuen   Dichtung.     Das   junge   Deutschland.    2.  Jahrg. 

S.  109-114. 
Däubler,  Th.,  Im  Kampfe  um  die  moderne  Kunst.    75  S.   Tribüne  der  Kunst  und 

Zeit.    3.  Heft.    2.60  M. 
Däubler,  Th.,  Der  neue  Standpunkt.    201  S.  8«.    Leipzig,  Inselverlag.    3.50  M. 
Keim,  H.  W.,  Der  Expressionismus  als  Weltanschauung.     Das  junge  Deutschland. 

2.  Jahrg.    S.  171—174. 
E  d  s  c  h  m  i  d ,  K.,  Über  den  Expressionismus   in  der  Literatur  und  die  neue  Dich- 
tung.   2.  Aufl.  79  S.    Tribüne  der  Kunst  und  Zeit.    1.  Heft.    2.60  M. 
Hausenstein,  W.,  Über  Expressionismus  in  der  Malerei.  76  S.  Tribüne  der  Kunst 

und  Zeit.    2.  Heft.    2.60  M. 
Steiner,  R.,  Das  Wesen  der  Künste.   Vortrag.   34  S.  kl.  8».   Beriin,  Philos.-anthropo- 

sophischer  Vertag.    1.20  M. 
Wurm,  A.,  Worauf  es  bei  der  Kunst  ankommt.     Eine  leichtfaßliche  Einführung  in 

die   moderne  Malerei,   Plastik   und  Architektur.    112  S.   kl.  8°.    München,  Vertag 

der  Kunstwerkstätten  »Ars  sacra«.    J.  Müller.    2.40  M. 
Westheim,  P.,  Die  Welt  als  Vorstellung.    Ein  Weg  zur  Kunstanschauung.    132  S. 

mit  Abbildungen.  Lex.  8".    Potsdam,  G.  Kiepenheuer.    20  M. 
Wache,  K.,  Die  Künste,  ihr  Wesen  und  Werden.    III,  166  S.  mit  Abbildungen.  8«. 

Wien,  Harbauer.    3.50  M. 
Osthaus,  K.  E.,  Orundzüge  der  Stilentwicklung.    69  S.  mit  Abbildungen.  Lex.  8". 

Hagener  Vertagsanstalt.    12  M. 
Bab,  J.,  Die  Kategorien  des  Dramas.    Das  deutsche  Drama.   2.  Jahrg.    S.  1 — 8. 
Brand,  G.  K.,  Zum  Problem  der  Anschaulichkeit  in  der  Poesie.    Phil.  Dissertation, 

Würzburg.    Bertin.    117  S. 
Motiv  und  Wort.    Studien  zur  Literatur-  und  Sprachpsychologie.    I.  Motiv  und 

Wort  bei  G.  Meyrink  von  H.  Sperber.     IL  Die  groteske  Oestaltungs-Sprachkunst 

Chr.  Morgensterns  von  S.  Spitzer.    124  S.    Leipzig  1918,  O.  R.  Reisland.    4  M. 
Hinrichsen,  O.,  Das  Pathologische  im  Drama.    Das  deutsche  Drama.    2.  Jahrg. 

S.  65-74. 
Storck,   K.,  Fortschreitende   Entwicklung.     Zum  Tonkünstlerfest   in    Beriin.     Der 

Türmer.    21.  Jahrg.    S.  349— 353. 
Melier,  E.,  Zufall  oder  Plagiat?    Der  Türmer.  21.  Jahrg.    S.  244— 248. 


118  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 

3.  Kunst    und   Natur. 
Siegel,   P.,  Moderner  Volkskunst  Zierat.    18  farbige  Tafein.     Plauen,   Chr.  Stell. 
32,5  X  47,5  cm.    30  M. 

4.  Ästhetischer  Eindruck. 
Kuhn,  W.,  Experimentelle  Untersuchungen   über  das  Tonalitätsgefühl.    Beiträge 

zur  Anatomie,  Physiologie,  Pathologie  und  Therapie  des  Ohres,  der  Nase  und 

des  Halses.    Bd.  XIII.  S.  254-278. 
Hofmannsthal,   H.  v.,   Das  Gespräch   über  Gedichte.    32  S.    Hyperionverlag. 

36  X  28  cm.    Halblederband  85  M. 

II.  Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

1.  Das  künstlerische  Schaffen. 

Henry,   D.,  Vom   Sehen   und   Bilden.    Die  weißen  Blätter.    6.  Jahrg.   S.  315— 322. 

Köchling,  Maria,  Dichters  Werden.  Bekenntnisse  unserer  Schriftsteller.  Heraus- 
gegeben von  M.  K-i  Mit  28  Bildern.  VIII,  308  S.  8».  Freiburg  i.  Br.,  Herdersche 
Verlagshandl.    6.50  M. 

Rothenburger,  L.,  Zeichnungen  eines  Kindes.  15  Abbildungen.  Mit  einer  Ein- 
führung von  Ad.  V.  Hildebrand.  10  Tafeln  u.  VIII  S.  Text.  31  .-c  23,5  cm.  Frank- 
furt a.  M.,  F.  A.  C.  Prestel.    10  M. 

R  o  t  h  e ,  Rieh.,  Aus  meinem  Zeichenunterrichte.  56  S.  mit  31  Abbildungen. 
Schaffende  Arbeit  in  Kunst  und  Schule.    83.  Beiheft.    Leipzig,  A.  Haase.    2.50  M. 

Widmer,  J.,  Von  Hodlers  letztem  Lebensjahr.  Mit  4  Kunstdrucktafeln.  48  S. 
Zürich,  Rascher  &  Cie.    3.50  M. 

2.  Anfänge  der  Kunst. 

Weule,  K.,  Die  Kultur  der  Kulturlosen.  Ein  Blick  in  die  Anfänge  mehschlicher 
Geistesbetätigung.  Mit  3  Tafeln  und  zahlreichen  Abbildungen  nach  Original- 
aufnahmen und  Zeichnungen  von  K.  Reinke.  8.  Aufl.  100  S.  Stuttgart,  Franckh- 
sche  Verlagshandl.    1.50  M. 

Schnitze,  V.,  Grundriß  der  christlichen  Archäologie.  VIII,  159  S.  mit  1  Tafel.  8". 
München,  C.  H.  Beck.    5  M. 

Ebersolt,  J.,  Melanges  d'histoire  et  d'archeologie  byzantines.  8».  129  S.  2  Tafeln. 
Paris,  E.  Leroux,  1917. 

3.  Tonkunst  und  Bühnenkunst. 

Cohn,  A.  W.,  Die  Erkenntnis  der  Tonkunst.  Gedanken  über  Begründung  und  Auf- 
bau der  Musikwissenschaft.  Zeitschrift  für  Musikwissenschaft.  1.  Jahrg.  S.  351 
bis  360. 

Grunsky,  K.,  Musikästhetik.    Neudruck.    178  S.  Sammlung  Göschen.   Nr.  344. 

Hanslick,  E.,  Vom  Musikalisch-Schönen.  12.  Aufl.  IX,  174  S.  Leipzig,  Breitkopf 
u.  Härtel.    3  M. 

Gennrich,  Fr.,  Musikwissenschaft  und  romanische  Philologie.  III,  54  S.  Halle 
1918,  M.  Niemeyer.    3  M. 

Reger,  M.,  Beiträge  zur  Modulationslehre.  12.  Aufl.  52  S.  Leipzig,  C.  F.  Kahnt. 
1.50  M. 

Moser,  H.  J. ,  Die  harmonischen  Funktionen  in  der  tonalen  Kadenz.  Zeitschrift 
für  Musikwissenschaft.    1.  Jahrg.,  S.  515—523. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 


IIQ 


Schreyer,  J.,  Lehrbuch  der  Harmonie  und  der  Elementarkonipositionen     4.,  voll- 
ständig umgearbeitete  Auflage  der  Schrift  »Von  Bach  bis  Wagner«.    VIII,  168  S. 

und  62  S.  Musikbeilage.  gr.  8".    Leipzig,  C.  Merseburger.    8  M. 
Moser,   H.  J.,   Zur  Rhythmik  der  altdeutschen  Volksweisen.    Zeitschrift  für  Musik- 
wissenschaft.   1.  Jahrg.    S.  225    252. 
Weiß,  O.,  Geschichte  der  Musik.    IV,  18  S.    Altenburg,  A.  Tittel.    1  M. 
Band,  E.,   Zur  Entwicklungsgeschichte  des  modernen  Orchesters.    Auers  Schriften 

für  musikalische  Bildung.    3.  Heft.  kl.  8'.    Stuttgart,  A.  Auer.    0.60  M. 
Steinitzer,  M.,   Zur  Entwicklungsgeschichte  des  Melodramas  und  Mimodramas. 

Mit   8  Bildern    und   2  Notenbeilagen.    VII ,   74  S.    Die   Musik.    35.  Bd.    Leipzig, 

C.  F.  W.  Siegel.    2  M. 
Niemann,  W.,  Die  Virginalmusik.    48  S.    Breitkopf  u.  Härteis  Musikbücher.    2  M. 
Millenkovich-Morold,   M.  v..   Die   österreichische  Tonkunst.    Österreichische 

Bücherei.    10.  Bdchn.    84  S. 
Schellenberg,   E.  L,   Bach,  der  Mystiker.    Der  Türmer.    21.  Jahrg.    S.  256— 260. 
Marx,  A.  B.,  Über  Tondichter  und  Tonkunst.    Aufsätze.    I.  Bd.  Tondichter.    1.  Ab- 
teilung (Bach,  Händel,  Gluck).   74  8.    2.  Abteilung  (Haydn,  Mozart,  Beethoven, 

Cherubini).   HOS.    Schriften  über  Musik  und  Musiker.    Hildburghausen,  Oadow 

&  Sohn.    Je  2  M. 
Pfordten,  H.,  Frh.  v.,  Mozart.    Mit  einem  Porträt.   2.,  durchgesehene  Aufl.    VIII, 

142  S.    Wissen  und  Bildung.    41.  Bd.    1.25  M. 
Hirschberg,   C,  Carl   Loewes   Instrumentalwerk.    Eine  Monographie.    139  S. 

Schriften   über  Musik   und  Musiker.     Herausgegeben   von  L.  Hirschberg.    4.  Bd. 

gr.  8«.    Hildburghausen,  F.  W.  Gadow  &  Sohn.    4  M. 
Lietzmann,    B. ,   Clara  Schumann.     Ein  Künstlerieben.     Nach  Tagebüchern  und 

Briefen.    1.  und  2.  Bd.  gr.  8".    Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.    Je  12  M. 
Hirschberg,  L.,    Richard  Wagners  Beethoven-Brevier.    Zusammengestellt.    120  S. 

Schriften   über   Musik   und   Musiker.    3.  Bd.    Hildburghausen,  Gadow  &  Sohn. 

2.50  M. 
D  e  c  s  e  y,  E. ,  Hugo  Wolff.    Das  Leben  und  das  Lied.    Gänzlich  neu   bearbeitet. 

3.-6.  Aufl.   198  S.  gr.  8°.    Beriin,  Schuster  &  Löffler.    6  M. 
Specht,   R.,   Gustav  Mahler.    5.-8.  Aufl.  296  S.  gr.  8".    Beriin  1918,  Schuster  & 

Löffler.    8M. 
Pretzsch,    P.,   Zur    Musik    Siegfried    Wagners.     Bayreuther    Blätter.    42.  Jahrg. 

S.  88—96. 
Marsop,  P.,  Friedrich  Klose.    Deutscher  Wille.   32.  Jahrg.   S.  10— 11. 
Niemann,  W.,  Meister  des  Klaviers.   Die  Pianisten  der  Gegenwart  und  der  letzten 

Vergangenheit.    1.— 8.  Aufl.    245  S.  8».    Beriin,  Schuster  &  Löffler.    6  M. 
Eisenmann,   A.,    Das   Musikstudium.     Orunsky,   K.,   Das    Klavierspiel.     Auers 

Schriften  für  musikalische  Bildung.    1.  Heft.  40  S.    Stuttgart,  Auer.    0.60  M. 
Weingartner,  F.,    Ratschläge  für  Aufführungen  klassischer  Symphonien.    2.  Bd. 

Schubert  und  Schumann.    V,  114  S.    Musikbücher.    Leipzig,    Breitkopf  u.  Härtel. 

5  M. 
Store k,  K.,  Das  Opernbuch.    Ein  Führer  durch  den  Spielplan  der  deutschen  Opem- 

bühnen.    14.— 16.  vermehrte  Aufl.    VII,  472  S.  kl.  8».    Stuttgart,  Muthsche  Ver- 

lagsh.    5.50  M. 
Altmann,  W.,  Führer  durch  die  einaktigen  Opern,  Operetten  und  Singspiele  des 

Veriags  Ed.  Bote  und^G.  Bock.   84  S.  8».    Beriin,  Ed.  Bote  u.  G.  Bock.    2  M. 
Bülow,    H.  V.,   Ausgewählte   Briefe.    Volksausgabe.    Herausgeg.  von  M.  v.  Bülow. 

XVI,  600  S.  8  ■.    Leipzig,  Breitkopf  u.  Härtel.    10  M. 


120  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 


Rosenthal,  F.,  Eine  neue  Bühnenform.  Alfred  Bernaus  Ringbühne.  Der  Merker. 
X.  Jahrg.    S.  310— 316. 

Berger,  L,  Zu  einer  Shakespeare-Inszenierung.  Das  junge  Deutschland.  2.  Jahrg. 
S.  260-264. 

Romagnoli,  E.,  11  teatro  greco.    XI,  406  S.  8".    Milano,  Treves,  1918. 

R  o  m  a  g  n  o  1  i ,  E.,  Nel  regno  di  Dioniso.  Studi  sul  teatro  comico  greco.  253  S.  8». 
Bologna,  Zanichelli. 

Flickinger,  R.  C,  The  greek  theater  and  its  drama.  XXVIII,  358  S.  8».  Chicago- 
Univ.  1918. 

Ratislav,  J.  K.,  Kotzebue  und  das  Burgtheater.   Der  Merker.   X.  Jahrg.  S.  319— 324. 

Specht,  R.,  Das  Wiener  Operntheater.  Von  Dingelstedt  bis  Schalk  und  Strauß. 
Erinnerung  aus  50  Jahren.  126  S.  und  Abbildungen,  gr.  8°.  Wien,  P.  Knepler. 
8  M. 

Reinhardt  und  seine  Bfihne.  Bilder  von  der  Arbeit  des  deutschen  Theaters. 
Herausgeg.  von  E.  Stern  und  H.  Herald.  Eingeleitet  von  H.  v.  Hofmannsthal. 
4.  Taus.  208  S.  mit  Abbildungen.    Berlin  1918.  Dr.  Eysler  &  Co.    6  M. 

Mehler,  E.,  Regiebücher  zu  den  Inszenierungen  Hans  Pfitzners,  besorgt  u.  heraus- 
gegeben. Nr.  3.  Der  arme  Heinrich.  Vollständiges  Regiebuch.  VII,  46  S.  mit 
Figuren.    Leipzig,  M.  Brockhaus.    3  M. 

Marsop,  P.,  Zur  Inszenierung  des  Palestrina.    Der  Merker.  X.  Jahrg.  S.  275— 281. 

KrauB,  R.,  Modernes  Schauspielbuch.  Ein  Führer  durch  den  deutschen  Theater- 
spielplan der  neueren  Zeit.  4.,  völlig  neu  bearbeitete  Auflage.  424  S.  kl.  8». 
Stuttgart,  Muthsche  Verlagsh.    5.50  M. 

Winds,  A.,  Der  Schauspieler  in  seiner  Entwicklung  vom  Mysterien-  zum  Kammer- 
spiel.  284  S.  gr.  8'.    Berlin,  Schuster  &  Löffler.    8  M. 

Waiden,  H.,  Franz  Moor.  Eine  Studie.  81  S.  mit  Bildern.  8°.  Wien  1918. 
Amalthea-Verlagsbuchh.    4.50  M. 


Nikolaus,  P.,  Tänzerinnen.    Mit  32  Abbildungen  und  4  farbigen  Zeichnungen  von 

E.  Stern.    89  S.  kl.  8«.    München,  Delphinverlag.    5  M. 
Török,   A.,   Tanzabende.      Kritische    Monographien.     Mit    16  Tanzszenenbildern 

(Tafeln).    32  S.  kl.  8».    Wien,  Veriag  »der  Merkur«.    4  M. 
Otten,   M.,  Der   Filmschauspieler.     Der  Weg  zum  Film.    I.Band.    Beriin,  Verlag 

der  Lichtbildbühne.    4.50  M. 
Mack,  M.,   Wie  komme  ich  zum  Film?    (Film  und  Bühne.)    123  S.  mit  1  Bildnis. 

8».    Beriin,  Reinh.  Kühn.    2.50  M. 
Köper,  J.,  und  Brepohl,  W.,  Vorschläge  zu  einem  Reformkino.    3.  Aufl.  II,  12  S. 

Nassau.    1  M. 
Das  Kinojahrbuch  1919.    Herausgeg.  von  Hans  Richter.    1 66  S.  kl.  8».    Beriin, 

A.  Herrn.  Richter.    2.50  M. 
Guttmann,  Variete.    Beiträge  zur  Psychologie  des   Pöbels.    95  S.  kl.  8".    Wien, 

Deutsch-österr.  Verlag.    4  M. 

4.  Wortkunst. 
Kralik,  R.  v.,  Die  Weltliteratur  im  Lichte  der  Weltkirche.    332  S.  kl.  8».    Innsbruck, 

Veriagsanstalt  Tyrolia.    4.40  M. 
Bab,  J.,   Der  Wille   zum  Drama.    Neue  Folge  der  Wege  zum  Drama.    Deutsches 

Dramenjahr  1911  — 1918.    426  S.  8«.    Beriin,  Österheld  &  Co.    12  M. 
Busse,  B.,  Das  Drama.    I.  Von  der  Antike  zum  französischen  Klassizismus.    2.  Aufl. 

Natur  und  Qeisteswelt.    132  S.  Mit  13  Abbildungen.    287.  Bdch.    1.60  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  191Q.  121 

Creizenach,  W.,  Geschichte  des  neueren  Dramas.   2.  Band.    Renaissance  und 

Reformation.    I.Teil.    2,  vermehrte  und  verbesserte  Aufl.    XVII,  581  S.  gr.  8". 

Halle  1018.    M.  Niemeyer. 
Vogt  &  Koch,   Geschichte  der  neueren  Literatur  von  den  ältesten  Zeiten  bis  zur 

Gegenwart.    4.,  neu  bearbeitete  und  vermehrte  Aufl.    (3  Bde.)    1.  Bd.  XII,  370  S. 

Leipzig,  Bibliogr.  Institut.    22  M. 
Storck,   K.,   Deutsche   Literaturgeschichte.    8.,  vermehrte  Aufl.    XII,  654  S.    Stutt- 
gart, Muthsche  Verlagshandl.    7  M. 
Scherrer,  M.,  Kampf  und  Krieg  im  deutschen  Drama  von  Gottsched  bis  Kleist. 

Zur  Form-  und  Sprachgeschichte  der  dramatischen  Dichtung.    VII,  428  S.  gr.  8°. 

Zürich,  Rascher  &  Cie.    8  M. 
Scherillo,  M.,  Le  origini  e  lo  svolgimento  della  letteratura  italiana.    I.  Le  origini 

(Dante,  Petrarca,  Bocaccio).    XVI,  686  S.  16*.    Milano,  Hoepli. 
Palagi,  B.,  Giulio  Cesare  nella  poesia  drammatica,  italiana  e  straniera.    XX,  200  S. 

8°.    Lucca,  Baroni. 
F.undenburg,  G.  B.,  Feudal  France  in  the  french  epic.    A  study  of  feudal  french 

institutions  in  history  and  poetry.    121  S.  8".    Princeton,  Univ.  Press,  1918. 
Oldenberg,   H.,  Zur  Geschichte  des  altindischen  Erzählungsstiles.    Nachrichten 

von  der  Oesellsch.  d.  Wissensch.   zu  Göttingen.    Berlin,  Weidmannsche  Buch- 

handl.    S.  61-94. 
Messer,  W.  St.,  The  dream  in  Homer  and  greek  Tragedy.    VIII,  105  S.  8".    Neu- 

york,  Lemcke  St  Buechner,  1918. 
Heinze,  R. ,  Die  lyrischen  Verse  des  Horaz.    Bericht  über  die  Verhandlung  der 

Sachs.  Gesellsch.  d.  Wissensch.   zu   Leipzig.    Phil.-hist.   Klasse.  70.  Bd.  4.  Heft. 

91  S.    Leipzig,  B.  G.  Teubner.    2.80  M. 
Singer,   T.,   Arabische  und  europäische  Poesie  im  Mittelalter.    29  S.    Berlin,  Aka- 
demie d.  Wissensch.   Georg  Reimer  in  Kommiss.    1.50  M. 
Dante  Alighieri,  La  divina  commedia.    Vollständiger  Text.    Mit  Erläuterungen. 

Grammatik,  Glossar  und  7  Tafeln.    Herausgeg.  von  R.  Olschki.    XVIII,  640  S.  8°. 

Heidelberg,  J.  Groos.    12  M. 
Münz,  B.,  Shakespeare  als  Philosoph.    III,  105  S.  gr.  8«.    Halle  1918,  M.  Niemeyer. 

3.60  M. 
Delius,   R.  V.,    Brockes   und    die   lyrische    Form.     Die   literarische   Gesellschaft. 

5.  Jahrg.   S.  286-291. 
Tribolet,   H.,  Wielands  Verhältnis  zu  Ariost  und  Tasso.    Sprache  und  Dichtung. 

22.  Heft.   108  S.    Bern,  A.  Franke.    10  M. 
Traumann,    E.,   Goethes  Faust.     Nach  Entstehung  und  Inhalt  erklärt.    In  2  Bdn. 
i       l.Bd.    XXII,  456  S.  8°.    München,  C.  H.  Beck.    12..50  M. 
Schwebsch,  G.,  Goethe  und  Wagner.    Bayreuther  Blätter.    42.  Jahrg.  S.  105— 129. 

S.  149-184. 
Goethe-Handbuch.    In  Verb,  mit  H.  Bieler  herausgegeben  von  J.  Zeitler.    3.  Bd. 

IV,  660  S.  gr.  8».    Stuttgart,  J.  B.  Metzler.    17  M. 
^Floeck,  O.,   Skizzen   und  Studienköpfe.    Beiträge  zur  Geschichte  des  deutschen 

Dramas  seit  Goethe.    VI,  515  S.    Innsbruck,  Verlagsanstalt  Tyrolia.    12  M. 
Michel,  W.,  Bemerkungen  über  Hölderlins  Sprache.    Die  literarische  Gesellschaft. 

5.  Jahrg.  S.  33-36. 
'Orolman,   A.  v.,    Fr.  Hölderiins  Hyperion.     Stilkritische  Studien   zu  dem  Problem 

der   Entwicklung   dichterischer  Ausdrucksformen.    94  S.   gr.   8°.    Karlsruhe,  C.  F. 

Müller.    5.50  M. 


122  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 

Ranegger,  F.,  Die  Quellen  von  Eichendorffs  literarhistorischen  Schriften.  Der 
Gral.    13.  Jahrg.  S.  364-369.  S.  407-417.  S.  452-462.  S.  504—510. 

Jordan,  W.,  Sechs  Aufsätze  zur  100.  Wiederkehr  seines  Geburtstages.  (Von 
P.  Vogt,  E.  Keller,  J.  Ziehen,  E.  Prigge,  Fr.  Violet  und  E.  Zabel.)  Mit  einem 
Bildnis.    IV,  148  S.    Frankfurt  a.  M.,  M.  Diesterweg.    4  M. 

Mörike,  E.  und  M.  v.  Seh  wind,  Briefwechsel.  Herausgegeben  von  H.  W.  Rath. 
VII,  212  S.  8°.    Stuttgart,  Hoffmann.    6  M. 

Bahr,  H.,  Adalbert  Stifter.  Eine  Entdeckung.  1.  Bd.  48  S.  Wien,  Anialthea- 
Bücherei.    4  M. 

Arx,  W.  V.,  Gottfried  Keller.    72  S.    Basel. 

Frey,  A.,  Allerhand  von  Gottfried  Keller.  Deutsche  Rundschau.  178.  Bd.  S.  94 
bis  104. 

H och d o rf,  M.,  Zum  geistigen  Bilde  Gottfried  Kellers.  Mit  Bildnis.  98  S.  Amal 
thea-Bücherei.    5.  Bd.    4  M. 

Leitzmann,  H.,  Die  Quellen  zu  Gottfried  Kellers  Legenden.  Nebst  einem  kriti- 
schen Text  der  »Sieben  Legenden«  und  einem  Anhang  herausgegeben.  LVl, 
174  S.    Halle,  M.  Niemeyer. 

Storck,  K.,  Gottfried  Keller  im  Briefwechsel  mit  Paul  Heyse.  Der  Türmer. 
21.  Jahrg.  S.  340-345. 

Schulze-Berghof,  P.,  Zeitgedanken  zu  Ibsens  Peer  Gynt.  Eine  neue  vollständige 
Auslegung  der  Dichtung.    94  S.    Leipzig,  Oldenburg  8t  Co.    3  M. 

Eckart,  D.,  Einführung  in  Ibsens  Peer  Gynt  und  in  Griegs  Musik  zu  der  Dich- 
tung.   15  S.    Wolfratshausen,  Hoheneichen-Veriag.    0.50  M. 

Wolfram,  E,  Der  Mensch  August  Strindberg  im  Spiegel  seiner  Werke  und  das 
Problem  seines  Lebens  als  Zeitproblem.  Das  Reich.  4.  Jahrg.  Buch  2.  S.  177 
bis  196. 

Maync,  H.,  Detlev  v.  Liliencron,  der  Mann  und  sein  Werk.  Deutsche  Rundschau. 
178.  Bd.  S.  346-370. 

Vieweger,  E.,  Frank  Wedekind  und  sein  Werk.  Einführung  in  das  Leben  und 
Werk  eines  Vielbefehdeten  unter  Anlehnung  an  die  Literatur.  30  S.  Chemnitz, 
Selbstveriag.    0.90  M. 

Hu  ebner,  M.,  Ein  Vorläufer  von  Wedekinds  Drama  »Musik«.  Die  literarische 
Gesellschaft.    5.  Jahrg.   S.  107— 111. 

Borchardt,  R,  Rede  über  Hofmannsthal.  2.  Aufl.  86  S.  gr.  8».  Berlin,  Hyperion- 
verlag.   3  M. 

Faesi,  R.,  Rainer  Maria  Rilke.  74  S.  Amalthea-Bücherei.  3.  Bd.  Wien,  Amalthea- 
Veriag.    4  M. 

Schmid,  A.,  Eine  Lanze  für  K.  May.  95  S.  gr.  8°.  Radebeul  1918.  Kari  May- 
Veriag.    2.50  M. 

Storck,  K.,  Quickborn.    Der  Türmer.    21.  Jahrg.  S  154—158. 

Bräutigam,  S.,  Wilhelm  Schaer,  der  niedersächsische  Dichter.  Biographische 
Studie,    ms.  und  1  Bildnis.  8».    Beriin,  Oldenburg  &  Co.    2.50  M. 

Röthlisberger,  B.,  Das  Kind  in  der  neueren  erzählenden  Literatur  der  deut- 
schen Schweiz.  147  S.  21.  Heft  von  »Sprache  und  Dichtung«.  Herausgeg.  von 
H.  Maync  und  L.  Singer.    Bern,  A.  Franke.    6  Fr. 

Frey,  A.,  Schweizer  Dichter.  2.,  durchgesehene  Aufl.  126.  Bd.  164  S.  Wissen- 
schaft und  Bildung.    1.25  M. 

Korrodi,  E.,  Schweizerische  Literaturbriefe.  XI,  94  S.  Frauenfeld,  Huber  &  Co. 
5.50  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 


123 


Brereton,  Gh.,  The  poetry  of  Laurence  Binyon.    The  quarterly  Review.    S.  135 

bis  152. 
Curtius,   E.  R.,   Die  literarischen  Wegbereiter  des   neuen  Franl<reich.    277  S.  8°. 

Potsdam,  Q.  Kiepenheuer.    15  M. 


5.   Raumkunst. 

Behrendt,  W.  C,  Neue  Aufgaben  der  Baukunst.  D6r  Aufbau.  Herausgeg.  von 
C.  Haußmann.    6.  Heft.  27  S.    Stuttgart,  Deutsche  Verlagsgesellschaft.    1  M. 

Eicken,  H.,  Der  Baustil.  Grundlegung  zur  Erkenntnis  der  Raumkunst.  163  S. 
mit  Abbildungen  und  Tafeln,  gr.  8°.    Berlin,  E.  Wasmuth.    10  M. 

Grünwedel,  A.,  Buddhistische  Kunst  in  Indien.  2.  Aufl.  Mit  102  Abbildungen. 
XV,  213  S.    Handbücher  der  staatl.  Museen   zu  Berlin.    Berlin,  G.  Reimer.    6  M. 

Strzygowski,  J.,  Die  Baukunst  der  Armenier  in  Europa.  Ergebnisse  einer  vom 
kunsthistorischen  Institut  der  Univers.  Wien  1913  durchgeführten  Forschungsreise. 
Mit  828  Abbildungen  und  einer  Karte.  2  Bde.  XII,  888  S.  Arbeiten  d.  kunst- 
historischen Instituts  d.  Univers.  Wien.    9.  und  10.  Bd.    200  M. 

Diez,  E. ,  Churasanische  Baudenkmäler.  1.  Bd.  Mit  5  farbigen  und  36  schwarzen 
Lichtdrucktafeln,  sowie  40  Textbildern.  Arbeitendes  kunsthistorischen  Instituts 
d.  Univers.  Wien.    7.  Bd.   XI,  116  S.    Berlin,  Dietrich  Reimer.    60  M. 

Swoboda,  K.M.,  Römische  und  romanische  Paläste.  Eine  architekturgeschichtl. 
Untersuchung.  279  S.  Mit  100  Abbildungen  und  16  Tafeln.  Wien,  A.  Schroll 
&  Co.    28  M. 

Hoffmann,  P.  Th.,  Geheimnisse  der  Gotik.  Deutscher  Wille.  32.  Jahrg.  S.  150 
bis  153. 

Worringer,  W.,  Formprobleme  der  Gotik.  Mit  25  Tafeln.  5.  Aufl.  XI,  127  S. 
gr.  8».    München,  Piper  &  Co.    12  M. 

Schmarsow,  A.,  Kompositionsgesetze  frühgotischer  Qlasgemälde.  122  S.  Abhand- 
lung der  sächs.  Gesellschaft  d.  Wissensch.  Phil.-hist.  Klasse.  36.  Bd.  Nr.  3.  Leip- 
zig, Teubner.    4.80  M. 

Schrader,  H.,  Kaikar.  Seine  Geschichte  und  Kunstschätze.  119  S.  Cleve  1918. 
F.  Boß  We.    2  M. 

Lauterbach,  A.,  Warschau.  Berühmte  Kunststätten.  66.  Bd.  VIII,  199  S.  Mit 
146  Abbildungen.    Leipzig,  A.  Seemann.    6  M. 

Richter,  A.,  Löwen,  eine  Perle  Brabants.  62  S.  Mit  Abbildungen.  8".  Weinböhla 
1918,  Verlag  Aurora  (K.  Martin).    3.50  M. 

Tietze,  H.,  Wien.  Berühmte  Kunststätten.  Vll,  324  S.  Mit  154  Abbildungen. 
Bd.  67.    Leipzig,  E.  A.  Seemann.    6  M. 

Baltzer,  J.  u.  Bruns,  F.,  Die  Kirchen  zu  Alt-Lübeck.  Der  Dom.  Die  Bau-  und 
Kunstdenkmäler  der  freien  Hansestadt  Lübeck.  Herausgeg.  von  der  Baubehörde. 
3.  Bd.  I.  Teil.  304  S.  Lex.  8».  Mit  Abbildungen  und  Tafeln.  Lübeck,  B.  Nöhring. 
16  M. 

Abele,  E.,  Der  Dom  zu  Freising.  Ein  Führer  durch  seine  Monumente  und  Kunst- 
schätze nebst  Abriß  der  Baugeschichte.  96  S.  Mit  48  Abbildungen.  Freising, 
F.  P.  Datterer  &  Cie.    3.50  M. 

Schultz,  F.  T.,  Nürnbergs  Bürgerhäuser  und  ihre  Ausstattung.  Mit  zahlreichen 
Abbildungen  und  photographischen  Aufnahmen.  13.  Lfg.  S.  557 — 604.  Lex.  8°. 
Wien,  Oerlach  &  Wiedling.    5  M. 

Keil,  H.,  Mainzer  Ornamentik.  Die  Stilwandlung  im  18.  Jahrhundert.  XII,  123  S. 
Mit  21  Tafeln.  Beiträge  zur  Kunstgeschichte  Hessens  und  des  Rhein-MainGe- 
bietes,  herausgeg.  von  Chr.  Rauch.    Marburg,  Elwertsche  Verlagshandl.    12.50  M. 


124  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1Q19. 


Die  Bau-  und  Kunstdenkmäler  der  Provinz  Westpreußen.  4.  Bd. 
Kreis  Marienburg.  1.  Die  Städte  Neuteich  und  Tiegenhof  und  die  ländlichen 
Ortschaften.  Mit  472  Textbildern  und  31  Beilagen.  VII,  388  S.  Mit  farbiger  Karte, 
30,5  X  23,5  cm.    Danzig,  A.  W.  Kafemann  in  Kommiss.    16.50  M. 

Musee  du  Louvre.  Departement  des  antiquites  grecques  et  romaines.  Cata- 
logue  sommaire  des  marbres  antiques  (par  Et.  Michon).  200  S.  16".  Paris, 
S.  Braun. 

Lantier,  R.,  Inventaire  des  monuments  sculptes  prechretiens  de  la  Peninsule 
Iberique.  I.Partie:  Lusitianie.  Conventus  emeritensis.  47  S.  8".  Paris,  E.  de  Boc- 
card,  Alph.  Picard,  1918. 

Alex.  Schnütgen  zum  Gedächtnis.  50  S.  Mit  36  Abbildungen  und  einem 
Bildnis.  Lex.  8'.  S.-A.  aus  der  Zeitschrift  für  christliche  Kunst.  Düsseldorf, 
L.  Schwann. 

Heise,  C.  O.,  Die  Sammlung  des  Freiherrn  Aug.  v.  d.  Heydt,  Elberfeld.  Ausge- 
wählte Werke  der  Kunst  der  Gegenwart.  Herausgeg.  und  eingeleitet.  XXVIl, 
46  S.   Mit  50  Tafeln.   Lex.  8".    Leipzig,  K.  Wolff.    50  M. 


Jahrbuch  des  kunsthistorischen  Instituts  der  k.  k.  Zentralkommission  für  Denk- 
malpflege. Herausgeg.  von  M.  Dvofäk.  11.  Bd.  Mit  11  Tafeln  und  134  Abbil- 
dungen.   Wien  1917,  W.  Schroll  &  Co.    22  M. 

Jahrbuch  der  königl.  preuß.  Kunstsammlungen.  Herausgeg  von  W.  v.  Bode  usw. 
39.  Bd.  Beiheft.    III,  139  S.   Mit  Abbildungen.    Berlin,  G.  Grote.    16  M. 

Chase,  Q.  H.,  Museum  of  fine  arts,  Boston.  Catalogue  of  Arretine  Pottery.  Mit 
2  Figuren  und  30  Tafeln.  X  u.  112  S.  4".  Boston-Newyork ,  Haughton  Mifflin 
Company,  1916. 

Graesse,  J.  und  Jaenicke,  E.,  Führer  für  Sammler  von  Porzellan  und  Fayence, 
Steinzeug,  Steingut  usw.  Vollständig  umgearbeitete,  vermehrte  Aufl.  und  mit 
wissenschaftl.  Belegen,  Erläuterungen  und  Register  ausgestattet  von  E.  Zimmer- 
mann.   VIII,  384  S.  Mit  Figuren.  8».    Berlin,  R.  C.  Schmidt  &  Co.    12  M. 

Stückelberg,  E.  A.,  Der  Münzsammler.  Ein  Handbuch  für  Kenner  und  Anfänger. 
2.,  verbesserte  und  vermehrte  Aufl.  Mit  über  200  Originalabbildungen.  XII, 
260  S.  8».    Zürich,  Art.  Institut  Orell  Füßli.    16  M. 

Die  Schausammlung  des  Münzkabinetts  im  Kaiser -Friedrich-Museum.  Eine 
Münzgeschichte  der  europäischen  Staaten.  Unter  Mitwirkung  von  Dressel,  Reg- 
ung und  Nützel  verfaßt  von  J.  Menadier.  Führer  durch  die  staatlichen  Museen 
zu  Berlin.  (Herausgeg.  von  der  Generalverwaltung.)  572  S.  kl.  8°.  Berlin,  Ver- 
einigung wissenschaftl.  Verleger.    5  M. 

6.  Bildkunst. 
F  r  i  m  m  e  1 ,  T  h.  v.,   Studien  und  Skizzen  zur  Gemäldekunde.    4.  Bd.  5.  u.  6.  Aufl. 

S.  61—76.   Mit   1  Abbildung   und   8  Tafeln.    Lex.   8".    Wien,   Gerold  &  Co.   in 

Kommiss.    4  M. 
Schröter,    Abriß   der    Kunstgeschichte.     24  S.     Braunschweig,    H.  Wollermann. 

0.35  M. 
H  o  p  p  i  n ,  J.  C,   A  Handbook   of  Attic   red-figured   vases.    472  S.  8».    Cambridge 

(Mass.),  Harvard  Univ. 
Beaziey,  J.  D.,  Attic  red-figured  vases  in  American  Museums.    40.    Oxford.  Press. 
P  e  1 1  i  z  z  a  r  i ,  A.,  I  Trattati  attorno   le  Arti  figurative  in  Italia  e   nella  Peninsola 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919.  125 

iberica  dall'  antichitä  classica  al  Rinascimento,  Vol.  I,  Dali  ant.  classica  al  Secolo 
XIII.    Neapel,  Perrella,  1915. 

Wulff,  O.,  Altchristliche  und  byzantische  Kunst.  I.  Die  altchristliche  Kunst  von 
ihren  Anfängen  bis  zur  Mitte  des  1.  Jahrtausends.  VI,  360  S.  Mit  313  Abbil- 
dungen und  20  Tafeln.  7.  Taus.    32.75  M. 

Burger,  F.,  Schmitz,  H.,  Beth,  J.,  Die  deutsche  Malerei  vom  ausgehenden 
Mittelalter  bis  zu  Ende  der  Renaissance.  I.  Allgemeiner  Teil.  Böhmen  und  die 
österreichisch-bayrischen  Lande  bis  1450  von  F.  Burger.  VII,  228  S.  Mit  276  Ab- 
bildungen und  19  Tafeln.  6.— 10.  Taus.  Handbuch  der  Kunstwissenschaft.  Neu- 
babelsberg, Akad.  Verlags-Oes.  Athenaion.    22  M. 

Dürer,  Das  Heilandskind  nach  Holzschnitten  und  Kupferstichen  Albrecht  Dürers. 
Ausgewählt  und  mit  begleitendem  Text  von  O.  Stuhlfauth.  22  S.  Mit  9  Tafeln. 
Lex.  8».    Potsdam  1918,  Stiftungsverlag.    5.40  M. 

Kehrer,  H.,  Matth.  Grunewald.  Das  Wunder  des  Isenheimer  Altars.  Mit  52  Ab- 
bildungen, eingel.  und  gewählt.    64  S.  8".    München,  H.  Schmidt.    2.80  M. 

Neuwirth,  J.,  Bildende  Kunst  in  Österreicii.  IL  Von  der  Renaissance  bis  zum 
Beginn  des  20.  Jahrhunderts.    96  S.  Österr.  Bücherei.    8.  Bdchn. 

Rolland,  R.,  Michelangelo.  Herausgeg.  von  W.  Herzog.  XII,  242  S.  Mit  Tafeln, 
gr.  8".    Frankfurt  a.  M.,  Liter.  Anstalt  Rütten  &  Loening. 

Michelangelo,  Des  Meisters  Werke  und  seine  Lebensgeschichte.  Herausgeg. 
von  A.  Semrau.  Mit  20  Bilderbeilagen.  11.— 15.  Taus.  375  S.  Berlin,  W.  Born- 
gräber.   10  M. 

Neu  mann,  C,  Aus  der  Werkstatt  Rembrandts.  VIII,  166  S.  Mit  Abbildungen 
und  Tafeln.  Heidelberger  kunstgeschichtliche  Abhandlungen.  Herausgeg.  von 
C.  Neumann  und  K.  Lohmeyer.    3.  Bd.  Lex.  8".    Heidelberg,  C.  Winter.    22.70  M. 

Rembrandt,  Zeichnungen,  in  den  Originalfarben  nachgebildet  durch  Emn'k  & 
Binger  in  Haarlem.    I.  Folge.  3.  Lfg.    125  fl. 

Rembrandts  Erzählungen.  Mit  etwa  70  Abbildungen,  eingel.  und  ausgewählt 
von  E.  W.  Bredt.    89  S.    München,  H.  Schmidt.    2.80  M. 

Hundertfünfzig  Jahre  deutsche  Kunst  (1650—1800).  76  Bildtafeln  mit  einer 
Einführung  von  W.  Hausenstein.    39  S.  Lex.  8".    Berlin,   Hyperionverlag.    36  M. 

Swarzenski,  G.,  Grisebach,  A.,  Die  Kunst  des  19.  und  20.  Jahrhunderts. 
1.  Einführung  in  die  moderne  Kunst.  Von  F.  Burger.  VII,  136  S.  Mit  Abbil- 
dungen und  6  Tafeln.  Handbuch  für  Kunstwissensch.  Neubabelsberg,  Akad.  Ver- 
lagsgesellsch.  Athenaion.    14.— 16.  Taus.    9.80  M. 

Eugene  Delacroix,  Fragmente  einer  Selbstbiographie.  Baudelaire  über  Dela- 
croix.  Aus  dem  Französischen  übertragen  von  H.  Graber.  Mit  2  Bildnissen. 
114  S.  Dokumente  zur  neueren  Kunst.  2.  Bd.  Basel,  B.  Schwabe  &  Co. 
12  M. 

Daumier,  H.,  Recht  und  Gericht.  40  Steindrucke.  Mit  einer  Einleitung  von 
E.  Waldmann.   43  x  30  cm.    Beriin,  Hyperionveriag.   65  M. 

Rümann,  A.,  Daumier  als  Illustrator.  Drei  Jahrzehnte  französisches  Bürgertum. 
Mit  150  Abbildungen.  VIII,  112  S.  31  <  23  cm.  München,  Delphin-Verlag. 
12  M. 

Ooncourt,  E.  u.  J.  de,  Oavarni.  Der  Mensch  und  das  Werk.  (Übertragen  von 
St.  Strizek.)  2  Bde.  Mit  107  ganzseit.  und  36  Textillustr.  263  und  189  S.  gr.  8". 
Berlin,  Hyperionverlag.    26  M. 

Rethel,  A.,  Handzeichnungen  aus  dem  Kupferstichkabinett  zu  Dresden.  Heraus- 
gegeben von  Wold.  v.  Seidlitz.  6.  Lfg.  Mit  5  Tafeln.  59,5  >.  44  cm.  Berlin  1918. 
J.  Bard.    Einzellfg.  25  M. 


12Ö  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 

Scheffler,  K.,  Menzel.  Der  Mensch  und  das  Werk.  5.— 7.  Taus.  219  S.  Mit  Ab- 
bildungen. Lex.  8°.    Berlin,  Bruno  Cassirer.    25  M. 

Frey,  A.,  Albert  Welti.  Mit  7  farbigen  Illustrationen.  47  S.  Zürich,  Rascher  &  Cie. 
5.80  M. 

Wichner,  J.,  Der  Schweizer  Maler  Max  Buri.  Werk  und  Wesen.  Mit  5  Incavo- 
gravüren  auf  Tafeln.    49  S.    Zürich,  Rascher  &  Cie.    5.80  M. 

Steinberg,  S.,  F.  Hodler:  Ein  Platoniker  der  Kunst.  Ein  Versuch.  31  S.  Mit 
24  S.  Abbildungen.    Zürich,  Rascher  &  Cie.    5.80  M. 

Schweizerisches  Künstlerbuch.  Mit  einem  Geleitwort  von  K.  Falke.  VllI, 
262  S.  Mit  45  Tafeln.  8".    Zürich,  Rascher  &  Cie.    14  M. 

Steinhausen,  W.,  Augenblick  und  Ewigkeit.  16  Bilder  mit  einem  Geleitwort  des 
Künstlers  und  einer  Einführung  von  J.  A.  Beringer.  1  Bild  und  14  Tafeln.  Berlin, 
Furche- Verlag.    6  M. 

Storck,  K.,  Moderne  Wandmalerei.  Der  Türmer.  22.  Jahrg.  12.  Heft.  S.  252 
bis  256. 

Jeske,  R.,  Gustav  Wimmer,  ein  deutscher  Maler.  32  S.  Stettin,  Fischer  u.  Schmidt. 
0.50  M. 

Dieffenbacher,  J.,  Die  alemannische  Malersippe  Dürr.  Eine  kunstpsychologische 
Studie.  Mit  110  Abbildungen.  III,  93  u.  XIV  S.  Freiburg  i.  Br.,  Breisgauerverein 
Schauinsland.    7  M. 

Das  politische  Plakat.  Herausgeg.  im  amtl.  Auftrage.  49  S.  Mit  22  zum  Teil 
farbigen  Tafeln,  gr.  8°.    Charlottenburg,  Verlag  »Das  Plakat«.    3  M. 

Weise,  O.,  Schrift-  und  Buchwesen  in  aher  und  neuer  Zeit.  Natur  und  Oeistes- 
weh.    Nr.  4.    Mit  28  Abbildungen,  127  S.  4.,  verbesserte  Aufl. 

Gottschalk,  P.,  Die  Buchkunst  Gutenbergs  und  Schöffers.  Mit  einem  einleiten- 
den Versuch  über  die  Entwicklung  der  Buchkunst.  Mit  8  Tafeln,  mit  18  Blatt  Er- 
klärungen, 15  S.  Text.    46x33,5  cm.    Berlin,  P.  Gottschalk.    40  M. 

7.  Geistige  und  soziale  Funktion  der  Kunst. 

Schumacher,  F.,  Fragen  der  Volkskultur.  Die  literarische  Gesellschaft.  5.  Jahrg. 
9—18.  37—42.  68—73.  107—111.  137—144. 

Lüthgen,  E.,  Die  Aufgabe  der  Kunst  und  des  kunsfgeschichtlichen  Hochschul- 
unterrichts.   55  S.    Bonn  und  Leipzig,  K.  Schroeder. 

Loos,  A.,  Richtlinien  für  ein  Kunstamt.    11  S.    Wien,  R.  Lanyi.    0.50  M. 

Kohne,  G.,  Kultur,  Kunst,  Ethos.    Der  Türmer.    21.  Jahrg.  S.  336— 340. 

Lienhard,  Fr.,  Wie  machen  wir  Kunst  und  Philosophie  nutzbar  zur  inneren 
Weiterbildung  der  Jugend?  Vortrag.  8  S.  Neuland-Hefte.  2.  Heft.  Eisenach, 
Neuland-Verlag. 

Rein,  W.,  Kunst,  Politik,  Pädagogik.  Ges.  Aufs.  1.  Bd.:  Kunst.  2.  Aufl.  IV,  153  8. 
kl.  8".    Langensalza,  H.  Beyer  u.  Söhne.    2.40  M. 

Haenisch,  K.,  Sozialdemokratische  Kulturpolitik.  5.  Aufl.  32  S.  gr.  8°.  Berlin, 
C.  A.  Schwetschke  &  Sohn.    1  M. 

Wagner,  E.,  Die  Revolution  und  die  Kunst  der  Zukunft.  16  S.  Vertag  für  sozia- 
listische Kultur.    0.60  M. 

Brandenburg,  H.,  Das  Theater  und  das  neue  Deutschland.  Ein  Aufruf.  41  S. 
Jena,  Diederichs.    2  M. 

Kühn,  W.,  Die  Lehre  von  den  Tonvorstellungen  und  ihre  Anwendung  im  Ele- 
mentarunterricht.   Zeitschrift  für  Musikwissenschaft.   S.  414—422. 

Werner,  H.,  Theater-  und  Konzertbesuch  der  Jugend.  36  S.  Deutsche  Eltern- 
bücherei.  79.  Heft.    1  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919.  127 

Rauh,  H.,  Der  deutsche  Musikverlag  und  das  Sozialisierungsproblem.  Signale  für 
die  musikalische  Welt.   77.  Jahrg.   S.  269—274. 

Valentiner,  W.  R.,  Umgestaltung  der  Museen  im  Sinne  der  neuen  Zeit.  103  S. 
Schriften  zur  Zeit  und  Geschichte.  8.  Bdchn.    Berlin,  O.  Qrote.    2  M. 

Dresdner,  A.,  Die  Zukunft  der  Künstler.  Deutsche  Rundschau.  178.  Bd.  S.  133 
bis  149. 

Shaw,  B.,  Vom  Haushalt  der  drei  Künste.    Der  Merker.   X.  Jahrg.  S.  356— 364. 

Tietze,  H.,  Die  Entführung  von  Wiener  Kunstwerken  nach  Italien.  Eine  Dar- 
legung unseres  Rechtsstandpunktes.  Mit  einem  offenen  Briefe  an  die  italienische 
Fachgenossenschaft  von  M.  Dvoiik.  Mit  16  Abbildungen.  57  S.  und  16  S.  Ab- 
bildungen.   Wien,  A.  Schroll  &  Co.    3  M. 

Reimann,  H.,  Literarisches  Albdrücken.  X,  107  S.  Mit  Abbildungen,  kl.  8°.  Leip- 
zig, E.  Matthes.    5  M. 

Boehn,  M.  v.,  Modespiegel.  Mit  mehrfarbigem  Titelbild.  103  ein-  und  mehr- 
farbigen Abbildungen  im  Text.  III,  176  S.  Braunschweig,  G.  Westermann. 
14  M. 

Borinski,  K.,  Braun  als  Trauerfarbe.  Sitzungsberichte  der  bayr.  Akademie  der 
Wissenschaften.  Phil,  und  hist.  Klasse.  10.  Abhandlung.  18  S.  München,  G.  Franz- 
scher Verlag  in  Kommiss.    0.40  M. 

8.   Neue  Zeitschriften  und  Sammelwerke. 

Das  gelbe  Blatt.  Öffentliches  Leben,  Kunst,  Theater,  Literatur,  Mode.  Red.: 
Will  Stephan,  später  Dr.  S.  Abraham.  Nr.  1-7.  122  S.  Mit  Abbildungen.  Stutt- 
gart, H.  Kofink.    Halbj.  14  M. 

Das  neue  Buch.  Eine  Zeitschrift  für  Bücherfreunde.  Rundschau  über  alle  Neu- 
erscheinungen der  schöngeistigen  und  künstlerischen  Literatur.  Herausgegeben 
unter  Mitwirkung  erster  Autoren.  Red.:  H.  Rothgießer.  Nr.  1.  16  S.  Berlin, 
Nee  Sinit.    6  M. 

Die  Bücherkiste.  Monatsschrift  für  Literatur,  Graphik  und  Buchbesprechung. 
Herausgegeben  von  Leo  Scherpenbach.  I.  Jahrg.  März-Dezember.  Nr.  1.  12  S. 
München,  Bachmair  &  Co.    Viertelj.  3  M. 

Der  Einzelne.  Halbmonatsschrift  für  Politik,  Wirtschaft,  Kunst.  Herausgegeben 
von  Albert  Zimmermann.  I.  Jahrg.  März  1919  bis  Februar  1920.  24  Hefte  1.  und 
2.  Heft.  60  S.  gr.  8".  Charlottenburg  (1,  Spreestr.  11),  Verlag  »Der  Einzelne«. 
Viertelj.  5.50  M.,  Einzelheft  1  M. 

Neue  Erde.  Eine  Halbmonatsschrift.  Herausgegeben  von  Fr.  BurschelL  I.Heft. 
24  S.  Mit  1  Abbildung  und  1  Tafel.  Lex.  8».  München,  Dreiländerverlag.  Viertel- 
jährl.  6M.,  Heft  1.20  M. 

Die  Erhebung.  Jahrbuch  für  neue  Dichtung  und  Wertung.  Herausgegeben  von 
A.  Wolfenstein.    VI,  422  S.    Berlin,  S.  Fischer.    8  M. 

Kothurn.  Halbmonatsschrift  für  Literatur,  Theater  und  Kunst.  Herausgegeben 
von  Artur  Lewinneck.  Königsberg  i.  Pr.,  Kothurn-Verlag.  Einzelheft  IM.,  im 
Dauerkauf  0.75  M. 

Kunst-  und  Kulturrat.  Blätter  für  die  neue  Zeit.  Herausgegeben  vonj.  A.  Lux, 
O.  Schmidhammer  und  F.  Ledwinka.  1.— 3.  Heft.  98  S.  Mit  Abbildungen,  gr.  8°. 
Salzburg,  Freie  Arbeitsgemeinschaft  für  Kunst  und  Kultur.  Vierteljährlich  4.50  M., 
Einzelheft  1.50  M. 

Pugnamus.  Halbmonatsschrift  für  Literatur,  Theater,  Wissenschaft,  Sozialpolitik. 
Hauptschriftleitung:  F.F.  Goldau.  Nr.  1.  16S.  Lex.  8'.  Essen,  Pugnamus-Verlag. 
Vierteljährl.  2.10  M.  * 


128  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 

Der  Spiegel.    Beiträge  zur  sittlichen   und   künstlerischen  Kultur.    Herausgegeben 

von   Robert   Prechtl.    Berlin  WS,   Spiegel-Verlagsgesellschaft   m.  b.  H.    1.  Heft. 

2  M. 
Der  Wagenlenker.    Organ   des  Reichsbundes   geistiger  Arbeiter.    Schriftleitung 

H.  Sinsheimer.    Nr.  1 — 3.   48  S.    München,  Wagenlenker- Verlag.    Vierteljährlich 

6  M. 
Der  Weg.    Monatsschrift  für  bildende  Kunst,  Literatur,  Musik  und  Zeitbewegung. 

Herausgegeben    von   Walter   Blume.     Schriftleitung:   E.  Trautner,   F.  Schaefler, 

W.Blume.    Nr.  1.    12  S.  Mit   Abbildungen.   32  X  24,5  cm.    München,  O.  C.  Stei- 

nicke.    Halbjährlich  5.50  M. 


\^V 


IV. 

Die  Darstellung  auf  der  Fläche. 

Von 

Kurt  Theodor. 

I. 

Malerei  und  Zeichnung  sind  darstellende  Künste;  es  gehört  zu 
ihren  wesentlichen  Merkmalen,  daß  Gegenstände  unserer  Erfahrungs- 
welt auf  der  Fläche  zur  Wiedergabe  gelangen.  Wie  weit  aber  schon 
aus  diesem  Verhältnis  von  Bild  und  Vorbild  ästhetische  Werte  er- 
wachsen können,  ist  eine  strittige  Frage.  Daß  der  Illusionskraft  des 
Kunstwerks  im  klassischen  Altertum  große  Bedeutung  beigemessen 
wurde,  zeigt  die  bekannte  Anekdote  vom  Wettstreit  des  Zeuxis  und 
des  Parrhasios.  Ähnliche  Geschichten  werden  aus  China  überliefert. 
Auch  bei  uns  verlangt  zum  mindesten  die  breite  Masse  —  aber 
nicht  nur  diese  —  von  einem  Gemälde  vor  allem  Naturwahrheit.  Wer 
darin  die  Äußerung  eines  ungeschulten  Geschmacks  sehen  wollte, 
muß  wenigstens  zugeben,  daß  in  der  Nachahmung  eine  der  Wurzeln 
des  künstlerischen  Schaffens  liegt.  Das  Kind  freut  sich,  wenn  es 
ihm  gelingt,  die  vertrauten  Gegenstände  der  Umgebung  in  seiner 
Zeichnung  erkennbar  hervorzubringen.  Die  Zeichnungen  der  Natur- 
völker sind  teilweise  aus  denselben  Absichten  zu  erklären.  Erst  da- 
neben treten  andere  Antriebe  auf:  Schmuck  der  Fläche,  Festhalten 
der  Erinnerung,  Formtrieb  der  Phantasie.  Auch  für  den  reifen  Künst- 
ler bleibt  das  Streben,  ein  Naturbild  möglichst  überzeugend  auf  die 
Fläche  zu  übertragen,  mehr  als  bloße  Voraussetzung  seines  Schaffens. 

Bis  weit  ins  18.  Jahrhundert  hinein  trug  die  ästhetische  Theorie 
diesem  Tatbestand  Rechnung.  Allgemein  wurde  mit  einer  gewissen 
Selbstverständlichkeit  die  Illusion  als  Hauptzweck  der  Malerei  hin- 
gestellt. Oft  sprach  man  vorsichtiger  von  Nachahmung;  darin  liegt 
dann  die  Einsicht,  daß  die  Illusion  nicht  zu  vollkommener  Irreführung 
gesteigert  werden  darf,  weil  man  die  Täuschung  nur  ganz  auskosten 
kann,  wenn  man  sich  ihrer  bewußt  bleibt.  Um  eine  Erklärung  für 
den  Zweck  solcher  Nachahmung  war  man  nicht  verlegen.  Die  Freude 
an  der  Ähnlichkeit  mit  dem  Vorbild  und  an  der  Geschicklichkeit  des 
Künstlers  schien  ihren  Wert  ausreichend  zu  begründen. 

Zeitschr.  f.  AsUieUk  u.  alle.  Kunstwissenschaft.    XV.  9 


130  KURT  THEODOR. 


Die  heutige  Ästhetik  weiß  mit  Wirkungen  solcher  Art  nichts  an- 
zufangen. Man  hat  gelernt,  die  tiefere  Bedeutung  und  selbständige 
Natur  der  ästhetischen  Werte  zu  verstehen,  sie  den  Werten  wissen- 
schaftlicher Erkenntnis  und  sittlichen  Wollens  gleichzuordnen.  Bloßes 
Vergnügen  sinnlicher  oder  intellektueller  Art  hat  mit  künstlerischem 
Erleben,  wie  wir  es  jetzt  begreifen,  nichts  gemein.  So  schied  man  die 
Tatsache  der  Darstellung  aus  dem  Kreise  ästhetischer  Erörterungen 
aus.  Man  beschäftigte  sich  nur  einerseits  mit  den  formalen  Eigen- 
schaften der  Fläche,  anderseits  mit  dem  dargestellten  Gegenstand;  die 
Verwandlung  der  Fläche  in  den  Gegenstand  wurde  als  bloße  Technik 
gering  geschätzt,  als  unvermeidliches  Mittel,  das  Phantasiebild  zur  An- 
schauung zu  bringen,  mit  in  den  Kauf  genommen. 

Gegen  diese  Verkennung  der  darstellenden  Funktion  des  Kunst- 
werks muß  Einspruch  erhoben  werden,  und  es  hat  auch  schon  eine 
Gegenbewegung  eingesetzt.  Seit  Konrad  Fiedler  dringt  in  der  Kunst- 
wissenschaft die  Erkenntnis  durch,  daß  die  Art,  wie  der  Gegenstand 
für  unser  Auge  aus  der  Fläche  entsteht,  entscheidend  für  seine  Wir- 
kung ist  Gehen  wir  nun  einen  Schritt  weiter  und  behaupten  wir, 
daß  gerade  auf  dem  Gegensatz  zwischen  Flächenform  und  Raum- 
erlebnis ein  wesentlicher  Teil  der  Kunstwirkung  beruht,  so  gelangen 
wir  ganz  in  die  Nähe  jener  alten  Theorien  von  Illusion  und  Nach- 
ahmung, ohne  uns  doch  ihrer  unbewußten  Verflachung  der  Kunst- 
werte schuldig  zu  machen.  Alle  Einwendungen  der  neueren  Ästhetik, 
so  berechtigt  sie  sind,  treffen  nämlich  gar  nicht  den  Tatbestand,  der 
diesen  Theorien  zugrunde  liegt,  sondern  nur  seine  Auslegung.  Jene 
Auffassung  allerdings,  die  aus  dem  Gegensatz  zwischen  Illusion  und 
nüchterner  Erkenntnis  ästhetischen  Genuß  ableitet,  ist  viel  zu  intellek- 
tualistisch.  Konrad  Lange,  der  in  unserer  Zeit  die  alte  Nachahmungs- 
theorie wieder  zum  Leben  zu  erwecken  sucht,  verfällt  mit  seiner  »be- 
wußten Selbsttäuschung«  in  den  gleichen  Fehler.  Bei  der  rechten 
Betrachtung  von  Kunstwerken  treten  wir  nicht  aus  der  ästhetischen 
Einstellung  heraus,  für  die  der  Unterschied  zwischen  Schein  und  Wirk- 
lichkeit nicht  existiert.  In  der  Kunst  handelt  es  sich  nicht  um  Wirk- 
lichkeit in  irgend  einem  außerkünstlerischen  Sinne,  sondern  um  Wirk- 
samkeit, nicht  um  Urteile,  sondern  um  Erlebnisse.  Aber  die  Umwand- 
lung der  Fläche  in  ein  Stück  Erscheinungswelt,  die  wir  im  Kunstwerk 
sich  vollziehen  sehen,  wendet  sich  gar  nicht  an  den  Verstand,  sondern 
wird  Gegenstand  unseres  Erlebens,  und  dieses  Erlebnis  steht  an  Kraft 
und  Würde  keinem  anderen  nach,  das  die  Kunst  vermittelt.  Weil 
wir  noch  keine  ausreichende  Rechtfertigung  für  solche  Eindrücke 
durch  die  Theorie  besitzen,  sehen  wir  an  ihnen  vorbei.  So  entsteht 
eine   Kluft  zwischen  praktischem  Verhalten  und  bewußter  Deutung, 


I 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  131 

welche   schließlich    auch   die  Wirkung  der  Kunstwerke   nicht   unge- 
schädigt  läßt. 

In  dieser  Arbeit  soll  der  Versuch  gemacht  werden,  den  Be- 
ziehungen zwischen  der  Fläche  und  der  dargestellten  Erscheinung 
nachzugehen  und  ihre  ästhetische  Bedeutung  zu  erweisen,  um  damit 
einer  wesentlichen  Seite  des  Kunsterlebnisses  auch  in  der  Theorie  die 
gebührende  Geltung  zu  verschaffen.  Vorher  sei  zur  Vermeidung  von 
Mißverständnissen  darauf  hingewiesen,  daß  dieser  Aufsatz  keineswegs 
den  Anspruch  macht,  Wesen  und  Wirkung  der  Malerei  zu  erschöpfen. 
Die  Wirkung  der  Kunst  erstreckt  sich  in  mehrere  Dimensionen,  und 
wer  ihr  Ausmaß  in  einer  Richtung  feststellt,  hat  damit  noch  nichts 
über  ihren  ganzen  Umfang  gesagt.  Aber  erst,  wenn  alle  einzelnen 
Funktionen  der  Kunst  in  ihrer  Eigenart  erkannt  sind,  kann  ihr  Ver- 
hältnis zueinander  und  damit  die  Totalität  der  Kunstwirkung  erfaßt 
werden. 

IL 

Wir  beginnen  unsere  Untersuchung  zweckmäßig  an  der  äußersten 
Peripherie  der  Kunst  mit  solchen  Bildern,  die  nur  eine  möglichst  täu- 
schende Nachahmung  der  Natur  erstreben.  Nachahmung  bedeutet 
natürlich  auch  hier  nicht,  daß  ein  gleicher  Gegenstand  zum  zweiten- 
mal erzeugt  werden  soll.  Die  Figuren  des  Panoptikums  machen  jedem 
Feinnervigen  nur  Grauen,  und  ein  Homunkulus,  wenn  es  uns  gelänge, 
ihn  zu  schaffen,  würde  eben  eine  neue  Wirklichkeit,  kein  Werk  der 
Kunst  sein.  Zur  künstlerischen  Nachahmung  gehört,  daß  ein  dem 
Vorbild  gleichwertiger  Eindruck  unter  ganz  entgegengesetzten  Bedin- 
gungen und  mit  ganz  andersartigen  Mitteln  geschaffen  wird.  Ein 
Gemälde  gibt  den  Eindruck  des  Raumes,  der  Körperlichkeit,  der  Be- 
wegung, der  Stofflichkeit;  aber  es  gibt  Raum  und  Körper  auf  der 
Fläche,  Bewegung  mittels  des  Unbewegten,  die  verschiedensten  Stoffe 
durch  die  gleichförmige  Farbensubstanz.  Der  Wert  der  Nachahmung 
liegt  also  in  der  Überwindung  eines  Gegensatzes.  Nicht  daß  mein 
Hund  zum  zweiten  Male  vorhanden  ist  (wie  Goethe  das  Wesen  der 
Nachahmung  mißversteht),  macht  mir  Eindruck,  sondern  daß  auf  der 
zweidimensionalen,  unbewegten,  gleichförmigen  Leinwand  der  Eindruck 
eines  lebendigen  Wesens  erzeugt  wird.  Die  Wirklichkeit  muß  durch 
die  Fläche  negiert  werden,  nicht  etwa  nur,  um  eine  Verwechslung  von 
Abbild  und  Vorbild  oder  praktisches  Interesse  zu  verhindern,  sondern 
um  durch  den  Gegensatz  Raum  und  Bewegung  und  Stofflichkeit  be- 
sonders eindrucksvoll  hervorzuheben.  Gewohnte  Eindrücke  treten  mir 
losgelöst  von  ihren  empirischen  Bedingungen  entgegen  und  werden 
dadurch  intensiver  erlebt.    Der  Kontrast  ist  ja  ein  wesentliches  Mittel 


132  KURT  THEODOR. 


anschaulicher  Gestaltung,  d.  h.  das  Verhältnis  der  Dinge  zu  anderen 
entscheidet  ihre  Wirkung.  Den  Eindruck  der  Größe  z.  B.  kann  man 
durch  Abweichung  vom  gewohnten  Maße  erwecken  (das  primitivste 
und  unzuverlässigste  Darstellungsmittel),  oder  er  entsteht  durch  den 
Kontrast  zu  unserer  Kleinheit,  oder  hauptsächlich  durch  das  Verhältnis 
der  Teile  des  Kunstwerkes  zueinander,  wobei  die  absolute  Größe  sehr 
gering  werden  kann.  Zu  diesen  Möglichkeiten  des  Kontrastes  tritt 
nun  als  grundlegendes  Phänomen  der  Kunst  der  Gegensatz,  in  dem 
das  Darstellungsmittel  zu  der  Natur  des  Dargestellten  steht. 

Für  gewöhnlich  interessieren  mich  ja  nur  besondere  Eigentüm- 
lichkeiten eines  Körpers,  einer  Bewegung,  eines  Stoffes.  Daß  es  über- 
haupt Raum  und  Körper,  Materie  und  Bewegung  gibt,  ist  mir  selbst- 
verständliche Voraussetzung  und  macht  mir  keinen  Eindruck.  Anders 
auf  dem  Bild.  Wenn  es  dem  Maler  gelingt,  auf  der  Fläche  irgendwie 
den  Eindruck  des  Räumlichen  zu  erwecken,  so  wirkt  auf  mich  nicht 
nur  die  besondere  Gestalt  oder  Größe  des  Raumes,  sondern  die  Tat- 
sache des  Räumlichen  selbst.  Bei  der  Darstellung  einer  engen  Stube 
erlebe  ich  den  Raum  durch  ein  Gefühl  der  Ausweitung,  wie  es  mir 
außerhalb  der  Kunst  höchstens  bei  der  Betrachtung  weiter  Fernsichten 
geschehen  kann.  Entsprechendes  erfahre  ich,  wenn  Körperlichkeit, 
Bewegung,  Stofflichkeit  durch  sorgfältige  Wiedergabe  ihrer  sicht- 
baren Erscheinung  vorgetäuscht  werden.  Ein  gut  modelliertes  Gerät 
offenbart  mir  das  Wesen  körperlicher  Existenz;  im  Schreiten  .eines 
Bauern  spüre  ich  das  Lebendige  aller  Bewegung;  durch  ein  Stück 
gemalten  Samts  erfasse  ich  das  Geheimnis  der  Individuation.  Diese 
Wirkung  kann  so  gewaltig  werden,  daß  alle  besonderen  Qualitäten 
des  dargestellten  Gegenstandes  verschwinden  vor  dem  Erlebnis  der 
Existenz  an  und  für  sich,  das  uns  aus  der  Tatsache  der  Darstel- 
lung fließt. 

Zu  solchen  metaphysischen  Auswirkungen  kommt  es  nun  aller- 
dings selten  auf  der  grob  illusionistischen  Stufe  der  Kunst,  von  der 
wir  hier  ausgegangen  sind.  Dort  verflacht  die  Wirkung  leicht  und 
verschiebt  sich  auf  das  intellektuelle  Gebiet.  Freude  an  der  Ähnlich- 
keit und  an  der  Geschicklichkeit  des  Künstlers  überwiegt  die  ästhe- 
tische Ergriffenheit.  Erst  durch  Vertiefung  der  Kunstmittel  wird  die 
ästhetische  Einstellung  erzwungen,  schon  deshalb,  weil  jede  andere 
Einstellung  sinnlos  gemacht  wird.  Das  Prinzip  aber  tritt  bereits  im 
extremen  Naturalismus  deutlich  zutage. 

Ehe  wir  nun  weitergehen  und  das  eigentliche  Gebiet  der  Kunst 
betreten,  sei  kurz  auf  Parallelen  aus  anderen  Kunstgebieten  hingewiesen. 
Andere  Negationen  rücken  dort  andere  Wirkungen  in  den  Vordergrund. 
In  der  Plastik  ist  die  dreidimensionale  Existenz  nicht  negiert,  bleibt 

i 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  133 

vielmehr  selbstverständliche  Voraussetzung').  Hier  steht  dafür  die  Leb- 
losigkeit und  unorganische  Struktur  des  Materials  in  fruchtbarem  Gegen- 
satz zu  der  organischen  Belebtheit  und  Beseeltheit  des  dargestellten 
Körpers.  Daher  sind  leblose  Gegenstände,  wie  sie  die  Malerei  reich- 
lich verw^endet,  für  den  Plastiker  kein  Vorwurf.  Er  muß  Menschen 
oder  Tiere  modellieren;  nur  sie  sind  der  Natur  des  Darstellungs- 
materials fremd  genug,  um  das  Wunder  der  Verwandlung  eindrucks- 
voll zu  machen.  Entsprechend  steht  in  der  Poesie  das  abstrakte 
verallgemeinernde  Wesen  der  Sprache  im  Gegensatz  zu  der  lebendigen 
Anschauung,  die  sie  in  uns  erzeugen  kann.  Die  bildende  Kunst  hat 
von  vornherein  den  Charakter  der  Anschaulichkeit;  die  Dichtkunst,  die 
Leben  durch  Worte  vermittelt,  macht  uns  gerade  dadurch  den  Wert 
der  Unmittelbarkeit  fühlbar.  (In  diesem  Grundsatz  liegt  scheinbar  ein 
Widerspruch,  tatsächlich  eine  Ergänzung  zu  Lessings  Regel,  daß  jede 
Kunst  die  ihren  Mitteln  entsprechenden  Wirkungen  suchen  soll.) 

Die  negierende  Funktion  des  Darstellungsmaterials,  in  unserem 
Fall  der  farbenbedeckten  Fläche,  wirkt  nun  in  keinem  Falle  ästhetisch, 
solange  bloß  besseres  Wissen  dem  naiven  Eindruck  die  Wage  hält. 
Nur  wo  sich  das  Wissen  in  Gefühlswerte  umsetzt,  kann  eine  rein 
ästhetische  Wirkung  zustande  kommen.  In  der  grob  illusionistischen 
Kunst  wird  die  Fläche  allerdings  noch  nicht  anschaulich,  sie  wirkt 
nur  als  unbestimmtes  Gefühl  des  Nichts,  des  Ungeschaffenen,  aus 
dem  die  angeschaute  Welt  entsteht.  Erst  wenn  die  Fläche  als  solche 
sich  der  Betrachtung  aufdrängt  und  ihr  eigenes  Leben  unabhängig  von 
dem  Inhalt  der  Darstellung  entfaltet,  wird  die  Spannung  zwischen 
beiden  Welten  anschaulich  und  fruchtbar. 

Das  Eigenleben  der  Fläche  erwächst  aus  den  Beziehungen  der 
Linien,  Farben,  Flächenteile  untereinander,  die  sich  zu  einem  Organis- 
mus zusammenschließen,  ähnlich  den  Tongebilden  der  Musik  und  un- 
abhängig von  der  dinglichen  Bedeutung,  deren  Träger  sie  sind.  Wie 
zu  den  Tönen  die  Klangfarbe  der  Instrumente  und  der  Vortrag,  so 
treten  zu  den  rein  sinnlichen  Wirkungen  der  Farbe  alle  Eigenschaften 
des  Materials  und  seiner  Behandlung,  soweit  sie  unmittelbar  angeschaut 
und  gefühlsmäßig  gedeutet  werden,  wie  etwa  die  Zähigkeit  der  Farb- 
substanz, oder  der  Impuls,  mit  dem  ein  Pinselstrich  hingesetzt  ist. 
Die  Natur  dieser  »formalen«  Wirkung  ist  oft  untersucht  worden  und 
braucht  hier  nicht  erörtert  zu  werden.  Man  hat  besonders  in  neuerer 
Zeit  Wert  darauf  gelegt,  daß  auch  in  diese  abstrakten  Gebilde  Kräfte 
und  Stimmungswerte  eingefühlt  werden.    Man  hat  aber  über  dieser 


')  Vgl.  E.  Kalischer,   Analyse    der    ästhetischen   Kontemplation.     Zeitschr.  f. 
Psych.  Bd.  28. 


134 


KURT  THEODOR. 


Verwandtschaft  mit  dem  Eindruck  tatsächlichen  Lebens  nicht  genügend 
betont,  wie  groß  trotzdem  die  Kluft  zwischen  beiden  Erlebnisqualitäten 
bleibt.  Damit  ist  nicht  der  Unterschied  zwischen  Illusion  und  Realität 
gemeint  —  der  geht  uns  in  der  Kunst  nichts  an  — ,  sondern  ein  Unter- 
schied der  Gefühlswirkung. 

Ein  solcher  Unterschied  besteht  zunächst  zwischen  Fläche  und 
Körper,  genauer  ausgedrückt :  zwischen  Fleckenform,  Linienbewegtheit, 
Farbenkontrasten  auf  der  einen,  und  Raumform,  echter  Bewegung, 
stofflicher  Verschiedenheit  auf  der  anderen  Seite.  Die  Falten  eines 
Vorhanges  wirken  mit  größerer  Wucht  als  ein  Liniengebilde  von  ver- 
wandten Formmotiven.  Ein  dreidimensionaler  Körper  regt  mein  eigenes 
Körpergefühl  stärker  an  als  eine  Fläche.  Die  Harmonie  von  Samt  und 
Seide  hat  einen  volleren  Klang  als  die  absoluter  Farben.  Parallel  geht 
der  Unterschied  zwischen  der  Beseeltheit  der  Fläche  und  den  tatsäch- 
lichen Äußerungen  tierischer  Lebendigkeit  und  individuellen  Seelen- 
lebens. Wenn  Böcklin  seine  Landschaften  mit  lebenden  Wesen  be- 
völkert, in  denen  sich  die  Stimmung  der  Natur  noch  einmal  verkörpert, 
so  empfinden  wir  zwar  eine  Verwandtschaft  zwischen  Landschaft  und 
Staffage,  aber  in  den  Menschen,  sogar  in  den  phantastischsten  Un- 
geheuern ist  die  dargestellte  Stimmung  uns  viel  näher  gerückt,  kon- 
kreter, verständlicher  geworden.  Eine  ähnliche  Empfindung  haben  wir, 
wenn  auf  dem  Höhepunkte  von  Beethovens  IX.  Symphonie  die  Men- 
schenstimmen einsetzen.  Schon  die  abstrakte  Musik  haben  wir  als 
Ausdruck  seelischer  Vorgänge  und  Stimmungen  begriffen;  aber  jetzt 
verdichtet  sich  das  Allgemeine  der  Musik  zu  bestimmten,  ganz  mensch- 
lichen, persönlichen  Erlebnissen.  Es  ist,  als  ob  ein  Geist,  der  uns  un- 
sichtbar umschwebte,  plötzlich  Gestah  annimmt.  Keine  Art  der  Er- 
scheinung ist  der  anderen  überlegen.  Die  menschliche  Verdichtung 
wirkt  unmittelbarer,  individueller,  vertrauter;  die  abstrakte  Welt  der 
Töne  und  Rhythmen,  Farben  und  Linien  wirkt  abgeklärter,  zeitloser, 
scheint  befreit  von  den  Zufälligkeiten  des  bloß  Menschlichen. 

Mit  solchen  Gegensätzen,  wie  sie  zwischen  dem  Bewegungs- 
charakter der  Linie  und  dem  Eindruck  tatsächlicher  Bewegung,  zwi- 
schen der  Stimmungslandschaft  und  der  Stimmung  eines  konkreten 
Menschen  liegen,  haben  wir  es  bei  dem  Gegensatz  zwischen  der 
Fläche  und  der  auf  ihr  dargestellten  Welt  zu  tun.  Es  sind  zwei 
Aggregatzustände  des  Seelischen,  zwischen  denen  wir  uns  bewegen; 
das  fließende  Leben  der  Fläche  verdichtet  sich  zu  den  begrenzten 
individuellen  Gestalten  der  Körperwelt;  die  Körperwelt  wiederum  löst 
sich  auf  in  das  Alleben  der  Fläche.  Die  erste  dieser  Funktionen  ist 
es,  die  als  künstlerische  Darstellung  erscheint;  auf  die  zweite,  ent- 
sprechende baut  Wilhelm  Worringer  seine  Theorie  von  »Abstraktion 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  I35 

und  Einfühlung«  auf.  Worringer  erfaßt  den  Gegensatz  zwischen 
Naturnähe  und  Stilisierung  in  seiner  ganzen  Schärfe  und  metaphysi- 
schen Bedeutsamkeit;  aber  für  ihn  ist  Kunst  zu  einseitig  die  Über- 
windung des  Natürlichen  durch  den  Stil,  und  deshalb  entziehen  sich 
weite  Gebiete  des  Kunstschaffens  seinem  Verständnis.  Erst  aus  ihrer 
Vereinigung  und  gegenseitiger  Beziehung  sind  beide  Prinzipien,  Dar- 
stellung und  Stilisierung,  ganz  zu  begreifen. 

Aus  dem  Vergleich  der  beiden  hier  entgegengesetzten  Daseins- 
formen, der  darstellenden  Fläche  und  der  dargestellten  Körperlichkeit 
muß  nun  der  Unterschied  von  Illusion  und  Wirklichkeit,  wie  er  in  der 
Reflexion  erscheint  und  wie  ihn  Konrad  Lange  in  das  Kunsterleben 
hineinbringt,  ganz  fortbleiben.  Vom  außerästhetischen  Standpunkt  be- 
trachtet, wäre  auch  die  Welt  der  Fläche  nur  Schein.  Farben  und 
Linien  werden  von  uns  unmittelbar  als  Kräfte  aufgefaßt,  und  das  ist 
eine  ebenso  entscheidende  Umsetzung  des  Gegebenen,  wie  seine 
Deutung  als  räumlich-körperliche  Welt.  Will  man  den  Begriff  der 
Wirklichkeit  in  diesem  Zusammenhange  gebrauchen,  so  muß  man  ihn 
umgekehrt  wie  in  der  außerästhetischen  Betrachtung  gerade  auf  die 
dargestellte  Welt  anwenden.  Denn  Körper,  Raum,  Bewegung,  Stoff, 
Individualität  empfinden  wir  als  wirklich,  gegenüber  Abstraktionen 
aller  Art,  mögen  sie  begrifflich  sein,  wie  im  Denken,  oder  anschau- 
lich wie  in  rein  formalen  Gebilden.  Und  der  Prozeß  der  Darstellung 
ist  uns  ein  Prozeß  der  Verwirklichung. 

Viel  weiter  kommt  man,  wenn  man  beide  Seiten  der  behandelten  Be- 
ziehung als  Form  und  Inhalt  auffaßt.  Nur  muß  man  sich  klar  werden, 
daß  es  sich  dabei  um  eine  dreifache  Stufung  handelt.  Schon  inner- 
halb des  Dargestellten  scheiden  sich  Inhalt  und  Erscheinung.  Im  Ge- 
sicht eines  Menschen  gewinnt  sein  Charakter  Form.  Wird  dieses  Ge- 
sicht gemalt,  so  tritt  die  Erscheinung  auf  der  Fläche  in  ähnliche  Be- 
ziehung- zur  dargestellten  Raumform,  wie  die  Raumform  zu  dem  Inneren 
des  Menschen.  Wenn  der  Regisseur  eine  Gruppe  stellt,  so  fassen  wir 
ihre  räumliche  Erscheinung  getrennt  von  der  dargestellten  Handlung 
auf.  Wird  die  Gruppe  nun  gezeichnet,  so  bilden  die  Linien  der  Zeich- 
nung wiederum  eine  Welt  für  sich,  abgelöst  von  der  räumlichen  Ge- 
stalt der  Gruppe.  Aus  der  Flächenform  erkennen  wir  die  Raumform, 
aus  der  Raumform  die  Handlung.  Alle  drei  Faktoren  haben  ihre  eigenen 
Wirkungsmöglichkeiten  und  gehen  untereinander  die  mannigfaltigsten 
Beziehungen  und  Verschmelzungen  ein,  aus  deren  Gesamtheit  erst 
das  Kunstwerk  entsteht.  In  der  vorliegenden  Arbeit  wird  nun  eine 
dieser  Beziehungen  herausgelöst,  und  zwar  die  für  die  Malerei  beson- 
ders kennzeichnende.  In  der  Dichtkunst  ruht  der  Ton  vor  allem  auf 
dem  gestalteten  Inhalt;  die  Form,  äußere  und  innere,  hat  dienende 


136  KURT  THEODOR. 


Funktion.  In  der  Musik  gibt  es  wohl  auch  Bedeutungselemente,  aber 
die  Aufmerksamkeit  richtet  sich  hier  hauptsächlich  auf  die  formalen 
Faktoren.  In  der  Malerei  sind  beide  Seiten  des  Kunstwerks  im  Oleich- 
gewicht, und  die  Aufmerksamkeit  liegt  mehr  als  in  den  anderen  Künsten 
auf  dem  Verhältnis  beider  Faktoren,  auf  der  Entstehung  der  einen  Welt 
aus  der  anderen,  mit  anderen  Worten  auf  dem  Prozeß  der  Darstellung. 
(Es  ist  wohl  kaum  nötig,  hinzuzufügen,  daß  hiermit  keine  festen  Schran- 
ken aufgerichtet  werden  sollen.  Alle  Elemente  der  Kunst  sind  in  jeder 
Kunst  enthalten,  und  jedes  Kunstwerk  erlaubt  verschiedene  Einstellung 
des  Betrachters.  Aber  die  Akzente  sind  doch  verschoben,  und  zwar 
im  angegebenen  Sinne.) 

III. 

Drei  verschiedene  Formen  der  Entstehung  des  Gegenstandes  auf 
der  Fläche  haben  wir  zu  unterscheiden.  (Unter  »Gegenstand«  ist  im 
folgenden  stets  der  dargestellte  Wirklichkeitsausschnitt  im  Gegensatz 
zur  darstellenden  Fläche  verstanden.)  Die  erste  Form  ist  unser  Wissen 
von  der  Bedeutung.  Überall,  wo  wir  wahrnehmend  tätig  sind, 
suchen  wir  den  gegebenen  optischen  Eindruck  zu  verstehen,  d.  h.  wir 
ergänzen  unwillkürlich  das  tatsächlich  Wahrgenommene  aus  unseren 
Erfahrungen  soweit,  wie  es  für  die  Auffassung  des  Gegenstandes  not- 
wendig ist.  Diese  Ergänzung  kann  ganz  unanschaulich  —  bloß  ge- 
wußt —  bleiben;  sie  bezieht  sich  vielfach  auf  Dinge,  die  der  An- 
schauung gar  nicht  zugänglich  sind.  So  fasse  ich  jede  Wirkung  als 
Folge  einer  Ursache  auf;  ich  brauche  durchaus  nicht  an  eine  be- 
stimmte Ursache  zu  denken,  aber  diese  allgemeine  Ergänzung  ordnet 
die  Tatsache  in  meine  Erfahrung  ein.  Sehe  ich  einen  Gegenstand  von 
vorn,  so  ergänze  ich  mir  notwendig  die  abgewandte  Seite  dazu,  ohne 
mir  zwar  im  geringsten  eine  konkrete  Vorstellung  von  ihr  zu  machen ; 
immerhin,  diese  stillschweigende  Voraussetzung  macht  mir  erst  das 
Gesehene  verständlich.  Auch  was  in  unserem  Gesichtsfelde  liegt,  wird 
nur  zum  Teil  wirklich  wahrgenommen,  zum  anderen  Teil  durch  unser 
Wissen  ergänzt;  das  ist  besonders  auffallend,  wenn  wir  in  der  Däm- 
merung in  den  verschwimmenden  Schatten  bestimmte  Gegenstände 
erkennen. 

Diese  Gewohnheit,  sich  das  Wahrgenommene  zurechtzulegen, 
spielt  auch  in  der  bildenden  Kunst  eine  Rolle.  Wenn  ich  einen 
Schattenriß  sehe,  verstehe  ich  ihn  als  Körper,  aber  ich  stelle  mir  die 
körperliche  Rundung  nicht  ausdrücklich  vor,  sie  wirkt  auch  nicht  auf 
mich,  ich  weiß  nur,  daß  sie  zu  dem  dargestellten  Gegenstand  gehört, 
und  daß  ihre  Unterdrückung  keine  Leugnung  ihres  Vorhandenseins 
bedeutet.    Ebenso   ergänze   ich   zu  jeder   einfarbigen  Zeichnung  die 


I 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE,  137 

Farbe,  aber  nicht  so,  daß  ich  bestimmte  Farben  für  das  Gesehene 
einsetze  —  damit  würde  ich  die  Wirkung  zerstören  ')  — ;  es  muß  bloß 
ein  Wissen  um  die  natürliche  Farbe  vorhanden  sein,  und  auch  dieser 
Voraussetzung  brauche  ich  mir  nicht  ausdrücklich  bewußt  zu  werden. 
In  solcher  Art  werden  die  primitivsten  Andeutungen  des  Zeichners  vom 
Betrachter  unwillkürlich  ergänzt,  es  wird  verstanden,  welcher  Gegen- 
stand gemeint  ist. 

Von  dieser  Deutung  des  Wahrnehmungsinhalts  als  Gegenstand 
ist  die  unmittelbare  Anschauung  des  Gegenstandes  scharf  zu 
scheiden.  Sehe  ich  ein  Zimmer  oder  eine  Landschaft  —  sei  es  auch 
nur  mit  einem  Auge  und  ohne  meinen  Standpunkt  zu  ändern  — ,  so 
nehme  ich  Raum  und  Körper,  Stoffe  und  Beleuchtung  direkt  wahr. 
Für  die  psychologische  Analyse  mag  auch  hier  die  Ausdeutung  eines 
Netzhautbildes  vorliegen,  phänomenologisch  genommen  sehe  ich  die 
Dinge  unmittelbar.  Auch  verdrängt  die  Anschauung  des  Raumes  die 
ursprüngliche  Erscheinung  mehr  oder  weniger  vollkommen  aus  meinem 
Bewußtsein,  so  daß  nur  durch  Reflexion  oder  besondere  Konzentration 
der  optische  Tatbestand  von  den  Gegenständen  losgelöst  werden  kann. 
Diese  direkte  Anschauung  findet  sich  gleichfalls  in  der  Malerei,  am  aus- 
geprägtesten in  den  rein  illusionistischen  Bildern,  von  denen  zu  Anfang 
die  Rede  war,  aber  in  allerhand  Abstufungen  bildet  sie  auch  einen 
wichtigen  Bestandteil  in  den  Werken  der  echten  Kunst. 

Neben  dieser  unmittelbaren  Anschaulichkeit,  die  wir  die  exten- 
sive nennen  wollen,  findet  sich  in  der  Kunst  noch  eine  intensive. 
Ihr  Wesen  erfassen  wir  am  besten  in  der  Wortkunst.  Wenn  in  der 
Dichtung  etwas  mit  vollkommener  Anschaulichkeit  geschildert  wird, 
so  heißt  das  nicht,  daß  wir  das  Geschilderte  auch  nur  mit  einiger 
Genauigkeit  vor  Augen  haben,  sondern  daß  der  ihm  entsprechende 
Gefühlswert  ganz  lebendig  in  uns  wird*).  Zu  dieser  gefühlsmäßigen 
Erfassung  der  Gegenstände  mögen  sich  Bruchstücke  anschaulicher 
Vorstellungen  gesellen,  es  kommt  aber  auf  sie  nicht  an.  Wollte 
jemand  einen  anschaulichen  Vergleich  durch  eine  Zeichnung  der  ver- 
glichenen Dinge  illustrieren,  so  würde  er  die  Wirkung  nicht  fördern, 
sondern  zerstören. 

Auch  in  der  bildenden  Kunst  spielt  die  intensive  Anschaulichkeit 
eine  wichtige  Rolle,  und  nicht  nur,  wo  es  sich  um  seelische  Eindrücke 
handelt.  Auch  Raumwerte  u.  dgl.  können  in  dieser  Weise  rein  ge- 
fühlsmäßig für  uns  erzeugt  werden.    Sie  haben  dann  zwar  die  Ten- 


')  Vgl.  Broder  Christiansen,  Philosophie  der  Kunst,  Hanau  1909. 

')  Über  Vertretung  von  Vorstellungen  durch  Gefühle  vgl.  Wundt,  Völkerpsy- 


chologie Bd.  II. 


138  KURT  THEODOR. 


denz,  sich  in  extensive  Anschauung  umzusetzen,  tun  dies  aber  nur, 
soweit  die  sonstige  Beschaffenheit  des  Bildes  sich  solcher  Verwirk- 
lichung nicht  widersetzt. 

Das  Verhältnis  dieser  drei  Daseinsformen  des  Gegenständlichen 
zur  Flächenform  und  ihre  Bedeutung  für  die  künstlerische  Gestaltung 
ist  nun  verschieden.  Positive  Bedeutung  für  die  Wirkung  des  Kunst- 
werks hat  nur  seine  Anschaulichkeit,  extensive  und  intensive.  Das 
bloße  Wissen  von  der  Bedeutung  spielt  eine  ähnliche  Rolle,  wie  die 
Vorzeichnung,  die  der  Maler  mit  Kohle  auf  seiner  Leinwand  ent- 
wirft: Sie  soll  möglichst  mit  Anschauung  ausgefüllt  und  überdeckt 
werden,  und,  soweit  sie  unausgefüllt  bleibt,  das  Verständnis  des  Vor- 
handenen ermöglichen.  Oder  man  kann  sie  mit  dem  dunklen  Teil  des 
Mondes  vergleichen,  der  die  leuchtende  Sichel  zum  vollen  Kreise  er- 
gänzt, ohne  ihre  Leuchtkraft  irgendwie  zu  beeinflussen.  So  ist  auch 
die  Wirkung  des  Bildes  unabhängig  von  dem,  was  wir  zu  dem  Ge- 
gebenen aus  bloßem  Wissen  ergänzen,  aber  es  wird  verhindert,  daß 
uns  das  Vorhandene  als  fragmentarisch  erscheint. 

Nun  kann  sich  allerdings  dieses  Bekanntheitsgefühl  in  allmählichen 
Übergängen  zur  anschaulichen  Erfassung  des  Gegenstandes  steigern. 
Diese  unmittelbare  Anschauung  des  Biidinhaltes  verwirklicht  sich  in 
einer  Umordnung  der  gegebenen  optischen  Elemente.  Nehmen  wir 
als  Beispiel  die  Strichzeichnung  einer  Landschaft,  etwa  eine  Skizze 
von  Liebermann.  Wir  haben  da  zunächst  ein  über  die  Fläche  ver- 
teiltes Gespinst  nebeneinander  liegender  Striche.  Folgen  wir  der  räum- 
lichen Suggestion,  so  liegen  die  gleichen  Striche  hintereinander  ge- 
schichtet. Linien,  die  sich  auf  der  Fläche  berühren,  sind  im  Raum 
durch  weite  Entfernungen  getrennt,  und  solche,  die  auf  der  Fläche 
weit  auseinander  liegen,  können  als  Teile  eines  im  Vordergrund  be- 
findlichen Gegenstandes  eng  zusammengehören.  Bei  Verkürzungen 
werden  die  gleichen  Linien  als  lang  oder  kurz  gewertet,  je  nachdem 
ob  unser  Auge  ihnen  in  den  Raum  folgt  oder  sie  in  das  Flächen- 
muster einordnet. 

In  ähnlicher  Weise  verschiebt  sich  das  Verhältnis  der  Farben  zu- 
einander. Farben,  die  in  ihrer  sinnlichen  Beschaffenheit  grundver- 
schieden sind,  werden  gleich  gesetzt,  indem  sie  als  Abwandlungen 
einer  Lokalfarbe  durch  die  Luftperspektive  aufgefaßt  werden;  um- 
gekehrt werden  gleiche  Farben  als  verschieden  empfunden,  wenn  sie 
in  verschiedenen  Raumschichten  vorkommen.  Entsprechend  täuscht 
uns  das  Wissen  von  der  gleichen  Lokalfarbe  über  die  Farbenunter- 
schiede zwischen  belichteten  und  beschatteten  Stellen  hinweg,  und 
Gleichheit  von  Farbentönen  kommt  uns  nicht  zum  Bewußtsein,  wenn 
ihnen  verschiedene  Lichtwerte  zugrunde  liegen.    Das  sind  nur  Bei- 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  139 

spiele,  die  das  Prinzip  erläutern  sollen.  Es  ließe  sich  leicht  zeigen, 
daß  auch  die  Auffassung  von  Körperlichkeit  und  Material  auf  eine 
besondere  Anordnung  der  optischen  Elemente  zurückgeht  oder  wenig- 
stens notwendig  mit  ihr  verbunden  ist. 

Auf  solcher  Umordnung  beruht  die  extensive  Anschaulichkeit.  Sie 
hat  im  Bilde  wie  in  der  Natur  das  Bestreben,  die  Flächenordnung  aus 
unserem  Bewußtsein  zu  verdrängen  und  ihre  Wirkung  zu  übertäuben. 
Dies  gelingt  ihr  aber  nicht  immer  in  gleichem  Maße,  weil  die  sug- 
gestive Kraft  der  Raumanschauung  und  die  selbstbehauptende  Kraft 
der  flächenhaften  Erscheinungsform  in  ihrem  Verhältnis  wechseln,  in 
der  Natur  und  noch  mehr  in  der  Kunst.  Wie  die  raumbildende  Kraft 
einer  Darstellung  gesteigert  wird,  darüber  gibt  es  verschiedene  Unter- 
suchungen, die  hier  vorausgesetzt  werden  können.  Unbeschadet  dieser 
Tendenz  kann  sich  die  Fläche  ihrerseits  durch  mancherlei  Mittel  zu 
behaupten  suchen,  so  daß  ein  Kampf  um  unsere  Aufmerksamkeit  ent- 
steht, eine  starke  Spannung,  die  zu  einer  wichtigen  Quelle  künstleri- 
scher Wirkung  wird.  Je  klarer  die  Form  der  einzelnen  Striche  und 
Farbenflecke  ist,  je  wohlgefälliger  der  Zusammenklang  der  Linien  und 
Farben  und  je  leichter  faßbar  das  ganze  Flächenmuster,  desto  mehr 
drängt  sich  die  Fläche  der  Aufmerksamkeit  auf.  Je  weniger  sich  da- 
bei die  Flächenelemente  im  Umriß  und  Verlauf  mit  den  Gegenständen 
decken,  die  sie  darstellen,  desto  mehr  wächst  die  Spannung  zwischen 
Fläche  und  Gegenstand.  Eine  lehrreiche,  wenn  auch  etwas  veräußer- 
lichte Anwendung  dieses  Stilmittels  findet  man  auf  neueren  Plakaten. 
Man  denke  z.  B.  an  die  Art,  wie  dort  Glanzlichter  und  Schatten  zu 
selbständigen,  festumrissenen  Teilen  der  Fläche  gemacht  werden  und 
dabei  doch  wegen  des  Widersinnes  dieser  Abgrenzungen  immer  wieder 
zur  Gegenstandsynthese  treiben. 

Besonders  herauszuheben  sind  solche  Bilder,  in  denen  raum- 
anregende und  flächenbetonende  Faktoren  nicht  nur  äußerlich  ver- 
einigt sind,  sondern  wo  ein  einheitliches  Darstellungsmittel  zugleich 
nach  beiden  Seiten  wirkt.  Hierher  gehört  vor  allem  die  Skizzen- 
technik. In  der  Skizze  wird  nicht  alles  dargestellt,  was  zum  beab- 
sichtigten Wirklichkeitseindruck  gehört,  es  werden  nur  einzelne  Seiten 
des  Gegenständlichen  angedeutet,  solche  jedoch,  die  unsere  Auffassungs- 
tätigkeit besonders  eindringlich  zur  Ergänzung  anregen.  Die  spar- 
sameren Darstellungsmittel  treten  deutlicher  hervor  und  schließen  sich 
leichter  als  Flächenmuster  zusammen.  Nicht  etwa  jede  Vereinfachung 
der  Darstellung  hat  solche  Wirkung.  Eine  reine  Umrißzeichnung  zum 
Beispiel  vereinfacht  sicherlich  sehr  stark,  die  Konturen  verschmelzen 
aber  für  den  Eindruck  so  fest  mit  dem  Gegenstande,  daß  sie  uns  als 
Flächenelemente  gar  nicht  zum  Bewußtsein  kommen.    \n  solchem  Falle 


140  KURT  THEODOR. 


fehlt  die  Spannung;  unsere  Anschauung  ist  vollkommen  im  Gegebenen 
befriedigt.  Ist  jedoch  der  Umriß  teilweise  unterbrochen,  so  sind  wir 
gezwungen,  die  Lücke  in  unserer  Phantasie  zu  ergänzen.  Solche  Unter- 
brechungen des  natürlichen  Zusammenhanges  lösen  einerseits  die  Linie 
als  solche  vom  Gegenstand  los,  machen  anderseits  den  Gegenstands- 
eindruck lebendiger,  weil  sie  uns  zur  Mitarbeit  aufrufen. 

Ähnlicher  Natur  ist  die  Wirkung  der  Darstellungsweise,  welche 
man  die  Technik  der  ungesättigten  Silhouette  nennen  könnte.  Eine 
Silhouette,  die  das  Profil  der  Gegenstände  zeigt,  kann  mit  ihrem  be- 
wegten Umriß  sehr  lebendig  wirken,  treibt  aber  unsere  Auffassung 
nicht  über  die  Fläche  hinaus,  weil  sie  aus  der  Fläche  ganz  verständ- 
lich ist.  Eine  Silhouette,  die  Menschen  oder  Tiere  von  vorn  zeigt, 
hat  einen  viel  geschlosseneren  Umriß  und  wird  viel  stärker  als  Stück 
der  Fläche  empfunden,  anderseits  aber  bleibt  sie  unverständlich,  wenn 
wir  nicht  die  räumliche  Gestalt  zur  Erklärung  heranziehen.  Auf  diese 
Weise  werden  wir  zu  gleicher  Zeit  auf  der  Fläche  festgehalten  und  in 
den  Raum  getrieben.  Ähnliche  Prinzipien  verwenden  nun  manche  Maler 
in  ihrer  Bildgestaltung,  der  ältere  Pieter  Brueghel  z.  B.,  am  auffallend- 
sten jedoch  Michelangelo.  Michelangelos  Verkürzungen  werden  sehr 
bewundert,  aber  in  ihrer  Eigenart  kaum  richtig  erkannt.  Man  vergleiche 
seine  Deckengemälde  in  der  Sixtina  daraufhin  mit  Verkürzungen  Ra- 
phaels,  etwa  die  weisende  Hand  der  erythräischen  Sibylle  mit  der  des 
Sixtus  auf  dem  Dresdener  Gemälde.  Bei  Raphael  kann  der  Blick  auf 
der  Fläche  nicht  haften  und  wird  sofort  in  die  Tiefe  gezogen;  bei 
Michelangelo  ist  ein  einfacher  Flächenumriß  vorhanden,  der  unser 
Auge  anzieht,  und  auf  dem  wir  doch  nicht  verweilen  können,  weil 
sich  seine  Form  erst  als  dreidimensionaler  Körper  erklärt.  (Dies  Ver- 
hältnis zwischen  Raum  und  Fläche  in  Michelangelos  Malerei  entspricht 
dem  Verfahren  in  seinen  reifen  plastischen  Werken,  bei  denen  er  die 
stärksten  Gegensätze  in  der  Bewegung  der  Glieder  innerhalb  einer 
einfachen  stereometrischen  Figur  entwickelt;  eine  Methode,  der  er 
selbst  in  der  bekannten  Regel  Ausdruck  gibt,  man  müsse  eine  gute 
Statue  einen  Berg  hinabrollen  können,  ohne  daß  ein  Glied  abbricht. 
Es  läßt  sich  daraus  schließen,  daß  Michelangelo  sich  seiner  künst- 
lerischen Absichten  auch  in  der  Malerei  bewußt  gewesen  ist.) 

Ist  nun  auf  die  eine  oder  andere  Weise  ein  Gleichgewicht  der 
Kräfte  zwischen  Fläche  und  Raum  hergestellt,  so  kommt  keines  von 
beiden  ganz  uneingeschränkt  zur  Geltung.  Unsere  Aufmerksamkeit, 
nach  zwei  Seiten  gezogen,  wird  in  der  Mitte  festgehalten,  die  Um- 
ordnung  vollzieht  sich  nur  halb:  was  wir  sehen,  ist  ein  Übergangs- 
stadium zwischen  Flächenhaftigkeit  und  Räumlichkeit;  reine  Fläche  wie 
reine  Raumform   liegen  gewissermaßen  nur  an  beiden   Rändern   des 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  141 

Blickfeldes.  Unsere  Aufmerksamkeit  ist  dabei  nicht  starr  festgelegt, 
sie  gleitet,  den  geringsten  Anstößen  folgend,  bald  nach  der  einen,  bald 
nach  der  anderen  Seite,  ohne  doch  bis  zu  einer  absoluten  Auffassung 
der  Fläche  oder  des  Raumes  zu  gelangen.  Man  darf  bei  dieser  Pendel- 
bewegung aber  nicht  an  ein  plötzliches  Springen  von  einer  Auffassung 
zur  anderen  denken,  wie  wir  es  von  pseudoskopischen  Zeichnungen 
her  kennen.  Das  müßte  die  Einheit  der  Anschauung  zerreißen  und 
jede  künstlerische  Wirkung  unterbinden.  Es  handelt  sich  vielmehr  um 
allmähliche  Verschiebungen  der  Aufmerksamkeit,  den  Augenbewegungen 
zu  vergleichen,  mit  denen  wir  das  Bild  in  seiner  Flächenausdehnung 
durchlaufen,  um  immer  wieder  zur  Mitte  zurückzukehren. 

Die  Behauptung,  daß  wir  mit  unserer  Aufmerksamkeit  ein  Mitt- 
leres zwischen  Fläche  und  Raum  erfassen,  wird  vielleicht  befremden. 
Denn  weil  ein  solcher  Ausgleich  nur  für  das  hingegebene  Schauen 
existiert  und  bei  nüchterner  Betrachtung  in  seine  Teile  auseinander- 
fällt, läßt  er  sich  schwer  in  der  Reflexion  fassen.  Welche  Rolle  solche 
Ausgleichungen  in  unserer  Apperzeption  spielen,  zeigt  schon  unser 
Verhalten  beim  praktischen  Sehen.  Wenn  wir  einen  realen  Tiefen- 
raum betrachten,  so  müssen  wir  im  Unterbewußtsein  ganz  klar  so- 
wohl die  tatsächliche  wie  die  perspektivisch  reduzierte  Größe  der 
entfernten  Gegenstände  auffassen;  denn  nur  indem  wir  beide  mit- 
einander vergleichen,  gelangen  wir  zu  einer  Schätzung  der  Entfer- 
nungen. Zum  Bewußtsein  kommt  uns  aber  weder  das  eine  noch  das 
andere  ganz,  sondern  ein  Kompromiß  dazwischen.  Der  naive  Mensch 
sieht  die  Linien  nach  hinten  zusammenlaufen  und  nimmt  eine  starke 
Verkleinerung  der  Gegenstände  nach  der  Ferne  zu  wahr,  aber  wie 
stark  diese  Verkleinerungen  sind,  ahnt  er  nicht,  und  er  ist  sehr  er- 
staunt, wenn  er  merkt,  ein  wie  winziger  Gegenstand  ihm  den  groß- 
mächtigen Berg  des  Hintergrundes  verdecken  kann.  Entsprechend 
sehe  ich  bei  der  Luftperspektive  weder  die  tatsächlich  erscheinenden 
Farbentöne  noch  die  mir  bekannten  Lokalfarben,  sondern  ein  Mittel- 
ding zwischen  beiden,  und  doch  muß  im  Unterbewußtsein  ein  jedes 
für  sich  zur  Geltung  kommen,  denn  nur  so  gelange  ich  zu  einer 
bestimmten  Vorstellung  von  der  Entfernung.  Hier  finden  wir  also 
schon  einen  solchen  Ausgleich  entgegengesetzter  Auffassungsweisen 
in  unserem  Bewußtsein.  Nur  ist  dieser  Ausgleich  durch  Gewohnheit 
erstarrt;  es  fehlt  das  freie  Spiel  der  Kräfte,  auf  dem  die  lebendige 
Wirkung  der  Kunst  beruht. 

Der  beschriebene  Widerstreit  zwischen  Fläche  und  Gegenstand 
ist  ein  Kampf  um  unsere  Aufmerksamkeit  und  entscheidet  sich  ganz 
unabhängig  von  unserer  inneren  Anteilnahme.  Diese  Vorgänge  er- 
scheinen vielleicht  manchem  als  zu   mechanisch,  um  für  die  Kunst- 


142  KURT  THEODOR. 


Wirkung  ausschlaggebend  zu  sein.  Dem  gegenüber  sei  darauf  hin- 
gewiesen, daß  auch  die  sogenannten  »formalen«  Wirkungen  auf  physio- 
logischen Verhältnissen  und  den  Gesetzen  der  Apperzeption  beruhen 
und  doch  als  Erlebniswerte  empfunden  werden.  Ganz  analog  werden 
die  hier  beschriebenen  Spannungen  zwischen  zwei  Apperzeptionsweisen 
von  uns  verinnerlicht  und  erhalten  seelische,  sogar  metaphysische  Fär- 
bung. Daß  sie  nicht  unserer  Subjektivität  ihre  Entstehung  zu  ver- 
danken scheinen,  sondern  die  gleiche  Objektivität  besitzen,  die  wir 
dem  Verlauf  einer  Linie,  der  Farbe  eines  Gegenstandes  zuschreiben, 
gibt  ihnen  den  Charakter  des  Allgemeingültigen,  unserer  Willkür  Ent- 
zogenen, der  zum  Wesen  der  Kunstwirkung  gehört.  (Und  tatsächlich 
sind  die  Gesetze  unserer  Auffassungstätigkeit  allgemeiner  und  not- 
wendiger, als  die  des  Phantasieablaufs  und  der  Gefühlsreaktion,  so 
daß  auf  jenen  eine  objektivere  Gestaltung  fußen  kann.) 

Die  Gefühlswerte,  in  die  wir  die  Spannung  zwischen  Flächen- 
form und  Gegenstand  umsetzen,  lassen  sich  z.  B.  bei  einer  Skizze  als 
Erlebnis  eines  ewigen  Werdens  der  Dinge  umschreiben.  Wir  sehen 
ein  Durcheinander  von  Strichen,  und  indem  wir  es  festzuhalten  suchen, 
löst  sich  Körper  und  Raum  stets  von  neuem  mit  lebendigem  Impuls 
davon  ab.  Betrachten  wir  in  einer  Rembrandtschen  Radierung  Einzel- 
heiten, etwa  den  Hund  zu  Füßen  des  blinden  Tobias,  oder  das  Bahr- 
tuch auf  der  Kreuzabnahme,  so  steigt  aus  dem  Gewebe  der  Linien 
immer  wieder  die  Form  wie  aus  einem  Urgrund  hervor.  Hier  be- 
hauptet sich  das  Gefühl  der  Existenz  neben  dem  Erlebnis  des  Wer- 
dens. Es  ist,  als  sähen  wir  dem  Strahl  eines  Springbrunnens  zu:  wir 
verfolgen  das  Wasser,  wie  es  aus  der  Erde  quillt,  hoch  emporsteigt 
und  niedersinkt,  und  doch  bleibt  in  all  dem  Wechsel  die  Form  des 
Strahles  erhalten,  der  sich  aus  einer  unerschöpflichen  Quelle  in  jedem 
Augenblick  neu  ergänzt. 

Man  darf  also  die  extensive  Anschaulichkeit  in  ihrer  seelischen 
Bedeutung  nicht  unterschätzen.  Allerdings  verdanken  wir  der  inten- 
siven Anschaulichkeit  noch  eine  Steigerung  und  Verinnerlichung  der 
beschriebenen  Wirkungen. 

Die  intensive  Anschauung  geht  zurück  auf  die  Wirkung,  welche 
die  Flächenform  abgesehen  von  ihrer  gegenständlichen  Bedeutung  ent- 
faltet, d.  h.  auf  ihre  formalen  Eigenschaften.  Deren  Mitwirkung  er- 
schöpft sich  nicht,  wie  meist  angenommen  wird,  in  einer  Unterstrei- 
chung und  Färbung  des  Stimmungsgehaltes  der  Darstellung,  vielmehr 
isi  sie  entscheidend  für  die  Synthese  eines  objektiven  Gegenstandes. 
Sie  nimmt  also  nicht  die  Stelle  der  begleitenden  Musik  in  einem  Melo- 
drama ein,  sondern  hat  etwa  die  Funktion  der  Vergleiche  und  Meta- 
phern in  einer  poetischen  Schilderung;  sie  wird  am  besten  geradezu 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  143 


als  metaphorische  Wirkung  bezeichnet.  Eine  ausführliche  Untersuchung 
über  die  Natur  der  Metaphern  ginge  über  den  Rahmen  dieser  Arbeit 
hinaus;  nur  einige  für  unseren  Zweck  notwendige  Andeutungen  können 
gegeben  werden.  Vergleiche  bauen  sich  auf  der  gefühlsmäßigen  und 
funktionellen  Verwandtschaft  auf,  durch  welche  Bewußtseinsinhalte 
aller  Art:  Sinneseindrücke,  Vorstellungen,  Gedanken,  Willensimpulse 
und  Stimmungen  ganz  unabhängig  von  ihrer  begrifflichen  Zusammen- 
gehörigkeit untereinander  verbunden  sind  ').  Der  Eindruck  und  mittel- 
bar die  Vorstellungsintensität  dieser  Inhalte  wird  verstärkt  durch 
einen  anderen  in  der  Oefühlsfunktion  gleichartigen.  Man  darf  sich 
aber  den  Vorgang  nicht  so  denken,  daß  stets  eine  gefühlschwache 
Vorstellung  von  einer  gefühlskräftigeren  ins  Schlepptau  genommen 
wird.  Die  Wirkung  entzündet  sich  erst  an  der  Beziehung  des  Bildes 
zu  dem  verglichenen  Gegenstand.  Die  Vorstellungen  zweier  disparater 
Dinge,  die  kaum  eine  sachliche  Bestimmung,  wohl  aber  Gefühlswerte 
gemeinsam  haben,  werden  in  unserem  Bewußtsein  gewissermaßen  auf 
die  gleiche  Projektionsfläche  geworfen.  Bei  dieser  Verschmelzung 
löschen  sich  die  unterscheidenden  sachlichen  Merkmale  gegenseitig 
aus,  während  der  gemeinsame  Gefühlscharakter  sich  in  doppelter 
Stärke  aufdrängt.  So  wird  eine  Wirkungsmöglichkeit,  die  potentiell  im 
Gegenstande  liegt,  durch  das  Bild  frei  gemacht.  Daraus  folgt,  daß 
die  Anschaulichkeit  oder  Gefühlskraft  des  Bildes  an  und  für  sich 
sehr  gering  sein  kann;  ja  gerade  das  Mißverhähnis  zwischen  der  Be- 
deutung des  Bildes  und  seiner  Wirkung  verstärkt  diese  und  fügt  ihr 
den  Gefühlston  des  Irrationalen  hinzu.  Und  ferner  folgt  daraus,  daß 
in  verschiedenen  Zusammenhängen  das  gleiche  Bild  ganz  verschieden 
wirken  kann. 

Von  ausgeführten  Gleichnissen  und  von  Metaphern  unterscheidet 
sich  nun  die  Wirkung  des  Rhythmus  und  Klanges  der  Worte,  indem 
nicht  Vorstellungen,  sondern  Sinneseindrücke  als  zweites  Glied  des 
Vergleichs  herangezogen  werden.  Der  eigene  Wert  dieser  Sinnesein- 
drücke ist  verhältnismäßig  schwach,  jedoch  in  seiner  Qualität  ziemlich 
fest  bestimmt;  in  ihrer  Funktion  entsprechen  sie  der  Metapher*):  die 
Vorstellungen,  mit  denen  die  Sinneseindrücke  verschmelzen,  werden 
eindeutiger  und  damit  in  ihrer  Wirkung  unmittelbarer.  Wichtig  für 
unseren  Zweck  ist  die  Betrachtung  der  »Wortmalerei«,  bei  der  ver- 
gleichendes und  verglichenes  Element  aus  demselben  Sinnesgebiet 
stammen.  Der  Geräuschwert  des  Wortes  »Donnerrollen»  ist  verschwin- 
dend klein  gegen  das  Geräusch,  das  damit  gemeint  ist ;  trotzdem  dient  der 


')  Vgl.  Wandt,  außerdem  Broder  Christiansen,  a.  a.  O. 
■■')  Vgl.  Wundt,  Völkerpsychologie  Bd.  1. 


144  KURT  THEODOR. 


Wortklang  dazu,  den  Donner  anschaulich  zu  machen.  Auch  hier  wird 
durch  die  Verschmelzung  von  Klang  und  Begriff  die  Richtung  unserer 
Phantasie  gelenkt  und  die  latente  Kraft  der  Vorstellung  entbunden. 

Den  Klängen  und  Rhythmen  der  Wortkunst  entsprechen  in  der 
Malerei  die  formalen  und  technischen  Kräfte  der  Flächenelemente.  Auch 
ihre  darstellende  Kraft  beruht  auf  dem  Vergleich  und  wird  wirksam 
durch  die  Verschmelzung  mit  Oegenstandsvorstellungen,  sie  ist  also 
einerseits  abhängig  von  der  eigenen  Qualität,  anderseits  von  der  Be- 
schaffenheit des  dargestellten  Gegenstandes.  Ein  Pinselstrich,  dem 
wir  die  Energie  ansehen,  mit  der  er  hingesetzt  ist,  verleiht  dem  Mund, 
den  er  andeutet,  energischen  Ausdruck.  Einer  Bewegung  würde  er 
Kraft  geben,  einem  Gewebe  Festigkeit  usw.,  je  nachdem,  welche  Seite 
des  Vergleichs  der  Gegenstand  hervorlockt.  Ebenso  wirkt  die  funk- 
tionelle Kraft  von  Linien,  Fleckenformen,  Farbenqualitäten,  Propor- 
tionen, oft  auch  statt  der  eigenen  Kraft  der  Erscheinungsform  ihr 
Gegensatz  zu  der  geläufigen  Vorstellung  (Christiansens  »Differenz- 
qualitäten«). Auch  was  der  extensiven  Anschauung  zugänglich  wäre, 
kann  indirekt,  d.  h.  metaphorisch  dargestellt  werden.  Es  ist  bekannt, 
daß  swarme«  Farben  vortreten,  »kühle«  zurückweichen,  und  daß  diese 
Eigenschaft  zur  Darstellung  des  Raumeindruckes  benutzt  wird.  Damit 
kann  nicht  gemeint  sein,  daß  solche  Raumdifferenz  in  ihrem  Ausmaß 
die  direkt  wahrzunehmenden  Entfernungsunterschiede  ersetzt;  sie  tut 
das  so  wenig,  wie  der  Klang  des  Wortes  »Donnerrollen«  den  wirk- 
lichen Donner  ersetzt.  In  einem  abstrakten  Farbenmuster  ist  zwar 
auch  die  räumliche  Differenzierung  zwischen  warmen  und  kalten 
Farben  wahrzunehmen,  aber  doch  nur  als  schwache  Nuance.  Die 
auffallende  Verstärkung  der  Wirkung  bei  der  Raumdarstellung  ist  auf- 
zufassen wie  jene  Phänomene  der  Klangmalerei:  sie  entsteht  erst  aus 
der  Verschmelzung  des  formalen  Eindruckes  mit  der  Gegenstands- 
vorstellung. 

Raum  kann  also  nicht  nur  durch  Nachbildung  der  Wirklichkeit, 
d.  h.  durch  Linien-  und  Farbenperspektive,  geschickte  Überschnei- 
dungen usw.  dargestellt  werden,  sondern  auch  durch  das  Verhältnis 
der  absoluten  Farben  zueinander.  Entsprechend  kann  ich  den  Ein- 
druck der  Bewegung  nicht  nur  erzeugen,  indem  ich  den  fruchtbaren 
Moment  auswähle,  sondern  auch  durch  Einordnung  der  bewegten 
Figur  in  das  Linienspiel  der  Fläche.  Die  Japaner  vernachlässigen  ganz 
den  konstruktiven  Aufbau  der  Gestalten  und  machen  sie  doch  lebens- 
fähig durch  die  Kräfte,  welche  die  Linienbewegung  entwickelt.  Einem 
Mund  verleihe  ich  nicht  nur  Ausdruck,  indem  ich  seine  Form  aus- 
führlich nachbilde,  auch  nicht  nur  durch  Auswahl  der  Züge,  an  die 
der  Ausdruck  vorzugsweise  gebunden  ist :  ich  erreiche  die  gleiche  Wir- 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  145 

kung  durch  einen  kräftigen  Pinselstrich,  der  die  Form  nur  andeutet, 
aber  sie  durch  seine  metaphorische  Kraft  mit  Leben  erfüllt.  In  Manets 
Olympia  wirken  das  Fleisch  des  Körpers  sowohl  wie  das  Laken,  auf 
dem  er  liegt,  isoliert  betrachtet  stumpf  und  unlebendig.  Im  Moment, 
wo  man  beide  zusammensieht,  werden  sie  von  Wirklichkeit  durch- 
strömt, weil  das  Tonverhältnis  der  Farben  in  seinem  Gefühlswert  dem 
Verhältnis  von  lebendigem   Fleisch  und  kühler  Leinwand  entspricht. 

Während  nun  aber  die  extensive  Anschauung  nur  durch  Ver- 
drängung der  Fläche  zustande  kommt  und  höchstens  ein  Ausgleich 
der  entgegengesetzten  Antriebe,  ein  Schwanken  zwischen  beiden  Polen 
möglich  ist,  kommt  die  intensive  Anschauung  gerade  durch  Betonung 
des  Flächenzusammenhanges  zustande.  Ich  muß  die  Farben  neben- 
einander sehen,  wenn  sie  ihre  raumbildende  Kraft  entfalten  sollen. 
Der  Schwung  einer  Linie  ist  abhängig  von  ihrem  Verhältnis  zu  dem 
ganzen  Linienorganismus,  der  sich  losgelöst  vom  Sachzusammenhang 
ausbreitet.  Erst  indem  ich  die  Beziehungen  der  Fläche  in  mich  auf- 
nehme, verwandeln  sie  sich  in  Oegenstandseindrücke.  Je  mehr  ich 
mich  auf  den  Flächenzusammenhang  konzentriere,  desto  lebendiger 
wird  das  Raumerlebnis;  lenke  ich  meine  Aufmerksamkeit  allein  auf 
den  Gegenstand,  so  wird  er  farblos  und  unlebendig.  Der  Gegensalz 
zwischen  Fläche  und  Gegenstand  ist  auch  bei  der  intensiven  An- 
schauung wirksam,  aber  der  Gegenstandseindruck  steht  der  Flächen- 
auffassung nicht  im  Wege,  er  schwingt  gewissermaßen  als  Oberton 
mit.  Das  gefühlsmäßige  Erleben  von  Gegenstandseigenschaften  hat 
allerdings  die  Neigung,  sich  in  extensive  Anschauung  umzusetzen: 
der  lebendig  empfundene  Mund  scheint  uns  deutlichere  Formen  an- 
zunehmen als  er  auf  dem  Bilde  besitzt;  daß  wir  die  Körperlichkeit 
empfinden,  begünstigt  die  Augentäuschung.  Aber  diese  äußere 
Anschauung  verwirklicht  sich  nur,  soweit  die  Anlage  des  Bildes  ihr 
entgegenkommt;  sie  kämpft  gegen  die  Flächigkeit  des  Bildes  an,  ohne 
sie  aufzuheben.  Die  Spannung  ist  vorhanden,  aber  sie  ist  elastisch 
geworden. 

Die  Wirkung  der  intensiven  Anschaulichkeit  wird  als  die  eigent- 
lich künstlerische  empfunden,  da  sie  rein  auf  der  Innerlichkeit  des 
Menschen  ruht  und  der  außerästhetischen  Betrachtungsweise  allen 
Boden  abgräbt.  Meist  bemühen  sich  daher  die  Künstler,  die  unmittelbare 
Illusion  durch  intensive  Anschaulichkeit  zu  ersetzen.  Folgerichtig  führt 
das  C^zanne  in  seiner  Raum-  und  Körpergestaltung  durch.  Solcher 
Rückführung  der  extensiven  Anschauung  ist  allerdings  eine  Grenze  ge- 
setzt. Es  handeh  sich  ja  um  einen  Vergleich,  und  der  wirkt  um  so 
stärker,  je  anschaulicher  seine  beiden  Glieder  sind.  Da  entsteht  nun 
eine  Antinomie.    Je  weiter  die  Illusion  geht,  desto  geringer  wird  die 

Zcilsclir.  f.  Äsllietik  u.  allsr.  Kunstwissenschaft.    XV.  10 


146  KURT  THEODOR. 


selbständige  Wirkung  der  Flächenelemente,  also  auch  ihre  darstellende 
Kraft.  Je  ungehemmter  anderseits  die  Flächenanschauung  ist,  desto 
unbestimmter  wird  die  Oegenstandsvorsteilung,  und  es  kommt  dann 
nur  zu  verblasenen  Stimmungen,  statt  zu  konkreter  Gestaltung.  In 
beiden  Fällen  verliert  sich  die  Spannung,  und  die  künstlerische  Wir- 
kung sinkt.  Es  muß  also  ein  Ausgleich  gefunden  werden,  durch  den 
Fläche  und  Gegenstand  zu  ihrem  Recht  kommen;  dieser  Ausgleich 
kann  sehr  verschiedenartig  sein  und  bestimmt  wesentlich  die  Eigenart 
der  einzelnen  Darstellungstile.  Ganz  verfehlt  ist  es  jedenfalls,  auf 
Darstellung  überhaupt  zu  verzichten  und  die  Wirkung  nur  auf  den 
absoluten  Flächenwerten  aufzubauen,  wie  es  einige  der  Jüngsten  ver- 
suchen. Die  Wirkung  von  Farben,  Linien  usw.  ist  ganz  gering,  so- 
weit sie  nicht  aus  dem  Inhalt  der  Darstellung  Kräfte  zieht,  und  jeder 
schöne  Teppich  ist  solcher  gemalten  Komposition  überlegen.  Wenn 
wir  die  Sprache  eines  Gedichtes  nicht  verstehen,  so  ist  der  Eindruck 
seines  Klanges  verblüffend  gering.  Ähnlich  liegt  es  in  der  Malerei. 
Nur  der  Einfluß  einer  falschen  Theorie  konnte  das  gesunde  Kunst- 
empfinden so  irreleiten.  Es  verführte  das  Beispiel  der  absoluten  Musik, 
aber  diese  ist  an  Kraft  der  einzelnen  Wirkungselemente  und  Ände- 
rungsfähigkeit ihres  Organismus  so  weit  überlegen,  daß  jeder  Wettstreit 
der  Malerei  mit  ihr  auf  rein  symphonischem  Gebiete  aussichtslos  ist. 

IV. 

Die  metaphorische  Wirkung  der  Flächenelemente  ist,  wie  wir  ge- 
sehen haben,  davon  abhängig,  wie  ausgebildet  einerseits  die  direkte 
Anschauung  eines  Gegenstandes  ist,  und  wie  weit  anderseits  die  Flä- 
chenelemente als  solche  Selbständigkeit  bewahren.  Das  heißt  also,  sie 
ist  abhängig  von  der  Lösung,  die  jener  Konflikt  zwischen  Fläche  und 
extensiver  Anschauung  im  Bilde  findet.  In  der  Tat,  so  sehr  die  Be- 
deutung des  Kunstwerkes  auch  von  seiner  intensiven  Anschaulichkeit 
bestimmt  wird,  die  Grundlage  seiner  Gestaltung  bilden  die  extensiven 
Eigenschaften. 

Es  ist  oben  versucht  worden  zu  zeigen,  wie  sich  Fläche  und 
Gegenstand  die  Wage  halten  können,  so  daß  unsere  Aufmerksamkeit 
in  der  Mitte  schwebend  erhalten  wird  und  leicht  zum  einen  und  zum 
anderen  Pol  hinüberzugleiten  vermag.  Es  muß  nun  aber  hinzugefügt 
werden,  daß  dieses  lebendige  Wechselspiel  nur  möglich  ist,  wenn 
weder  Fläche  noch  Gegenstand  unsere  Aufmerksamkeit  allzu  stark  in 
Anspruch  nehmen.  Ist  der  Gegenstand  so  mit  Einzelheiten  belastet, 
daß  er  uns  ganz  hinnimmt  und  übermächtig  in  die  Illusion  hinein- 
reißt, so  kann  sich  die  Fläche  dagegen  nicht  behaupten;  wenigstens 
sind  wir  außerstande,  noch  ihre  Beschaffenheit  im  einzelnen  aufzu- 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  J47 

nehmen:  es  bleibt  nur  das  allgemeine  unanschauliche  Wissen  von 
ihrem  Vorhandensein  zurück,  von  dem  zu  Anfang  dieser  Arbeit  die 
Rede  war.  Ist  anderseits  das  Flächenmuster  gar  zu  selbstherrlich  ab- 
strakt durchgebildet,  etwa  in  rein  geometrischen  Formen,  so  kann  kein 
lebendiger  Gegenstandseindruck  zustande  kommen,  wie  uns  das  die 
dekorativen  Stilisierungen  der  Teppiche  und  anderer  extremer  Orna- 
mentik zeigen.  Kunstwerke,  die  wie  die  Skizzen  auf  der  einen  Seite 
große  Durchsichtigkeit  der  Mache,  auf  der  anderen  mehr  Anregung 
zu  räumlichem  Sehen  als  ausgebildete  räumliche  Formen  aufweisen,  er- 
reichen noch  am  ehesten  das  geforderte  Gleichgewicht.  Es  ist  ja  auch 
eine  bekannte  Tatsache,  daß  gerade  solche  leicht  hingeworfenen  Zeich- 
nungen besonders  feine  und  spezifisch  künstlerische  Wirkungen  ent- 
falten. Dieser  Vorteil  birgt  aber  einen  schmerzlichen  Verzicht  in  sich. 
Wir  suchen  im  Kunstwerk  nicht  nur  Feinheit  der  Wirkungen,  sondern 
auch  eine  gewisse  elementare  Wucht.  Die  Töne  der  Orgel,  sogar  der 
Geige,  wirken  mächtiger  als  die  prächtigsten  Farben,  weil  sie  uns 
physisch  durchschüttern.  Das  ausgeführte  Bauwerk  ist  seinem  Modell 
unendlich  überlegen,  weil  die  räumliche  Größe  einen  wesentlichen 
Faktor  der  architektonischen  Wirkung  ausmacht.  Entsprechend  wirkt 
auch  ein  dreidimensionaler  Körper  kraftvoller  als  eine  Flächenform  und 
ein  farbiges  Gemälde  wuchtiger  als  die  einfarbige  Zeichnung.  Wie 
kann  nun  diese  Wucht  der  Wirklichkeitsnähe  dem  Kunstwerk  erhalten 
bleiben,  ohne  daß  man  grober  Illusion  verfällt,  ohne  daß  die  Spannung 
zwischen  Gegenstand  und  Darstellungsform  vernichtet  und  die  Selb- 
ständigkeit der  Flächenelemente,  auf  der  die  intensive  Anschaulichkeit 
beruht,  aufgehoben  wird?  Mit  anderen  Worten:  wie  kann  sich  eine 
Gegenstandswelt  vor  unseren  Augen  entwickeln  und  trotzdem  mit  der 
Unmittelbarkeit  unangefochtener  Existenz  wirken?  Dies  ist  das  wesent- 
liche Problem  der  Malerei  im  Gegensatz  zur  Zeichnung.  Mit  seiner 
Lösung,  vielmehr  mit  den  verschiedenen  Formen  seiner  Lösung,  haben 
wir  es  im  folgenden  zu  tun. 

Wir  müssen  zunächst  über  die  Beziehungen  zwischen  Fläche  und 
Raum  in  der  Kunst  noch  in  mehrfacher  Hinsicht  Klarheit  schaffen. 
Was  liegt  doch  bei  der  Skizze  vor,  wenn  das  Gleichgewicht  zwischen 
Fläche  und  Raum  erreicht  ist?  Dort  wird  die  Aufmerksamkeit  von 
der  Fläche  sowohl,  wie  von  der  Raumform  angezogen  und  nähert  sich 
bald  dem  einen,  bald  dem  anderen  Pol.  Aber  sogar  bei  der  Skizze  ist 
es  kaum  möglich,  die  Fläche  ganz  unbeeinflußt  von  dem  dargestellten 
Gegenstand  aufzufassen,  und  ebensowenig  können  wir  uns  auf  den 
Gegenstand  sammeln,  ohne  daß  unser  Eindruck  von  der  Flächenform 
mitbestimmt  wird.  An  beide  Pole  der  Anschauung  kommt  nur  eine 
Annäherung  zustande.    Fläche  und  Raum  lassen  sich  ja,  wie  wir  ge- 


148  KURT  THEODOR. 


zeigt  haben,  als  verschiedene  Zueinanderordnung  der  Anschauungs- 
elemente betrachten,  sie  sind  darum  in  der  Kunst  nicht  so  unüber- 
brückbar geschieden  wie  als  mathematische  Begriffe,  sie  gehen  viel- 
mehr stufenweise  ineinander  über.  Das  klingt  zunächst  sonderbar,  aber 
ist  nicht  das  Verhältnis  von  Linie  und  Fläche  in  der  Kunst  ebenso? 
Die  feinste  Linie  der  Zeichnung  ist  mathematisch  betrachtet  schon 
eine  Fläche.  Werden  die  Linien  stärker,  so  erscheinen  sie  allmählich 
als  Bänder  und  können  nun  auch  ihrer  Wirkung  nach  bald  als  Linien, 
bald  als  Flächen  gelten.  Von  diesen  Bändern  zur  unzweifelhaften 
Fläche  ist  der  Übergang  unmerklich.  Ebenso  sind  auch  Fläche  und 
Raum  in  der  Kunst  relative  Begriffe,  Punkte,  nach  denen  die  Anschau- 
ung gravitiert,  ohne  bis  zu  ihnen  gelangen  zu  müssen.  Die  Kluft  zwi- 
schen unbedingter  Flächenhaftigkeit  und  äußerster  Raumwirkung  läßt 
sich  nicht  ohne  weiteres  überbrücken;  die  Verbindung  zerreißt  bei  zu 
großer  Spannung.  Wesentlich  für  die  Bildwirkung  ist  aber  auch  nur, 
daß  eine  möglichst  große  Differenzierung  vorhanden  ist,  daß  wir  gleich- 
zeitig zu  einer  stark  flächenhaften  und  einer  stark  räumlichen  Synthese 
getrieben  werden.  Die  hierdurch  erzeugte  Spannung  kann  von  ver- 
schiedener Weite  und  von  verschiedener  Energie  sein.  Zwischen 
beiden  Anschauungspolen  bildet  sich  ein  Schwerpunkt  für  unsere 
Aufmerksamkeit,  in  dem  sich  die  entgegengesetzten  Kräfte  aus- 
gleichen. Dieser  braucht  nicht  in  der  Mitte  zwischen  absoluter 
Fläche  und  extremer  Gegenständlichkeit  zu  liegen.  Er  kann  stark 
nach  der  einen  oder  nach  der  anderen  Seite  verschoben  sein,  so 
daß  sich  der  Oesamteindruck  mehr  dem  Flächenhaften  oder  dem 
Räumlichen  nähert. 

Noch  ein  zweiter  Punkt  ist  von  Wichtigkeit.  Die  natürliche  An- 
schauung räumlicher  Dinge  (wir  wollen  kurz  von  »Naturform«  spre- 
chen), in  wie  starkem  Gegensatz  sie  auch  zu  der  Flächenhaftigkeit 
steht,  verwirklicht  durchaus  nicht  das  Höchstmaß  räumlicher  An- 
schaulichkeit, die  für  das  Auge  möglich  ist.  Ein  großer  Teil  der 
plastischen  und  Tiefen- Werte  bleibt  meist  ganz  unanschaulich,  wird 
nicht  einmal  vorgestellt,  bloß  dazugedacht.  Die  Anschaulichkeit  der 
Naturform  kann  außerdem  stark  wechseln.  Nahbild  und  Fernbild  unter- 
scheiden sich  darin  wesentlich;  auch  die  Beschaffenheit  der  Atmosphäre, 
der  Beleuchtung,  der  Formen  bedingt  erhebliche  Unterschiede.  Diese 
sind  für  die  Malerei  von  größter  Bedeutung,  und  zwar  eignen  sich, 
wie  wir  sehen  werden,  gerade  die  flächenhafteren  Erscheinungsformen 
zur  Grundlage  der  künstlerischen  Gestaltung. 

Wenn  ich  eine  neblige  Landschaft  male,  deren  Tiefeneindruck  be- 
sonders gering  und  der  Bildebene  verhältnismäßig  angenähert  ist,  so 
kann  ich  dem  Gegenständlichen  seine  volle  Anschaulichkeit  belassen. 


1 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  149 


ohne  daß  die  Bildfläche  ganz  aus  meiner  Aufmerksamkeit  verdrängt 
wird,  vorausgesetzt,  daß  die  Fläche  genügend  betont  ist.  In  diesem 
Falle  vermag  sich  das  Spiel  der  Kräfte  zwischen  Fläche  und  Raum 
ungehindert  zu  entfalten,  ohne  daß  die  realistische  Überzeugungskraft 
des  Bildes  darunter  leidet. 

Der  Künstler  kann  aber  auch  anders  verfahren.  Er  kann  darauf 
verzichten,  die  abstrakte  Fläche  zur  Geltung  zu  bringen  und  es  zu- 
lassen, daß  wir  sofort  in  die  Illusion  der  Naturform  hineinschnellen, 
einer  solchen  Naturform  jedoch,  die  keinen  stark  räumlichen  Charakter 
hat,  in  der  Art  unseres  Fernbildes  etwa.  Diese  natürliche  Raumauf- 
fassung nimmt  er  nun  statt  der  Fläche  zum  Ausgangspunkt  und  ent- 
wickelt von  ihr  aus  durch  die  besonderen  Mittel  seiner  Kunst  eine 
verstärkte  Anschauung  der  Raumtiefe  und  Körperlichkeit.  In  diesem 
Falle  hat  sich  also  das  Verhältnis  zwischen  Naturform  und  Bildform 
umgedreht:  die  gewohnte  Auffassung  hält  uns  hier  im  Flächenhafteren 
zurück,  die  Bildgestaltung  drängt  uns  in  die  Tiefe.  Das  Ergebnis 
jedoch  ist  ähnlich:  ein  spontanes  Entstehen  der  Gegenstandswelt  für 
und  durch  unsere  Anschauung.  Diese  besondere  Möglichkeit  künst- 
lerischer Gestaltung  ist  es,  die  Hildebrand  im  »Problem  der  Form« 
für  Malerei  und  Plastik  etwas  einseitig  gefordert,  aber  in  ihrer  Eigen- 
tümlichkeit gut  charakterisiert  hat.  Hildebrands  eigene  Kunst  und 
Marees'  spätere  Bilder  sind  Beispiele  für  diesen  Stil,  aber  auch  die 
italienische  Hochrenaissance,  wie  Raphael  sie  vertritt,  gehört  hierher. 

Die  beiden  hier  angedeuteten  Stilprinzipien  können  nun  mitein- 
ander vereinigt  werden  und  finden  sich  auch  in  der  Praxis  stets  mehr 
oder  weniger  vereinigt.  Der  Künstler  verstärkt  einerseits  das  Ge- 
wicht der  absoluten  Fläche  und  steigert  gleichzeitig  das  von  Natur 
schwache  Raumerlebnis,  hauptsächlich  durch  Mittel  intensiver  Art. 
Die  Wirkung  entwickelt  sich  dann  einerseits  zwischen  Fläche  und 
Naturform,  anderseits  zwischen  Naturform  und  künstlerisch  gestalte- 
tem Raumeindruck.  Die  naive  Gegenstandsynthese  (die  Naturform) 
ist  also  mitten  in  die  Bildgestaltung  wie  ein  Pfeiler  eingebaut,  der 
gestattet,  die  Kluft  zwischen  Fläche  und  Raum  in  ihrer  ganzen  Breite 
zu  überbrücken. 

Aber  in  noch  weitergehendem  Maße  hilft  die  Naturform  an  der 
Lösung  unseres  Problems  mit.  Es  gibt  in  der  Naturanschauung  Er-, 
scheinungen,  die  dem  Dualismus  der  Kunst  gleichartig  sind  und  auch 
entsprechend  auf  den  ästhetischen  Betrachter  wirken. 

Denken  wir  uns  einen  dämmrigen  Raum,  der  von  einer  Licht- 
quelle einseitig  beleuchtet  wird.  Helle  Massen  heben  sich  von  dunk- 
len ab,  die  hellen  sind  nur  spärlich  von  Schatten  unterbrochen,  die 
dunklen  nur  von  einzelnen  Reflexen  erhellt.    Hier  bringen  sich  Licht 


150  KURT  THEODOR. 


und  körpererfüllter  Raum  gegenseitig  zur  Anschauung.  Die  Formen 
der  Körper  und  die  Gestaltung  des  Raumes  modellieren  sich  aus  den 
Helligkeiten  und  Dunkelheiten,  die  das  Licht  über  sie  ausstreut;  ander- 
seits wird  aber  das  Licht  erst  sichtbar  an  den  Körpern,  die  es  be- 
leuchtet. Am  einzelnen  Gegenstand  sind  modellierte  Form  und  model- 
lierendes Licht  so  eng  verschmolzen,  daß  unser  Bewußtsein  sie  nicht 
trennt.  Aber  jede  Stelle  des  Anschauungsinhaltes  gehört  als  Körper- 
form und  als  Lichterscheinung  zwei  verschiedenen  Zusammenhängen 
an,  die  für  unsere  Anschauung  streng  getrennt  sind.  So  sind  für 
unser  Auge  gleichzeitig  da  ein  in  sich  geschlossenes  Geflute  von  Licht 
und  Schatten  und  daraus  hervorwachsend,  halb  gesehen,  halb  geahnt, 
die  festen  Formen  von  Körper-  und  Raumgestalt,  die  sich  zu  einer 
Ordnung  ganz  anderer  Art  zusammenschließen.  Wir  haben  hier  also 
einen  Dualismus  von  Licht-  und  Körperwelt,  der  dem  von  Fläche  und 
Gegenstand  durchaus  entspricht.  Die  Ähnlichkeit  geht  noch  weiter. 
Daß  die  Körper  sich  aus  Licht  und  Schatten  zu  entwickeln,  nicht  von 
vornherein  fertig  dazustehen  scheinen,  gibt  leblosen  Dingen  den  Ge- 
fühlsion der  Beseeltheit.  Dazu  kommt,  daß  die  Beleuchtung  auch 
lebendigen  Wesen  eine  besondere  Nuance  seelischen  Ausdrucks  ver- 
leiht. Das  Licht  vermittelt  also  nicht  nur  extensive,  sondern  sogar 
intensive  Anschaulichkeit.  Licht  und  Schatten  wirken  zwar  durchaus 
nicht  flächenhaft;  die  Helligkeiten  und  Dunkelheiten  werden  erst  zu 
Licht  und  Schatten,  weil  wir  sie  räumlich  ausdeuten.  Aber  der  Ab- 
stand zwischen  diesen  gestaltlosen,  gleichartigen,  schemenhaften  Ge- 
bilden und  der  gestaltreichen,  fest  umgrenzten,  physisch  und  psy- 
chisch differenzierten  Gegenstandswelt  ist  trotzdem  sehr  groß  und 
imstande,  bedeutende  ästhetische  Wirkungen  auszulösen. 

Wir  haben  hier  also  den  Fall,  daß  es  genügen  könnte,  die  Illusion 
des  Natureindrucks  zu  erzeugen,  um  die  künstlerische  Darstellung  auf 
der  Fläche  zu  ersetzen.  Wenn  es  sich  der  Künstler  nun  auch  nicht 
so  leicht  macht,  so  kann  er  diese  Wirkung  der  Natur  doch  zur  Unter- 
stützung der  Kunstwirkung  heranziehen,  genauer:  er  verstärkt  die  Span- 
nung des  Naturvorbildes,  indem  er  sie  nach  beiden  Seiten  ausdehnt. 
Er  entwickelt  den  Licht-Schattenorganismus  aus  der  Fläche  und  er- 
höht anderseits  die  Energie  der  natürlichen  Raumanschauung  durch  die 
^extensive  und  intensive  Anregungskraft  seiner  Darstellungsmittel.  Hier 
ist  also  —  um  den  oben  benutzten  Vergleich  noch  einmal  aufzuneh- 
men —  statt  des  einen  Pfeilers  ein  ganzer  Brückenbogen  in  die  Bildan- 
schauung eingebaut,  so  daß  in  drei  Bogen,  deren  mittlerer  der  Natur- 
form angehört,  ein  besonders  weiter  Abstand  überspannt  werden  kann. 
Zu  stärkster  Wirkung  steigert  Rembrandt  dieses  Stilprinzip.  Er  macht 
einerseits    die  Farben   und  Pinselstriche  besonders   eindringlich    und 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  151 

selbständig  in  ihrer  Funktion,  anderseits  gestaltet  er  aus  den  Kräften 
des  Helldunkels  so  machtvoll  individuelle  Beseeltheit,  daß  neben  der 
extensiven  die  intensive  Anschaulichkeit  den  denkbar  höchsten  Grad 
erreicht.  Mit  etwas  verschobenem  Schwerpunkt  finden  wir  das  gleiche 
Stilprinzip  in  der  Schwarzweißkunst,  vor  allem  wieder  in  Rembrandt- 
schen  Radierungen.  Durch  die  Abstraktion  von  der  Farbe  wird  der 
Organismus  von  Licht  und  Schatten  noch  anschaulicher  und  geschlos- 
sener. Dafür  geht  allerdings  von  der  Wirklichkeitsnähe  und  Wucht 
der  Malerei  etwas  verloren.  Wenn  Licht  und  Schatten  zu  einem 
Muster  von  schwarzen  und  weißen  Flecken  auf  der  Fläche  werden, 
wie  dies  bei  Valloton  und  häufig  in  der  neueren  Holzschnittkunst  vor- 
kommt, so  befinden  wir  uns  wieder  ganz  auf  dem  Gebiet  der  Zeich- 
nung, die  sich  durch  strengere  Betonung  der  reinen  Fläche  von  der 
Malerei  scheidet. 

In  einer  anderen  Richtung  der  holländischen  Malerei  spielt  das 
Licht  nicht  diese  beherrschende  Rolle  als  körperauflösender  und  -schaf- 
fender Faktor.  Sie  bedient  sich  statt  dessen  als  vermittelnder  Natur- 
form der  Atmosphäre,  die  unaufdringlich,  doch  dem  feinen  Blick  merk- 
bar alle  festen  Formen  umgibt  und  verbindet,  und  aus  der  die  Körper 
zwar  nicht  sich  zu  bilden,  aber  herauszutauchen  scheinen.  In  diesem  Stil, 
wie  er  beispielsweise  durch  Ter  Borch  vertreten  wird,  ist  von  vorn- 
herein mit  starker  Illusion  gerechnet,  und  die  Formen  der  Fläche  können 
sich  in  unserer  Aufmerksamkeit  nicht  behaupten.  Dagegen  gelingt  es 
den  Malern,  die  absoluten  farbigen  Werte  für  unsere  Anschauung  zu 
retten,  durch  besonders  wohlgefällige,  harmonische  Zusammenfassung 
oder  übersichtliche  Abstufung.  Die  Farben  wirken  indessen  nicht  als 
flächenhaftes  Nebeneinander,  sondern  verschmelzen  mit  dem  Eindruck 
der  alles  umflutenden  Atmosphäre.  Aus  diesen  Farbenharmonien  ent- 
wickeln sich  nun  die  Kräfte,  die  metaphorisch  —  also  für  die  intensive 
Anschauung —  die  Plastik  der  Gegenstände  und  die  Eigentümlichkeit  des 
stofflichen  Eindrucks  steigern.  Die  verhältnismäßig  geringe  Wirkung 
der  Natur,  in  der  klare  Luft  ja  nur  eine  unbedeutende  Rolle  für  den 
Eindruck  spielt  und  höchstens  die  Plastik  der  Gegenstände  dämpft, 
wird  also  hier  durch  die  Kunst  wieder  nach  beiden  Seiten  verstärkt. 
Das  allverbindende  Medium  wird  durch  die  Farbenbehandlung  anschau- 
lich, die  Gegenstände  werden  nicht  schroff  aber  nachdrücklich  aus 
diesem  Medium  herausgehoben.  Der  Schwerpunkt  solcher  Bilder  ist 
sehr  weit  nach  dem  Oegenstandspol  verschoben,  aber  der  Dualismus, 
durch  den  der  Prozeß  der  Darstellung  anschaulich  wird,  ist  auch  hier 
vorhanden. 

Den  größten  Anteil  an  der  Wirkung  hat  die  Naturform  im  Im- 
pressionismus.   Hier  bleibt  dem  Künstler  fast  nur  noch  eine  Betonung 


152  KURT  THEODOR. 


der  Eindrücke,  die  in  der  Natur  vorgebildet  sind,  und  hier  spricht  man 
deshalb  noch  mit  dem  größten  Recht  von  Naturnachahmung;  es  ist 
eine  Nachahmung  der  Vorgänge  bei  der  Auffassung  der  Natur. 

Der  Impressionismus  wählt  zur  Darstellung  die  Erscheinungs- 
formen der  Natur,  bei  denen  die  feste  Gestalt  der  Gegenstände  mög- 
lichst aufgelöst  und  ihre  stofflichen  Eigentümlichkeiten  unterdrückt 
sind.  Das  geschieht  vor  allen  Dingen  durch  Einwirkung  der  Atmo- 
sphäre, die  den  ganzen  Inhalt  des  Raumes  in  eine  gleichartige  Masse 
einschmelzen  kann;  die  Gegenstände  werden  unkörperlich,  die  Um- 
risse verschwinden.  Ähnlich  wirkt  starke  Sonnenbestrahlung.  Auch 
das  Spiel  der  Sonnenflecke  auf  den  Dingen  hindert  die  Auffassung 
der  plastischen  Formen.  Während  das  Licht,  wie  es  die  alten  Hol- 
länder suchten,  den  Formen  zwar  die  Bestimmtheit  nimmt,  aber  sie 
gerade  in  ihrer  Unfestigkeit  um  so  wirksamer  macht,  zerreißt  das 
Sonnenlicht  des  Impressionismus  den  Körperzusammenhang  so  gründ- 
lich wie  möglich.  Das  Licht  der  Holländer  kann  der  Darstellung  stoff- 
licher Eigentümlichkeiten  dienstbar  gemacht  werden;  Pelz  oder  Atlas, 
Metalle  und  alle  anderen  Stoffe  werden  ja  zum  größten  Teil  durch  die 
besondere  Art  charakterisiert,  wie  sie  das  Licht  reflektieren.  Und  selbst 
Rembrandt  erzeugt  mit  seinem  besonderen  Licht  den  Eindruck  stoff- 
licher Eigentümlichkeit,  wenn  auch  einer  solchen,  die  der  Alltags- 
erfahrung fremd  ist  und  in  ihrer  Pracht  einer  Märchenwelt  anzugehören 
scheint.  Das  Licht  dagegen,  das  die  Impressionisten  lieben,  tilgt  alle 
stoffliche  Eigentümlichkeit  ebenso,  wie  die  körperliche  Geschlossenheit. 
Jede  Bestimmtheit  der  Anschauung  ist  im  Flimmern  von  Luft  und  Licht 
geschwunden.  Es  bleibt  fast  nur  ein  Spiel  farbiger  Flecken  übrig;  eine 
ungemeine  Annäherung  der  Naturwirkung  an  den  Eindruck  der  farben- 
bedeckten Fläche  ist  vollzogen. 

Nun  ist  es  aber  grundverkehrt,  in  dieser  Wirkung  nur  die  auf- 
lösende Tendenz,  die  Ausschaltung  aller  Gegenständlichkeit  zu  sehen. 
Gerade  daß  auch  wirklichkeitsbauende  Kräfte  in  ihm  liegen,  gibt 
dem  impressionistischen  Prinzip  seine  Bedeutung.  Zunächst  wird 
uns  an  dem  Verschwimmen  aller  Formen  Luft  und  Licht  anschau- 
lich, so  wie  die  wechselnde  Brechung,  welche  die  Gegenstände  im 
Wasserspiegel  erfahren,  uns  das  Wasser  und  seine  Bewegung  zur 
Anschauung  bringt.  Es  wird  also  eine  Seite  des  Wirklichkeitsein- 
druckes durch  die  Dämpfung  des  anderen  betont.  Ebenso  bringen 
die  Farben,  indem  sie  weniger  plastische  Form  und  Stofflichkeit 
ausdrücken,  um  so  energischer  die  Abschattierung  der  Luftperspek- 
tive zur  Anschauung.  Jedem  Gegenstand  wird,  gerade  weil  seine  Be- 
sonderheit unbestimmt  bleibt,  sein  Platz  im  Raum  genau  angewiesen. 
Dadurch  wird  unser  Blick  allmählich  aber  unwiderstehlich  in  die  Tiefe 


n 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  153 

hineingezogen,  und  wir  haben  stärker  als  sonst  das  Gefühl  der  Raum- 
weite, das  mit  der  Anschauung  der  Atmosphäre  in  eins  verschmilzt. 
Jedoch  gegenüber  dieser  Auflösung  in  den  Raum  erhalten  auch  die 
Dinge  selbst  wieder  erhöhte  Lebendigkeit  und  Einzelgeltung  durch 
die  stärkere  Aktivität,  die  sich  in  ihrer  Auffassung  betätigt  und  durch 
das  suggestive  Flimmern  ihrer  Formen.  Ihr  Leben,  das  sich  sonst 
nur  im  Ablauf  der  Zeit  äußern  kann,  ist  hier  schon  in  die  augen- 
blickliche Erscheinung  eingeschmolzen.  So  haben  wir  auch  hier 
die  zwei  Pole:  gegen  die  sichtbare  Auflösung  aller  Formen  hebt 
sich  ihre  gefühlte  Lebendigkeit  wirkungsvoll  ab.  Was  das  Einzelne, 
getrennt  betrachtet,  an  Wesenhaftigkeit  verliert,  gewinnt  es  aus  dem 
Zusammenhange  des  Ganzen  verdoppelt  zurück.  Die  Spannung  liegt 
hier  nun  zwar  nicht  zwischen  Gegenstand  und  Fläche,  sondern 
zwischen  Gegenstand  und  gleichartigem  Räume;  aber  auch  dieser 
Raumeindruck  entsteht  aus  der  Verselbständigung  der  optischen  Ele- 
mente gegenüber  ihrem  Inhalt  und  läßt  sich  leicht  in  dem  Neben- 
einander der  Fläche  nachbilden.  Nur  muß  der  Maler  diese  Selb- 
ständigkeit noch  etwas  übertreiben:  er  erhält  aus  der  Bestimmtheit 
seiner  Farbflecke  und  Pinselstriche  die  Wirkung,  die  in  der  Natur 
durch  das  ungreifbare  Fluten  der  Erscheinung  erzeugt  wird.  Ebenso 
bringt  er  die  Farbigkeit  des  Schattens  etwas  übertreibend  zur  Geltung. 
Die  ältere  Kunst  ordnete  die  beschatteten  Stellen  des  Körpers  durch 
Abschwächung  der  Farbe  den  belichteten  unter  und  unterstützte  da- 
durch die  modellierende  Kraft  des  Lichtes.  Der  Impressionismus  sucht 
den  Helligkeitsunterschieden  durch  das  Oleichgewicht  der  farbigen  In- 
tensitäten entgegenzuarbeiten  und  schwächt  so  die  Plastik  der  Gegen- 
stände. Zugrunde  liegt  auch  hier  eine  engere  Anlehnung  an  die  Natur- 
form; daß  die  Schatten  tatsächlich  farbiger  sind  als  uns  meist  zum 
Bewußtsein  kommt,  hat  schon  Goethe  hervorgehoben.  Aber  wichtig 
ist  natürlich  nicht  die  physikalische  Richtigkeit  dieser  Erscheinung, 
sondern  ihre  Bedeutsamkeit  für  die  Absichten  des  Künstlers.  Übrigens 
findet  sich  diese  gleichordnende  Behandlung  der  Schatten  nicht  nur 
im  Impressionismus.  Durch  sie  unterscheidet  sich  schon  die  flämische 
Kunst  der  Barockzeit  von  der  holländischen  Malerei.  Und  wiederum 
hat  die  moderne  Kunst  dieses  eine  Stilelement  vom  Impressionismus 
übernommen. 

Bei  alledem  läßt  sich  nicht  verkennen,  daß  dem  impressionisti- 
schen Stilprinzip  eine  Schwäche  anhaftet.  Damit  das  Erlebnis  der 
Darstellung  seine  ganze  Kraft  entfalten  kann,  darf  der  entwirklichende 
Faktor  nicht  nur  in  einer  Negierung  der  dargestellten  Gestaltenwelt 
bestehen,  er  muß  ihr  auch  ein  eigenes  Formenprinzip  entgegen- 
stellen; nur  ein   solches   leistet  der  gegenständlichen  Auffassung  den 


154  KURT  THEODOR. 


Widerstand,  der  eine  fruchtbare  Spannung  ermöglicht.  Die  Atmo- 
sphäre impressionistischer  Bilder  hat  aber  keine  Form  für  sich,  son- 
dern entsteht  nur  als  ein  Negatives,  eine  Entformung  der  darge- 
stellten Gegenstände.  Die  Bildfläche  ihrerseits  kann  sich  zwar  durch 
pastose  Behandlung  von  dem  Bildinhah  abheben,  ist  aber  ein  regel- 
loses Gewirr  von  Farbflecken  und  Pinselstrichen,  das  seine  Gliederung 
nur  dem  Bildinhalt  verdankt.  Auch  die  Farbentöne  sind  nur  durch  die 
zufällige  Beschaffenheit  des  dargestellten  Gegenstandes  gefordert  und 
vereinheitlicht,  nicht  durch  ein  eigenes  Formgesetz  unter  sich  ver- 
bunden und  von  ihrer  Bedeutungsfunktion  abgelöst.  Durch  das  Fehlen 
jedes  formalen  Prinzips  mit  seiner  scheidenden  Kraft  wird  die  Atmo- 
sphäre zu  sehr  Wirklichkeit,  und  die  Wirklichkeit  zu  scheinhaft.  Die 
Spannung  ist  zu  gering  und  die  Illusion  zu  unmittelbar. 

Diesen  Mangel  des  impressionistischen  Stils  suchten  die  Neo- 
impressionisten  zu  überwinden.  Ihre  gleichgeformten  und  gleichmäßig 
verteilten  Farbenpunkte  haben  größere  Selbständigkeit  gegenüber  den 
Oegenstandsformen  und  größere  Gesetzmäßigkeit  gegenüber  den  Gegen- 
standsfarben. Sie  schließen  sich  zu  einem  mosaikartigen  Muster  auf  der 
Fläche  zusammen,  das  von  dem  Darstellungsinhalt  vollständig  los- 
gelöst ist.  Anderseits  gibt  den  Malern  gerade  diese  Technik  der  Farb- 
tupfen die  Möglichkeit,  das  Verschwimmende  der  luftumflossenen 
Gegenstände  und  die  zarten  Übergänge  der  Luftperspektive  noch 
überzeugender  zur  Darstellung  zu  bringen.  Dadurch  wird  die  Span- 
nung zwischen  Fläche  und  Gegenstand  eindrucksvoll  gesteigert.  Aller- 
dings fehlt  nun  wieder  dem  neoimpressionistischen  Stilprinzip  die  Bieg- 
samkeit und  mannigfache  Verwendbarkeit  anderer  Stile.  Es  ist  eigent- 
lich immer  dasselbe  Bild,  das  gemaU  wird,  das  gleiche  Welterlebnis, 
das  zum  Ausdruck  kommt.  Deshalb  konnte  der  Neoimpressionismus 
eine  Schule,  aber  kein  allgemein  herrschender  Stil  werden  und  die 
künstlerische  Reaktion  nicht  aufhalten,  die  in  neuerer  Zeit  der  impres- 
sionistischen Gestahungsweise  ein  Ende  gesetzt  hat. 

V. 

In  allen  bisher  besprochenen  Beispielen  ist  es  die  natürliche  Er- 
scheinungsweise des  Bildinhalts,  die  den  übergroßen  Gegensatz  zwi- 
schen Fläche  und  Raumform  dämpft  oder  vermittelt.  Der  Künstler 
kann  glauben,  er  ahme  nur  die  Natur  nach,  weil  er  sie  stets  da  auf- 
sucht, wo  sie  seinen  künstlerischen  Absichten  entgegenkommt.  Nun 
sind  das  aber  nur  besondere  Fälle;  ihnen  liegt  ein  allgemeines  Prin- 
zip zugrunde,  nach  dem  auch  ohne  oder  gegen  die  Natur  die  gleiche 
Wirkung  erreicht  werden  kann.  Was  das  Naturvorbild  in  den  be- 
sprochenen Darstellungstilen  leistete,  war  eine  Schwächung  der  körper- 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  I55 


haften  und  räumlichen  Gegenstandsynthese,  wodurch  die  Beziehung 
zur  Fläche  und  die  Überhöhung  der  extensiven  durch  die  intensive 
Anschauung  ermöglicht  wurde.  Diese  Schwächung  braucht  sich  nun 
nicht  nur  durch  die  natürliche  Erscheinungsform,  d.  h.  Beleuchtung, 
Atmosphäre,  Fernbild,  Spiegelung  zu  vollziehen,  sie  kann  auch  durch 
rein  kunstmäßige  Umformung,  durch  Stilisierung  erreicht  werden.  Der 
Maler  abstrahiert  in  seiner  Darstellung  von  einer  Seite  der  Wirklich- 
keit, ohne  die  keine  vollständige  Gegenstandsanschauung  zustande 
kommen  kann.  Er  hält  dadurch  den  Vorgang  der  Individuation  auf 
halbem  Wege  an.  Dies  geschieht  ja  zum  Beispiel  auch  in  der  Bau- 
kunst, wo  die  Pflanzenornamente  einer  Säule  halb  als  Pflanzen,  haFb 
noch  als  Formen  des  Steins  gesehen  werden.  Aber  während  diese 
Ornamente  auch  in  ihrer  Wirkung  naturfern,  d.  h.  formal  bleiben,  im 
engeren  Sinne  des  Wortes  »stilisiert«  wirken,  ist  in  der  darstellenden 
Malerei  die  eingeschränkte  extensive  Gegenständlichkeit  nur  die  Grund- 
lage: auf  ihr  fußt  die  gefühlsmäßige  intensive  Anschauung,  die  den 
halbfertigen  Körper  mit  ganz  individuellem  Leben  erfüllt.  Extensive 
und  intensive  Anschaulichkeit  ergänzen  sich  also  dergestalt,  daß  der 
Abstand  zwischen  Fläche  und  Gegenstand  in  seiner  äußeren  Gegen- 
sätzlichkeit verringert,  aber  durch  die  intensive  Belebung  zur  vollen 
Spannung  gesteigert  wird.  Welches  sind  nun  die  Abstraktionen,  auf 
denen  solche  Stilisierung  beruht? 

Die  Abstraktion  von  der  Farbe,  wie  sie  in  der  Schwarzweiß- 
kunst voriiegt,  entwirklicht  zwar  auch  den  Eindruck,  hat  aber  auf  die 
Körper-  und  Raumsynthese,  auf  die  es  in  diesem  Zusammenhange  an- 
kommt, weniger  Einfluß.  Ein  wichtiges  Mittel  der  Abstraktion  ist  da- 
gegen die  Herabminderung  der  Geformtheit,  also  die  Ver- 
wischung der  Einzelformen,  die  Auflösung  der  Körpergrenzen  und  die 
zäsurlose  Überführung  eines  Gegenstandes  in  den  anderen,  womit  eine 
ausgeprägt  materielle  Kennzeichnung  der  Dinge  durch  ihre  farbige 
Beschaffenheit  durchaus  vereinbar  ist. 

Wenn  ich  ein  Porträt  Leibls  aus  seiner  älteren,  malerischen  Periode 
unbefangen  betrachte,  so  erblicke  ich  nicht  etwa  zunächst  nur  einzelne 
Farbenflecke  und  Pinselstriche;  ich  sehe  vielmehr  Gesichtszüge,  einen 
Kragen,  eine  Halsbinde,  Weste  usw.,  aber  in  seltsam  aufgeweichtem, 
unfertigem  Zustand,  »malerisch  behandelt«,  wie  man  zu  sagen  pflegt. 
Die  Dinge  sind  gewissermaßen  bei  der  Verwandlung  aus  den  Elementen 
der  Darstellung  zur  Gestalt  auf  einer  Zwischenstufe  stehen  geblieben, 
man  fühlt  noch  ein  gleiches  Urmaterial  in  ihnen  allen,  und  doch  son- 
dern sie  sich  schon  entschieden  voneinander.  Dies  kommt  daher,  daß 
sie  durch  die  Farben  bestimmt  charakterisiert  sind,  während  ihre  Ge- 
stalt gegen  die  Formeindrücke  der  technischen  Elemente  noch  nicht 


156  KURT  THEODOR. 


zu  voller  Geltung  kommt.  Auch  die  Verschmelzung  der  Gegenstände 
miteinander  vermindert  ihre  plastische  Kraft.  Trotz  dieser  starken 
Entwirklichung,  die  man  durchaus  nicht  übersieht,  auch  wenn  man 
sich  keine  Rechenschaft  darüber  gibt,  ist  der  Gesamteindruck  nicht 
der  einer  dekorativen  Stilisierung,  im  Gegenteil,  er  ist  lebendiger 
und  wirklichkeitsnäher  als  in  Bildern,  deren  extensive  Anschaulich- 
keit entwickelter  ist.  Denn  die  Pinselstriche  und  Fleckenformen, 
die  aus  unserem  Bewußtsein  nicht  ganz  durch  die  Gegenstands- 
anschauung verdrängt  werden,  wirken  mit  dieser  um  so  entschiedener 
metaphorisch  zusammen,  und  während  die  Aufmerksamkeit  auf  der 
unentwickelten  Form  haftet,  gewinnt  die  innere  Anschauung  stärkste 
Prägnanz. 

Solche  malerische  Erweichung  der  Formen  wird  meist  als  Nach- 
bildung der  atmosphärischen  Brechung  erklärt;  aber  diese  natürliche 
Veränderung  der  Erscheinung  wäre  dann  zum  mindesten  arg  über- 
trieben. Denn  bei  Personen,  die  dicht  vor  uns  im  Zimmer  sitzen,  bei 
gewöhnlichem  Tageslicht,  kommt  eine  derartige  Auflösung  aller  festen 
Formen  nicht  vor;  und  wo  die  Atmosphäre  sich  so  stark  geltend 
macht,  müßte  auch  die  stoffliche  Differenzierung  abgeschwächt  sein, 
wie  das  impressionistische  Bilder  zeigen.  Auch  der  Vergleich  mit  un- 
scharfer Fixierung  der  Dinge,  die  man  wohl  herangezogen  hat,  stimmt 
nicht;  denn  meist  ist  das  ganze  Bild  gleichmäßig  breit  behandelt, 
außerdem  kann  unser  Blick  auch  auf  den  seitlichen  Partien  solcher 
Bilder  ruhen,  ohne  daß  wir  eine  Inkongruenz  empfinden.  Dagegen 
ist  zuzugeben,  daß  solche  malerischen  Bilder  an  atmosphärische  Ein- 
drücke erinnern  und  durch  diese  Analogie  das  Befremdende  der 
stilistischen  Umformung  mildern.  Das  Verhältnis  zwischen  Kunstmittel 
und  Natureindruck  ist  hier  ähnlich  wie  in  der  Strichzeichnung.  Auch 
die  Linie  wird  uns  zunächst  vertraut  und  verständlich,  weil  im  natür- 
lichen Sehen  klare  Abgrenzungen  der  Dinge  als  Linien  aufgefaßt 
werden.  Ihrem  Ursprung  nach  ist  also  die  Linie  Abbild  der  Wirk- 
lichkeit. Sie  gelangt  aber  in  der  Kunst  zu  so  selbständiger  und 
mannigfacher  Verwendung,  daß  sie  ganz  als  souveränes  Kunstmittel 
empfunden  und  nicht  mehr  auf  ihre  Entsprechung  in  der  Wirklichkeit 
angesehen  wird.  Man  denke  nur  an  die  Technik  älterer  Kupferstiche. 
So  kann  auch  die  Verwischung  der  Formen  in  der  Malerei  der  Wirk- 
lichkeit entsprechen,  oder  nur  von  fern  an  sie  erinnern,  oder  schließ- 
lich als  Stilmittel  ganz  unabhängig  von  naturalistischer  Begründung  ver- 
wendet werden. 

Eine  zweite  Möglichkeit  künstlerischer  Abstraktion  besteht  darin, 
den  Eindruck  des  Raumes  und  plastischer  Form  zwar  unmittelbar  und 
unverkürzt  zu  erzeugen,  aber  die  Differenzierung  des  stofflichen  Ge- 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  157 

füges  zu  unterdrücken.  Dadurch  gewinnt  die  Malerei  eine  gewisse 
Verwandtschaft  mit  der  Bildhauerkunst.  Auch  hier  bildet  ja  die  Oegen- 
standsform  eine  gegebene  objektive  Voraussetzung,  dagegen  ist  der 
dargestellte  Stoff  nicht  in  gleichem  Sinne  von  vornherein  vorhanden, 
wir  nehmen  vielmehr  ganz  klar  den  Stein  oder  die  Bronze,  das  Holz 
oder  den  Ton  in  unser  Bewußtsein  auf,  und  erst  sekundär  entsteht 
in  uns  die  Anschauung  der  dargestellten  Stofflichkeiten:  der  weichen 
Haut,  des  Haares,  der  Kleidungstoffe.  Ganz  entsprechend  sehen  wir 
in  Orecos  Bildern,  Salvator  Rosas  Landschaften,  manchen  Werken  von 
Courbet  oder  in  Rembrandts  letzten  Porträts  —  um  nur  einige  Beispiele 
zu  nennen  —  Raum  und  Gestalt  unmittelbar:  die  extensive  Anschau- 
lichkeit ist  so  mächtig,  daß  sie  das  Bewußtsein  von  der  Fläche  in  den 
Hintergrund  drängt.  Aber  diese  Gegenstände,  wie  wir  sie  unmittelbar 
sehen,  zeigen  zunächst  noch  keine  stoffliche  Differenzierung,  sie  scheinen 
alle  aus  dem  gleichen  Material  geknetet  zu  sein.  Dies  Material  ist  aller- 
dings nicht  einfarbig,  auch  nicht  als  ein  bestimmtes  charakterisiert,  wie 
in  der  Skulptur,  es  läßt  sich  vielmehr  am  besten  als  Negation  aller 
bestimmten  Stofflichkeiten  auffassen.  Am  ehesten  erinnert  es  noch 
an  die  Struktur  des  Farbmaterials,  aus  dem  der  Bildbelag  besteht.  So 
sind  in  Courbets  »Welle«  Wolke  und  Wasser  gewissermaßen  aus 
dem  gleichen  für  beider  Natur  viel  zu  festem  Stoff;  in  Rembrandts 
späten  Porträts  wirken  die  Pinselstriche  wie  modellierende  Griffe  in  eine 
Art  Ton;  in  Salvator  Rosas  Landschaften  ist  der  blaue  Himmel  von  der 
gleichen  materiellen  Schwere  wie  die  Wolken  oder  die  Felsen,  ein 
Schiff  aus  gleichem  Stoff  mit  der  Welle,  die  es  trägt.  Aber  dies  alles 
gilt  nur  für  den  ersten  Eindruck,  eben  für  die  Stufe  der  extensiven 
Anschauung.  Für  die  innere  Anschauung  entwickeln  sich  daraus 
ebenso  überzeugend  die  individuellen  Eigenschaften  der  Stoffe,  wie 
sie  sich  in  der  Plastik  aus  dem  angeschauten  Material  entwickeln.  Am 
stärksten  ist  diese  Wirkung  bei  Greco.  Seine  Bilder  sind  ganz  von 
einer  einheitlichen  Materie  erfüllt;  Himmel  und  Erde,  Menschen  und 
Dinge  sind  aus  ihr  geformt  und  in  ihr  verbunden,  und  gleichsam  erst 
vor  unseren  Augen  vollzieht  sich  die  Schaffung  eines  Kosmos  aus 
diesem  Urstoff.  In  Bildern  solcher  Art  ist  der  Schwerpunkt  mehr  als 
in  dem  vorher  behandelten  Stil  von  der  Fläche  in  den  Raum  ver- 
schoben. Die  vorausgesetzte  Illusion  geht  weiter,  aber  doch  nicht  bis 
ans  Ende.  Die  volle  Formung  und  Belebung  wird  vielmehr  auch  hier 
durch  die  Mittel  der  intensiven  Gestaltung  geleistet  und  auf  diese 
Weise  eine  Spannung  zwischen  extensiver  und  intensiver  Anschauung 
erzeugt,  aus  der  die  Wirkung  des  Bildes  entspringt. 

Eine  Abart  dieses  Stiiprinzips   besteht  darin,  daß   nicht  nur  von 
dem  stofflichen  Gefüge,  sondern  auch  von  der  individuellen  Gestalt 


158  KURT  THEODOR. 


der  Gegenstände  abgesehen  wird.  Die  Dinge  treten  uns  zwar  als  un- 
mittelbar körperlich  und  in  fest  geschlossener  Masse  entgegen,  aber 
sie  sind  noch  nicht  in  ihre  endgültigen  Formen  hineingewachsen,  sie 
gleichen  einem  erst  roh  behauenen  Block,  an  dem  es  noch  allerlei 
Ecken  und  Kanten  und  summarische  Zusammenfassungen  gibt,  hinter 
denen  die  natürliche  Gestalt  erst  geahnt  werden  kann.  Sehr  aus- 
geprägt findet  sich  dieser  Stil,  der  in  Ansätzen  weit  zurück  zu  ver- 
folgen ist,  zuerst  in  Gemälden  von  Daumier.  Auch  hier  ist  der  end- 
gültige Eindruck  nur  nebenbei  der  einer  Stilisierung;  hauptsächlich 
entwickeln  die  kubischen  abstrakten  Formen  ähnlich  wie  ein  Michel- 
angeloscher Figurenblock  metaphorisch  wirkende  Darstellungskräfte,  aus 
denen  eine  ganz  lebendige  und  individuell  gefärbte  Phantasieanschauung 
erwächst. 

Im  Kubismus  Picassos  und  seiner  Schüler  ist  diese  Darstellungs- 
weise in  ihr  Extrem  gesteigert.  Alle  gewachsene  Form  ist  auf  wenige 
stereometrische  Grundtypen  zurückgeführt.  Auch  hier  ist  nicht  ge- 
meint, daß  diese  abstrakten  Formen  die  Naturform  völlig  aus  unserem 
Bewußtsein  verdrängen  sollen.  Erst  daraus,  daß  wir  doch  mehr  oder 
weniger  genötigt  sind,  uns  die  Vorstellung  der  wirklichen  Form  gegen- 
wärtig zu  erhalten,  entsteht  die  Wirkung,  die  also  auch  dualistischer 
Natur  ist.  Wir  erleben  unter  der  empirischen  Mannigfaltigkeit  die 
ewige  Grundform,  und  umgekehrt  ahnen  wir  in  der  Grundforrri  die 
individuelle  Gestalt.  Künstlerisch  überzeugend  wirken  nur  diejenigen 
kubistischen  Bilder,  welche  die  Wiedergabe  der  Naturform  nicht  ganz 
der  freien  Phantasie  überlassen,  sondern  neben  der  Anschauung  der 
abstrakten  Form  auch  das  Erlebnis  der  natürlichen  leise  aber  zwingend 
erzeugen.  (Der  Kubismus  ist  damit  noch  nicht  völlig  umschrieben. 
Es  eignen  ihm  noch  eine  besondere  Rhythmik  der  Fläche  und  Archi- 
tektonik des  Raumes,  die  außerhalb  des  Bezirks  dieser  Untersuchung 
liegen.) 

Eine  dritte  Art  der  Abstraktion  besteht  in  der  Zerbrechung  der 
Linienperspektive.  Von  allen  Faktoren  der  Gegenstandsynthese, 
die  den  Flächeneindruck  aus  unserem  Bewußtsein  verdrängen,  ist  die 
perspektivische  Verjüngung  der  kräftigste.  Je  unvollkommener  die  Ge- 
setze der  Perspektive  in  einer  malerischen  Darstellung  befolgt  sind, 
desto  siegreicher  wird  der  Flächeneindruck  des  Ganzen,  mag  auch  der 
einzelne  Gegenstand  noch  so  überzeugend  in  seiner  Körperlichkeit  sein. 
Solange  die  Malerei  die  Gesetze  der  Perspektive  nicht  kannte  oder  nur 
unvollkommen  ertastete,  fiel  ihr  die  flächenhafte  Wirkung  der  Bilder 
ungewollt  zu.  In  dem  Maße,  wie  man  allmählich  lernte  perspektivisch 
zu  zeichnen,  wurde  der  flächenhafte  Stil  durch  räumlichere  Kunst- 
synthesen ersetzt,  oder,  was  wahrscheinlicher  ist,  die  neuen  stilistischen 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  159 

Absichten  lenkten  die  Aufmerksamkeit  auf  die  Erscheinungen  der  Perspek- 
tive. Daß  man  der  künstlerischen  Absicht  zuliebe  die  Perspektive  be- 
wußt vernachlässigen  kann,  zeigt  die  ostasiatische  Kunst,  die  aus  glei- 
chen Gründen  ja  auch  den  Schlagschatten  in  ihren  Bildern  vermeidet. 
In  unserer  jüngsten  Kunst  verzichtet  man  größtenteils  wieder  absicht- 
lich auf  eine  folgerechte  Perspektive,  man  zerbricht  deren  Wirkung  durch 
willkürliche  Abweichungen  und  erreicht  auf  diese  Weise  eine  stark 
flächenhafte  Verschiebung  der  Einzelformen  und  des  Oesamteindruckes. 
Gerade  durch  diese  Schwächung  der  extensiven  Raumanschauung  wird 
der  Boden  geebnet,  auf  dem  man  nun  durch  die  anregende  Kraft 
intensiver  Mittel,  hauptsächlich  durch  das  Verhältnis  der  absoluten 
Farbentöne,  für  die  innere  Anschauung  den  Raum  aufbauen  kann. 
Die  Fläche  vertieft  sich  gewissermaßen  mit  dem  Werden  der  An- 
schauung stufenweise  in  den  Raum,  während  dieser  sonst  als  von 
vornherein  vorhanden  empfunden  wird.  Cezanne  war  der  erste,  der 
bewußt  solche  Wirkungen  erstrebte  und  bewies,  welcher  anschau- 
lichen Kraft  dieser  Stil  fähig  ist.  Seine  Schüler  bewegen  sich  noch 
freier  in  dieser  Hinsicht. 

Die  Allgemeinheit  pflegt  diesen  Stil  mit  besonderem  Nachdruck 
als  Vergewaltigung  der  Natürlichkeit  abzulehnen.  Mit  Unrecht!  Die 
Abstraktion,  die  hier  vorgenommen  wird,  ist  nicht  größer  als  die  Ab- 
straktion von  der  Farbe  in  der  Schwarzweißkunst  oder  die  Umformung 
der  Erscheinung  in  Linien.  Niemand  wird  schwarzes  Laub  oder  die 
Schraffierung  der  Schatten  in  einer  Zeichnung  für  falsch  erklären. 
Solche  Umformungen  der  Wirklichkeit  sind  uns  eben  vertraut.  Da- 
gegen befremdet  uns  die  im  Prinzip  nicht  gründlichere  Abwendung  von 
der  Perspektive,  weil  die  Kunstentwicklung  der  letzten  Jahrhunderte 
uns  von  ihr  entwöhnt  hat,  und  sie  scheint  uns  primitiv,  weil  wir  sie 
fast  nur  von  primitiven  Bildern  kennen.  Aber  in  solchen  Dingen  lernt 
das  Publikum  bald  um.  Es  wird  dann  erkennen,  daß  diese  Abstraktion 
gleich  den  übrigen  dazu  dient,  an  die  Stelle  des  Wissens  die  An- 
schauung, an  die  Stelle  der  äußeren  Illusion  das  innere  Erleben  des 
Gegenstandes  zu  setzen. 

VI. 

Ein  wesentliches  Moment  künstlerischer  Anschaulichkeit,  das  in 
allen  Stilarten  mehr  oder  weniger  zutage  tritt,  ist  bisher  absichtlich 
vernachlässigt  worden  und  soll  hier  in  seinem  Zusammenhang  behan- 
delt werden:  es  ist  der  Unterschied  in  der  Kraft,  mit  der  sich  Fläche 
und  Raum  im  einzelnen  Teile  des  Bildes  und  im  Bildganzen  geltend 
machen.  Wenn  ich  vor  der  Natur  einzelne  Dinge  gegen  ihren  Hinter 
grund  sehe,  eine  Baumkrone  vor  dem  Himmel,  einen  Krug  vor  der 


150  KURT  THEODOR. 


Wand,  so  wird  es  mir  verhältnismäßig  leicht,  das  Verhältnis  zwei- 
dimensional aufzufassen,  Baum  oder  Krug  als  ein  Stück  Fläche  zu 
sehen,  das  inmitten  einer  größeren  Fläche  steht,  je  größer  aber  der 
Ausschnitt  wird,  den  ich  betrachte,  desto  schwieriger  wird  solche  Auf- 
fassung, und  das  Ganze  wirkt  so  unbedingt  räumlich,  daß  eine  Pro- 
jektion auf  die  Fläche  nur  dem  geübtesten  Auge  möglich  bleibt.  So- 
lange es  sich  bei  dem  Raumeindruck  nur  um  die  Vertiefung  senkrecht 
zur  optischen  Ebene  handelt,  wird  er  leicht  zu  der  Fläche  in  Beziehung 
gebracht;  die  Zuordnung  mehrerer  Gegenstände  im  Raum  ist  aber  so 
verschieden  von  ihrem  Nebeneinander  auf  der  optischen  Ebene,  und 
so  verwickeh  in  den  Richtungen,  daß  unser  Bewußtsein  ganz  von 
der  Auffassung  der  räumlichen  Beziehung  in  Anspruch  genommen 
wird  und  die  Fläche  sich  daneben  nicht  behaupten  kann.  Das  gleiche 
gilt  von  Bildern,  hier  auch  in  bezug  auf  die  technische  Behandlung. 
Stark  illusionistisch  wirkende  Gemälde  brauchen  im  einzelnen  keines- 
wegs mit  ängstlicher  Glätte  modelliert  zu  sein,  besonders  bei  größerem 
Format  finden  wir  unverriebene  Pinselstriche  und  eine  gewisse  Frei- 
heit der  Behandlung.  Vor  dem  Eindruck  des  Ganzen  pflegen  aber 
solche  Einzelheiten  zu  verschwinden,  so  vollkommen,  daß  sie  oft  nicht 
einmal  unbewußt  die  Wirkung  beeinflussen.  In  Bildern,  die  weniger 
auf  äußere  Illusion  ausgehen,  können  die  Einzelheiten  sogar  sehr 
flächig  behandelt  sein,  so  daß  sich  auf  jedem  für  sich  betrachteten 
Bildausschnitt  ein  freies  Spiel  von  Körper  und  Fläche  entwickelt,  und 
trotzdem  kann  für  den  Gesamteindruck  des  Bildes  die  räumliche  Ge- 
staltung und  körperliche  Bestimmtheit  stark  überwiegen.  Geht  nun 
die  Breite  der  technischen  Struktur  und  die  Flächigkeit  der  Auffassung 
noch  weiter,  so  bleibt  oft  ein  begrenzter  Ausschnitt  des  Bildes  über- 
haupt unverständlich  in  seiner  sachlichen  Bedeutung.  Der  Zusammen- 
hang des  Ganzen  ist  aber  noch  klar  und  zwingend,  von  ihm  aus 
werden  auch  die  Einzelheiten  in  ihrer  Bedeutung  verständlich  und  in 
ihrer  plastischen  Funktion  gestützt.  So  hat  hier  im  einzelnen  die  Fläche 
und  die  technische  Struktur,  im  ganzen  der  Gegenstand  das  Über- 
gewicht. 

Nun  pflegen  wir  bei  der  Betrachtung  von  Bildern  nicht  in  einer 
Einstellung  des  Blickes  zu  erstarren,  sondern  wir  lassen  die  Augen 
wandern  und  wechseln  zwanglos  zwischen  der  Fixierung  von  Einzel- 
heiten und  dem  Überblicken  der  Gesamtheit,  genau  so,  wie  wir  uns 
auch  im  außerästhetischen  Sehen  verhalten.  Damit  tritt  ein  zeit- 
liches Moment  in  die  Bildauffassung  ein,  und  diese  Folge  in  der  Be- 
trachtung von  Teil  und  Ganzem  ergibt  einen  Ausgleich  zwischen 
Fläche  und  Gegenstand,  der  den  simultanen  Lösungen  des  Problems, 
mit  denen  wir   uns   oben  beschäftigt  haben,   gleichwertig  zur  Seite 


I 


^ 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  161 

tritt.  Auch  außerhalb  der  Kunstbetrachtung  wechseln  wir  zwischen 
Fixierung  der  Einzelformen  und  allgemeinem  Überblick,  doch  unter- 
scheidet sich  dieses  Sehen  von  der  Auffassung  gemalter  Dinge  in 
einem  wichtigen  Punkte.  Denn  in  der  Natur  tritt  der  fixierte  Gegen- 
stand körperlich  bestimmter  hervor,  und  mit  der  Einordnung  in  den 
Zusammenhang  verliert  er  an  Plastik.  In  malerisch  breit  behandelten 
Bildern  dagegen  löst  die  Fixierung  der  Einzelheit  den  Gegenstand  in 
seine  flächenhaften  Bestandteile  auf,  und  erst  mit  der  Betrachtung  des 
Ganzen  verfestigt  sich  der  Gegenstandseindruck. 

Diese  Verschiedenheit  der  Wirkung  von  Bildteil  und  Bildganzem 
spielt  überall  da  eine  große  Rolle,  wo  wir  von  malerischer  Behandlung 
im  engeren  Sinne  zu  reden  pflegen.  Nicht  nur  daß  die  technische 
Struktur  sich  im  Einzelnen  mehr  bemerkbar  macht,  auch  die  Oegen- 
standsteile  als  solche,  etwa  eine  Halsbinde  in  dem  oben  erwähnten 
Leibischen  Porträt,  eine  Hand,  ein  Gerät  wirken  für  sich  allein  un- 
bestimmt, flächenhaft,  aufgeweicht,  während  sie  im  Bildzusammenhang 
in  sich  geschlossen,  plastisch,  uneingeschränkt  in  ihrer  Realität  er- 
scheinen. Besonders  stark  sind  auch  Rubenssche  Bilder  auf  diese 
Erscheinung  aufgebaut.  Ein  einzelner  Arm,  ein  Pferdekopf  oder  ein 
Baumstamm  ist  in  seinen  Gemälden,  für  sich  betrachtet,  ganz  flächen- 
haft hingestrichen,  macht  oft  einen  geradezu  kraftlosen  Eindruck.  Hier 
ist  es  der  Zusammenhang  der  Komposition,  aus  dem  sich  die  Be- 
flügelung  des  Schauens  und  die  räumliche  Energie  entwickeln,  die 
dann  auf  die  Einzelheiten  zurückstrahlen  und  ihnen  volles  Leben  ein- 
flößen. Dadurch  verbinden  Rubenssche  Gemälde  mit  kräftiger  Plastik 
und  Tiefenwirkung  jene  Flächenhaftigkeit,  durch  die  sie  sich  von  grob 
illusionistischen  Bildern  so  entschieden  abheben.  Andere  malerische 
Wirkungen  finden  sich  in  Werken  der  verschiedensten  Schulen.  Man 
betrachte  etwa  eine  Ruisdaelsche  Landschaft  daraufhin.  So  ein  Baum- 
stamm im  Vordergrund  seiner  Bilder,  wie  unfest  und  flächenhaft  ist  er 
doch  behandelt,  man  glaubt  ihn  vom  Bilde  ablösen  und  ihn  um  den 
Finger  wickeln  zu  können;  und  doch,  im  Zusammenhang  des  Ganzen, 
wie  steht  er  fest  und  real,  von  Luft  umflossen  an  seiner  Stelle  im 
Raum.  Auch  hier  wird  mit  der  Verfestigung  der  Einzelheit  durch  die 
Raumkomposition  der  Eindruck  des  Malerischen  erzielt. 

Wir  sind  jetzt  mehrfach  auf  den  Begriff  des  Malerischen  ge- 
stoßen und  haben  ihn  in  dem  Sinne  angewandt,  wie  er  allgemein 
gebraucht  zu  werden  pflegt.  Es  wird  nötig  sein  festzustellen,  was 
mit  dem  Gefühlsurteil,  das  in  diesem  Ausdruck  liegt,  gemeint  sei.  Der 
Begriff  bezieht  sich  bekanntlich  sowohl  auf  eine  besondere  Behand- 
lungsweise  von  Bildern,  wie  auf  bestimmte  Natureindrücke.  Das  Wort 
ist  in  neuerer  Zeit  von  der  Kunsttheorie  aufgenommen  und  in  seiner 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u,  allg.  Kunstwissenschaft.    XV.  1 1 


162  KURT  THEODOR. 

Bedeutung  etwas  umgebogen  worden.  Nur  Wölfflin  hat  versucht,  den 
volkstümhchen  Gebrauch  wissenschaftlich  zu  vertiefen.  Er  scheidet 
der  Klarheit  halber  das  »Pittoreske«  der  Natur  von  dem  »Malerischen« 
künstlerischer  Behandlung,  führt  aber  beides  auf  verwandte  Grundlagen 
zurück.  Wir  können  Wölfflins  Definition,  die  er  in  letzter  Fassung 
in  seinem  Buch  »Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft«  gibt,  sehr  weit 
folgen,  ohne  daß  sie  uns  ganz  genügt.  Alle  Merkmale  finden  sich  in 
seiner  Analyse,  aber  das  eigentlich  Entscheidende  und  Unterscheidende 
ist  nicht  herausgehoben.  Das  war  für  Wölfflin  auch  nicht  möglich, 
weil  ihm  überhaupt  die  Zweipoligkeit  aller  Wirkungen  der  Malerei  ent- 
geht, die  auch  hier  eine  Rolle  spielt.  Wölfflin  betont  vor  allem  das 
selbständige  Leben  der  Fläche,  das  sich  unabhängig  von  den  tastbaren 
Formen,  als  Spiel  von  Licht  und  Schatten,  oder  im  krausen  Gewimmel 
der  ihrer  darstellenden  Funktion  entledigten  Linien  entfaltet.  Aber  nicht 
diese  Bewegtheit  der  Fläche  ist  die  Hauptsache.  Das  Linienspiel  der 
sich  mannigfaltig  überschneidenden  Dächer  ist,  für  sich  betrachtet,  kaum 
von  einem  gleichgültigen  Gekritzel  unterschieden:  daß  es  Dächer  sind, 
die  sich  in  solcher  Weise  überschneiden,  macht  den  Anblick  malerisch. 
Bei  einer  Ruine  wirkt  nicht  die  engere  Beziehung  malerisch,  in  die 
der  Bau  durch  die  Zerstörung  seiner  regelstrengen  Formen  zu  den 
freien  Formen  der  Landschaft  tritt,  sondern  daß  wir  in  dieser  schein- 
baren Gleichartigkeit  eine  ganz  andersartige,  wenn  auch  zerstörte  Ord- 
nung in  ihren  Resten  erkennen,  bringt  eine  Zwiespältigkeit  in'  den 
Eindruck,  der  ihn  malerisch  macht.  Ein  weißes  Landhaus,  das  mit 
großem  roten  Dach  inmitten  grüner  Bäume  liegt,  wirkt  malerisch. 
Solch  ein  Komplex  weißer,  roter  und  grüner  Flecken  besitzt  im  Grunde 
nichts,  was  diesen  Eindruck  hervorbringen  könnte;  der  kommt  erst  zu- 
stande, indem  unser  erkennender  Blick  aus  diesen  gleichartigen  Farben- 
flecken das  Haus  als  ein  in  sich  geschlossenes  Ganzes  heraushebt  und 
der  Landschaft  gegenüberstellt.  Ebenso  hat  das  Spiel  des  Lichtes  und 
der  Farben  auf  dem  zerrissenen  Mantel  eines  Bettlers  nur  äußerst  ge- 
ringen Eindruckswert;  erst  der  Gegensatz,  in  den  die  optische  Erschei- 
nung des  Mantels  zu  der  plastischen  Form  tritt,  von  der  wir  wissen, 
ergibt  den  Tatbestand  des  Malerischen.  Überhaupt  wirkt  das  Licht 
stets  da  malerisch,  wo  es  einen  Zusammenhang  für  unser  Auge  zer- 
reißt, den  unser  Bewußtsein  hartnäckig  festhält. 

Das  Gemeinsame  und  Charakteristische  all  dieser  Eindrücke  ist, 
daß  ein  Wahrnehmungsinhalt  zugleich  in  einen  optischen  Zusammen- 
hang eingeordnet  und  durch  unsere  gegenständliche  Auffassung  daraus 
gelöst  wird.  Aus  der  so  entstehenden  Spannung  wächst  dem  Gegen- 
stand sowie  dem  optischen  Komplex  jener  Erlebniswert  zu,  den  man 
»malerisch«  nennt.    Die  Verwandtschaft  dieses  Phänomens  mit  dem. 


I 


DIE  DARSTELLUNG  AUF  DER  FLÄCHE.  163 

was  wir  als  Zentralproblem  der  Darstellung  auf  der  Fläche  zu  erweisen 
gesucht  haben,  ist  offenbar.  Nur  daß  beim  Malerischen  in  der  Natur 
(dem  »Pittoresken«  nach  Wölffiins  Terminologie)  das  bloße  Wissen 
von  den  sachlichen  Zusammenhängen  genügt,  um  der  sinnlichen  An- 
schauung die  Wage  zu  halten,  während  in  der  Kunst  zwei  verschie- 
dene Anschauungsynthesen  miteinander  im  Kampfe  liegen.  Das  er- 
klärt sich  daraus,  daß  sich  das  Pittoreske  nicht  nur  bei  ästhetischer 
Einstellung  geltend  macht,  sondern  sich  auch  im  täglichen  Leben  auf- 
drängt, wo  wir  energischer  auf  Orientierung  und  Erkenntnis  der  Dinge 
eingestellt  sind.  Vor  dem  Kunstwerk  sind  wir  ausschließlicher  dem 
sinnlichen  Eindruck  hingegeben,  und  unser  Wissen  wird  nur  wirksam, 
soweit  es  mit  Anschauung  verschmolzen  ist.  Anderseits  zerreißt  in 
der  Natur  der  flächenhafte  Zusammenhang  sofort,  wenn  die  plastische 
Gestalt  der  Dinge  zu  anschaulich  hervortritt,  und  darum  können  sich 
hier  keine  starken  Spannungen  entwickeln.  Im  Kunstwerk  kann  die 
isolierende  und  zusammenhaltende  Kraft  der  Fläche  sehr  weit  gestei- 
gert werden,  sie  behauptet  sich  auch  gegen  starke  Anschaulichkeit  der 
Oegenstandsform.  Aber  bei  all  diesen  Unterschieden  zwischen  dem 
Malerischen  in  der  Natur  und  der  darstellenden  Funktion  der  Kunst, 
wie  sie  in  dieser  Arbeit  bestimmt  wurde,  überwiegt  doch  die  grund- 
sätzliche Verwandtschaft.  Wir  legen  Wert  auf  diese  Tatsache,  weil  sie 
zeigt,  wie  entwickelt  das  Gefühl  für  die  eigentümliche  Wirkung  der 
Malerei  stets  war,  obwohl  es  nie  ins  Bewußtsein  drang  und  theore- 
tisch angemessenen  Ausdruck  fand. 

So  wird  uns  der  volkstümliche  Gebrauch  des  Wortes  ^malerisch* 
zum  Schlüssel  für  das  Wesen  der  Malerei,  und  wir  haben  ein  Recht, 
den  Namen  auf  alle  Phänomene  der  Kunst  auszudehnen,  die  sich  aus 
dem  Dualismus  zwischen  optischer  Erscheinung  und  Gegenstand  er- 
geben, ganz  gleich,  ob  die  optische  Form  aus  Linien  oder  Farben 
oder  Helligkeitsunterschieden  aufgebaut  ist,  und  ganz  gleich,  auf  welche 
Weise  die  Gegenstandsynthese  erzeugt  wird.  Der  Begriff  des  Maleri- 
schen bezeichnet  also  die  Beziehung  zwischen  körperlicher  und  flächen- 
hafter  Anschauungsynthese,  ihren  Gegensatz  und  ihren  Ausgleich.  Dem 
entspräche  der  Begriff  des  Plastischen  für  das  Verhältnis  zwischen 
Körperform  und  Seele,  für  jene  Phänomene  also,  die  als  »Verkörperung 
eines  seelischen  Gehalts«  der  Ästhetik  vertraut  sind.  Will  man  daneben 
eine  körperlich  isolierende  Auffassung  des  Sichtbaren  von  einer  räum- 
lich und  flächenhaft  gebundenen  unterscheiden  —  ein  Gegensatz,  der 
ganz  anderer  Art  ist  — ,  so  bleiben  dafür  die  Bezeichnungen  hap tisch 
und  optisch  die  angemessensten. 

Es  sei  zum  Schluß  nochmals  hervorgehoben,  daß  die  Wirkung 
eines  Bildes  nicht  auf  das  Malerische  beschränkt  ist.    Die  Malerei  hat 


154  KURT  THEODOR. 


an  den  eigentümlichen  Wirkungen  sämtlicher  Künste  teil:  am  Musikali- 
schen in  den  Rhythmen  und  Harmonien  von  Linie  und  Farbe,  am 
Architektonischen  in  Aufbau  und  Oewichtsverteilung  der  räumlichen 
Komposition,  am  Plastischen  in  der  anschaulichen  Gestaltung  von  Er- 
lebniswerten, am  Poetischen  in  der  Beseelung  und  Verinnerlichung 
der  Außenwelt.  Aber  im  Mittelpunkt  der  Wirkung  steht  doch  das 
Malerische,  d.  i.  die  Entwicklung  einer  Dingwelt  aus  der  optischen 
Erscheinung,  räumlicher  und  körperlicher  Gestalt  aus  dem  abstrakten 
Organismus  der  Fläche,  und  individuellen  Lebens  aus  den  unpersön- 
lichen Kräften  der  formalen  Gebilde. 


V. 

Die  Begründung  der  deutschen  Kunstwissenschaft 
durch  Christ  und  Winckelmann. 

Von 

Wilhelm  Waetzoldt. 

1. 
In  den  Jahren  1735—1756  lehrte  als  »große  Zierde«  an  der  Uni- 
versilät  Leipzig  ein  gepflegter,  vielgereister,  -erfahrener,  -belesener  Mann, 
Johann  Friedrich  Christ.  Diese  durchaus  nicht  im  Bücherstaub  wun- 
derlich und  trocken  gewordene,  sondern  harmonisch  durchgebildete, 
geistreiche  Natur  von  aristokratischer  Haltung  und  Lebensweise  er- 
öffnet den  Reigen  der  Altertumsforscher  und  Kunstgeschichtsschreiber 
des  18.  Jahrhunderts.  Christ  ist  Winckelmanns  Vorläufer.  Und  doch 
werden  wir  uns  nicht  verleiten  lassen  dürfen,  den  Ruhm,  der  Begrün- 
der der  deutschen  Kunstwissenschaft  gewesen  zu  sein,  von  Winckel- 
mann auf  Christ  zu  übertragen.  Christs  Vorlesungen  —  in  ihnen  muß 
er  sein  Bestes  gegeben  haben  —  die  er  durch  Vorzeigen  von  Gegen- 
ständen aus  seinem  reich  ausgestatteten  »Museum«  anschaulich  zu 
machen  liebte,  diese  Vorlesungen  faßten  unter  dem  Titel  »Literatur« 
oder  »Archäologie  der  Literatur«  als  einen  neuen  akademischen  Lehr- 
gegenstand zusammen:  Inschriften-,  Statuen-,  Münzkunde,  Diplomatik, 
Geschichte  des  gedruckten  Buches  sowie  des  Kupferstichs  u.  a.  m. 
Über  alle  diese  Wissensgebiete  hat  Christ  gelesen  und  geschrieben. 
Archäologie  und  Kunstgeschichte  wurden  von  ihm  sozusagen  noch 
in  eine  Windel  gewickelt.  Winckelmanns  Kolumbustat  sollte  es  dann 
werden,  aus  dem  Knäuel  antiquarischer  und  kunsthistorischer  Diszi- 
plinen, die  sich  unter  Christs  Sammeinamen  -de  re  Uteraria  versteckt 
hatten,  die  »Geschichte  der  Kunst  des  Altertums«  als  Archäologie  los- 
zulösen und  diese  neue  Wissenschaft  nicht  als  Literaturgeschichte,  son- 
dern als  Denkmäler-  und  Stilgeschichte  zu  treiben.  Und  noch  nach 
einer  anderen  Seite  muß  von  vornherein  die  Grenze  zwischen  dem 
hochtalentierten  Christ  und  seinem  genialen  Nachfolger  Winckelmann 
gezogen  werden:  Christs  Wissen,  seine  Kritik,  seine  von  techni- 
schen, ästhetischen,  historischen,  philologischen  Standpunkten  aus- 
gehenden Forschungen  haften  am  Einzelnen,  am  Einzelwerk,  an  Einzel- 


166  WILHELM  WAETZOLDT. 


fragen  und  einzelnen  Künstlern.  Ihm  fehlt  noch  durchaus  die  Ein- 
sicht in  die  Kunst  als  eine  gewordene  und  gewachsene  Gesamtheit 
von  Erscheinungen.  Winckelmann  erkannte,  daß  Kunstwerke  nicht 
nur  illustrieren  und  monumentalisieren,  sondern  Sinn  und  Wert  in 
sich  selbst  tragen  —  und  dadurch  schuf  er  sich  aus  einem  Antiquar 
zu  einem  Kunsthistoriker  um.  Christs  kunsthistorische  Forschungen 
bleiben  dagegen  stets  ein  Stück  Altertumswissenschaft. 

Wir  fragen  hier  nicht  nach  den  Lorbeeren,  die  Christ  als  Professor 
der  Geschichte  und  Dichtkunst  auf  philologischen  Feldern  geerntet  hat, 
sondern  einzig  nach  seiner  Bedeutung  als  Kunstwissenschaftler.  In  der 
Geschichte  unserer  Wissenschaft  hat  er  zunächst  einen  festen  Platz  unter 
den  Lexikographen.  Seine  monographische  Studie  über  Lukas  Cranach 
(in  den  Fränkischen  Acta  erudita  et  curiosa  1.  Slg.  Nürnberg  1726) 
war  eine  Probe  aus  einem  geplanten  und  begonnenen  großen  Künstler- 
lexikon, sein  wichtigstes  kunsthistorisches  Buch  ist  ein  Lexikon:  die 
1747  erschienene  »Anzeige  und  Auslegung  der  Monogrammatum«. 
Eine  »Einleitung  in  die  Geschichte  der  Malerei  nach  Nationen  und 
Schulen,  besser  eingeteilt«  (als  z.  B.  die  des  Sandrart)  ist  nie  zustande 
gekommen,  wie  so  vieles,  was  diesem  ideenreichen  Kopfe  als  Plan  und 
Einfall  entsprang.  Christ  war  der  typische  Miszellenschreiber,  ein 
Meister  dieser  Gattung,  der  zu  größeren  Büchern  nicht  kam,  sie  auch 
wohl  für  seine  Person  ablehnte. 

Die  vielgeschmähte  Hofmeister-  und  Reisebegleiterbildung  deut- 
scher Gelehrter  des  18.  Jahrhunderts  erwies  sich  in  Christs  Falle  im 
Bunde  mit  dem  Dilettantismus  in  den  bildenden  Künsten  als  eine  Er- 
ziehung zum  freien,  geschmackvollen,  eleganten,  sinnlich  aufgetanen 
Menschen.  Reisen  und  Sehen,  Selbermachen  und  Sammeln,  Sichten 
und  Forschen,  Kunstanschauung  und  Philologie  hielten  sich  hier  glück- 
lich die  Wage.  Christ  blieb  nämlich  Philologe,  auch  der  Kunst  gegen- 
über. Das  kennzeichnet  seine  Methode.  Die  Vorzüge  altgewohnter 
philologischer  Arbeit:  Kritik  der  Quellen,  Prüfung  von  Urbild  und  Nach- 
bildern, das  Bauen  auf  richtigen  und  klaren  Merkmalen,  Urkunden  und 
Beweisen  und  das  Ablehnen  von  Schlußfolgerungen  auf  ein  bloßes 
Vermuten  hin,  alles  das  zeichnet  Christs  kunstgeschichtliche  Arbeiten 
aus,  gibt  ihnen  ihre  Eigenbedeutung  und  ihren  Wert  und  läßt  Christ 
als  einen  der  ersten  die  Wege  rein  empirischer,  kritisch-philologischer 
Kunstforschung  einschlagen,  die  erst  hundert  Jahre  später  von  Fiorillo, 
Rumohr,  Waagen,  Passavant  u.  a.  wieder  betreten  werden  sollten. 
Christs  Leistung  als  Kunsthistoriker  ist  nur  eine  Teilerscheinung  des 
großen  Dienstes,  den  die  Philologie  überhaupt  durch  Ausbildung  der 
Quellenkritik  und  -Interpretation  zu  bewußt  gehandhabter  Technik  der 
Geschichtsschreibung  geleistet  hat.    Diese  methodische  Zucht  kam  zu- 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.   ]  67 

nächst  der  Altertumswissenschaft  zugute,  der  sie  Winckelmann  und 
Heyne  zuführten,  und  erst  nach  dem  Durchgang  durch  Kunstdogma 
und  Kunstkonfession,  Theorien  und  Phantasien  fand  die  Kunstgeschichte 
zum  Positivismus  der  Arbeiten  eines  Christ  wieder  zurück. 

Christ  debütierte  mit  der  Schrift  über  Cranach,  und  sein  Haupt- 
interesse blieb  der  deutschen  Kunst.  Ais  die  dunkelste  und  verwirr- 
teste bedurfte  sie,  so  meinte  er  mit  Recht,  vorzüglich  des  Forscher- 
fleißes. Die  alten  deutschen  Meister  aus  der  Nacht  der  Vergessenheit 
zu  ziehen,  war  sein  Ehrgeiz.  Hier  war  ja  noch  so  gut  wie  alles  zu 
tun:  Christ  tat,  was  in  seinen  Kräften  stand  —  und  tat  es  in  deutscher 
Sprache.  Der  Meister  eines  eleganten  und  fließenden  Latein  hat  mit 
der  deutschen  Sprache  ringen  müssen,  bis  er  sie  sich  zu  einem  ge- 
fügigen Werkzeug  gelehrten  Ausdruckswillens  geschaffen  hatte.  Der 
stilistische  Gegensatz  der  beiden  um  21  Jahre  auseinander  liegenden 
Schriften  zeigt  deutlich  den  außerordentlichen  Fortschritt  des  deutschen 
Schriftstellers  Christ.  Im  Cranachartikel  noch  die  mit  französischen 
und  lateinischen  Fremdwörtern  gespickte  Modesprache  der  guten  Ge- 
sellschaft im  ersten  Drittel  des  18.  Jahrhunderts,  im  Monogrammen- 
lexikon dagegen  ein  Deutsch,  das  die  »gemeinen  Worte  unserer  Väter 
und  Großväter«  wieder  lebendig  macht  und  sich  seinem  Ideal:  dem 
lutherischen  Kern-  und  Kraftdeutsch  nähert. 

Als  Christ  an  seine  kleine  Cranachmonographie  ging,  war  ihm 
klar,  daß  er  seinen  kritisch-besonnenen,  überall  nach  den  Quellen  fra- 
genden methodischen  Standpunkt  nach  zwei  Seiten  hin  zu  verteidigen 
habe,  zunächst  gegen  diejenigen  seiner  Landsleute,  die  »entweder  aus 
Unwissenheit  der  Kunst  oder  gefaßtem  Vorurteil  in  der  festen  Meinung 
(stehen),  daß  Lukas  Cranach  die  Teutsche  Malerei  auf  einen  so  hohen 
Grad  erhoben,  daß  er  über  die  Beurteilung  gesetzt,  und  nur  mit  Be- 
wunderung anzusehen  sei«.  Ihnen  gegenüber  wagt  Christ  eine  Kritik 
Cranachscher  Werke  auf  ihre  verschiedene  Wertigkeit  hin,  denn  er 
spricht  es  klar  aus,  daß  man  »unter  der  Güte  seiner  Sachen,  nach  der 
Zeit,  wann  und  zu  wes  Ende  sie  gemacht,  einen  großen  Unterschied 
machen  muß«.  Andere  Gegner  sah  Christ  voraus  in  jenen  Kunst- 
freunden, welche  »mit  großen  Ideen,  aus  Betrachtung  der  schönen 
Sachen  in  Italien,  den  Niederlanden  oder  Frankreich,  eingenommen,  und 
mit  einem  Ekel  gegen  alles  das,  was  von  dem  gotischen  Wesen  bei 
sich  führt,  erfüllt  werden«,  und  nun  alles,  »was  Cranach  gemacht,  in 
Gegeneinanderhaltung  ihrer  besseren  Ideen,  gleich  anfangs  mit  ver- 
ächtlichen Augen«  ansehen  und  sich  wundern,  wie  »ein  dergleichen 
Meister  so  hohe  Reputation  erhalten  mögen«.  Ihrer  Befangenheit 
gegenüber  arbeitet  Christ  vorurteilslos  die  Merkmale  des  Cranach- 
schen  >^gout<ü  heraus,  der,  wie  es  in  einem  Schlußurteil  heißt,  freilich 


168  WILHELM  WAETZOLDT. 

»um  ein  merkliches  gotischer  und  l<leiner  als  Dürers«  sei.  Aus  eigener 
Anschauung,  Prüfung  und  Vergieichung  Cranachscher  Werke  wird 
seinem  »Oenie«  die  Stellung  in  der  deutschen  Kunst  angewiesen. 
Das  führt  Christ  zu  einem  Versuch,  den  Begriff  der  deutschen  Kunst 
festzustellen  und  ihren  Verlauf  erstmals  zu  periodisieren.  »Einen 
teutschen  Künstler  nenn  ich,  welchen  ich  nicht  nur  von  den  fran- 
zösischen und  italienischen  Malern,  sondern  auch  vornehmlich  von 
den  Niederländern  unterschieden  wissen  will,  weil  jede  dieser  Nationen 
im  Malen  ihre  besonderen  Manieren  geheget  hat.  Weil  nun  diese 
Manieren  ab  arte  restaurata  sich  mit  der  Zeit  verändert,  so  teilt  man 
wieder  jede  Nation  in  ihre  Kunstperiodos  ein.  Dieserwegen  nenne  ich 
unter  den  Teutschen,  welche  zu  Ende  des  XV.  und  Anfang  des  XVI. 
seculi  floriert  haben  bis  ohngefähr  1580  die  älteren,  ferner  bis  1680 
die  mittleren,  und  endlich  von  da  an  bis  auf  die  gegenwärtige  Zeit, 
die  neueren  teutschen  Künstler.«  Mit  diesem  in  einer  Anmerkung 
versteckten  Einteilungsversuch  kommt  Christ  weit  über  den  von  ihm 
oft  kritisch  zitierten  Sandrart  hinaus.  Daran  ändert  nichts,  daß  auch 
noch  Christs  kunsthistorisches  Gesamtbild  ganz  beherrscht  ist  von 
der  italienischen,  zuerst  von  Ghiberti  in  die  Welt  gesetzten  Cimabue- 
theorie.  Das  heißt:  »gotisch«  nennt  er  alles,  was  entstanden  ist  vom 
Einfall  der  Goten  bis  auf  Wiederherstellung  der  Kunst  (ars  restaurata), 
»welche  in  Italien  unter  Cimabue,  Giotto  und  Gaddi  im  XIII.,  in  den 
Niederlanden  unter  den  beiden  van  Eyck  und  einigen  unbekannten, 
zu  Ende  des  XIV.,  in  Teutschland  aber,  zu  Ende  des  XV.  seculi  unter 
Dürer,  unserem  Lukas  und  Holbein  erfolgt«  sei. 

Beim  Zusammenbringen  seiner  großen  Kupferstichsammlung  hatte 
Christ  den  mannigfachen  Nutzen  der  Graphik  (der  »niederen  Malerei«) 
für  alle  historische  Beschäftigung  mit  bildender  Kunst  erkannt.  Jedes 
Kupferstichstudium  setzte  voraus  die  Beschäftigung  mit  den  Maler- 
und Stechersignaturen,  deren  erhellender  Wert  besonders  in  der  noch 
in  Finsternis  liegenden  deutschen  Kunstgeschichte  Christ  wohl  an  der 
Cranacharbeit  bereits  aufgegangen  war.  Jahrelang  trieb  er  in  leeren 
Viertelstunden  die  »unschuldige  Zeichendeuterei<  und  schenkte  schließ- 
lich 1747  der  Forschung  das  erste  brauchbare  und  musterhaft  ge- 
arbeitete Monogrammenlexikon.  Der  Philologe  Christ  ging  streng  von 
den  Originalblätfern  aus,  die  er  von  nachgemachten  Blättern,  von 
Kopien  und  Fälschungen  zu  scheiden  suchte.  Im  Gegensatz  zu  den 
unzuverlässigen  Angaben  seiner  Vorgänger  Sandrart,  Marolles,  Mal- 
vasia,  Le  Comte,  Orlandi  schied  Christ  folgerichtig  Selbstgesehenes, 
wirklich  Beobachtetes  von  nur  Gehörtem,  Gelesenem  und  von  anderen 
Bemerktem.  Hierin  wurde  er  der  Vorläufer  eines  Hagedorn,  Heinecken 
und  anderer  wahrer  Kenner  und  Sammler  des  18.  Jahrhunderts.   Christ 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.  169 

fällt  nicht  in  den  typischen  Fehler  künstlerischer  und  wissenschaft- 
licher Dilettanten,  in  sein  jeweiliges  Problem  blind  verliebt  zu  sein 
und  dessen  Bedeutung  zu  überschätzen.  Auch  der  Zeichendeuterei 
gegenüber  bewahrt  er  sich  die  klare  Einsicht  in  die  Grenzen  des 
methodischen  Wertes  der  Künstlersignaturen.  Er  will  niemand  raten, 
:.daß  er  allerdings  (=  stets)  auf  Unterschrift  und  Zeichen  traut  und 
daran  hangen  soll«.  Dieses  echt  wissenschaftliche  Mißtrauen  auch 
dem  scheinbar  unantastbar  Urkundlichen  gegenüber  läßt  ihn  in  großer 
gedanklicher  Kühnheit  höher  als  die  Philologie  des  Auges  die  Stil- 
kritik bewerten.  Der  Kunstkenner  soll  sich  nämlich  nicht  auf  die 
Signaturen  verlassen,  sondern  »die  Werke  der  Meister  aus  dem  gar 
deutlichen  Unterschied  des  Geistes,  der  Regel,  des  Risses  und  der 
Manieren  erkennen  lernen«.  Das  war  eine  Idealforderung,  vielleicht 
hätte  Christ  ihr  genügen  können;  für  die  antike  Kunst  löste  Winckel- 
mann  alle  Aufgaben,  die  Christ  gestellt  hatte. 

Winckelmann  hat  Christs  Vorlesungen  nicht  gehört,  ob  er  seine 
Schriften  kunsthistorischen  Inhaltes  gekannt  hat,  wissen  wir  nicht. 
Als  Winckelmann  sich  von  Rom  aus  dem  Leipziger  Gelehrten,  von 
dessen  Hand  er  eine  Besprechung  seiner  Erstlingschrift  wünschte, 
c^mpfehlen  ließ,  in  der  Hoffnung,  Christ  einmal  durch  Roms  Kunst- 
schätze zu  führen,  war  dieser  schon  gestorben.  Aber  sein  lebendiger 
Geist  wirkte  fort  in  den  Schülern,  zu  deren  größten  Heyne  und  Les- 
sing, die  artverwandten  hellen  Geister  gehört  haben.  Durch  Oeser 
hat  Christs  edle  und  reiche  Persönlichkeit  noch  das  erwachende  Genie 
Goethes  berührt.  Was  war  es  schließlich,  das  den  gelehrten  Mann 
überdauerte?  Daß  er  in  Leben  und  Werken  wirklich  war,  was  er 
sein  wollte:  ein  künstlerisch  empfindender  Mensch.  Den  Wert  der 
Empfindung  für  die  »feine  und  holdselige«  Kunst  in  einer  tief  ratio- 
nalistischen Zeit  nicht  nur  gepredigt,  sondern  wahrhaft  vorgelebt  zu 
haben,  das  war  Christs  Verdienst:  »Wie  niemand  sich  dessen  zu 
schämen  hat,  wenn  er  nach  dem  Maße  seiner  Erziehung  und  seines 
Standes,  unkünstlich  und  ungelehrt  ist:  also  ist,  ohne  Liebe  und 
Empfindung  der  Kunst  und  ohne  alle  Einsicht  in  das  Annehmliche 
und  Schöne,  das  in  ihren  Werken  ist,  leben  und  ein  Mensch  sein 
wollen,  jedermann,  auch  den  Kleinen  und  Ungelehrten,  eine  Schande '. 

2. 

:»Sodann  schlummert  hier,  hoch  über  dem  Adriatischen  Meer,  zwi- 
schen den  Akazienbüschen,  die  Asche  desjenigen  Mannes,  welchem 
die  Kunstgeschichte  vor  allen  anderen  den  Schlüssel  zur  vergleichen- 
den Betrachtung,  ja  ihr  Dasein  zu  verdanken  hat.« 

Mit  diesen  ergriffenen  und  ergreifenden  Worten  gedenkt  Jakob 


170  WILHELM  WAETZOLDT. 


Burckhardt  in  seinem  Cicerone,  im  Abschnitt  über  den  Dom  von 
Triest,  seines  großen  Vorgängers  Winckelmann. 

Winckelmann  ist  trotz  Christs  Leistung  der  Begründer  der  Kunst- 
wissenschaft in  Deutschland,  er  machte  aus  Stoffsammlung  Geschichts- 
schreibung. Dadurch  aber,  daß  Winckelmann  als  erster  Deutscher 
Geschichte  der  Kunst  »philosophisch«  betrieb,  wie  das  18.  Jahrhundert 
sich  ausdrückte,  indem  er  kunstgeschichtliche  Erkenntnisse  auf  Grund- 
tatsachen geschichtlichen  Seins  überhaupt  zurückführte  und  die  Kunst- 
historie in  den  großen  Zusammenhang  historischer  Wissensgebiete  ein- 
ordnete, hat  er  mehr  getan  als  ein  neues  Fach  auf  die  Füße  gestellt, 
er  hat  für  seine  Nation  Unvergängliches  geleistet.  Winckelmann  gab 
dem  deutschen  Geiste  ein  neues  Organ  Kunst  zu  fühlen,  er  führte  die 
Welt  der  Kunst  in  den  Kreis  unserer  Nationalbildung  ein  und  schließ- 
lich :  durch  den  Stil  seiner  Werke  erhob  er  auch  an  seiner  Statt  deutsche 
gelehrte  Literatur,  deutsche  wissenschaftliche  Prosa  zum  Range  euro- 
päischen Schrifttums;  die  Geschichte  der  Kunst  des  Altertums  hat  für 
die  deutsche  Prosa  kaum  mindere  Bedeutung,  wie  Klopstocks  Messias 
für  die  deutsche  Poesie. 

Lebens-  und  Bildungsgeschichte  des  1717  geborenen  Mannes  wird 
beherrscht  von  einem  grandiosen  Szenen-,  Licht-,  Stimmungs-  und  Um- 
gebungswechsel. Dieser  große  Gegensatz  gibt  auch  dem  Justischen 
Gemälde  Winckelmanns  und  seiner  Zeitgenossen  die  Kontrastwirkung 
einer  dunklen  Hälfte:  Winckelmann  in  Deutschland  und  einer  hellen 
Hälfte:  Winckelmann  in  Italien.  Hier  Winckelmann  in  kunstloser  oder 
armer  Umgebung,  dort  im  Mittelpunkt  großer  Kunst,  hier  Lehrer  und 
Bibliothekar,  dort  Präfekt  der  Altertümer  und  Kunsthistoriker.  Aus 
Druck,  Entbehrung  und  Unbekanntsein  führt  die  Lebenskurve  auf- 
wärts zu  Freiheit,  Genuß  und  europäischem  Ruhm.  Aus  theologisch- 
philologischer Befangenheit  befreit  sich  sein  Geist  zu  Weltbildung. 
Der  Drang,  dem  Ideal  nachzuleben,  die  fast  übermenschliche  Kraft, 
das  Sehnsuchtsziel  zu  erreichen,  hat  Winckelmann  zu  einer  fast  sym- 
bolischen Erscheinung  werden  lassen  für  deutschen  Idealismus  und 
edelsten  Bildungstrieb,  symbolisch  auch  für  den  Mann  des  dritten 
Standes,  der  ans  Licht  drängt,  für  den  Bürger  des  18.  Jahrhunderts, 
der  als  Gleichberechtigter  sich  an  den  Tisch  der  Fürsten  setzt  und 
mit  der  Waffe  des  Geistes  in  die  alte  ständisch-aristokratische  Welt 
einbricht. 

Die  ersten  Kunsteindrücke  empfing  Winckelmann  in  einem  pro- 
vinziellen Winkel  mittelalterlich- kirchlicher  Kunst.  Auf  gotischen  Back- 
steinkirchen und  Wehrbauten  Stendals  ruhen  die  Knabenblicke,  durch 
gotische  Chorfenster  der  Franziskanerkirche  fällt  das  Licht  auf  seinen 
Schultisch.    In  einer  sonst  kunstlosen  Umgebung  erlebte  er  Eindrücke 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.   1  ^  1 

strenger  alter  Werke,  und  vielleicht  empfing  sein  Geist  hier  schon  die 
Richtung  und  den  Anstoß,  ein  Erforscher  und  Liebhaber  von  Alter- 
tümern und  ein  Kritiker  seiner  Gegenwart  zu  virerden. 

Zwei  Universitätsjahre  in  Jena  und  Halle  bringen  nicht  das  Auf- 
atmen, sondern  ein  Versinken  in  Bücherstaub.  Den  angehenden  Theo- 
logen Winckelmann  zwang  ein  Edikt  Friedrich  Wilhelms  I.  in  Halle  zu 
studieren.  Voltaire  hatte  gesagt,  wer  die  Krone  der  deutschen  Ge- 
lehrten sehen  wolle,  müsse  nach  Halle  gehen,  Winckelmann  nannte 
Halle  die  Stadt  der  Blinden.  Und  doch  dankte  Winckelmann  Halle 
die  erste  Berührung  mit  seinem  späteren  Forschungsgebiet,  der  grie- 
chisch-römischen Altertumswissenschaft.  Hier  las  Johann  Heinrich 
Schulze  sein  später  (1766)  als  Buch  erschienenes  Kolleg  über  grie- 
chische und  römische  Altertümer  nach  Münzen.  Winckelmann  hatte 
es  gehört  und  die  ersten  Kleinbilder  der  Götter  in  die  Hand  ge- 
nommen, deren  Verherrlicher  an  den  Originalen^ der  großen  Kunst  er 
werden  sollte.  Im  übrigen  erweckte  der  Besuch  der  Vorlesungen  des 
Modephilosophen  Christian  Wolff  und  des  Begründers  der  ästheti- 
schen Wissenschaft,  Alexander  Baumgarten,  nur  seine  Abneigung  gegen 
die  Zunftgelehrten,  die  wissen,  was  andere  gewußt  haben,  für  die  es 
genug  ist,  Titel  und  Indices  von  Büchern  zu  kennen  im  Gegensatz  zu 
Leuten,  die  Empfindung  haben  und  denken.  Auf  der  Universität  schon 
nahm  er  sich  vor,  einmal  für  Menschen,  die  nicht  Universitätskennt- 
nisse haben,  zu  schreiben  —  er  wurde  der  erste  in  der  Reihe  der 
Professorenverspotter :  Lichtenberg — Schopenhauer — Nietzsche. 

Die  Berührung  des  Begründers  der  Kunstgeschichte  mit  dem  Vater 
der  Ästhetik  hatte  bei  Winckelmann  nur  zur  Folge  den  Abscheu  vor 
den  im  Zimmer  ausgebrüteten  metaphysischen  Grillen  der  Weltweisen 
und  die  Sehnsucht  nach  lebendiger  Kunstanschauung,  als  einzig  mög- 
licher Rechtfertigung  und  Quelle  aller  Kunstschreiberei.  Baumgarten 
und  sein  Schüler  und  Nachfolger  G.  F.  Meier  systematisierten  die 
Kunst,  ohne  sie  zu  kennen,  sie  trieben  Ästhetik,  ohne  ästhetische  Er- 
lebnisse zu  haben  und  demonstrierten  ihre  Sätze  fast  ausschließlich 
an  den  redenden  Künsten.  Winckelmanns  Sehnsucht  nach  Erfahrung 
und  Anschauung  statt  nach  Wissen  von  Begriffen  und  Worten,  die 
die  Geisteswissenschaft  nicht  befriedigen  konnte,  flüchtete  zur  Natur- 
wissenschaft. Auf  den  gleichen  Weg  wies  ihn  ein  angeborenes  starkes 
Naturgefühl,  wie  es  später  in  schwärmerischer  Verehrung  des  südlichen 
Meeres  und  der  großen  Naturschauspiele,  z.  B.  des  Vesuvausbruchs 
(1767)  zutage  trat.  Bei  Gottfried  Seil  in  Halle,  dann  bei  Georg  Ehr- 
hard  Hamberger  in  Jena  lernte  Winckelmann,  was  dem  Archäologen 
zustatten  kommen  sollte,  zu  scheiden  und  zu  vergleichen,  eine  Ge- 
samterscheinung zu  analysieren,  auch  das  Kleinste  zu  beachten  und 


172  WILHELM  WAETZOLDT. 

das  Charakteristische  festzuhalten.  Den  Vorzug  naturwissenschaftlicher 
Erziehung  haben  viele  Kunstforscher  am  eigenen  Leibe  erfahren,  z.  B. 
hat  ihn  Anton  Springer  ausdrücklich  bezeugt.  Winckelmann  —  ähn- 
lich darin  Goethe  —  war  so  verliebt  in  diese  Welt  der  Sinne,  daß  er 
in  seinen  letzten  Lebensjahren  sich  mit  dem  Plan  trug,  nach  Abschluß 
der  archäologischen  Arbeiten-  sich  der  Physik  zuzuwenden.  »Meine 
letzten  Betrachtungen  werden  von  der  Kunst  auf  die  Natur  gehen.« 

Und  doch:  es  darf  nicht  vergessen  werden,  daß  es  der  Hallische 
Kanzler  v.  Ludewig  war,  der  Winckelmann  auf  die  geschichtliche  Bahn 
wies  und  damit  die  für  sein  Leben  entscheidende  Richtung  gab.  In 
der  Bünauschen  Bibliothek  zu  Nötnitz  und  in  der  Dresdener  Galerie 
sowie  im  Atelier  Oesers  wird  aus  Winckelmann,  dem  märkischen  Kon- 
rektor und  Studenten  der  Theologie,  der  zukünftige  Historiograph  und 
Kunstkenner.  Die  Bedeutung  Dresdens  für  seine  Bildungsgeschichte 
kann  gar  nicht  überschätzt  werden:  es  hat  ihm  zu  sich  selbst  geholfen. 
Dresden  war  die  erste  Kunststadt  des  Nordens,  eine  Kolonie  Italiens 
auf  sächsischem  Boden,  die  Stadt  des  Rokoko,  für  Winckelmann  so 
ein  Vorgeschmack  Roms,  wie  später  für  Wackenroder  Halle  ein  Vor- 
spiel Nürnbergs.  In  Dresden  traten  Kunstwerke  an  die  Stelle  der 
Bücher,  Künstler  lösten  die  Professoren  ab,  Winckelmann  lernte  hier 
nicht  mehr  in  Hörsaal  und  Büchereien,  sondern  in  Galerie  und  Atelier, 
eine  neue  Art  der  Erkenntnis  wurde  ihm  zuteil:  aus  den  Dingen  und 
der  Anschauung  statt  aus  Begriffen  und  Worten.  Das  Gefühl,  daß 
ihm  die  Augen  geöffnet  wurden,  war  so  stark,  daß  Winckelmann,  wie 
Goethe  in  Rom,  da  er  unter  die  Maler  geriet,  glaubte,  »Gott  und  die 
Natur  hätten  einen  Maler  und  einen  großen  Maler  aus  ihm  machen 
wollen«.  Er  wurde  es  nicht,  denn  es  gibt  keinen  Raphael  ohne  Hände. 
Was  nun  diesem  literarisch  durchtränkten  Geist  vor  Augen  trat,  waren 
die  Ausläufer  französischer  und  italienischer  festlich-prunk-  und  pracht- 
voller Architektur  in  Hofkirche,  Zwinger,  Großem  Garten  und  eine 
Galerie,  deren  Kern  die  großen  Cinquecentisten  und  Seicentisten  bildeten; 
ein  typisches  Zeugnis  für  Fürstengeschmack  und  Fürstenmacht  des 
18.  Jahrhunderts.  Die  Sammlung  war  nicht  zusammengebracht,  um 
Kunstgeschichte  zu  lehren  —  sie  besaß  nichts  aus  der  Kunstperiode 
vor  Raphael  —  sie  war  für  den  Genuß  des  Schönen  bestimmt,  das 
man  gerade  bei  den  späten  Italienern  fand;  weder  legte  man  an  jedes 
Bild  den  Maßstab  höchster  Originalität,  noch  ließ  man  sich  durch  den 
Begriff  des  Eklektizismus  schrecken;  man  kostete  gern  den  aus  ver- 
schiedenen Blumen  gesammelten  Honig. 

In  dieser  Fülle  sah  Winckelmann  nur  wenig.  An  der  Schönheit 
der  Dresdner  Bauten  ging  er  blind  vorüber,  die  Tonkunst  großen 
Stils,  in  der  Hofkirche  stets  gepflegt,  fand  sein  Ohr  nicht,  die  Schätze 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.   1 73 


des  Kolorits  bei  Niederländern  und  Italienern  rührten  sein  Auge  nicht, 
ihm  fehlt  der  Sinn  für  Helldunkel,  Handlung,  Komposition,  Charakteri- 
stisches, Ausdruck,  zugänglich  war  ihm  fast  ausschließlich  der  harte 
Umriß,  die  schöne  Drapierung,  die  machtvolle  Ruhe  und  die  idealisierte 
Natur. 

In  Dresden  wurde  Winckelmann  zum  Schriftsteller.  In  Oesers 
Nachlaß  fand  sich  das  Manuskript  »Vom  mündlichen  Vortrage  der 
allgemeinen  neueren  Geschichte«.  Die  hier  entwickelten  Gedanken 
sind  der  Abschied  Winckelmanns  von  der  Beschäftigung  mit  der 
politischen  Geschichtsschreibung  und  zugleich  sein  Programm  für  die 
Geschichtsauffassung,  die  den  kunstwissenschaftlichen  Werken  zu- 
grunde gelegt  wurde.  Die  Ursachen  für  das  Steigen  und  Sinken  der 
Staaten,  den  großen  Kreislauf  aller  Dinge  sucht  Winckelmann  im 
Klimatischen  und  Kulturellen  (in  Handel,  Industrie,  Wissenschaft  und 
Kunst  neben  Krieg  und  Politik).  Das  »Philosophische«  der  Geschichts- 
auffassung Winckelmanns  kennzeichnet  sich  hier  schon  deutlich  durch 
den  universalen  Zug.  Bekannte  antike  Gedanken  über  den  Zusammen- 
hang von  Kunst  mit  Klima,  Boden  und  Rasse  verbinden  sich  mit 
modernen  Ideen.  Montesquieu  war  in  dieser  Richtung  auf  Vertiefung 
und  Bereicherung  der  Geschichtsschreibung  vorangegangen,  indem  er 
in  den  Sfaatsgebilden  und  ihren  Lebensformen  unter  natürlichen  und 
geschichtlichen  Bedingungen  Gewordenes  erkannte  und  so  die  Grund- 
lagen für  eine  historische  Geographie  schuf.  Was  Winckelmann  in  der 
Vorlesung  nur  skizziert  hatte,  wendete  er  an  auf  die  Sonderfrage  nach 
der  Entwicklung  der  Kunst,  nach  ihrer  Vergangenheit,  ihrer  Gegen- 
wart und  Zukunft.  Es  handelt  sich  um  die  »Gedanken  über  die  Nach- 
ahmung der  griechischen  Werke  in  der  Malerei  und  Bildhauerkunst« 
(1755).  Dies  Heftchen  ist  eine  Parteischrift,  entstanden  als  leidenschaft- 
licher Ausdruck  aus  der  Mitte  einer  Gegnerschaft:  es  enthält  Winckel- 
manns »Reformationsthesen«.  Um  die  Stimmung  des  Ganzen  aus  dem 
Parteistandpunkt  der  alten  und  neuen  Kunst  gegenüber  zu  verstehen, 
muß  man  die  geistesgeschichtliche  Situation  zur  Zeit  seiner  Entstehung 
begreifen. 

Das  Buch  entsprang  dem  Zeitgefühl  der  Ermüdung  auf  ästheti- 
schem, ethischem,  politischem  Boden,  der  Empörung  gegen  politischen 
Despotismus  des  ancien  regime  und  seiner  ständischen  Gesellschaft, 
der  Stimmung  der  Auflehnung  gegen  den  auf  Deutschland  lastenden 
Druck,  den  auf  geistigem  Gebiete  Dogmatik,  Zunftgeist,  barbarischer 
Ungeschmack,  Gelehrtenenge,  auf  künstlerischem  »die  freche  Moderne« 
der  letzten  Entwicklungsausläufer  der  Renaissancekunst  und  -kultur  be- 
deuteten. Winckelmann  trat  ein  in  eine  schon  im  Gange  begriffene 
Gegenströmung,  er  wurde  von  einer  rückläufigen  Bewegung  ergriffen, 


174  WILHELM  WAETZOLDT. 


um  schließlich  ihr  Führer  und  Herold  zu  werden.  Die  Sehnsucht  nach 
dem  Einfachen,  Machtvollen,  nach  der  gesunden  und  guten  Kunst  ist 
nur  eine  Seite  jenes  Verlangens  nach  Erneuerung  des  gesamten  Welt- 
bildes. Das  Ziel:  eine  der  höchsten  Bildungsmöglichkeiten  der  Mensch- 
heit in  der  Antike  wieder  zu  gewinnen,  schien  Winckelmann  auch  mit 
dem  Preis  der  Absage  an  die  kranke  Kunst  der  Gegenwart  nicht  zu 
teuer  bezahlt.  Der  Hinweis  auf  die  vorbildliche  Oriechenkunst  ist 
ursprünglich  ein  Gedanke  des  Carracci- Kreises,  den  Bellori  aufge- 
nommen und  verbreitet  hatte.  Winckelmann  will  in  der  Dresdner 
Schrift  nicht  darstellen  nur,  sondern  wirken.  Wirken  auf  die  es 
ankam  zu  wirken.  Dazu  waren  nötig  ein  neuer  lebendiger  Inhalt 
und  eine  neue  Form.  Winckelmann  wollte  in  gutem  Deutsch  nicht 
für  Professoren,  sondern  für  Weltleute  schreiben,  er  legte  keinen  son- 
derlichen Wert  darauf,  von  Gelehrten  gelesen  zu  werden.  Winckel- 
mann, dieser  leidenschaftliche  Leser  der  Montaigne,  Larochefoucault, 
Addison,  Shaftsbury  und  anderer  weltmännischer  Schriftsteller  konnte 
zeigen,  was  er  gelernt  hatte.  Die  Mischung  mannigfaltigster  Ele- 
mente in  seiner  Bildungsgeschichte  kam  der  Lesbarkeit  seiner  Bücher 
zugute,  es  waren  fast  die  ersten  deutsch  geschriebenen,  die  von  den 
höchsten  Ständen  mit  Vergnügen  gelesen  wurden.  Die  Grundge- 
danken werden  uns  im  Zusammenhange  des  Winckelmannschen 
geschichtlichen  Weltbildes  beschäftigen,  hier  einige  Andeutungen 
über  den  Stil.  Winckelmann  legte  höchsten  Wert  auf  ihn,  sammelte 
charakteristische  Aussprüche,  Kritiken,  Grundsätze  über  StiL  Im 
Gegensatz  zur  damaligen  gelehrten  Prosa  mit  ihrer  Unpersönlichkeit, 
Weitschweifigkeit  und  Schwerfälligkeit  suchte  Winckelmann  eine 
»erleuchtete  Kürze«,  wollte  er  mit  halben  Worten  von  der  Kunst 
reden,  wie  die  Maler  gewöhnt  sind.  Er  will  andeuten,  statt  auszu- 
führen, reizen  statt  ermüden.  In  der  Wärme  des  Tons,  der  Markig- 
keit und  sentenzenhaften  Kürze  der  Sätze,  in  Leichtigkeit,  Beweglich- 
keit des  Stiles,  Durchsichtigkeit  des  Aufbaues  und  in  der  Urbanität  des 
Vortrags,  der  den  beliebten  Prunkschmuck  gelehrter  Zitate  meidet,  strebt 
Winckelmann  nach  dem  Umgangston  der  guten  Gesellschaft.  Für  das 
Geschliffene  wie  für  das  Beschwingte  des  Tones  zwei  Beispiele: 
»die  reinsten  Quellen  der  Kunst  sind  geöffnet:  glücklich  ist,  wer  sie 
findet  und  schmeckt.  Diese  Quellen  suchen,  heißt  nach  Athen  reisen 
und  Dresden  wird  nunmehr  Athen  für  Künstler«.  »Seht  die  Madonna 
mit  einem  Gesichte  voll  Unschuld  und  zugleich  einer  mehr  als  weib- 
lichen Größe,  in  einer  selig  ruhigen  Stellung,  in  derjenigen  Stille, 
welche  die  Alten  in  den  Bildern  ihrer  Gottheiten  herrschen  ließen. 
Wie  groß  und  edel  ist  ihr  ganzer  Kontur!  Das  Kind  auf  ihrem  Arm 
ist  ein  Kind  über  gemeine  Kinder  erhaben,  durch  ein  Gesicht,  aus 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.   1 75 

welchem  ein  Strahl   der  Gottheit   durch   die  Unschuld   der  Kindheit 
hervorzuleuchten  scheint.« 

Die  »Gedanken«  und  die  nachfolgenden  Schriften:  der  anonyme 
Selbstangriff  des  ^Sendschreibens«  und  die  namentlich  gezeichnete 
Selbstverteidigung  der  »Erläuterung?  (1756)  —  das  Ganze  eine  litera- 
rische Mystifikation  im  Zeitgeschmack —  nehmen  bei  noch  unzureichen- 
der Kunsterfahrung  die  Grundgedanken  der  schriftstellerischen  Zu- 
kunft Winckelmanns  so  sehr  vorweg,  daß  Herder  recht  hat,  der  1781 
im  deutschen  Merkur  schrieb:  »In  diesem  Schriftchen  liegt,  mich  dünkt, 
die  ganze  Knospe  von  Winckelmanns  Seele;  Rom  konnte  sie  nur  mit 
gelehrtem  Laube  und  mit  Früchten  eines  bestimmteren  älteren  Urteils 
krönen.  Was  Winckelmann  in  Rom  sehen  wollte  und  sollte,  trug  er 
schon  in  sich.« 

Die  kultur-  und  kunstgeschichtliche  Bedeutung  der  50  Exemplare 
der  Gedanken  war:  die  Beschleunigung  des  Endes  der  Rokokowelt. 
Die  lebensgeschichtliche  Folge  des  dem  sächsischen  Kurfürsten  ge- 
widmeten Buches  war  eine  Pension,  die  die  Übersiedlung  nach  Rom 
ermöglichte.  Winckelmann  kommt  in  die  Heimat  seiner  antikischen 
Seele,  wird  verpflanzt  auf  den  Boden,  dem  die  reichste  Frucht  seines 
Geistes  erwachsen  sollte:  die  Geschichte  der  Kunst  des  Altertums. 
Was  brachte  er  an  geistiger  Ausstattung  mit  für  die  großen  Aufgaben, 
die  seiner  warteten? 

Zunächst  die  Kenntnis  antiker,  vor  allem  griechischer  Autoren, 
schon  in  Stendal  und  Seehausen  erworben,  Kunstenthusiasmus  und 
Anfänge  der  Kunstkennerschaft  aus  Dresdner  Tagen,  Quellenstudium 
der  Rechts-  und  Weltgeschichte  aus  der  Bibliothek  zu  Nötnitz.  Der 
wichtigste  Bildungsbestandteil  war  wohl  die  Kenntnis  der  alten  Literatur: 
sie  bedeutete  sprachliche  Schulung  an  Schönheit,  Logik,  Klarheit,  Bild- 
lichkeit des  Griechischen.  Genährt  mit  edelster  Sprachnahrung  hatte 
Winckelmann  sich  gefeit  gegen  das  Pedantische,  Rohe,  Abstruse  und 
Abstrakte,  Banausische  und  Provinzielle  des  gelehrten  deutschen  Jargons. 
Am  Griechischen  lernte  er  edle  Einfalt  und  stille  Größe,  erkannte  er  den 
Unterschied  zwischen  antikem  Pathos  und  Esprit  des  18.  Jahrhunderts. 
Innerhalb  der  griechischen  Kunstwelt  wußte  er  zu  scheiden  zwischen 
dem  hohen  und  schönen  Stil  bei  Äschylos  und  Sophokles.  Winckel- 
manns Sinnlichkeit  erwachte  zuerst  in  der  Sprache.  Von  Wort  und 
Rhythmus,  Anschaulichkeit,  Kernhaftigkeit,  Wucht  und  Süße  des  Sprach- 
lichen wurde  er  unmittelbar  berührt,  ehe  ihm  das  Auge  sich  öffnete 
für  sinnliche  Werte  der  bildenden  Künste.  Die  Bildhaftigkeit  der  homeri- 
schen Sprache  möchte  er  am  liebsten  unmittelbar  für  die  Motivwelt  der 
gestaltenden  Künste  ausbeuten,  darin  auf  den  Pfaden  der  Bodmer  und 
Breitinger  wandelnd,  denen  sich  in  den  »Diskursen  der  Mahlern«  das 


176  WILHELM  WAETZOLDT. 


Poetische  nur  vom  Grenzgebiet  der  Malerei  her  erschlossen  hatte: 
»Was  für  ein  großes  Bild  gibt  Thetis,  die  gleich  dem  Nebel  sich  aus 
dem  Meere  erhebt!«  Aber  das  Umgekehrte  war  für  Winckelmann  nicht 
vorhanden:  Kolorit  und  Zeichnung  im  Gemälde  setzte  er  in  seiner  Er- 
läuterung nicht  gleich  Rhythmus  und  Wortklang  in  der  Poesie,  sondern 
gleich  Silbenmaß  und  Wahrheit  der  Erzählung.  Für  das  Verständnis 
malerischer  Formabsichten  fehlte  ihm  jene  feine  sinnliche  Empfänglich- 
keit, die  er  sprachlichen  Gebilden  gegenüber  besaß:  »Zwei  Verse  im 
Homer  machen  den  Druck,  die  Geschwindigkeit,  die  verminderte  Kraft 
im  Eindringen,  die  Langsamkeit  im  Durchfahren  und  den  ungehemmten 
Fortgang  des  Pfeils,  welchen  Pandaros  auf  Menelaos  abschoß,  sinn- 
licher durch  den  Klang  als  durch  die  Worte  selbst.«  Aus  dieser  Ein- 
seitigkeit der  Winckelmannschen  Sinnlichkeit  erklärt  sich  auch,  daß  er 
bei  aller  Genußfähigkeit  und  Neigung,  sich  jedem  Eindruck  und  jeder 
Stimmung  ganz  hinzugeben,  den  »bloß  sinnlichen  Empfindungen«  ein 
zu  enges  Herrschaftsgebiet  absteckt.  Sie  »gehen  nur  bis  an  die  Haut 
und  wirken  wenig  in  den  Verstände  Damit  verschloß  Winckelmann 
sich  die  volle  ästhetische  Würdigung  großer  Bildgattungen,  wie  der 
Landschafts-  und  Stiilebenmalerei,  die  ja  ganz  an  unsere  sinnliche  Be- 
gabung appellieren.  Winckelmann  gehört  in  die  Gruppe  der  nordi- 
schen Hellenen,  der  sinnlich-übersinnlichen  Freier  um  antike  Schönheit, 
die  durch  Namen  wie  Carstens  und  Thorwaldsen  bezeichnet  wird. 
Goethes  Durchtränktheit  mit  naiver,  antikischer  Sinnlichkeit  war  ihm 
nicht  geschenkt. 

Auf  Rom  hatte  sich  Winckelmann  auch  insofern  in  Dresden  un- 
bewußt vorbereitet,  als  er  alles,  was  ihm  an  moderner  europäischer 
Kunstliteratur  in  die  Hände  fiel,  verschlungen  hatte.  Nichts  Wichtiges 
ist  ihm  dabei  entgangen.  Bei  flüchtigem  Überblick  finden  wir  in  Winckel- 
manns  Arbeitszimmer  von  Italienern  die  Künstlerbiographien  Vasaris, 
Malvasias,  Belloris,  die  theoretischen  Bücher  des  Alberti,  Dolce,  Borg- 
hini  und  Baldinucci,  die  cours  de  peinture  des  Roger  de  Piles  und 
Dubos  Reflektionen  über  Poesie  und  Malerei,  von  englischer  Literatur 
Richardsons  Cicerone  durch  die  italienischen  Kunstschätze.  Als  Winckel- 
mann in  Rom  war,  sank  seine  Achtung  vor  den  Büchern  über  Kunst 
bedeutend,  er  sah,  daß  er  nichts  wußte,  da  er  doch  glaubte,  alles  ge- 
lernt zu  haben,  er  erkannte,  daß  man  erst  vor  den  Altertümern  selbst 
ein  Sehender  wird,  daß  Kunstgeschichte  sich  in  erster  Linie  auf  Kunst- 
werke, in  zweiter  erst  auf  literarische  Nachrichten  gründet.  Ein  tiefes 
Glücks-  und  Freiheitsgefühl  ergreift  Winckelmann  —  es  ist  wie  ein 
großes  Aufatmen,  nach  30  Jahren  des  Elends  doch  noch  mit  unge- 
brochener Schwungkraft  die  Gefilde  der  Seligen  erreicht  zu  haben. 
»Die   mir  gegönnte  Muße   ist   eine  der  großen  Glückseligkeiten,  die 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.   1  ^^ 

mich  das  gütige  Geschick,  durch  meinen  erhabensten  Freund  und 
Herrn,  in  Rom  hat  finden  lassen.  Diese  seiige  Muße  hat  mich  in 
Stand  gesetzt,  mich  der  Betrachtung  der  Kunst  nach  meinem  Wunsche 
zu  überlassen.« 

Der  große,  durch  die  Gedanken  über  die  Nachahmung  im 
wesentlichen  vorbereitete  Wurf  war  die  »Geschichte  der  Kunst  des 
Ahertums«  (1764).  Winckelmann  war  sich  bewußt,  etwas  Außer- 
ordentliches zu  schreiben,  in  diesem  der  Kunst  und  der  Zeit  und  be- 
sonders dem  Freunde  Mengs  geweihten  Buche  ein  wegweisendes 
Werk  zu  geben.  In  den  »Gedanken«  und  den  anschließenden  Schrif- 
ten steckten  zwar  schon  originelle  methodische  Gedanken:  die  Ab- 
hängigkeit der  römischen  von  der  griechischen  Kunst,  der  Versuch, 
den  Stil  einer  Kunst  aus  Klima,  Landschaft,  Volkscharakter  zu  er- 
klären, zwischen  Feinheit  der  Sprache  und  Feinheit  des  Muskel-  und 
Nervenbaus  des  Sprechenden  eine  Kausalverbindung  herzustellen, 
den  Einfluß  eines  reinen  und  heiteren  Himmels  sowie  guten  Wassers 
auf  die  Körperbildung  und  Schönheit  nachzuweisen,  die  Bedeutung 
des  Sports  und  der  Sitten  zu  ergründen  u.  a.  m.  Auch  hatte  die 
Tätigkeit  in  der  Bünauschen  Bibliothek  und  die  Mitarbeit  an  Bünaus 
Reichshistorie,  das  Studium  vor  allem  Voltaires  und  Montesquieus, 
Winckelmann  gesättigt  mit  den  Kulturbegriffen  der  Aufklärung,  mit  ihrer 
Auffassung  vom  Wesen  der  Geschichte  und  ihn  geschult  im  Ordnen, 
kritischen  Bearbeiten  von  Stoffmengen  und  der  strengen  historiographi- 
schen  Technik.  Trotz  alledem  aber  war  es  eine  grundgeniale  Idee, 
diese  Einsichten  auf  die  Welt  der  Griechen  anzuwenden,  die  Gesamt- 
heit unserer  Kenntnisse  alter  Kunst,  die  verstreut  lagen  bei  Antiquaren, 
Philologen,  Philosophen,  Amateuren,  die  herausgezogen  werden  mußten 
aus  Plinius  und  Pausanias,  zu  verschmelzen  mit  der  Anschauung  und 
eingehenden  stilistischen  Vergleichung  der  Bildwerke  römischer  Paläste, 
Villen,  Sammlungen  und  schließlich  all  dies  geistige  Gut  zu  durch- 
tränken mit  einer  persönlichen  Schönheitstheorie  und  darzustellen  in 
Form  einer  geschichtlichen  Erzählung.  Die  Leistung  Winckelmanns 
ruht  nicht  allein  im  Stofflichen  seiner  Werke,  so  bedeutend  sie  in  dieser 
Richtung  besonders  für  ihre  Zeit  waren.  Läge  das  Verdienst  hier,  so 
wären  seine  Bücher  längst  bei  der  gänzlichen  Umgestaltung  des  Stoff- 
lichen in  der  Archäologie  vergessen,  sie  leben  aber,  und  das  danken 
sie  ihrem  Geist,  ihrer  Methode  und  ihrer  Form.  Winckelmann  will 
Geschichtsschreiber  und  zugleich  Ästhetiker  der  Kunst  sein.  Das 
Historische  und  das  Theoretische  verschlingt  sich  in  diesem  Buche  aufs 
merkwürdigste,  es  ist  ein  Lehrgebäude  und  ist  eine  Kunstgeschichte, 
es  behandelt  die  gleiche  Materie  zweimal  in  verschiedener  Betrachtung. 
Wenn  auch  eine  Welt  Sandrart  von  Winckelmann  trennt,  in  dessen 

Zeitschr.  (.  Ästhetik  u.  allg.  Kiinstwissentcluft.     XV.  12 


178  WILHELM  WAETZOLDT. 


Hauptwerk  man  »die  Geschichte  der  Künstler  nicht  zu  suchen  (hat), 
denn  sie  hat  auf  die  Ericenntnis  des  Wesens  der  Kunst  wenig  Einfluß«, 
so  verbindet  beide  doch  noch  die  aus  romanischer  Renaissanceästhetik 
stammende  Bevorzugung  des  Systematischen  ihrer  Lehrgebäude  vor 
dem  Historischen  in  der  Gesamtgliederung  der  Werke.  Der  Kern 
der  Lehre  war  die  absolute  Norm  der  Antike.  Antik  heißt  freilich  bei 
Winckelmann  griechisch,  darin  aber,  wie  er  den  Vorrang  des  Griechen 
begründet,  wie  er  ihre  Kunst  ableitet  und  dem  »Ursprung,  dem  Wachs- 
tum, der  Veränderung  und  dem  Fall«  der  Künste  auf  die  Spur  zu 
kommen  sucht,  Wie  er  eine  Periodisierung  der  Stile  gibt,  offenbaren 
sich  Eigenwuchs  und  Genialität  seines  Denkens. 

Winckelmann  ordnet  die  Tatsache  der  Kunst  in  sehr  viel  weitere 
Kreise  des  Lebens  ein,  als  sie  sich  vor  den  Augen  der  Historiographen 
der  Renaissance  und  des  Barock  aufgetan  hatten.  Winckelmann  stellt 
die  Frage  nach  den  Kräften,  welche  die  Verschiedenheit  der  Stile  in 
der  antiken  Welt  bedingen  und  findet  sie  nicht  nur  in  den  Verschie- 
denheiten des  Könnens,  der  Inhalte,  der  Künstlermoral  (wie  Sandrart 
und  seine  Nachfolger),  sondern  in  den  natürlichen  und  historischen 
Existenzbedingungen  der  Völker,  in  Bodenbeschaffenheit,  Klima, 
Rasse,  Staat,  Gesellschaft,  Religion.  Damit  läßt  Winckelmann  die 
Kunstgeschichte  nicht  mehr  auf  einem  Seitenstrang  der  allgemeinen 
Geschichte  stehen,  sondern  er  verknüpft  sie  mit  dieser  auf  das  . alier- 
engste,  indem  er  sie  Anteil  gewinnen  läßt  an  den  allgemeinen  histo- 
rischen Fragestellungen.  Und  noch  ein  Weiteres  und  Wichtigeres: 
Sandrart  und  noch  J.  G.  Sulzer  in  seinem  kurzen  Begriff  aller  Wissen- 
schaften (1745)  hatten  zur  Beurteilung  der  Kunst  in  der  Hand  ge- 
habt nur  die  Wertbegriffe  der  künstlerischen,  individuellen  Erfin- 
dungsgabe und  des  persönlichen  technischen  Könnens,  Winckelmann 
geht  von  den  Künstlern  zurück  auf  die  Kunst,  von  den  Schöpfungen 
auf  die  geistige  Macht,  die  sie  gebildet  hat:  er  führt  den  Begriff  des 
Stiles  und  der  Stilgeschichte  ein  und  tut  damit  den  entscheidenden 
Schritt  über  Sandrart  hinaus.  Damit  ändert  sich  auch  die  ganze  Ton- 
art. Statt  der  didaktisch-panegyrischen  Methode  gibt  Winckelmann  die 
historisch-analysierende  Betrachtung,  von  der  referierend  pragmatischen 
sucht  er  den  Weg  zur  genetischen.  Um  die  Entwicklung  des  nationalen 
Stiles  zu  fassen,  verfeinert  Winckelmann  die  wissenschaftlichen  Ver- 
fahren und  schafft  er  sich  neue  Hilfsmittel.  Er  verbindet  Urkunden- 
studium und  Denkmäleranschauung,  Deutung  des  Gegenständlichen 
und  Formanalyse,  er  lernt  mit  Hilfe  ausgedehnter  und  eindringender 
Selbstschau  Original  und  Kopien,  Fälschungen  und  Restaurationen  zu 
scheiden;  daß  dabei  die  Wertung  der  persönlichen  künstlerischen  Lei- 
stung  hinter  der  Darstellung  des  allgemeinen   Entwicklungsablaufes 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.  1 79 


zurücktrelen  mußte,  ist  selbstverständlich.  Didaktische  Nebenabsichten 
und  akademische  Befangenheiten  berühren  aber  weder  das  Grundsätz- 
liche noch  die  Größe  seiner  Leistung.  Auch  die  Tatsache,  daß  die 
neuen  Begriffe  entwickelt  werden  an  einem  verhältnismäßig  kleinen 
Material,  ja  an  einem  Traumbild  der  Antike,  wird  aufgehoben  durch 
die  geniale  Intuition  Winckelmanns,  durch  seine  Gabe  des  Zusammen- 
sehens und  Zusammendenkens  von  Kunst  und  Leben.  Seine  Arbeit 
hat  neue  Möglichkeiten  des  geschichtlichen  Verstehens  geschaffen. 
Winckelmann  fand  den  Begriff  der  organischen  Einheit  zwischen 
Kunst  und  Leben,  während  nach  Hamanns  Worten  »das  Feld  der 
Geschichte  .  .  .  wie  jenes  weite  Feld  (war),  das  voller  Beine  lag  und 
siehe,  sie  waren  sehr  verdorrt«. 

Dieses  Erwachen  eines  vertieften  geschichtlichen  Verständnisses 
wäre  aber  nicht  denkbar  ohne  jene  enthusiastische  Hingabe,  ohne  das 
Sicheinfühlen   und  Sicheindenken  Winckelmanns  in  den   Gegenstand 
wissenschaftlicher  Behandlung.     Die  neue  Leidenschaft  erschließt  erst 
die  Tür  zur  neuen  Wissenschaft.    Die  Idee  der  Schönheit,  der  Winckel- 
mann sein  Leben  geweiht  hatte,  durch  die  seine  Person  und  sein  Ge- 
schick die  allgemeine  menschliche  Bedeutung  erhalten  haben,  suchte 
Winckelmann  auch  im  Stil  seines  Hauptwerkes,  er  stellte  sich  die  Auf- 
gabe, die  Schönheit  der  Gedanken  und  der  Schreibart  aufs  Höchste 
zu  treiben.     »Die  Beschreibung  des  Apollo  wird  mir  fast  die  Mühe 
machen,  die  ein  Heldengedicht  erfordert.«     In   der  Beschreibung  der 
Statuen  des  Belvedere   hatte  Winckelmann   die   ersten  Versuche  ge- 
macht, das  Problem  zu  lösen,  Anschauliches  in  Worte,  Kunsterlebnis 
in  Kunstbeschreibung  zu  verwandeln.    Diesem  zugleich  feierlichen  und 
doch   lebens warmen,   kräftigen    und  gleichermaßen    zarten,   traumhaft 
idealischen  und  doch  erdennahen  Stil  dankt  Winckelmanns  Buch  nicht 
weniger  als  seiner  Methode  und  der  genialen  Grundidee,  daß  es,  wie 
Goethe  sagte,  >ein  Lebendiges  ist,  für  die  Lebendigen  .  . .  geschriebene 
Winckelmann  ist  der  erste  deutsche  Kunstforscher,  der  bewußt  die 
Verfahren  der  Beschreibung  ausbildet.    Er  schafft  nicht  nur  eine  neue 
literarische   Form,   sondern   öffnet  neue  Wege  zum  Verständnis  des 
Kunstwerks,  er  packt  es  von  Seiten,  die  vor  ihm  keiner  sah,  er  ver- 
schmilzt Sachkenntnis  und   Formencharakteristik.     Vor  ihm  war  die 
Bildbeschreibung  eingestellt  wesentlich  unter  zwei  Gesichtspunkten: 
erstens  dem  Messen  des  Werkes  an  der  Natur,  zweitens  der  Deu- 
tung des  Sachgehaltes.    Will  man   sich   die   Leistung  Winckelmanns 
klar  machen,   so  lese  man   hintereinander  die  Beschreibung  des  lite- 
rarisch doch   hervorragenden   und   die  gesamte  europäische  Literatur 
über  Kunst  bis  zu  Winckelmann  beherrschenden  Vasari  von  Leonardos 
»Mona  Lisa«  als  Beispiel  für  ein  Befangensein  in  den  Forderungen 


180  WILHELM  WAETZOLDT. 


illusionistischer  Kunst,  ferner  —  um  für  die  Inhaltserklärung  eine  gute 
Probe  zu  haben  —  die  Beschreibung,  die  Rubens  von  seinem  be- 
rühmten Bilde:  »Der  Krieg«  gibt  und  schließlich  Winckelmanns  Ana- 
lyse des  Herkulestorso  im  Belvedere. 

Vasari:  »Wer  da  sehen  wollte,  bis  zu  welchem  Grade  Kunst  die 
Natur  nachzuahmen  imstande  ist,  konnte  es  leicht  an  diesem  Bildnis 
lernen;  denn  da  waren  alle  jene  Feinheiten  wiedergegeben,  die  sich 
mit  Subtilität  machen  lassen.  Die  Augen  hatten  jenen  Glanz  und  zu- 
gleich jene  Feuchtigkeit,  die  man  jederzeit  in  der  Natur  beobachten 
kann;  rund  herum  sah  man  die  bläulichen  Schimmer  und  die  Härchen, 
welche  ohne  die  größte  Feinheit  sich  nicht  wiedergeben  lassen.  Die 
Augenbrauen  konnten  nicht  natürlicher  sein,  denn  er  hatte  wieder- 
gegeben, wie  das  Haar  aus  der  Haut  herauswächst,  hier  dichter,  dort 
spärlicher  und  wie  es  sich  nach  den  Poren  der  Haut  legt.  Die  Nase, 
mit  feinen,  rosigen  Öffnungen,  war  wie  belebt.  Der  Mund,  mit  leiser 
Öffnung  und  den  durch  das  Rot  der  Lippen  verbundenen  Mund- 
winkeln, und  das  Inkarnat  des  Gesichtes  schien  nicht  mehr  Malerei, 
sondern  wirkliches  Fleisch.  In  der  Halsgrube  sah  man  beim  genauen 
Betrachten  den  Pulsschlag.  . .  .< 

Rubens:  »Die  Hauptfigur  ist  Mars,  welcher  den  geöffneten  Tempel 
des  Janus  . . .  verlassen  hat  und  mit  dem  Schilde  und  dem  blut- 
befleckten Schwert  den  Völkern  ein  großes  Unheil  drohend  einher- 
schreitet;  er  kümmert  sich  dabei  wenig  um  Venus,  seine  Gebieterin, 
die  sich  von  ihren  Liebesgöttern  und  Amoren  begleitet,  vergebens  be- 
müht, ihn  mit  Liebkosungen  und  Umarmungen  zurückzuhalten.  Von 
der  anderen  Seite  aber  wird  Mars  von  der  Furie  Alekto,  die  eine  Fackel 
in  der  Hand  schwingt,  einhergezogen.  Dabei  Ungeheuer,  welche  die 
Pest  und  die  Hungersnot,  die  untrennbaren  Genossen  des  Krieges  be- 
deuten. Auf  dem  Boden  liegt  rücklings  hingestürzt  ein  Weib  mit  einer 
zerbrochenen  Laute,  welche  die  mit  der  Zwietracht  des  Krieges  unver- 
einbare Harmonie  bedeutet,  ebenso  auch  eine  Mutter  mit  ihrem  Kinde 
im  Arm,  welche  andeutet,  daß  die  Fruchtbarkeit,  die  Erzeugung  und 
die  elterliche  Liebe  durch  den  Krieg  behindert  werden,  der  alles  zer- 
stört und  vernichtet. . .  .« 

Winckelmann:  »Fragt  diejenigen,  die  das  Schönste  in  der  Natur 
der  Sterblichen  kennen,  ob  sie  eine  Seite  gesehen  haben,  die  mit  der 
linken  Seite  (des  Torso)  zu  vergleichen  ist.  Die  Wirkung  und  Gegen- 
wirkung ihrer  Muskeln  ist  mit  einem  weislichen  Maße  von  abwechseln- 
der Regung  und  schneller  Kraft  wunderwürdig  abgewogen,  und  der 
Leib  mußte  durch  dieselbe  zu  allem,  was  er  vollbringen  wollen,  tüchtig 
gemacht  werden.  So  wie  in  einer  anhebenden  Bewegung  des  Meeres 
die  zuvor  stille  Fläche  in  einer  nebligen  Unruhe  mit  spielenden  Wellen 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KU  NSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.  181 

anwächst,  wo  eine  von  der  anderen  verschlungen  und  aus  derselben 
wiederum  hervorgewälzt  wird,  ebenso  sanft  aufgeschwellt  und  schwe- 
bend gezogen  fließt  hier  eine  Muskel  in  die  andere,  und  eine  dritte, 
die  sich  zwischen  ihnen  erhebt  und  ihre  Bewegung  zu  verstärken 
scheint,  verliert  sich  in  jener  und  unser  Blick  wird  gleichsam  mit  ver- 
schlungen ...  Ich  wurde  entzückt,  da  ich  diesen  Körper  von  hinten 
ansah,  so  wie  ein  Mensch,  der,  nach  Bewunderung  des  prächtigen 
Portals  an  einem  Tempel,  auf  die  Höhe  desselben  geführt  würde,  wo 
ihn  das  Gewölbe  desselben,  welches  er  nicht  übersehen  kann,  von 
neuem  in  Erstaunen  setzt.  Ich  sehe  hier  den  vornehmsten  Bau  der 
Gebeine  dieses  Leibes,  den  Ursprung  der  Muskeln  und  den  Grund 
ihrer  Lage  und  Bewegung,  und  dieses  alles  zeigt  sich  wie  eine  von 
der  Höhe  der  Berge  entdeckte  Landschaft,  über  welche  die  Natur  den 
mannigfaltigen  Reichtum  ihrer  Schönheiten  ausgegossen.  So  wie  die 
lustigen  Höhen  derselben  sich  mit  einem  sanften  Abhänge  in  gesenkte 
Täler  verlieren,  die  hier  sich  schmälern  und  dort  sich  erweitern,  so 
mannigfaltig,  prächtig  und  schön  erheben  sich  hier  schwellende  Hügel 
von  Muskeln,  um  welche  sich  oft  unmerkliche  Tiefen,  gleich  dem 
Strome  des  Mäander,  krümmen,  die  weniger  dem  Gesichte,  als  dem 
Gefühle  offenbar  werden.« 

Winckelmann  geht  in  seinen  Beschreibungen  von  der  Wirkung 
des  Kunstwerkes  auf  den  Beschauer  aus,  die  er  tiefer  und  genauer 
zergliedert,  dank  eigener  Kunstempfindlichkeit,  als  seine  Vorgänger. 
Er  sucht  mit  Worten  das  den  Eindruck  Bestimmende  herauszuholen, 
die  Einzelheiten  nach  dem  Grade  ihrer  Wichtigkeit  geordnet,  folgen 
zu  lassen  und  den  künstlerischen  Absichten  bis  ins  Traktament  (die 
Technik)  zu  folgen.  Diese  eigene  und  bahnbrechende  Art  des  kunst- 
historischen Denkens  und  Schreibens  hat  Winckelmann  zusammen- 
hängend nicht  auf  das  Gebiet  neuerer  Kunstgeschichte  übertragen. 
Daß  er  eine  Entdeckernatur  war,  hat  er  gewußt,  schreibt  er  doch 
einmal:  »Vielleicht  geht  ein  Jahrhundert  vorbei,  ehe  es  einem  Deut- 
schen gelingt,  mir  auf  dem  Wege,  welchen  ich  ergriffen,  nachzugehen 
und  welcher  das  Herz  auf  dem  Flecke  hat,  wo  es  mir  sitzt.«  Aber 
er  dachte  bei  solchen  stolzen  Worten  nur  an  seine  Leistung  als  Über- 
winder der  betagten  antiquarischen  Gelehrsamkeit  und  archäologischen 
Unmethodik.  Über  die  neuere  Kunst  urteilte  Winckelmann  nicht  aus 
der  kühlen  Ferne  des  Historikers,  sondern  aus  dem  heißen  Nahkampf 
des  Parteimannes.  Er  sah  die  Kunst  seiner  Zeit  vorwiegend  kritisch 
an.  In  seiner  Stellung  zu  ihr  lassen  sich  zwei  Stufen  unterscheiden: 
zunächst  die  Dresdner  Zeit,  hier  erscheint  Winckelmann  alles,  was 
die  Gegenwart  hervorbringt  und  was  nach  Raphael  geleistet  ist,  die 
Zeichen  des  Verfalls  an  der  Stirn  zu  tragen  und  die  Minderwertigkeit 


182  WILHELM  WAETZOLDT. 


des  Rokoko  zu  erweisen,  in  Rom  suchte  er  dann  die  neueren  Kunst- 
werke als  Vergleichsobjekte  den  alten  gegenüberzustellen.  Die  Kritik 
Winckelmanns  bezieht  sich  zunächst  auf  die  Form.  Das  schöne  Gleich- 
gewicht zwischen  dem  Mageren  und  dem  Fleischigen,  zwischen  »schwül- 
stiger Ausdehnung  des  Fleisches«  und  »ausgehungertem  Kontur«  ist 
verloren.  Der  »große  Rubens  (von  kleineren  zu  schweigen)  ist  weit 
entfernt  von  dem  griechischen  Umrisse  der  Körper«.  Das  Antike, 
quellfrisch  Lebendige  im  Rubenswerke  sah  Winckelmann  nicht.  Ein 
gewöhnlicher  Realismus  beherrscht  die  Absichten  der  Künstler.  Er 
führt  nicht  zu  griechischen,  sondern  zu  holländischen  Formen  und 
Figuren.  Beweis  etwa  Caravaggio  und  Jordaens,  die  zur  Gattung 
niederer  Geister  gehören,  weil  sie  die  Natur  malten,  wie  sie  sie  fanden. 
In  der  Bildhauerei  signalisiert  die  illusionistische  Wiedergabe  aller  Zu- 
fälligkeiten, z.  B.  der  Hautfalten  an  gedrückten  Körperteilen,  und  der 
»gar  zu  sinnlich  gemachten  Grübchen«  den  Verfall.  Dazu  kommt  die 
Maßlosigkeit  im  Ausdruck,  »das  freche  Feuer«,  das  ungewöhnliche 
Stellungen  und  Handlungen  begleitet.  Bernini  ist  für  Winckelmann 
der  Antichrist,  der  große  Kunstverderber,  gegen  den  sich  eigentlich 
alles  Geschütz  Winckelmanns  richtet.  Talent  und  Geist  werden  ihm 
nicht  abgesprochen,  wohl  aber  die  Grazie  und  die  Achtung  antikischer, 
kanonischer  Gesetze.  Die  Linie  des  griechischen  Profils  hat  er  »in 
seinem  größten  Flor  nicht  kennen  wollen,  weil  er  sie  in  der  gemeinen 
Natur,  welche  nur  allein  sein  Vorwurf  gewesen,  nicht  gefunden«.-  Das 
dritte  Verfallsmerkmal  ist  die  Verbrauchtheit  der  Stoffe,  daher  die  Ge- 
dankenleerheit der  Gemälde.  Als  Heilmittel  empfiehlt  Winckelmann, 
wie  vor  ihm  die  Renaissanceästhetiker,  die  Allegorie,  die  alles  Mytho- 
logische umfaßt,  eine  Fundgrube  für  gebildete  Maler.  Aus  der  Masse 
der  geistlosen  Maler,  die  immer  wieder  die  Geschichte  der  Heiligen, 
die  Mythologie  und  die  Verwandlungen  Ovids  zu  Gegenständen  wählen, 
ragt  Rubens  durch  die  unerschöpfliche  Fruchtbarkeit  seines  Geistes 
hervor,  er  ist  »reich  bis  zur  Verschwendung«,  er  hat  gedichtet  wie 
Homer.  In  diesem  Satze  seiner  Erläuterung  stellt  Winckelmann  als 
erster  die  beiden  zusammen,  die  J.  Burckhardt  die  größten  Erzähler 
nannte,  welche  unser  alter  Erdball  bis  heute  getragen  hat. 

Je  tiefer  Winckelmann  in  die  Welt  des  Altertums  mit  Geist  und 
Seele  untertauchte,  um  so  kühler  und  ablehnender  wurde  sein  Ver- 
hältnis zur  neueren  Kunst.  Ihn  verfolgt  die  Frage,  die  er  einmal  vor 
Werken  der  beliebten  Maler  van  der  Werft  und  Denner  auf  wirft:  »was 
aber  würde  das  Altertum  sagen?«  So  kam  es,  daß  Winckelmann,  auf 
den  die  Werke  der  Uffizien  und  des  Pitti  keinen  tiefen  Eindruck  ge- 
macht hatten,  in  Rom  sogar  bedauert,  aus  Gefälligkeit  einigen  neueren 
Künstlern  einige  Vorzüge  eingeräumt  zu  haben.   Er  ladet  die  moderne 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNSTWISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN.   1 83 

Malerei  vor  seinen  Richterstuhl,  um  ihre  Leistungen,  ihre  Entwicklungs- 
stadien, Ursprung,  Fortgang,  Wachstum,  mit  der  antiken  Kunst  zu  ver- 
gleichen. Daß  die  Entwicklung  der  neueren  Malerei  ein  Spiegelbild 
der  antiketi  Kunst  sei,  war  ein  Stück  der  großen  von  Vasari  bis 
Bellori  gültigen  Oeschichtskonstruktion.  Winckelmann  nahm  den  Ge- 
danken auf  -  auch  darin  ein  Erbe  italienischer  Historiographen.  Da 
aber  Winckelmanns  Kenntnisse  sehr  beschränkt  waren  und  er  sich 
auf  römische  Handzeichnungsammlungen  angewiesen  sah,  um  sich 
einen  Überblick  über  den  Verlauf  der  neueren  Kunst  zu  verschaffen, 
sind  auch  die  Ergebnisse  fragwürdig  und  in  Bruchstücke  zerfallend. 
Das  Ziel  kennt  Winckelmann  schon,  ehe  er  die  Untersuchung  be- 
ginnt, es  ist:  der  »deutliche  Begriff  von  dem  Wege  zur  Vollkommen- 
heit unter  den  Alten«.  Aus  seinen  Parallelen  zwischen  alten  und 
neuen  Entwicklungsstufen  einige  Beispiele:  Die  Zeichnung  des  Mittel- 
alters war  einfach  und  ideal,  wie  die  ägyptische,  alt-etrurische,  alt- 
hellenische. Die  Wiederbelebung  der  Kunst  unter  Julius  II.  und  Leo  X. 
gleicht  ihrer  Erhebung  unter  Perikles.  In  Raphael,  dessen  bisher  noch 
von  niemand  erkannte  Vorzüglichkeit  ins  rechte  Licht  gesetzt  zu  haben, 
Winckelmann  für  einen  Hauptvorzug  seiner  »Gedanken«  hielt,  in  Ra- 
phaels  Kunst  wird  die  Antike  neu  geboren.  Das  war  ja  einer  der 
Trümpfe,  den  die  mit  Belloris  Beschreibung  der  vatikanischen  Stanzen 
aufgekommene  Raphaelverehrung  gegen  die  Michelangelo-Apotheose 
Vasaris  ausgespielt  hatte.  Der  unabgesetzte  Federstrich  Raphaelischer 
Handzeichnungen  gleicht  den  Figuren  kampanischer  Gefäße.  Leonardo 
und  Andrea  del  Sarto  arbeiten  wie  die  antiken  Künstler,  voller  Unschuld 
und  Grazie.  Die  Grazie  Leonardos  verhält  sich  zu  der  Correggios 
wie  Praxiteles  zu  Apelles,  aber  es  fehlen  die  hohen  Ideen.  Einzig  zu 
Michelangelo  gibt  es  keine  Analogie  in  der  griechischen  Kunst;  denn 
der  Vergleich  seiner  Zeichnung  mit  dem  archaischen  Stil  wird  kaum 
von  Winckelmann  selbst  als  überzeugend  betrachtet  worden  sein. 
Winckelmann  wußte  mit  dem  Genie,  ja  schon  mit  dem  eigenwilligen 
Original,  nichts  anzufangen.  Das  Genie  als  seelischer  Sonderwert  war 
für  Winckelmann  ebensowenig  entdeckt,  wie  für  Sandrart.  Rembrandt 
und  Michelangelo,  ja  auch  Dürer  und  Leonardo  fügen  sich  nicht  in 
Winckelmanns  Kreise,  und  Rubens  läßt  er  nur  passieren  als  den 
»genialen  Dichter  des  Pinsels«.  Als  die  Raphaelsche  Schule,  welche 
nur  wie  eine  Morgenröte  hervorkam,  aufhörte,  »verließen  die  Künstler 
das  Altertum  und  gingen,  wie  vorher  geschehen  war,  ihrem  eigenen 
Dünkel  nach«.  Durch  die  beiden  Zuccari  hob  das  Verderbnis  an, 
das  dauerte,  bis  den  Eclectici  der  bolognesischen  Schule  die  Augen 
wieder  aufgingen  und  sie  nun  die  Reinheit  der  Alten  und  Raphaels 
mit  dem  Wissen  des  Michelangelo,  dem  Reichtum  der  venezianischen 


184  WILHELM  WAETZOLDT. 


Schule,  sonderlich  des  Paolo  Veronese  und  der  Fröhlichkeit  des 
Pinsels  bei  Correggio  zu  verbinden  suchten.  Auch  diese  Theorie 
—  Mengs  und  Winckelmann  gemeinsam  —  taucht  schon  in  Albanis 
Briefen  an  Bellori  auf.  • 

Wer  den  Kern  der  Winckelmannschen  Ästhetik  fassen  und  seine 
Urteile  über  neuere  Kunst  gerecht  beurteilen  will,  muß  bedenken,  daß 
Winckelmann  von  der  Literatur  her  zur  Kunst  kam.  Nach  Goethes 
Urteil  ist  es  schwer,  ja  fast  unmöglich,  von  Poesie  und  Rhetorik  zu 
den  bildenden  Künsten  überzugehen,  weil  zwischen  ihnen  eine  un- 
geheuere Kluft  liegt,  über  welche  uns  nur  ein  besonders  geeignetes 
Naturell  hinüberhebt.  Winckelmann  ist  die  Überbrückung  nie  ganz 
gelungen.  Das  wird  einem  klar,  wenn  man  die  Schrift  liest,  an  deren 
Inhalt  ihm  unendlich  viel  gelegen  war,  die  von  der  »Allegorie«.  Winckel- 
manns  Vorliebe  für  die  Allegorie  ist  nicht  eine  Marotte,  nicht  ein  Schön- 
heitsfehler in  dem  glänzenden  Bilde  seiner  Geistigkeit.  Diese  Neigung 
entspricht  vielmehr  ganz  natürlich  seinen  ästhetischen  Grundsätzen  wie 
seiner  geistesgeschichtlichen  Ahnenreihe.  Schon  in  den  »Gedanken« 
hatte  es  geheißen:  »Die  Malerei  erstreckt  sich  auf  Dinge,  die  nicht 
sinnlich  sind,  diese  sind  ihr  höchstes  Ziel.«  »Der  Pinsel,  den  der 
Maler  führt,  soll  in  Verstand  getunkt  sein«  usw.  In  der  Verstandes- 
forderung steckt  die  tiefe,  ja  leidenschaftliche  Sehnsucht  eines  Sohnes 
der  sinnenfrohen  Rokokozeit  nach  gehaltvollen  Kunstwerken.  Schön- 
heit, Grazie,  Formvollendung  der  nachbarocken  Kunst  abzusprechen, 
so  blind  war  Winckelmann  keineswegs,  aber  Gehalt,  Bedeutung,  Ernst 
vermißte  er  an  ihr.  Das  Vermögen,  Bedeutendes  auszudenken,  nennt 
Winckelmann  »Verstand«.  Wer  so  argumentierte  und  forderte,  mußte 
auch  den  Weg  weisen,  denn  der  Maler,  der  weiter  denkt,  als  seine 
Palette  reicht,  wünscht  einen  gewissen  Gedankenvorrat  zu  haben,  eine 
Ikonologie;  dieses  Ideenmagazin  nennt  Winckelmann  >Allegorie«.  Alles, 
was  durch  Bilder  und  Zeichen  angedeutet  wird,  kurz  alles  Symbolische, 
ist  für  Winckelmann  allegorisch.  Aus  seiner  riesigen  römischen  Denk- 
mälerkenntnis und  seinen  Literaturauszügen  gab  Winckelmann  eine 
Übersicht  des  Sinn-  und  Beziehungsreichen,  bei  denen  der  Kenner  zu 
denken  und  der  bloße  Liebhaber  zu  denken  lernen  sollte.  Er  erfand, 
wie  Wilhelm  Schlegel  bemerkte,  eine  neue  Hieroglyphen schrift.  Trotz- 
dem Winckelmann  von  der  Allegorie  »Einfalt«,  d.  h.  Eindeutigkeit  ver- 
langt, schlägt  er  selbst  allegorische  Begriffseinkleidungen  vor,  die  jedem 
Nichtantiquarius  völlig  unverständlich  sein  müssen,  z.  B.:  der  Begriff 
des  neuen  Jahres  soll  allegorisch  durch  eine  Figur  dargestellt  werden, 
welche  einen  großen  Nagel  in  einen  Tempel  einschlägt,  denn  der 
•römische  Prätor  schlug  zu  Beginn  jedes  Jahres  den  »clavus  annalis« 
ein.     Die  Kunst  soll  mit  allegorischem  Geiste  durchsetzt  werden  bis 


D.  BEGRÜNDUNG  D.  KUNST  WISSENSCH.  DURCH  CHRIST  U.  WINCKELMANN,  1 85 

hinein  ins  Kunstgewerbe.  Die  Allegorie,  das  regte  der  Dresdner 
Winci<elmann  schon  an,  könnte  eine  Oeiehrsaml<eit  an  die  Hand 
geben,  auch  die  kleinsten  Verzierungen  dem  Orte  gemäß  zu  machen, 
wo  sie  stehen  und  so  die  Rokokoschnörkel  und  das  Muschelwerk 
durch  bedeutend  Sinnbildliches  zu  verdrängen.  Ein  Herkules  mit  einer 
Hydra  von  Eisen  ist  eine  Anspielung  auf  die  harte  Arbeit,  die  er  zu 
leisten  hatte.  Gleich  dem  Künstler  sei  auch  der  Beschauer  überall 
auf  der  Oedankenjagd.  In  einem  Unterricht  zur  Empfindung  des 
Schönen,  wie  ihn  gebildete  junge  Leute  erhalten  sollen,  gehört  hinein 
das  Aufmerken  auf  allegorische  Züge:  z.  B.  auf  den  lechzenden  Hirsch 
am  Wasser  als  Sinnbild  der  Brunst  des  Jupiters  im  Jo-Bilde  Correg- 
gios.  Carstens  hat  später  gezeigt,  in  welche  Sackgassen  eine  solche 
Lehre  die  Kunst  locken  kann,  als  er  sich  sogar  unterfing,  die  Kant- 
schen  Kategorien  »Raum«  und  »Zeit«  allegorisch  darzustellen. 

Es  liegt  uns  fern,  die  Grenzen  Winckelmanns  zu  verkennen  oder 
die  erkannten  Schranken  seines  Geistes  zu  verschweigen.  Mit  seinen 
weitgespannten  Theorien,  die  in  einer  Zeit  des  erschöpften  künstleri- 
schen Formenempfindens  formuliert  wurden  —  Goethe  hat  eine  gesetz- 
liche Beziehung  zwischen  Theorie  und  sinkender  Schöpferkraft  er- 
kannt —  ist  Winckelmann  nicht  nur  der  Vater  der  deutschen  Kunst- 
bildung, sondern  auch  der  europäischen  Bildungskunst  geworden.  Es 
hat  lange  gedauert,  bis  an  die  Stelle  der  Lehre  vom  Ideal  wieder  die 
Lehre  von  der  Natürlichkeit  trat,  bis  Begriff  und  Gedanke  durch  sinn- 
liche Empfindung  und  Instinkt,  abgeleitete  Schönheit  durch  elementare 
Ausdruckskraft  verdrängt  wurden.  Wintkelmann  und  seine  Nachfolger 
maßen  Wert  oder  Unwert  einer  künstlerischen  Form  an  ihrer  Zu- 
gehörigkeit zu  einer  bestimmten,  als  kanonisch  empfundenen  Stilwelt, 
wir  haben  als  Kriterium  nur  die  künstlerische  Wertigkeit,  und  diese 
kann  nicht  auf  Begriffe  abgezogen,  sondern  sie  muß  unmittelbar  er- 
lebt werden. 

Und  doch  bleibt  Winckelmann.  Seine  Person  ist  größer  als  seine 
Lehre;  er  hat  seine  Ideale  nicht  nur  gepredigt,  sondern  vorgelebt  und 
die  Gestalt  des  Stendaler  Schustersohnes,  den  sein  Dämon  sicher  auf 
die  Höhen  des  Lebens  führte,  bis  ihn  der  Mordstahl  eines  Buben  jäh 
aus  dem  Glänze  riß,  ist  in  ihrer  edlen  Einfalt  und  stillen  Größe,  in 
ihrer  Verkettung  von  Glück,  Schicksal  und  Willen  ewig  erzieherisch 
im  höchsten  Sinne.  Diese  tief  ethische  Bedeutung  Winckelmanns 
schwebte  Goethe  vor,  wenn  er  1827  zu  Eckermann  äußerte:  »Er 
(Winckelmann)  ist  dem  Kolumbus  ähnlich,  als  er  die  Neue  Welt 
zwar  noch  nicht  entdeckt  hatte,  aber  sie  doch  schon  ahnungsvoll  im 
Sinne  trug.  Man  lernt  nicht,  wenn  man  ihn  liest,  aber  man  wird 
etwas.« 


186  WILHELM  WAETZOLDT. 


Literatur. 

Zu  Johann  Friedrich  Christ: 

Kurt  Eberlein,  Die  deutsche  Literärgeschichte  der  Kunst  im  18.  Jahrhundert.  Dissert. 
Berhn  1919. 

Julius  von  Schlosser,  Materialien  zur  Quellenkunde  der  Kunstgeschichte.  Heft  VII, 
Wien  1920. 

Vgl.  ferner  Ed.  Dörffel,  J.  Fr.  Christ.  Lg.  1878.  —  Justis  Winckelmann,  Bd.  I,  S.  344  ff. 
—  H.  Hettner,  Geschichte  der  deutschen  Literatur  im  18.  Jahrhundert.  Braun- 
schweig 1893,  I.  Buch,  S.  282  ff.  —  J.  Fr.  Christ,  Abhandlungen  über  die  Lite- 
ratur und  die  Kunstwerke.    Herausgegeb.  von  J.  K.  Zeune.    Lg.  1776. 

Zu  Johann  Joachim  Winckelmann: 

C.  Justi,  Winckelmann.    Lg.,  2.  Aufl.,  1898. 
Julius  von  Schlosser,  Materialien  usw.  a.  a.  O. 

Ernst  Heidrich,  Beiträge  zur  Geschichte  und  Methode  der  Kunstgeschichte.  Basel  1917. 
Vgl.  Stark  im  Handbuch  der  Archäologie  der  Kunst.    Lg.  1880,  Bd.  I. 
R.  Hamann,  Winckelmann  und  die  kanonische  Auffassung  der  antiken  Kunst.    Inter- 
nationale Monatsschrift  1913. 


VI. 

Philosophie  und  Dichtung. 

Typen  ihrer  Wechselwirkung  von  den  Griechen 

bis  auf  Hegel. 

Von 

Hermann  Glockner. 

»Wihre  Philosophie  aber  ist  es,  die  Verschiedenheit  und 
Mannigfaltigkeit  einer  Sache  durch  alle  Zeiten  zu  ver- 
folgen.^ Kant. 

Zu  den  frühesten  Zeiten  der  hellenischen  Philosophie  waren 
Dichter  und  Denker  so  untrennbar  miteinander  verknüpft,  daß  »jene 
Ältesten,  mit  denen  es  hell  und  geistig  wird  in  der  Geschichte  . . . 
jene  Väter  der  Wissenschaft,  die  man  die  Patriarchen  Europas  nennen 
kann«  (Joel),  in  gleicher  Weise  in  der  Geschichte  der  griechischen 
Poesie  wie  in  der  Philosophiegeschichte  aufgeführt  werden  müssen. 
Aus  dem  Geiste  des  Mythos  geboren,  hat  das  seltsam  hellseherische 
Denken  jener  Menschen  das  plastische  Gewand  erlebter  Dichtung  ein 
halbes  Jahrtausend  hindurch  eigentlich  niemals  ganz  abgelegt  und 
Geburt  und  Grab,  dithyrambische  Lust  und  all  die  Schatten  und 
Schauer  unseres  so  beweglichen  und  flüchtigen  Lebens  mit  bunten 
Hüllen  umkleidet  und  mit  zwar  mannigfach  entgegengesetzten,  letzten 
Endes  aber  doch  in  einer  einzigen  kühlen  und  reinen  Harmonie  aus- 
klingenden Gedankendichtungen  umsponnen.  Jene  »naive  ungebrochene 
Einheit  eines  harmonischen  Menschentums«  freilich,  in  der  einst 
Herder,  Schiller  und  selbst  bisweilen  noch  Hegel  die  wundervolle 
Einzigartigkeit  des  griechischen  Geisteslebens  zu  erkennen  glaubten, 
hat  sich  uns  als  die  idealisierende  Vorstellung  einer  Zeit  erwiesen, 
die  mit  innigem  Bemühen  das  zu  erreichen  strebte,  was  den  Griechen 
angeblich  mühelos  in  den  Schoß  gefallen  war:  ein  Weltbild  von  der 
abgewogenen  Geschlossenheit  ihrer  Marmortempel,  in  sich  ruhend 
und  vollkommen  wie  die  plastischen  Werke  ihrer  klassischen  Epoche, 
klar-bestimmt  und  wolkenlos  wie  die  Landschaft  am  Gestade  des 
»veilchenfarbenen«  Meeres ').  Lernten  wir  doch  —  der  wesentlichste 
Erziehungsfaktor    unserer    Nation!  —  unserer   ganzen    geistigen    Ent- 


')  Vgl.  Natorp,  Was  uns  die  Griechen  sind.    Akad.  Festrede  1901. 


188  HERMANN  GLOCKNER. 


Wicklung  nach  die  antike  Welt  Griechenlands  gewissermaßen  als  ein 
geniales  Vorspiel  des  jugendlichen  Weltenwerdens  betrachten,  derart, 
daß  wir  uns  durch  die  künstlerische  Einheit  des  Ganzen  über  die 
mannigfachen  Disharmonien  und  gegeneinander  anstürmenden  Motive 
hinwegtäuschen  ließen,  in  denen  sich  der  ganze  Ernst  einer  folgenden 
dramatischen  Handlung  doch  nur  allzu  deutlich  ankündigt!  Diese 
künstlerische  Einheit  ist  keine  tatsächliche  gewesen,  und  die  wissen- 
schaftliche Forschung  hat  das  verfrühte  Urteil  enthusiastischer  Be- 
wunderer richtiggestellt;  aber  insofern  sich  hinter  jedem  Einzelakkord 
einer  gedrängten,  raschflutenden  Entwicklung  bei  den  Griechen  mit 
einzigartiger  Deutlichkeit  gleichsam  die  waltende  Hand  eines  Meisters 
zeigt,  der  alle  Töne  beherrscht,  war  die  Täuschung  begreiflich  und 
zugleich  möglich,  daß  die  spätere  Welt  am  Sein  und  Werden  dieses 
Volkes  unendlich  lernen  konnte  und  ewig  lernen  wird.  Die  Erörte- 
rung fast  jeder  geisteswissenschaftlichen  Frage  muß  deshalb,  wenn 
sie  historisch  vorzugehen  gewillt  ist,  bei  den  Griechen  beginnen,  ganz 
besonders  aber  eine  so  grundsätzliche  wie  die  vorliegende  Unter- 
suchung. 

Ich  glaube  nämlich,  daß  jener  hinter  den  tatsächlichen  wider- 
spruchsvollen Einzelerscheinungen  stehende  »Meister«,  dessen  führende 
Hand  wir  im  griechischen  Geistesleben  beständig  zwischen  den  Tat- 
sachen zu  spüren  glauben,  nichts  anderes  ist,  als  was  Simmel  jenes 
»Dritte«  nennt,  in  dem  er  eine  unerläßliche  Grundeigenschaft  des 
Philosophen  findet.  »Es  muß  im  Menschen  —  sagt  er  —  ein  Drittes 
geben,  jenseits  ebenso  der  individuellen  Subjektivität  wie  des  allgemein 
überzeugenden,  logisch-objektiven  Denkens;  und  dieses  Dritte  muß 
der  Wurzelboden  der  Philosophie  sein,  ja,  die  Existenz  der  Philosophie 
fordert  als  ihre  Voraussetzung,  daß  ein  solches  Drittes  da  sei.  Man 
mag  dies  —  mit  sehr  ungefährer  Charakteristik  —  als  die  Schicht  der 
typischen  Geistigkeit  in  uns  bezeichnen,  denn  Typus  ist  doch  ein 
Gebilde,  das  sich  weder  mit  der  einzelnen,  realen  Individualität  deckt, 
noch  eine  Objektivität  jenseits  der  Menschen  und  ihres  Lebens  dar- 
stellt. Und  es  äußern  sich  tatsächlich  in  uns  geistige  Energien,  deren 
Betätigungsinhalte  nicht  subjektiv-individuellen  Wesens  sind,  ohne 
darum  doch  die  Nachzeichnung  eines  Objektiven,  das  dem  Subjekt 
gegenüberstünde,  zu  sein.  So  scheidet  ein  Gefühl  in  uns,  oft  mit 
großer  instinktiver  Sicherheit,  zwischen  solchen  Überzeugungen  und 
Stimmungen,  die  wir  uns  als  unsre  rein  persönlichen  und  subjektiven 
anzuerkennen  bescheiden,  und  andren,  für  die  wir  zwar  ebensowenig 
objektive  Beweise  anzuführen  wüßten,  die  wir  aber  doch  andern, 
oder  gar  allen  andern  zu  teilen  zumuten  —  als  spräche  ein  Allge- 
meines in  uns,  als  bräche  jener  Gedanke  oder  jene  Empfindung  aus 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  189 


einem  tiefen  und  genereilen  Grunde  in  uns  hervor,  der  von  sich  aus 
ihren  Inhalt  rechtfertigte.  Vielleicht  liegt  hier  auch  der  Fruchtboden  der 
Kunst«').  Die  Griechen  sind  also  deshalb  das  philosophischste  und  das 
poetischste  Volk  gewesen,  weil  in  ihnen  der  Besitz  dieses  »Dritten«  — 
ich  möchte  sagen:  Nationalcharakter  gewesen  ist.  Aus  diesem  Grund 
hat  auch  jede  der  flüchtigen  Formen,  die  ihr  Geist  prägte,  etwas  »Typi- 
sches« und  die  gemeinsame  Wurzel  aller  seiner  Gestaltungen,  die  uns 
auch  das  Gebrochene,  das  Zerrissene,  das  Widerspruchsvolle,  als  eine 
künstlerische  Einheit  erscheinen  läßt,  ist  hier  zu  suchen.  »Es  wird 
nicht  Tag  werden  in  der  ewig  ringenden  Platoforschung«,  meint  Joel, 
»als  bis  man  den  größten  Philosophen  der  Antike  als  Dichter  begriffen 
hat.«  Ich  möchte  dies  von  meinem  vorgetragenen  Gesichtspunkt  aus 
dahin  mäßigen,  daß  Piaton  in  seinen  Dialogen  in  allerdings  einzig- 
artiger Weise  an  der  ursprünglichen  Gabelung  steht  und  der  Geist, 
der  in  ihnen  lebt,  befindet  sich  gleichsam  noch  vor  der  Entschei- 
dung, ob  er  in  poetischer  oder  philosophischer  Weise 
an  den  Tag  treten  soll.  Denn  Dichten  und  Philosophieren 
(Dichten  hier  im  weitesten  Sinn  eines  künstlerischen  Hervorbringens 
überhaupt  versfanden!)  sind  die  beiden  Formen,  in  denen  sich  die 
ursprüngliche  Fähigkeit  einer  typischen  Geistesbewegung  auslebtj  Sie 
werden  notwendig  nah  verbunden  und  eng  miteinander  verknüpft  sein, 
wenn  die  gemeinsame  bewegende  Kraft  die  Triebfeder  einer  glück- 
lichen Volksgemeinschaft  bildet,  wie  dies  bei  den  Griechen  in  einer 
später  nie  mehr  erreichten  Weise  der  Fall  war,  so  daß  man  sie  mit 
Recht  das  Volk  der  Genies  genannt  hat  —  getrennt  aber,  und  nur 
durch  ein  mühsames  Rückwärtssichversenken  in  die  letzten  Quellen 
der  schaffenden  Kraft  zu  erreichen,  wenn  das  Talent  künstlerische 
Weltvisionen  zu  gestalten,  oder  die  Fähigkeit  die  mit  einem  bestimmten 
auf  die  Ganzheit  der  Lebenserscheinungen  gerichteten  Organ  aufge- 
faßte Welt  begrifflich  nachzubilden,  zu  gewaltsam  emporgetriebenen 
Einzelerscheinungen  werden,  die  in  einsamer  Höhe  über  ihren  Zeit- 
genossen stehen  und  nach  rückwärts  und  vorwärts  schauen  müssen, 
um  ihresgleichen  zu  begegnen.  Doppelt  getrennt  und  geschieden  aber, 
wenn  der  forschende  Denker  auf  das  in  seiner  Ganzheit  erlebte  Bild 
der  Wirklichkeit  zu  verzichten  beginnt  und  das  Denken  selbst  zum 
Gegenstand  seines  Denkens  macht!  Es  ist  rührend  zu  lesen,  daß 
Sokrates,  der  Verkünder  der  absoluten  Unabhängigkeit  des  Gedankens, 
dessen  welthistorische  Tragödie  und  Schuld  in  dieser  Hinsicht  Hegel 
zuerst  erkannte  %  kurz  vor  seinem  Tod  aus  dem  Gefühl  einer  gewissen 


')  Simniel,  Hauptprobleme  der  Philosophie  S.  25  f. 

')  »In  Sokrates  hat  sich  der  Gedanke  selbst  erfaßt  und  sich  über  die  schöne 


IQO  HERMANN  GLOCKNER. 


Unsicherheit  heraus,  ob  sein  Weg  auch  wohl  der  rechte  gewesen  sei, 
anfing  Verse  zu  machen  —  bezeichnet  doch  dieser  Philosoph  in  einer 
nur  mit  dem  Auftreten  Kants,  das  doch  erst  mehr  als  zwei  Jahr- 
tausende später  erfolgte,  zu  vergleichenden  Weise  den  so  überaus 
bemerkenswerten  Augenblick  in  der  Geschichte  der  Philosophie,  wo 
das  Denken  anfängt,  sich  auf  sich  selber  zu  besinnen').  Sokrates  war 
kein  schöpferischer  Poet:  »etwas  Prosaisches  und  Nüchternes«  (Windel- 
band) haftet  seinem  Wesen  an  und  Piaton  überliefert  uns,  daß  er  in 
seinen  letzten  Tagen  dem  Gott  nur  insofern  dienen  konnte,  als  er 
lediglich  die  prosaischen  Fabeln  des  Äsop  in  Verse  brachte  —  Kant 
aber  mußte  einen  angebotenen  Lehrstuhl  »der  Dichtkunst«  ablehnen, 
weil  es  ihm  scheinen  mochte,  daß  er  hier  nicht  am  schicklichen  Platze 
sei.  In  beiden  Männern  —  den  größten  ihrer  Art!  —  hat  sich  der 
Gedanke  auf  Kosten  der  übrigen  geistigen  Vermögen  in  einer  Weise 
in  den  Vordergrund  gedrängt,  daß  der  ursprüngliche  Fruchtboden, 
den  die  Wissenschaft  des  denkenden  Forschens  mit  dem  phantasie- 
vollen Gestalten  gemeinsam  hat,  überwuchert  wird.  Alle  derartige 
Verselbständigung  und  Vereinzelung  jedoch  ist  eigentlich  die  (not- 
wendige) Sünde  schlechthin.  In  der  Einseitigkeit  liegt  die  Kraft  des 
Fortschreitens,  aber  auch  die  Überhebung,  der  die  Rache  des  Gött- 
lichen folgt,  an  dem  der  Mensch  nie  freveln  soll.  So  vollzieht  sich 
die  Weltgeschichte  in  lauter  Tragödien  —  im  Hegeischen  Geiste-  ge- 
sprochen. 

Die  folgenden  Entwicklungsepochen  der  europäischen  Kultur  (auf 
die  ich  mich  beschränke)  bieten  prinzipiell  zunächst  wenig  Neues; 
denn  in  wie  seltsamen  Mischungen  sich  auch  in  den  ersten  Jahr- 
hunderten des  Mittelalters  Gefühls-  und  Gedankenwerte,  poetische 
und  philosophische  Elemente  überschichtet  und  durchdrungen  haben 
mögen,  so  wird  es  doch  immer  nur  einer  nacherlebenden  Forschung 

Sinnenwelt  emporgehoben,  zu  welcher  sich  das  Griechentum  gestaltet  hatte.«  Windel- 
band, Präludien  I  (S.A.),  S.  77.  —  Hegel,  Vorlesungen  über  die  Philosophie  der 
Geschichte,  Ausgabe  Brunstäd,  S.  350  ff. 

')  Wenn  man  die  Entwicklung  griechischer  Kunst  und  Kultur  von  einem  wahr- 
haft geistesgeschichtlichen  Standpunkt  aus  betrachtet,  so  wird  man  den  Gegensatz 
zwischen  dem  sogenannten  klassischen  und  dem  sogenannten  hellenistischen  Denken, 
der  klassischen  Kunst  und  der  hellenistischen  Kunst  usw.  vor  allem  aufgeben  müssen. 
Allerdings  hat  der  griechische  Geist  einmal  an  einem  —  man  darf  wohl  sagen: 
weltbewegenden  —  Wendepunkt  gestanden,  aber  nicht  in  die  Zeit  Alexanders  fällt 
die  Krise,  sondern  schon  viel  früher,  nämlich  in  die  Zeit  des  Sokrates.  Die  Philo- 
sophiegeschichte ist  sich  dieser  Tatsache  im  allgemeinen  bereits  bewußt:  vielleicht 
werden  die  Literaturgeschichte  und  die  Religionsgeschichte,  sowie  vor  allem  die 
Archäologie  noch  einmal  die  notwendigen  Konsequenzen  dieses  plötzlichen  geistigen 
Andersseins  an  ihrem  Material  entdecken  und  so  die  Richtigkeit  dieser  geistes- 
geschichtlichen Behauptung  bestätigen. 


I 


II 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  IQI 

möglich  sein,  im  einzelnen  den  lebendigen  Fluß  des  Entstehens  aus 
den  Lehrsätzen  des  gewaltigen  kirchlichen  Gebäudes  herauszulösen, 
das  uns  wie  ein  versteinerter  Riesenorganismus  von  jenen  Tagen  her 
geblieben  ist.  Eine  Betrachtung,  die  lediglich  auf  die  richtunggeben- 
den Tatsachen  jener  Zeit  hinblickt,  wird  zu  dem  Ergebnis  kommen, 
daß  sich  die  beiden  großen  Ströme  des  Dichtens  und  des  Denkens 
im  eigentlichen  Mittelaller  immer  weiter  voneinander  entfernten.  Es 
war  das  Bestreben  der  Scholastik:  logisch -zwingend  beweisen  zu 
wollen,  was  sich  an  dogmatischen  Lehren  um  jene  ethischen  und 
religiösen  Werte  herumgruppierte,  die  —  einem  plötzlichen  vulkanischen 
Ausbruch  von  welterschütternder  Gewalt  vergleichbar  —  das  Jahr- 
hundert, in  dessen  Mittelpunkt  die  verklärte  Gestalt  des  Heilands 
steht,  zutage  gefördert  hatte.  —  Am  Ende  der  Scholastik  aber  tritt 
uns  Dantes  großes  Lebenswerk  entgegen  und  zeigt  uns  Dichtung 
und  Philosophie  in  einem  Verhältnis  zueinander,  das  insofern  lehrreich 
ist,  als  es  dem  besprochenen  hellenisch-platonischen  geradezu  ent- 
gegengesetzt ist.  Die  Divina  Commedia  ist  mit  Philosophie  durchaus 
durchwachsen;  Karl  Voßler  sagt:  »Wir  kennen  kein  zweites  Kunstwerk 
in  der  Weltliteratur,  das  so  tief  mit  Philosophie  durchtränkt  wäre«  — 
und  doch  behaupte  ich,  daß  Dichten  und  Denken  sich  gar  nicht 
weiter  voneinander  entfernen  und  einander  fremder  gegenüberstehen 
können  als  es  in  Dantes  Dichtung  geschieht.  Obwohl  nämlich  der 
Dichter  Dante  zugleich  ein  gelehrter  Scholastiker  war,  ist  hier  doch 
kein  »gemeinsamer  Fruchtboden«  des  Welterlebens  mehr  vorhanden, 
vielmehr  bietet  uns  die  Divina  Commedia  das  trefflichste 
Beispiel  einer  zweiten  möglichen  Haltung,  die  der  Dichter 
der  Philosophie  gegenüber  einnehmen  kann  —  indem  er 
nämlich  das  fertige  gedankliche  System  zur  starren  Grund- 
lage seiner  Überzeugung  macht.  Dieses  System  war  bei  Dante 
das  thomistische,  in  dem  der  »gläubige  Grübler«  (Voßler)  nach 
den  Irrwegen  seiner  Jugend  und  dem  Verlust  Beatrices  eine  Ruhe 
gefunden  hatte,  die,  obwohl  sie  auf  einen  Glauben  gegründet  war,  der 
sich  tatsächlich  »in  keinem  wesentlichen  Punkt  von  der  Kirche  ent- 
fernte«, doch  das  spekulative  Bedürfnis  empfand,  sich  »über  die  Lehren 
sowohl  wie  über  die  Einrichtungen  seiner  Kirche  Rechenschaft  zu 
geben«.  Dante  betrachtete  seine  Dichtung  selbst  als  eine  Tat  frommer 
Gläubigkeit  und  hatte  sogar  erzieherische  Absichten  damit  —  es  handelt 
sich  also  im  wahrsten  Sinne  des  Wortes  um  »Dichtung  im  Dienste 
einer  fertigen  Weltanschauung« ').     Die  mächtige  Kraft  der  schaffen- 

')  Ich  stütze  mich  hier  vor  allem  auf  Karl  Voßlers  Dantekommentar,  und  zwar 
wäre  zu  vergleichen  l/I,  S.  259,  16,  264  f.,  74,  77,  80,  127  ff.,  258  sowie  Dantes  Selbst- 
schilderung Convivio  11,  13.   Über  den  »Zweck«  der  Komödie  und  die  einem  solchen 


|g2  HERMANN  GLOCKNER. 


den  Phantasie  freilich  überflutet  an  allen  Ecken  und  Enden  das  tote 
Lehrgebäude,  kleidet  den  nackten  Gedanken  in  das  bunte  Federkleid 
poetischer  Gesichte  und  reißt  ihn,  zusammen  mit  den  Gefühlen  und 
Gestalten  des  geborenen  großen  Dichters  in  den  fließenden  Rhythmus 
fester  Form  gefügt,  mit  in  die  vielleicht  unverdiente  Unsterblichkeit. 

Die  notwendige  Konsequenz  der  Scholastik  heißt  gemäß  der  in 
Gegensätzen  fortschreitenden   Geschichte   des   Geistes:   Renaissance! 
Es  war  keine  einheitliche  Strömung  gewesen,   was  wir  zusammen- 
fassend mit  diesem  Kennwort  bezeichnen:  sinnlichsprühende  Lebens- 
kraft und  ein  Wissensdurst,  der  auch  vor  einer  Arbeit,  die  mönchische 
Askese  erfordert,  nicht  zurückscheut,  naturwissenschaftliche  Entdecker- 
lust  und    mystische  Neigungen   gehen  nebeneinander  her.    Was  an 
philosophischer  Welterklärung  geleistet  wird,  das  ist  zunächst  aus  alten 
Quellen  geschöpft  —  und  nicht  zuletzt  aus  der  kastalischen.    Es  ist 
wahr:  wir  erleben  eine  Wiedergeburt  der  Antike  —  aber  gebrochen 
durch  das  Medium  der  Sehnsucht  darnach.    Wenn  also  der  byzantinische 
Gelehrte  Konstantinos  Laskaris  im  15.  Jahrhundert  von  der  Philosophie 
verlangt  hatte,  daß  sie  Kunst  sein  solle,  so  entsprang  das  der  an  der 
Hand  gelehrter  Studien  erwachten  Erkenntnis  des  Geistes,  wie  nah 
man  doch   in  anderen  Tagen  an  der  gemeinsamen  Quelle  gewesen 
war,  wo  (wie  aus  derselben  Empfindung  heraus  später  Schelling  in 
seiner  Identitätsphilosophie  schreiben  sollte)  »in  ewiger  und  ursprüng- 
licher Vereinigung  in  einer  Flamme  brennt,   was  in  der  Natur  und 
Geschichte  gesondert  ist  und  was  in  Leben  und  Handeln  ebenso  wie 
im  Denken  ewig  sich  fliehen  muß<  i).     Einheit  —  hieß  das  Losungs- 
wort  jeder   tieferen   philosophischen  Bestrebung   schon  damals   von 
Marsilius  Ficinus  bis  auf  Bruno  und  Vanini.    In  jenen  Tagen  ist  der 
Paradiestraum  von  einer  »naiven  ungebrochenen  Harmonie«  der  griechi- 
schen Antike  entstanden  —  und  in  der  Tat,  sie  war  »naiv«  zu  nennen 
im  Vergleich  zu  den  »sentimentalischen«  Bestrebungen  von  Menschen, 
vor  deren  erstaunten  Blicken  sich  das  Weltall  ins  Ungemessene  er- 
weiterte, die  Erde  zur  Kugel  rundete  und  die  Milchstraße  bald  in  ein 
Heer  von  rollenden  Gestirnen  verwandeln  sollte.    Jedoch:   »Jedes  er- 
weiterte Lebensgefühl  führt  zuletzt  zur  Mystik«  (Joel).    Dichter  und 
Denker  wollen  sich  die  Hand  geben,   weil  sie  die  Kluft  erkannt 
haben,  die  sie  trennt,  und  ihnen  ein   solcher  Gegensatz  unerträglich 


Verhältnis  der  Poesie   zum  Gedanklichen   stets  eigentümliche  und  notwendige  alle- 
gorische Dichtweise  vgl.  auch  Franz  X.  Kraus,  Dante  1897,  S.  359—364. 

')  Werke  I,  3,  S.  627  f.  Zu  vergleichen  wäre  Mars.  Ficinus,  Über  die  Liebe. 
Ausgabe  Hasse  S.  186  u.  a.  a.  O.  sowie  z.  B.  auch  Jakob  Böhme,  Morgenröte.  Aus- 
gabe Orabisch  S.  30  f.  —  Für  das  folgende  ist  zu  vergleichen  Joel,  Ursprung  d. 
Naturphilosophie  aus  d.  Geiste  der  Mystik,  S.  163  und  14  (Zitat). 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG. 


193 


erscheint,  und  sie  nähern  sich  einander  auf  eine  alles  weniger  als 
naive  Art,  indem  der  Dichter  anfängt  zu  philosophieren  und  der  Philo- 
soph zu  dichten!  Dies  ist  die  dritte  Möglichkeit,  auf  die  gegebenen- 
falls der  Denker  mit  dem  Sänger  geht  —  ihre  Betrachtung  mutet  uns 
modern  an  und  führt  uns  in  die  Gegenwart  hinüber. 

Am  Eingang  der  Epoche  stehen  Voltaire  und  Lessing:  zwei  Geg- 
ner, an  Charakter  und  Fähigkeiten  verschieden,  jeder  in  gewissem  Sinn 
der  geistige  Wortführer  seiner  Nation,  und   dennoch   beide  in   ihrem 
letzten  Wollen  nah  verwandt,  weil  es  das  Wollen  des  gemeinsamen 
Jahrhunderts  gewesen  ist ').     Obwohl   beide  in  unseren   Augen  nur 
Schriftsteller,  keine  Dichter  gewesen  sind,  so  verlangte  doch  der  scharf- 
geschliffene, blitzende  Gedanke,  mit  dessen  Hilfe  sie  die  Bahnbrecher 
des   modernen  Geistes  wurden,   so  gebieterisch  nach   irgendwelcher 
künstlerischen  Gestaltung,  daß  man  sagen  kann:   die  ihrem  Wirken 
zugrunde  liegende  Kraft  bediente  sich  zwar  nur  der  Poesie  oder  der 
Philosophie  oder  der  Naturwissenschaft  oder  der  Geschichte  als  der 
jeweils  brauchbarsten  Äußerungsform  —  aber  sie  ist  doch  selber  ihrem 
Eigenwesen   nach   letzten    Endes   die  Kraft   des   Künstlers   gewesen. 
Dieser   auf  die  mannigfachste  Art  und  Weise  überkommene,   umge- 
staltete und  neugeschaffene  Werte  in  das  Leben  der  Menschheit  hinein- 
arbeitende Geist  ist  nicht  das  philosophische  Denken   selber  —  im 
Gegenteil !  —  aber  er  bedarf  desselben  in  allererster  Linie,  und  hierin 
erblicke  ich  eine  weitere  Stellungnahme  des  künstlerischen  Geistes  zum 
denkenden  —  nämlich  die  not  wendige  Verknüpfung.    In  der 
Renaissance  wollte  der  Poet  mit  dem  Philosophen  gemeinschaftliche 
Sache  machen;  denn  das  erstrebte  Ziel  hieß  Einheit  —  die  Aufklärung 
zwang  den  künstlerischen  Geist,  wie  er  sich  in  Voltaire  und  Lessing 
verkörperte,  sich  »heute  Newtons  zu  bemächtigen,  die  Natur  zu  ver- 
stehen, morgen  Bolingbroke  zu  ergreifen,  die  Geschichte  zu  revolutio- 
nieren, nach  allen  Seiten  zu   blicken,  jede  Bewegung  zu  gewahren«, 
vor   allem    aber   zu    philosophieren;    denn   das    erstrebte   Ziel    hieß 
Enzyklopädie-).    Diese  neue  Tendenz  der  Zeit  mußte  dem  gründ- 
licheren, tieferen  Geiste  des  Deutschen,  den  kein  Einzelproblem  los- 
ließ, ehe  er  es  nach  allen  Richtungen  hin  betrachtet  und  durchforscht 


')  »Wenn  es  ein  richtiger  Instinl<t  des  französischen  Voll<es  gewesen  ist,  im 
Pantheon  neben  Voltaire  als  seine  ergänzende  Hälfte  den  im  Leben  ihm  so  wider- 
wärtigen Rousseau  aufzustellen:  so  wird  im  Elysium  unser  deutscher  Lessing  sich 
nicht  weigern  dürfen,  den  ihm  moralisch  so  wenig  achtbaren,  pnetisch  so  wenig 
zusagenden  Dichter  des  Mahomet  als  seinen  französischen  Mitarbeiter  anzuerkenn>;n.> 
Dav.  Fr.  Straul^,  Voltaire,  Schlußbetrachtungen. 

'-')  Vgl.  Diltheys  Charakteristik  Vohaires  in  »Das  Erlebnis  und  die  Dichtung« 
(5.  Aufl.)  S.  253. 

Zcttsclir.  {.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XV.  13 


1^4  HERMANN  GLOCKNER. 


hatte,  notwendig  in  höherem  Orade  ein  Wunschbild  bleiben  als  dem 
hurtigen  Franzosen  —  und  so  ist  die  Weltanschauung,  mit  der  Lessing 
aus  dem  Leben  ging,  jenes  iv  xal  Jiäv  geblieben,  in  dem  sich  Spinoza 
und  Leibniz,  in  dem  sich  die  Sehnsucht  der  Renaissance  und  das 
enzyklopädische  Ringen  nach  Ganzheit  vereinigten. 

Wir  nähern  uns  der  klassischen  Zeit  des  deutschen  Geistes:  in 
Kant  und  Goethe  gewinnen  die  beiden  Grundstellungnahmen  des 
Menschen  der  Welt  gegenüber  ihre  ausgeprägte  Form.  Waren  es  nicht 
zuletzt  spekulative  Momente  gewesen,  die  einen  Mann  wie  Kopernikus 
in  ähnlicher  Weise  wie  Kolumbus  zu  Entdeckungen  streng  naturwissen- 
schaftlicher Art  hingeführt  hatten,  so  ergriff  Kant  umgekehrt  die  Prin- 
zipien der  sich  entwickelnden  exakten  Naturwissenschaft,  um  damit 
gegen  die  Metaphysik  zu  Felde  zu  ziehen.  Dem  Wesen  seiner  ganzen 
Methode  nach  war  er  kein  Philosoph,  der  dem  schaffenden  Künstler 
normalerweise  hätte  nahestehen  können,  und  zwar  vor  allem  deshalb, 
weil  dieser  es  mit  dem  für  den  nichtkritischen  Philosophen  Primären 
zu  tun  hat,  nämlich  mit  dem  Leben  als  solchem,  mit  jenem  Leben,  das 
der  Dichter  in  sich  und  um  sich  wachsen  und  pulsieren  fühlt,  dessen 
Rhythmus  er  sich  in  Augenblicken  gesteigerten  Empfindens  mit  Lust  hin- 
gibt, während  er  spürt,  wie  es  an  den  grauenhaften  Tagen  der  Leere 
im  erschütternden  Gleichtakt  der  Bewegung  mit  ihm  ins  Dunkel  rinnt. 

So  ist  es  eigentlich  auffallend,  daß  dieser  Philosoph  einen  Dichter 
zum  Schüler  gehabt  hat,  der  bewundernd  zu  ihm  aufblickte  —  Schiller, 
an  dessen  Verhältnis  zu  Kant  wir  zuerst  zu  denken  gewöhnt  sind, 
wenn  überhaupt  die  Frage  nach  dem  Wechselverhältnis  von  Dichtung 
und  Philosophie  nur  aufgeworfen  wird!  Goethe  hat  Schillers  Kant^ 
Studien  mehrfach  gerühmt  (z.  B.  Eckermann  gegenüber);  andere  haben 
sie  bedauert  und  an  gewissen  Eigentümlichkeiten  des  Schillerschen 
Schaffens  dem  Philosophen  die  Schuld  gegeben.  Am  lichtvollsten 
und  am  gedrängtesten  scheint  mir  das  ganze  Verhältnis  Schillers  zu 
Kant  trotz  neuerer  eingehender  Arbeiten  immer  noch  von  Wilhelm 
von  Humboldt  (der  mit  Recht  sagen  durfte:  »Schwerlich  hat  je  jemand 
Schiller  so  genau  gekannt  als  ich«,  Brief  an  eine  Freundin  5.  Mai  1832) 
dargestellt  worden  zu  sein  —  mich  kümmert  hier  nur  das  Neue  und 
Typische,  wodurch  es  sich  vor  den  schon  besprochenen  Verhältnissen 
des  Dichters  zur  Philosophie  überhaupt  auszeichnet.  Humboldt  schreibt 
von  Schiller:  »Er  eignete  sich  die  neue  Philosophie,  seiner  Natur  gcr 
maß,  an.  In  den  eigentlichen  Bau  des  Systemes  gieng  er  wenig  ein; 
er  heftete  sich  aber  an  die  Deduction  des  Schönheitsprincips  und  des 
Siltengesetzes«^).    Hierin  liegt  das  Wesentliche  enthalten.    Über  die 


')  Briefwechsel  zwischen  Schiller  und  Wilh.  von  Humboldt.    Dritte  vermehrte 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  195 


gelehrten  Epochen  der  Renaissance,  des  Humanismus,  der  Aufklärung 
weg  hatte  sich  der  Typus  des  »Gebildeten t  herausentwickelt.    Er  be- 
zeichnet einen  Menschen,  dem  es  weniger  einzigartige  geistige  Fähig- 
keiten als  vielmehr  ein  ausgebreitetes,  insbesondere  historisches  Wissen 
und  eine   gewisse  handwerksmäßige  Gewandtheit  im  Betrachten  der 
Dinge  möglich  machen,  gewissermaßen  in  mehreren  Dimensionen  zu- 
gleich zu  leben.   Wie  von  einer  telegraphischen  Zentralstelle  die  Kabel 
nach  allen   Richtungen  auseinanderlaufen,    so  steht  der   »Gebildete« 
nicht  allein  in  seiner  Zeit  und  nicht  allein  an  seinem  Ort,  sondern  es 
bedarf  nur  einer  bestimmten  Einstellung  seiner  Blickrichtung:  und  eine 
vergleichende  Verbindung  mit  den  Haupfepochen  der  Weltgeschichte 
ist   hergestellt.     Ebenso   werden    gleichzeitige   Ereignisse    jeder   Art, 
geistige  Zielrichtungen,  soziale  Zustände,  künstlerische  Bestrebungen 
—  kurz  der  ganze  umfassende  Lauf  einer  kulturellen  Entwicklung  mit 
einem  Blick  überschaut  und  mit  lebhaftem  Interesse  gewürdigt;  es  wird 
mit  ihnen  gerechnet,  sie  werden  zu  einem  Faktor  des  eigenen  Einzel- 
lebens gemacht,  soweit  dies  nur  immer  möglich  ist.    In  welchem  um- 
fassenden Maße  auf  diese  Weise  die  geistigen  Fäden  um  die  Wende 
des   18.  Jahrhunderts  in  Jena  und   Weimar  zusammenliefen,    das  ist 
genugsam  bekannt.    Der  Goethe-Schillersche  Briefwechsel  breitet  die 
ganze  Fülle  der  Interessesphären  jener  beiden  Männer  vor  uns  aus,  die 
eine  an  geistiger  Bewegtheit  reiche  Zeit  in  all  ihren  Einzelerscheinungen 
gleichsam  durch  sich  hindurchströmen  ließen,  die  in  sich  geschlossene 
Form  ihres  Weltempfindens  hineinlebten  und  so  das  Aggregat  zu  einer 
Kultureinheit  erhoben,  deren  lebendiges  Gefühl  uns  auf  jene  Epoche  als 
auf  unsere  klassische  Zeit  zurückblicken  läßt.    Schillers  Verhältnis 
zu  Kant  ist  zunächst  das  Verhältnis  des  Gebildeten   zur 
zeitgenössischen  Philosophie  gewesen!    Er  war  Kantianer, 
aber  er  war  es  nie  in  einem  so  unbedingten  und  umfassenden  Sinn 
wie  etwa  Dante  Scholastiker  gewesen  ist,  und  das  Kanlische  Denken 
ist  dem  geistigen  Leben,  wie  es  sich  in  Schillers  Werken  auswirkte, 
auch  nicht  parallel  gegangen,  wie  etwa  Goethes  Weltanschauung  sich 
zur  Philosophie  Spinozas  wie  zu  etwas  Verwandtem  hingezogen  fühlte, 
sondern  Schiller  war  (wie  uns  die  Briefe  an  Körner  lehren  können) 
zunächst  lediglich  philosophisch   interessiert  genug,  um  eine  so  be- 
deutende geistige  Bewegung,  wie  sie  durch  Kant  hervorgerufen  wurde, 
zu  erkennen,  auf  sich  wirken  zu  lassen  und  sich  ihrer  Ergebnisse  zu 
vergewissern.    Wenn   Humboldt  schreibt:    »In  den  eigentlichen  Bau 
des  Systemes  gieng  er  wenig  ein«,  so  bezieht  sich  das  auf  die  respekt- 


Ausgabe  von  Albert  Leitzmann  1900,  S.  3-38:  Ȇber  Schiller  und  den  Gang  seiner 
Oeistesentvvickiung«.    Vgl.  besonders  S.  23. 


ig(j  HERMANN  GLOCKNER. 


volle  Anteilnahme  des  »►gebildeten«  Dichters  an  der  Vernunftkrilik. 
Wäre  Kant  nach  Vollendung  dieses  seines  Hauptwerkes  gestorben,  so 
würde  zwar  Schiller,  bei  dem  »der  Gedanke  das  Element  seines  Lebens 
war«  (Humboldt),  ganz  gewiß  nicht  gleichgültig  an  Deutschlands 
größtem  Philosophen  vorübergegangen  sein,  aber  als  Kantianer  würden 
wir  ihn  heute  schwerlich  bezeichnen  können.  Nun  ging  aber  Kant 
auf  dem  eingeschlagenen  Weg  logisch  weiter  und  baute  sein  kritisches 
System  nach  drei  Seifen  hin  aus.  Denn  »wenn  man  unter  Wahrheit 
die  Norm  des  Geistes  versteht,  so  gibt  es  ethische  und  ästhetische 
Wahrheit  so  gut  wie  theoretische.  Darum  schrieb  Kant  nach  der 
Kritik  der  theoretischen  Vernunft  diejenigen  der  praktischen  und  der 
ästhetischen«  (Windelband)  und  bahnte  in  letztgenanntem  Werke,  näm- 
lich der  Kritik  der  Urteilskraft,  eine  im  Geist  des  Hauptwerks  gehaltene 
analytische  Betrachtung  der  beiden  Hauptbegriffe  an,  mit  denen  es 
der  Dichter  zu  tun  hat,  nämlich  des  Schönen  und  des  Erhabenen  — 
und  damit  war  der  Grundstein  zu  einer  wissenschaftlichen  Ästhetik 
gelegt.  Eben  die  Kritik  der  Urteilskraft  aber  war  es,  die  Schiller,  nach- 
dem er  sich  zunächst  lediglich  bei  seinen  geschichtsphilosophischen 
Arbeiten  hatte  von  Kantischen  Ideen  anregen  lassen,  als  erstes  größeres 
Werk  Kants  genauer  kennen  lernte  (Brief  an  Körner  vom  5.  März  17Q1 !) 
und  die  ihn  für  lange  Zeit  nicht  mehr  losließ.  Vom  Jahre  1792  ab 
befaßt  er  sich  sozusagen  als  Fachmann  damit  und  arbeitet  auf  seinem 
besonderen  Gebiet  als  Kantianer').  Das  grundsätzlich  Neue 
daran  ist,  daß  wir  es  an  dem  Verhältnis  Schiller-Kant 
zum  ersten  Male  erleben,  wie  sich  zwischen  den  Dichter 
und  den  Denker  als  vermittelndes  Bindeglied  das  System 
einer  Ästhetik  schiebt.  Ein  hervorragendes  Zeichen  für  die 
Vortrefflichkeit  und  Elastizität  der  Kantischen  Methode  aber  wird 
es  immer  bleiben,  daß  Schiller  innerhalb  dieser  Einzeldisziplin  sich 
mit  Hilfe  der  Kantischen  Begriffsformen  Klarheit  über  die  Bedeu- 
tung des  Künstlerischen  erarbeiten  konnte,  ja  »über  die  Sendung 
des  Künstlers  in  der  menschlichen  Kultur  überhaupt«  (Kühnemann), 
und  daß  er  es  von  da  aus  vermochte,  »zur  tieferen  Ableitung  des 
eigenen  dichterischen  Charakters«  fortzuschreiten,  »den  er  dem  Goethe- 
schen  gegenüberstellt«,  so  daß  2)  »die  Philosophie  für  ihn  das  wird, 
was  sie  seit  Sokrates  für  die  Menschheit  ist,  das  große  Mittel  der 
Selbsterkenntnis«.    Was  den  Standpunkt  Kants  im  allgemeinen  anbe- 


')  Briefe  an  Körner  vom  I.Jan.  1702  und  dann  besonders  vom  15.  Okt.  1792. 
»Jetzt  stecke  icli  bis  an  die  Ohren  in  Kants  Urtlieilskraft «  Aber  selbst  noch  am 
20.  Juli  1794:  »Das  Studium  Kants  ist  noch  immer  das  Einzige,  was  ich  anhaltend 
treibe,  und  ich  merke  doch  endlich,  daß  es  heller  in  mir  wird.« 

2)  Kühnemann,  Schiller  (5.  Aufl.)  S.  354. 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  107 

langt,  so  mußte  Schillers  selbstherrliches  Schaffen  einer  ästhetischen 
Welt,  die  eine  andere  ist  als  die  gemeine,  in  der  Art  und  Weise,  wie 
bei  Kant  der  Verstand  »der  Natur  die  Gesetze  vorschreibt«,  ohne 
Zweifel  sich  selbst  wieder  finden,  aber  trotzdem  und  vielleicht  letzten 
Endes  eben  deshalb  konnten  sie  sich  nur  auf  dem  Gebiet  der  Ästhetik 
begegnen.  Kant  zerstörte  den  alten  Begriff  einer  »Weltanschauung« 
und  was  nach  der  gewöhnlichen  Voraussetzung  ein  »Gegenstand«  ist, 
dessen  »Abbild«  das  Denken  leistet,  das  ist  ihm  Regel  der  Vorstellungs- 
verknüpfung. Schiller  geht  nun  ebensolchen  Verknüpfungen,  wie  sie 
sich  jedoch  im  künstlerischen  Schaffen  darstellen,  nach,  und  sucht  so 
den  Boden  einer  kritischen  Ästhetik  zu  gewinnen.  Das  Gespräch 
»Kallias«,  das  leider  nicht  ausgeführt  worden  ist,  über  dessen  Inhalt 
uns  aber  die  Briefe  an  Körner  gut  orientieren,  sollte  auf  diese  Weise 
den  objektiven  Begriff  des  Schönen  deduzieren.  Sowohl  diese  grund- 
legenden Studien  als  auch  seine  späteren  Arbeiten  ethischen  Einschlags 
zeigen  den  männlich-ernsten,  wissenschaftlichen  Sinn  Schillers,  der  sein 
Problem  ausschreitet,  ohne  etwa  allzukühnen  Intuitionen  zu  folgen  und 
den  Rahmen  des  Kantischen  Kritizismus  im  wesentlichen  zu  sprengen. 
Wie  leicht  konnte  doch  dem  Künstler  seine  ästhetische  Welt,  die  Welt 
der  Freiheit  in  der  Erscheinung,  zur  »Wahrheit«  werden!  Wie  nahe- 
liegend mußte  es  für  ihn  sein,  am  eigenen  Schaffen  orientiert,  den 
Sprung  von  der  Ästhetik  zurück  in  die  Erkenntnistheorie  zu  machen 
und  diese  so  aufs  neue  in  Metaphysik  zu  verwandeln!  »Was  sich  nie 
und  nirgends  hat  begeben,  das  allein  veraltet  nie«  —  stellen  diese 
Verse  Schillers  den  Wahrheitsgehalt  jener  »ästhetischen  Welt«  nicht 
bereits  über  den  der  »Wirklichkeit«,  während  doch  beide  im  Sinne 
Kants  gleichwertig  nebeneinander  stehen  müssen,  da  theoretische  und 
ästhetische  Wahrheit  in  gleicher  Weise  Normen  des  Geistes  sind?  Ich 
glaube,  daß  Schiller  als  Künstler  bereits  die  Brücke  zwischen  Kant 
und  Schelling  bildet,  ebenso  wie  er  als  autonomer  Schöpfer  notwendig 
die  Brücke  zwischen  Kant  und  Fichte  bilden  mußte,  während  er  selbst 
in  seinen  Untersuchungen  der  ethischen  und  kulturphilosophischen 
Richtung  seines  Geistes  zuliebe  von  erkenntnistheoretischen  Spekulatio- 
nen absieht.  »Das  Universum  —  schreibt  Jean  Paul  an  einer  schönen 
Stelle  seiner  Vorschule  der  Ästhetik  (§  57)  —  ist  dem  Dichter  unab- 
sichtlich, frei  und  leise  in  sein  Herz  geschlüpft  und  ruht  darin  unge- 
sehen und  wartet,  bis  es  die  warmen  Strahlen  der  Dichtstunde  wie 
einen  Frühling  vorrufen.«  Sollte  da  ein  Künstler,  der  der  Überzeugung 
war,  daß  der  vollkommene  Dichter  »das  Ganze  der  Menschheit*  aus- 
zusprechen imstande  ist  (an  Goethe  27.  März  1801),  wenn  er  die 
Welt  mit  ihren  Gesetzen  und  Forderungen  als  Philosoph  zu  begreifen 
sucht,  sich  nicht  gleichfalls  vor  allem  in  die  eigene  Brust  vertiefen  und 


rgs  HERMANN  GLOCKNER. 


von  dem  Schritt,  den  er  als  Poet  vom  Subjekt  zum  Objekt  macht,  auf 
den  Schritt  vom  Subjekt  zum  Objekt  überhaupt  schließen?  Ja,  durfte 
er  sich  hiebei  nicht  sogar  mit  einem  gewissen  Recht  auf  Kant  berufen, 
der  freilich  mit  einem  allgemeineren  »Bewußtsein«  rechnet,  als  das 
umfassende,  schöpferische  und  trotzdem  sehr  besondere  des  Dichters 
nun  einmal  ist?  Auf  jeden  Fall  können  wir  bereits  an  Schillers  Kant- 
studien sehen,  wie  selbst  ein  philosophisch  hochbegabter  kritischer 
Dichter  von  vornherein  und  seiner  ganzen  Veranlagung  als  Künstler 
nach  sich  irgendwelche  erkenntnistheoretische  und  auch  ethische 
Lehren  der  Philosophie  ästhetisch  zu  assimilieren  geneigt  ist. 

Schiller  war  der  große  Arbeiter  unter  unseren  Dichtern.  Er  erringt 
sich  eine  Erkenntnis  und  fügt  sie  zu  dem  übrigen  Schatz  seiner  Er- 
kenntnisse. Anders  bei  Goethe.  Grillparzer  charakterisiert  den  Unter- 
schied vortrefflich,  wenn  er  sagt:  »Schiller  geht  nach  oben,  Goethe 
kommt  von  oben.«  Goethe  konnte  an  Kant  vorübergehen  und  zwei 
Jahre  vor  seinem  Tod  zu  Eckermann  sagen:  »Von  der  Philosophie 
habe  ich  mich  selbst  immer  frei  erhalten;  der  Standpunkt  des  gesunden 
Menschenverstandes  war  auch  der  meinige«,  weil  er  im  Zentrum  seiner 
lebenden  und  wirkenden  Persönlichkeit  jenes  Unerforschliche,  doch 
nicht  Unbewußte  findet,  das  wir  »ruhig  verehren«  sollen,  weil  es  das 
in  sich  faßt,  was  wissenschaftliches  und  künstlerisches  Bestreben  von 
zwei  verschiedenen  Seiten  her  zu  erreichen  suchen!  Wer  wie  Goethe 
die  Einheit  der  Welt  in  sich  fühlte,  der  brauchte  sie  freilich  nicht  der 
Natur  »mit  Hebeln  und  mit  Schrauben«  abzuzwingen  und  mußte  be- 
dauernd über  Schiller  urteilen:  »Es  war  nicht  seine  Sache,  mit  einer 
gewissen  Bewußtlosigkeit  und  gleichsam  instinktmäßig  zu  verfahren, 
vielmehr  mußte  er  über  jedes,  was  er  tat,  reflektieren«  (zu  Eckermann). 
Man  kann  sagen:  Goethe  hat  in  seinen  tiefsten  Momenten  erreicht, 
worauf  der  ganze  Geist  des  Griechentums  abzielte,  und  er  hat  es 
durch  eine  vermittelnde  Sphäre  des  sich  seiner  selbst  bewußt-  und 
gebildet-werdenden  Geistes  hindurch,  mit  ihrer  Hilfe  und  trotz  ihrer 
erreicht  1).  Wenn  er  einmal  sagt,  es  sei  wohl  »die  größte  Schwierig- 
keit«, etwas  als  »still  und  feststehend«  zu  behandeln,  »was  in  der 
Natur  immer  in  Bewegung  ist«,  so  hat  er  damit  jenes  gefährlichste 
aller  Probleme  ausgesprochen,  über  dessen  Widerspruch  das  hellenische 
Denken  eigentlich  niemals  hinweggekommen  ist,  den  Urdualismus  der 
Welt,  nämlich  des  Seins  und  des  Werdens.  Noch  Schleiermacher  gab 
in  dem  schönen  Abschnitt  seiner  »Monologen«  eine  nur  unbestimmte, 
gefühlsmäßige   Lösung   von    religiöser   Grundstimmung;    Hölderlin*) 


')  Vgl.  Oundolf,  Goethe  S.  27. 

»)  Vgl.  Dilthey,  Das  Erlebnis  u.  d.  Dichtung  (5.  Aufl.)  S.  375. 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  IQQ 


kam  zunächst  durch  seine  Kunst  über  den  Zwiespalt  weg,  ohne 
freilich  zu  einer  in  dauernden  Gedanl<en  befestigten  Klarheit  vorzu- 
dringen. Was  er  fühlte  und  Schelling  aussprach,  aber  in  einseiliger 
Weise  auf  die  Kunst  beschränkte  '),  das  hat  in  unseren  Tagen  Simmel*) 
folgendermaßen  verallgemeinert:  »Jedes  Kunstwerk,  das  die  ganze  aber 
doch  weiterflutende  Lebensinfensität  seines  Schöpfers  in  sich  aufnimmt, 
jedes  Dogma  einer  irgendwie  vertiefleren  Religion,  jede  sittliche  Norm, 
die  unseren  praktischen  Kräften  ein  umfassendes  und  höchstes  Ziel 
gibt,  jeder  echte  philosophische  Grundbegriff  ist  je  eine  Art,  die  Un- 
endlichkeit von  Welt  und  Leben  in  eine  Form  zu  fassen,  den  Wider- 
spruch zwischen  dem  ewig  Weiterschreitenden  und  Unerschöpflichen 
des  Daseins  auf  der  einen  Seile  und  dem  Festen,  Anschaulichen,  zur 
Form  Verendlichlen  auf  der  anderen  irgendwie  zu  lösen.«  Goethe 
aber  —  und  hierin  liegt  seine  eminente  philosophiehistorische  Be- 
deutung! —  hat  nicht  nur  als  Künstler  jene  Kluft  überbrückt,  son- 
dern er  hat  auch  zum  erstenmal  eine  philosophische  Forme!  geprägt, 
deren  Inhalt  und  Wesen  bis  auf  die  heutigen  Tage  nicht  mehr  ver- 
loren ging,  obgleich  der  Ausdruck  ein  rein  Goethescher  geblieben 
ist:  ich  meine  seine  Lehre  vom  »Urphänomen«,  jenem 
Kreuzungspunkt  poetischer  und  philosophischer  Wegf- 
richtungen,  in  der  ich  den  Ausdruck  einer  ganz  einzigartigen 
Einstellung  des  Geistes  der  Welt  gegenüber  erblicke  und  ohne  die 
ich  mir  weder  Hegels  Dialektik  noch  Schopenhauers  Willensmeta- 
physik denken  kann.  Goethes  Urphänomen  ist  die  Antwort  des 
Künstlers  auf  das  grenzsetzende  Forschen  Kants.  »Wie  ihm  jeder 
Augenblick  ein  Repräsentant  der  Ewigkeit  war,  nicht  ein  isolierter 
Zeitabschnitt,  sondern  der  Träger  aller  Zeitfülle,  aus  der  er  hervor- 
gestiegen, von  der  er  hervorgedrängt  war,  so  ist  ihm  jedes  einzelne 
Phänomen,  jede  Gestalt  oder  Kraft  symbolisch  für  die  gesamte  Wirkung 
der  Gottnatur«  (Gundolf).  «Vom  Absoluten  im  theoretischen  Sinne 
—  sagt  er  —  wag'  ich  nicht  zu  reden;  behaupten  aber  darf  ich:  daß 
wer  es  in  der  Erscheinung  anerkannt  und  immer  im  Auge  behalten 
hat,  sehr  großen  Gewinn  davon  erfahren  wird«.  »Er  sucht  also  das 
Ding  an  sich  niemals  hinter  den  Dingen,  sondern  er  wußte  be- 
seligt, daß  er  es  in  den  Dingen  selber  besitze,  daß  er  im  Augenblick 
die  Ewigkeit,  in  dem  individuellen  Vergänglichen  die  Gottnatur  erfahre. 
,Am   farbigen    Abglanz   haben    wir   das   Leben'.     So   überbrückte  er 


')  Schelling,  Über  das  Verhältnis  der  bildenden  Künste  zur  Natur.  Ausgabe 
Otto  Weiß  III.  Bd  ,  S.  3<39  (Oes.-Ausg.  1/7,  S.  303):  »Die  Kunst,  indem  sie  das 
Wesen  in  jenem  Augenblick  darstellt,  hebt  es  aus  der  Zeit  heraus;  sie  läßt  es  in 
seinem  reinen  Sein,  in  der  Ewigkeit  seines  Lebens  erscheinen.« 

»)  Simmel,  Goethe  S.  239  f. 


200  HERMANN  GLOCKNER. 


den  theoretischen  Gegensatz  zwischen  Erfahrung  und  Idee,  den  er 
begrifflich  sehr  wohl  anerkannte  durch  seine  Vorstellungsart  und  durch 
sein  wissenschaftliches  Verfahren«  (Oundolf).  Er  arbeitet  also  das 
Absolute  in  die  Erscheinung,  das  Sein  in  das  Werden  mit  Hilfe  dieses 
»Urphänomens«  hinein,  oder  vielmehr:  er  erblickt  in  diesem  Dritten 
die  beiden  Gegensätze  verschlungen.  Hiemit  ist  eine  Einheit  und 
Harmonie  nicht  nur  nach  der  Richtung  des  Lebens,  sondern  nach 
jeder  Richtung  hin  erreicht  und  eine  Grundlage  gegeben,  von  der  aus 
die  menschlichen  Kräfte  des  Aufnehmens,  Verarbeitens  und  Produzie- 
rens  in  glücklicher  Weise  sich  zu  entwickeln  imstande  sein  werden; 
denn  das  »Urphänomen«  ist  ja  nur  eine  Methode,  deren  sich  ein  als 
Entelechie  wirkender  Genius  bedient,  nicht  aber  ein  Faulbett,  auf  dem 
man  sich  etwa  wohlig  ausstrecken  könnte.  Goethes  sämtliche  natur- 
philosophische Anschauungen,  vor  allem  sein  Glaube  an  eine  durch- 
gängige Polarität,  lassen  sich  leicht  an  diese  seine  Grundeinstellung 
anknüpfen  und  aus  ihr  wie  eine  notwendige  Folge  herausentwickeln; 
denn  sie  beruhen  auf  nichts  anderem  als  auf  dem  empirischen  Natur- 
studium eines  spekulativen  Geistes.  Hier  aber  liegt  der  Punkt,  an  den 
Schelling  anknüpfen  sollte,  dessen  Gedanken  Hegel  dann  weitergebildet 
und  systematisch  ausgestaltet  hat. 

Goethe  steht  als  Gesamterscheinung  sozusagen  jenseits  von  Philo- 
sophie und  Dichtung.  Schiller  hatte  ein  »Verhältnis«  zur  Philosophre 
—  Goethe  war  das  Philosophierende  selbst.  Ich  wage  es  nicht,  ihn 
als  Typus  hinzustellen  —  er  bleibt  ein  einzigartiges  Sichzusammen- 
fassen des  Dichtenden  und  Philosophierenden  und  ist  so  »unser  vor- 
zugsweise klassischer  Mensch«  (Gundolf)  geworden.  In  dem  Verhält- 
nis der  Zeitgenossen  seines  Alters  zu  ihm  wiederholt  sich  denn  auch 
das  Verhältnis  der  Renaissance  zur  Antike.  Das  umfassendere  Welt- 
bild, die  nach  jeder  Richtung  hin  vertiefte  und  erweiterte  Bildung  fügen 
doch  dem  Wechselverhältnis  des  dichtenden  Geistes  zum  denkenden, 
wie  es  sich  nun  als  ein  allseitiges,  durchgehendes  zeigt  und  dem 
ganzen  Zeitabschnitt  seinen  Charakter  gibt,  zunächst  nichts  Wesent- 
liches hinzu,  das  es  prinzipiell  von  der  dichtenden  und  philosophieren- 
den Hochrenaissance  unterscheiden  würde.  Im  Drang,  das  als  Epoche 
zu  erreichen,  was  man  in  Goethes  vereinzeltüberragender  Wesenseinheit 
als  erreicht  ahnte,  beginnen  Philosophen  wie  Schelling  zu  dichten  und 
Poeten  wie  Novalis  zu  philosophieren  —  beide  aus  innerstem  Antrieb, 
wie  um  künstlerisches  und  wissenschaftliches  Weltfühlen  zu  zwingen 
in  einen  Strom  zusammenzuschießen  i),  aus  dem  der  Dürstende  mit 


')  »Alle  Kunst  soll  Wissenschaft  und  alle  Wissenschaft  so'l  Kunst  werden; 
Poesie  und  Philosophie  sollen  vereinigt  sein.«    Fr.  Schlegel,  Lyzeumsfragmente  von 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  201 

einem  Trunk  ein  doppeltes  Begehren  zu  stillen  imstande  wäre,  worauf 
Goethe  freilich,  der  gleichsam  getrunken  hatte,  ehe  er  auf  diese  Erde 
niederstieg,  hatte  verzichten  können.     Doch  er 

»ging  heim.    Das  Diadem  zersprang, 

Das  achtzig  Jahre  seine  Stirn  umschlang. 

Nun  zeigt  wohl  mancher  ein  Juwel  daraus, 

Doch  wer  verflicht  sie  abermals  zum  Strauß? 

Wer  ist  es,  der  den  Geist  und  die  Natur, 

Wie  er,  ergreift  auf  ungetrennter  Spur?«  (Hebbel.) 

Hatte  Goethe  in  Kant  eine  völlig  andere,  seinem  Wesen  entgegen- 
gesetzte, jedoch  ebenso  berechtigte  Art  und  Weise  in  die  Welt  hinein- 
zuschauen anerkannt  und  geachtet,  so  triumphierte  Schelling:  »Jene 
einfache  Zeit  ist  nicht  mehr,  wo  die  Kantische  Scholastik,  zwar  mit 
bleiernem  Scepter,  aber  doch  sanft  einwiegend,  die  Köpfe  beherrschte 
und  das  Andenken  alles  Lebendigen  in  der  Wissenschaft  verdrängte« 
und  bezeichnet  als  »Dinge,  die  allein  des  Begreifen s  werfh  sind  — 
Gott,  die  Natur  und  den  Menschen  i).«  Konnten  solche  Worte  in  der 
Tat  die  Kantische  Philosophie  treffen?  Sie  zeigen  nur,  wie  tief  Schelling 
unter  Goethe  stand!  Wenn  er  den  Anseimo  im  »Bruno«  sagen  läßt: 
»Ist  es  nicht  begreiflich,  daß  diejenigen,  welche  geschickt  sind,  schöne 
Werke  hervorzubringen,  die  Idee  der  Schönheit  und  Wahrheit  an  und 
für  sich  selbst  oft  am  wenigsten  besitzen,  eben,  weil  sie  von  ihr  be- 
sessen werden«  —  so  hat  er  sein  eigenes  Urteil  damit  gesprochen. 
In  Schelling  hat  »der  Philosoph  mit  dem  Künstler  gehandelt«  (um  auf 
ein  bekanntes  Sinngedicht  Lessings  anzuspielen)  und  indem  er  in  der 
Polemik  gegen  Fichte  eifert:  »Der  Mensch  ist  nicht  aus  zwei  so  dis- 
paraten Hälften  zusammengesetzt,  daß,  wenn  die  eine  derselben,  die 
Vernunft,  den  Himmel  erlangen  soll,  die  andere  gekreuzigt  und  getötet 
werden  müßte.  Der  Verstand  ist  eben  auch  die  Vernunft  und  nichts 
anderes;  nur  die  Vernunft  in  ihrer  Nichttotalität .  ..  Alle  Irrtümer  des 
Verstandes  entspringen  aus  einem  Urteil  über  die  Dinge,  in  der  Nicht- 
totalität gesehen.  Zeige  sie  ihm  in  der  Totalität,  und  auch  er  wird 
begreifen  und  seinen  Irrtum  erkennen«  —  spricht  er  das  Streben  des 
Künstlers  nach  einem  einheitlichen,  das  Ganze  überblickenden  Gesichts- 
punkt aus,  das  ihn  leitete.    Den  raschesten  Weg  zur  absoluten  und 


1797,  Nr.  115.  —  »Je  mehr  die  Poesie  Wissenschaft  wird,  je  mehr  wird  sie  auch 
Kunst«.  Fr  Schlegel,  Athenäumsfrigmen^e  von  1798,  Nr.  255.  —  »Der  dichtende 
Philosoph,  der  phi.osophierende  Dichter  ist  ein  Prophet.«     Ebenda  Nr.  249. 

')  Schelling,  Darlegung  des  wahren  Verhältnisses  der  Naturphilosophie  zu  der 
verbesserten  Fichteschen  Lehre.  Weike  1/7,  S.  49.  Vgl.  auch  ebendort  S.  40  und 
wei'.erhin  S.  42.  —  Das  Zitat  aus  »Bruno«  nach  der  Ausgabe  Otto  Weiß  S.  435 
wiedergegeben. 


202  HERMANN  GLOCKNER. 


einheitlichen  Ganzheit  des  Daseins  führt  jedoch  jederzeit  die  mystische 
Versenkung  in  die  zentrale  Einheit  des  eigenen  Wesens.  Schelling 
ist  diesen  Weg  gegangen  —  schon  während  seiner  früheren  Epochen 
und  bevor  er  noch  an  Jakob  Böhme  angeknüpft  hatte!  Insofern  er 
aber  in  sich  selbst  einen  schaffenden  Künstler  vorfand,  brachte  er  einen 
schaffenden  Künstler  in  philosophische  Formeln  und  deklarierte  eine 
Einheit  der  Welt,  die  in  Wahrheit  die  Einheit  des  schöpferischen 
Genies  und  in  letzter  Vollendung  die  Einheit  Goethes  war.  Obwohl 
aber  diese  letzte  Einheit  in  der  Identitätsphilosophie  als  im  Absoluten, 
wo  die  Kunst  ist  und  die  Wissenschaft  hinkommen  soll,  gegeben  er- 
klärt wird,  ist  Schelling  dennoch  gerade  über  jenen  Dualismus  nie- 
mals weggekommen,  den  so  völlig  kampflos  und  von  vornherein 
überwunden  zu  haben  Goethes  einzigartige  klassische  Größe  ausmacht: 
ich  meine  den  Gegensatz  des  Schöpfers  und  der  Schöpfung.  Wenn 
in  der  Rede  über  das  Verhältnis  der  bildenden  Künste  zur  Natur  das 
Schaffen  des  Künstlers  dem  Naturschaffen  nachgezeichnet  wird,  so  ist 
dies  an  und  für  sich  ein  sehr  schöner  Parallelismus,  wer  aber  die  An- 
schauungen Schellings  einer  genaueren  Betrachtung  unterzieht,  der 
wird  bemerken,  daß  überall  in  Wirklichkeit  umgekehrt  das  Schaffen  der 
Natur  vorzüglich  am  Schaffen  des  Künstlers  einleuchtet.  Wie  aber  der 
Schöpfer  und  sein  Werk  nachträglich  ebenso  auseinandertreten  wie  die 
Mutter  und  ihr  Kind,  nachdem  die  Geburt  vollzogen  ist,  so  finde  ich 
in  der  ganzen  Schellingschen  Naturphilosophie  hinter  den  Phänomenen 
doch  immer  erst  »die  eigentliche  Natur«,  die  natura  naturans  im  Gegen- 
satz zur  natura  naturata,  nämlich  das  schaffende  Prinzip,  und  nirgends 
ist  der  Rat  befolgt,  den  Goethe  den  Naturforschern  gegeben  hat:  »Man 
suche  ja  nicht  hinter  den  Phänomenen,  sie  selbst  sind  die  Lehre!«  — 
mit  einem  Wort:  nirgends  ist  im  Geiste  des  »Urphänomens«  verfahren. 
Wenn  es  aber  Schelling  niemals  versäumt,  eine  nachträgliche  Ineins- 
setzung  dieses  ursprünglichen  Gegensatzes  vorzunehmen,  so  ist  hier 
der  Wunsch  der  Vater  des  Gedankens  und  die  Parallele  mit  den  Be- 
strebungen der  hellenisierenden  Renaissance  vollkommen.  Was  ihn 
von  den  mittelalterlichen  Piatonikern  unterscheidet,  ist  lediglich  eine 
Konsequenz,  die  seine  Lehre  für  die  junge  Disziplin  der  Ästhetik  hat, 
in  die  sie  einmündet  und  zu  der  sie  sich  verengert.  Wenn  nämlich 
die  Natur  ebenso  arbeitet  wie  der  Künstler,  so  ist  doch  der  Philosoph 
selbst  ein  Künstler,  in  dem  sich  der  schaffende  Geist  seiner  selbst 
bewußt  geworden  ist.  Auf  diese  Weise  identifiziert  sich  die  Philosophie 
notwendig  mit  der  Ästhetik,  insofern  man  nur  mit  diesem  Wort  den 
über  Kant  hinausgehenden  Sinn  einer  Philosophie  des  künstlerischen 
Schaffens  verbindet. 

Kann  aber  von  einem  Wechselverhältnis  zwischen  Dichter  und 


PHILOSOPHIE  UND  DICHTUNG.  203 

Denker  noch  die  Rede  sein  in  einem  Augenblick,  wo  der  Denker  selbst 
zum  Dichter  wird?  Ich  glaube:  nein.  Nach  den  voraufgegangenen  Ent- 
wicklungsstufen bleibt  vielleicht  überhaupt  nur  noch  eine  Möglichkeit 
übrig,  auf  die  der  Künstler,  der  nur  Künstler,  aber  Künstler  im  umfassend- 
sten Sinn  ist,  zum  Denker  in  lebendige  fruchtbringende  Beziehung  treten 
kann,  indem  der  Philosoph  nämlich  —  was  Schelling  nie  gelungen 
ist!  —  dem  Epigonen  die  Ergänzung  darbietet,  deren  Goethe  nicht  be- 
durft hatte:  ein  auf  gedanklichem  Weg  gewonnenes  Prinzip,  das  in 
irgendwelcher  Weise  einen  Ersatz  für  Goethes  ursprünglich-erlebtes 
»Urphänomen«  liefert.  Wir  werden  dann  den  neuen,  bisher  noch  nicht 
dagewesenen  Fall  eintreten  sehen,  daß  der  Dichter  nicht  zwar  das 
System  des  Denkers  (wie  Dante!),  aber  doch  den  gedanklichen  Quell- 
punkt desselben  zur  lebendigen  Grundlage  auch  seines  Schaffens  über- 
nimmt oder  —  wie  die  Verhältnisse  wohl  in  Wirklichkeit  meistens  ge- 
lagert sein  werden  —  sich  vielmehr  von  einer  geistigen  Strömung 
tragen  läßt,  in  deren  Element  er  so  gut  lebt  wie  nur  irgendwie  in  den 
politischen  oder  sozialen  Verhältnissen  seiner  Zeit,  und  die  ihm  in 
einer  im  einzelnen  oft  kaum  zu  ergründenden  Weise  jenes  gedank- 
liche Moment  an  die  Hand  gibt,  ohne  das  er  in  einer  Epoche,  die  von 
allem  Urquell  und  jeder  Möglichkeit  eines  vollkommen  reflexionslosen 
und  naiven  Schaffens  durch  Jahrtausende  getrennt  ist,  seinem  künst- 
lerischen Genius  nicht  genügen  kann.  Nun  fiel  das  Ende  der  eigent- 
lichen Romantik  beinahe  mit  dem  Tod  Goethes  zusammen  und  die 
Reaktion  blieb  in  der  Gestalt  von  realistischen  Tendenzen  nicht  aus. 
Spröder  und  ungläubiger  geartet  als  Hölderlin  und  Novalis,  deren  bild- 
samen, einheitsbedürftigen  Naturen  noch  unter  Goethes  Augen  (zu 
dessen  harmonischem  Weltfühlen  sie  aufstrebten)  Dichten  und  Denken 
in  eines  zusammenflössen,  bedurfte  ein  großer  Dichter  jener  späteren 
Tage:  Friedrich  Hebbel,  den  die  Natur  vor  allem  zum  Künstler  ge- 
schaffen und  in'  eine  zerrissene,  widerspruchsvolle,  der  Deutung  be- 
dürftige Welt  hineingestellt  hatte,  ohne  ihm  die  klassischen  Maße  und 
das  harmonisch  lösende  Ineinsempfinden  Goethes  mitzugeben,  eines 
äußeren  gedanklichen  jtoo  ot»,  um  mit  sich  selbst  und  der  Welt  ins 
Reine  zu  kommen.  An  diesem  neuen  möglichen  Kreuzungspunkt 
zwischen  Denken  und  Dichten  aber  konnte  sich  weiterhin  eine  Ästhetik 
—  die  Ästhetik  Fr.  Th.  Vischers  —  entwickeln,  die  nicht  mehr  bloß 
eine  Philosophie  des  dichtenden  Absoluten  war,  sondern  —  obwohl 
metaphysischen  Ursprungs  —  sich  schrittweise  immer  mehr  dem 
Realismus  nähern  mußte,  weil  sie  dem  Geiste  eines  tapferen,  mit  beiden 
Füßen  fest  auf  dem  braunscholligen  Erdboden  stehenden  Mannes  ent- 
sprungen war,  der  zugleich  ein  Künstler  gewesen  ist,  und  den  in  allem 
sein  eigener  Merkspruch  leitete: 


204  HERMANN  GLOCKNER. 


»Trunkenes  Wiegen 
Bleibe  mir  ferne ! 
Oiine  zu  fliegen 
Find  icfi  die  Sterne. 
Fuß  über  Grüfien, 
Fest  auf  dem  Festen, 
Haupt  in  den  Lüften, 
So  ists  am  besten.« 

Der  Mann  aber,  der  das  gedankliche  Prinzip  in  das  Gewebe  des 
Geistes  hineingesponnen  hatte,  von  dem  aus  der  Künstler  und  der 
Ästhetii<er  eine  Brüci<e  fanden  vom  Werden  zum  Sein  und  vom 
Irdischen  zum  Ewigen,  hatte  seltsamerweise  von  dem  ungleich  poeti- 
scheren Scheiling  weg  über  die  abstrakte  naturlose  Philosophie  Fichtes 
seinen  seltsamen  Weg  »zurück  zu  den  Griechen«  nehmen  müssen,  um 
auf  dem  felsigen  Pfad  der  logischen  Spekulation  dahin  zu  gelangen, 
wohin  Goethe  von  Natur  gestellt  war.    Er  hieß  Hegel '). 


')  E'ne  zur  JMonographie  erweiterte  Fortsetzung  dieser  Studie  bildet  meine 
Schrift  »Fr.  Tfi.  Viscfiers  Ästhetik  in  ihrem  Verhältnis  zu  Hegels  Phänomenologie 
des  Geistes«.    Leipzig,  Verlag  von  Leopold  Voß,  1920. 


Bemerkungen. 


Sachliche  Kunstbetrachtung  und  persönliche  Kunstpolitik. 

Von 

Fritz  Hoeber. 

Man  wird  dem  so  dringlichen  Problem,  wie  sicli  Kunst  und  Kunstkritilt  zuein- 
ander zu  verhallen  haben,  am  ehesten  dann  gerecht,  wenn  man  grundsätzlich  unter- 
scheidet zwischen  der  objektiven  Kunstbetrachtung,  die  mit  Recht  einen 
Anspruch  auf  Allgemeinverbindlichkeit  erheben  darf,  und  einer  persön- 
lich aktiven  Stellungnahme  zur  Kunst,  de,  wie  jede  willentliche  Lebens- 
äußerung, natürlich  immer  nur  auf  das  eigene  Individuum  beschränkt  bleibt,  und 
die  man  wohl  am  treffendsten  mit  »Kunstpolitik«  bezeichnet. 

I.  Das  innere  Nachschaffen  des  Kunstwerks. 

Zu  der  von  der  Kunstbetrachtung  gestellten  Aufgabe  gehört  zuerst  eine  ge- 
horsame Phantasie,  die  allen  individuellen  Al^sichten  des  gestaltenden  Künst- 
lers getreu  nachwatidelt :  Sie  soll  nicht  nur  die  Elemente  des  Aufbaus  richtig  er- 
kennen, sondern  auch  ihre  jedesmal  anders  gewollten  Beziehungen  intuitiv  er- 
raten und  deren  Anordnung  ganz  Im  Sinne  des  Schöpfers  treffen.  Denn  gerade 
hierin  wird  häufig  gesündigt,  daß  ein  Kunstwerk  nach  einer  ihm  fremden  Regel 
verstanden  wird  und  dann  im  geistigen  Abbild  des  Aufnehmenden  zur  Karikatur 
verunstaltet  erscheint. 

Die  Beispiele  sind  so  häufig,  daß  sich  fast  eine  Aufzählung  erübrigt:  Berühmt 
sind  vor  a'lem  die  Schwierigkeiten,  die  seinerzeit  der  neuen  Wagnerschen  Kompo- 
sition der  unendlichen  Melodie  und  des  kurzen  Leitmotivs  von  der  liedartig  ge- 
schlossenen Melodie  bereitet  wurden.  Berühmt  ist  die  kunstfiemde  Überspannung 
der  »Relief Forderung«  in  den  bildenden  Künsten,  wie  sie  die  Hildebrandschule  aus- 
übt, die  aberdimit  bei  sämtlichen  anderen,  außerhalb  ihres  engen  Ursprungskreises 
stehenden,  Richtungen  eine  falsche  Synthese  vollzieht.  (Vgl.  die  an  den  Vortrag  von 
Hans  Cornelius  »Zur  Ansichtsforderung  in  Archi'ektur  und  Plastik«  anknüpfende 
Diskussion  auf  dem  Kongreß  für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissen- 
schaft, Beriin  7.-9.  Okt.  1Q13,  Bericht,  Stutigart  1914,  S.  268  ff.  und  Fritz  Hoeber, 
»Die  Unzulänglichkeit  der  Hildebrandischen  Raumästhetik«  im  Repertorium  für  Kunst- 
wissenschaft XXXVI II.  Jahrg.,  1915,  S.  171-184.) 

Also  Grundbedingung  einer  objektiven  Kunstbetrachtung  ist  die  objektive  Ein- 
stellung auf  das  individuelle  Kunstobjekt.  Das  läßt  sich  durch  Übung  bis  zu  einem 
bestimmten  Grade  erlernen,  falls  eine  gewisse  instinktmäßige  künstlerische 
Begabung  als  Voraussetzung  vorhanden  ist,  die  sich  am  deutlichsten  vielleicht  in 
einer  dilettantischen  Beschäftigung  mit  der  Kunst:  in  Zeichnen,  Musizieren,  Literari- 
sieren  usw.  ausspricht. 

Wenn  der  Student  der  Kunstgeschichte  zur  umständlichen  Beschreibung  und 
Analyse  vieler,  verschiedenartiger  Kunstwerke  immer  wieder  angehallen  wird,  so  ist 
das  die  bewährte  Methode,  die  individuelle  Einstellung  auf  die  inhaltlichen,  formalen 


206  BEMERKUNGEN. 


und  geistigen  Eigenschaf tskomplexe  der  ihm  zunächst  fremdatiigen  Kunstwerke  ver- 
gangener Zeiten  und  ferner  Länder  sich  anzueignen:  er  zeichnet  sozusagen  mit 
seinem  Verstand  jene  Schöpfungen  in  ihrem  Wachsen  und  ihrer  Vollendung  nach. 
Allein  irgend  eine  wertende,  persönliche  Stellung  nimmt  solche  objektivierende 
Betrachtungsweise  dem  Kunstwerk  gegenüber  noch  nicht  ein. 

II.  Die  wertende  Stellungnahme  zum  Kunstwerk, 

Gefühl  und  Verstand  spie'en  in  der  kontemplativen  Einstellung  zur 
Kunst  die  Hauptrolle,  Gefühl  und  Wille  in  der  aktiven:  Dort  herrscht  die  neu- 
trale Berichterstattung  über  den  ästhetischen  Sachverhalt,  hier  —  was  scharf 
davon  zu  unterscheiden  ist  —  die  persönlich-politische,  kritische  Stel- 
lungnahme. »Die  Beschäftigung  mit  moderner  Kunst  ist  Politik,  aber  mit 
Politik  will  ich  mich  nicht  befassen«,  sagte  einmal  ein  berühmter  Beriiner  Kunst- 
historiker und  zog  sich  mit  seinen  Studien  ins  frühe  Mittelalter  zurück. 

In  der  Tat  geht  das  eigentliche  ästhetische  Werturteil,  das  das  eine  Kunst- 
werk annimmt  und  das  andere  ablehnt,  auf  den  schöpferischen  Kern  der  Persön- 
lichkeit zurück,  den  Ursitz  der  Willensäußerungen,  der  sittlichen  Wertungen.  Diese 
Werturteile  beanspruchen  nicht,  wie  jene  Feststellungen  individueller  künstlerischer 
Sachverhalte,  über  persönliche,  objektive  Geltung.  Ihr  Wesen  erfüllt  sich,  wenn 
sie  aus  autonomer  Überzeugung  getroffen  sind  und  nicht  von  einer  fremden  Kon- 
vention übernommen,  von  einer  oberflächlichen  Mode  diktiert  werden.  Das  ist  der 
tiefere  Grund,  warum  man  heute  wieder  die  Ehrlichkeit  der  Gesinnung  auch 
in  künstlerischen  Dingen  vorausstellt. 

JVlan  muß  sich  nun  darüber  klar  sein,  daß  jede  Lebens-  und  Gesellschaftssphäre 
ihre  eigenen  Wertmaßstäbe  hat,  von  denen  das  Individuum  natürlich  aufs 
stärkste  beeinflußt  wird.  Das  politische,  das  soziale,  das  religiöse,  das  kulturelle 
und  das  Zivilisationsmilieu  —  sie  alle  stellen  ihre  eigenen  Stufenleitern  auf,  die  für 
sämtliche  Lebensäußerungen,  damit  vor  allem  auch  für  die  Kunst,  ausschlaggebend 
erscheinen.  Ein  historisches  Beispiel:  Der  von  reformatorischer  Inbrunst  erfüllte 
Augustinermönch  JVlartin  Luther  bewertete  auf  seiner  Romfahrt  1511  den  gerade  da- 
mals begonnenen  Bau  von  St.  Peter  ganz  anders,  mit  einer  zornerfüllten  ethischen 
Negation,  als  die  Bramantes  und  Raffaels,  die  darin  die  Verwirklichung  ihres  harmoni- 
schen, ästhetischen  Architekturideals  sahen. 

Es  gibt  also  bestimmte  Wert  kreise,  die  oft  gleichzeitig  erscheinen,  woraus 
sich  dann  der  große  Kampf  um  die  Wertgeltungen  erklärt.  Der  Streit  um  die 
asketische  oder  die  hedonistische  Lebensauffassung,  das  diesseitig  Irdische  oder  das 
jenseitig  Vergeis  igte,  um  die  klassische  Formbejahung  oder  die  romantische  Form- 
auflösung zerspahen  ganze  ZeitaUer  in  bezug  auf  ihren  Wertmaßstab  und  haben 
natürlich  auch  stärksten  Einfluß  auf  das  Kunsturteil:  Man  denke  an  das  grundsätz- 
liche Mißverstehen,  das  der  gealterte  Olympier  Goethe  dem  romantischen  Drama 
des  Jünglings  Heinrich  v.  Kleist  entgegenbrachte.  Man  erinnere  sich  des  heutigen 
Kampfs  zwischen  dem  irdisch-sachlichen  Impressionismus  und  der  transzendentalen 
Pathetik  der  neuesten  Kunst. 

lU.  Die  notwendige  Rolle  des  Kritikers. 

Hat  die  Kritik  in  solche  Kämpfe  einzugreifen  oder  aber  sich  neutral  zu  halten? 

Wenn  ihre  Aufgabe  schon  mit  jener  beschreibenden  Einfühlung  in  alle  Kunst- 
werke getan  wäre,  könnte  sie  sich  allerdings  zurückhalten.  Aber  mit  Recht  wird  ja 
von  ihr  positive  oder  negative  Stellungnahme  gefordert,  geistige  Wertung:  sie 
soll  Führerin  sein  einer  Menge  von  Wertblinden. 


I 


BEMERKUNGEN.  207 


Und  dies  verlangt  nun  die  starke  Persönlichkeit,  die  schöpferische  Individualität, 
die  sich  nicht  zurückhalten  darf,  weil  sie  an  der  kulturellen  Entwick- 
lung mitarbeiten  muß.  Ja,  wenn  wirklich  das  Verhältnis  von  Kunst  zu  Kunst- 
kritik sich  so  einfach  abspielte,  daß  zuerst  der  Künstler  eine  »objektive  Sache« 
schafft,  die  dann  nachher  der  böse  Kritikus  mit  allerlei  liebevollen  Bemerkungen 
versieht ! 

Allein  das  Kunstwerk  ist  ja  keine  »objektive  Sache«,  sondern  ein  persön- 
liches Erlebnis,  das  erst  durch  die  Berührung  zwischen  Künstler  und  Publi- 
kum wird,  wobei  dem  äußeren,  aufgeschriebenen,  vorgespielten,  gemallen,  ge- 
meißelten, gebauten  Werk  nur  die  vermittelte  Rolle  einer  geistigen  Leitung 
zufällt.  Dieses  »ästhetische  Objekt«  unseres  inneren,  starken  Erlebens  zu  schaffen, 
dazu  müssen  sich  Künstler  und  Publikum  innerlich  nahe  kommen.  Und  da 
kann  Wegbahner  der  Kritiker  sein. 

Er  steht  natürlich  als  Einer  aus  dem  Publikum  Künstler  und  Kunstwerk 
gegenüber.  Aber  da  von  ihm  eine  größere  Übung  in  der  sachgemäßen  Synthese 
des  »ästhetischen  Objekts«  seines  inneren  Erlebens  vorausgesetzt  werden  kann, 
ebenso  auch  eine  gewissenhaftere  Wertung  auf  Grund  einer  gefestigten  Kultur- 
überzeugung, als  sie  das  in  seiner  Alltagspraxis  zerstreute,  größere  Publikum  nun 
einmal  zu  besitzen  pflegt,  kann  er  als  dessen  Protagonist  auftreten:  Er  setzt  sich 
kritisch  mit  dem  Kunstwerk  auseinander  und  schafft  damit  eine  neue  geistige 
Kultur.  Dadurch,  daß  er  das  Kunstwerk  erklärt,  kritisiert,  wertet,  spielt  er  seine 
notwendige  Rolle  im  geistigen  Stoffwechsel  seiner  Zeit,  seiner  Nation,  des  modernen 
Lebens. 

IV.  Das  Lebendige  der  Kunstkritik. 

Was  ist  nun  diese  Lebendigkeit,  und  stellt  sie  den  einzigen  Maßstab  zur  kriti- 
schen Wertung  der  Kunst  dar?  iVlax  Liebermann  sagte  einmal:  Ob  alte  Kunst,  ob 
neue  Kunst  —  es  gibt  nur  die  Kunst,  die  lebt ! 

Wirklich  tritt  diese  Forderung  nach  »Lebendigkeit«,  nach  »Erfüllung  des  Zeit- 
willens« heute  in  allen  kritischen  und  ästhetischen  Programmschriften  auf:  Fragt 
sich  nur,  was  darunter  konkret  zu  verstehen  ist,  ein  auflösender  Stil,  der  etwa 
die  Linie  des  Impressionismus  im  Expressionismus  fortsetzt,  oder  ein  zusammen- 
fassender, der  die  alte  Monumentalmalerei  zum  Kubismus  stereorretrisiert?  Oder 
sollten  nicht,  wie  das  die  neuere  Kunstgeschichte  häufig  schon  er'ebt  hat,  in  Zu- 
kunft beide  Richtungen  nebeneinander  hergehen  und  sich  ergänzen? 

Diese  Frage  wird  nur  die  Intuition  des  Kunsikritikers  beantworten  können, 
welche  die  Gesamtkultur  unserer  Zeit  synthetisch  umspannt.  Des  Kunstkritikers, 
der  in  ihr  ständig  aktiv  mitlebt,  der  sich  nicht  absondert  und  spezialisiert  wie  der 
Fachgelehrte. 

Das  wertende  Prinzip  der  Lebendigkeit  in  der  Kunstkritik  von  heute  ist  zu 
begrüßen  als  Reaktion  auf  den  Historismus  des  19.  Jahrhunderts,  der  sich  auch 
hier  eingenistet  hatte.  Das  Historische  war  so  ins  Kraut  geschossen,  daß  man  auch 
in  der  Kunst  alles  nur  noch  zeitlich- örtlich  erklären  wollte,  wodurch  das  eigent- 
lich Künstlerische  sehr  zu  kurz  kam.  (Man  erinnere  sich  beispielsweise  an 
das  Elend  der  historisch-philologischen  Schule,  wie  sie  in  Erich  Schmidt  und  seinen 
kunstfremden  Jüngern  ihre  Blüte  erlebt  hat.) 

Nun  beginnt  aber  in  der  Kunstkritik  von  heute  wieder  eine  Hetze  gegen  die 
außerhalb  der  Tageskämpfe  stehenden  historischen  Werte.  Schaffende  Künstler  und 
betrachtende  Schriftsteller  überbieten  sich  gegensei  ig,  in  der  Vergangenheit  eine 
umfassende  ^Umwertung  aller  Werte«  vorzunehmen,  die  keineswegs  bescheiden  als 
persönliches    Bekenntnis,    sondern    mit    dem   bewußten   Anspruch   auf   Allgemein- 


208  BEMERKUNGEN. 


gül.igkeit  auftritt:  Raffael  wird  unter  den  Greco  rangiert,  die  Gotik  ist  der  einzige 
Stil  und  die  Renaissance  ist  eine  bloße  Entartung  —  das  suclite  allen  Ernstes 
einer  der  iiervorragendsien  Berliner  Kunstkritiker  in  einem  Buch  zu  beweisen,  das 
sein  Erlebnis  einer  italienischen  Reise  —  in  bewußter  Gegnerschaft  zu  Goethe  — 
schildert.  (Vgl.  Karl  Scheffler,  »Italien,  Tagebuch  einer  Reise«,  Leip7ig  1913,  wo 
Raffael  und  Michelaneglo  sich  schlechte  Noten  des  nordischen  Schulmeisters  holen. 
Im  Gegensatz  dazu  die  allumfassende  Gerechtigkeit  eines  schöpferischen  Impressio- 
nisten wie  Liebermann,  der  nach  seiner  lialienreise  als  din  Höhepunkt  se  ner 
künstlerischen  Eindrücke  die  —  so  ganz  anders  als  das  eigene  Kunstschaffen  ge- 
arteten —  Deckenbilder  der  Sixtinischen  Kapelle  preist.  —  Vgl.  ferner  von  Scheffler, 
»Der  Geist  der  Gotik«,  Leipzig  1917,  der  eine  volkstümliche  Vereinfachung  sein  will 
der  von  Wilhelm  Woninger  in  seinem  Buch  »Formprobleme  der  Gotik«,  München 
1911,  aufgestellten  Wertantilhese:  Gotik— Renaissance.  Deren  innere  Haltlosigkeit 
beweist  Julius  Baum,  »Der  Geist  der  Gotik«,  Kunstchronik  Nr.  14,  11. Januar  19i8, 
weiterhin  in  seiner  Einleiung  zur  Baukunst  und  dekorativen  Skulptur  der  Früh- 
rentissance  in  Italien,  Stuttgart  1920,  über  »Fortleben  oder  Wiedergeburt  der  Antike?«) 

Solche  Art  der  »Verlebendigung«  der  Geschchte,  indem  man  nach  einem  spe- 
zifischen Programm  die  Kunstwerke  auswählt  und  als  wertvoll  betont,  erscheint 
natürlich  für  eine  objektive  Kunstkritik  unstatthaft.  Vorhin  wurde  als  Unterbau 
jeder  Kunstkritik  die  individuell  richtige  Betrachtung  jedes  Kunstwerks  verlangt,  da 
z.  B.  eine  mit  gotischen  Augen  angesehene  Renaissanceschöpfung  —  oder  um- 
gekehrt —  eine  Karikatur  geben  muß. 

Erlaubt  wird  eine  derartige  Einseitigkeit  höchstens  dem  schaffenden  Künst- 
ler in  dem  Augenblick  sein,  wenn  er  bewußt  sein  eigenes  Schaffen  in  dieser  Rich- 
tung steigern  will.  Interessant  mögen  solche  einseiligen  Künstleräs.hetiken  auch 
stets  für  die  Erkenntnis  des  Werkes  des  Meislers  selbst,  seiner  Schule  und  seiner 
stilistischen  Verwandtschaft  sein.  Aber  wo  sie  darüber  hinausgehen,  sich  als 
kritisch  allgemein  verbindlich  aufspielen  wollen,  werden  sie  zu  dem  baren 
Unsinn,  wie  ihn  z.  B.  die  übertriebene  Raumästhetik  der  Hildebiandschule  darstellt 

Also  erscheinen  Künstlerkritiken  immer  als  ein  zweischneidiges  Schwert, 
da  sie  entweder  etwas  sehr  Richtiges  oder  etwas  sehr  Falsches  aussagen.  — 
Welches  ist  nun  die  praktische  Möglichkeit  zu  einer  ihren  Daseinszweck  erfüllenden 
Kunstkritik? 

V.  Persönlichkeit  und  Gesinnung  des  Kritikers. 

Es  wurde  gezeigt,  daß  Kunstkritik  im  Sinn  einer  normativen  Wissenschaft  un- 
möglich ist,  da  die  von  ihr  vorgenommenen  Wertungen  aufs  innigste  mit  der  Per- 
sönlichkeit oder  einer  zum  wertgemeinsamen  Kreis  erweiterten  Persönlichkeit  zu- 
sammenhängen. Wenn  gewisse  Epochen  der  Kunstgeschichte,  das  gotische  Mittel- 
alter, Ostasien,  Ägypten,  durch  eine  große  Übereinstimmung  der  Wertungen,  die 
sich  äußerlich  in  straff  zusammengenommener  Stilisierung  kundtut,  zunächst  in  Er- 
staunen setzen,  so  sei  an  die  streng  hierarchischen  Religionen  erinnert,  auf  deren 
Grund  sich  alle  diese  Kunstäußerungen  aufbauen.  Wertgemeinschaft  dürfen  also 
auch  wir  nur  auf  Grund  einer  Gesinnungsgemeinschaft  erhoffen.  Und  ob 
wir  diese  erhalten,  das  ist  eine  Frage  an  das  Schicksal,  die  weit  über  das  künst- 
lerische Sondergebiet  hinausgreift. 

So  müssen  wir  uns  denn  doch  nur  an  die  Werte  erkennende  Persönlich- 
keit halten,  und  diese  scheint  mir  in  dem  Kunstkritiker  verkörpert.  In  ihm  hat 
sich  die  schöpferische  Phantasie,  die  allem  Bestehenden  in  Kunst  und  Kultur 
gerecht  zu  werden  vermag,  mit  einem  scharfen  Verstand  zu  verbinden,  der 


^ 


BEMERKUNGEN.  209 


die  Gesinnung,  den  ewigen  Untergrund  des  Kunstschaffens  nach  echt  und 
unecht  unterscheiden  l<ann.  Dazu  ist  natürh'ch  nur  ein  Charaicter  fähig,  der  selbst 
gesinnungsgemäß  durchaus  gefestigt  erscheint. 

Aufgabe  der  Kunstkritii«  wird  sein,  immer  die  richtige  Mitte  zu  halten  zwischen 
al<ademischer  Kunstbetrachtung,  die  nichts  mehr  als  sachliche  Grundlage  sein  darf, 
und  lebcnserfüllter  Kunstpolitik,  hier  gleichzeitig  das  wertvoll  Zukunftsreiche  heraus- 
hebend, das  schnell  vorübergehende  Alltagsgebilde  aber  als  belanglos  beiseite  schie- 
bend: für  die  jugendstarke  neue  Kunst,  aber  gegen  eine  oberflächliche  neue 
IVlode! 

Kritik  wird  dann  nicht  Lob  oder  Tadel  einzelner  Kunstwerke  oder  einzelner 
Künstler  bedeuten.  Sondern  diese  Kritik  als  schöpferisches  Erlebnis  einer  star- 
ken Persönlichkeit  ist  die  künstlerische  Auseinandersetzung  mit  dem 
ganzen  Kulturumkreis  unserer  Zeit,  die  geistig  umfassendste  Synthese, 
die  allein  unter  den  zeitlichen  Werten  die  ewigen  zu  erkennen  vermag. 

VI.  Entwurf  zu  Kursen  für  Ku  nst  betrachtung,  für  Kunstkritik  und 

K  u  n  s  t  p  o  I  i  t  i  k. 

Nach  obigen  Ausführungen  besteht  die  Aufgabe  der  Kunstkritik  in  der  IVtitarbeit 
an  einer  künstlerisch  gerichteten  Kultursynthese. 

Sie  kann  dagegen  nicht  in  dem  für  Künstler,  Kritiker  und  Publikum  gleich  ent- 
würdigenden, schulmeisterhaften  Zensieren  sämtlicher  auf  dem  Kunstmarkt  auftauchen- 
den Produktionen  bestehen,  die  hierdurch  in  ihrer  Preishöhe  bestimmt  werden  sollen. 
Diese  wirtschaftliche  Beeinflussung  von  Kunstangebot  und  -nachfrage  möge  künftig- 
hin dem  Reklameteil  der  Presse  überlassen  werden,  als  bezahlte  Annonce  oder 
als  unbezahlter  »Waschzettel«,  wo  solche  Ankündigung  allein  hingehört  und  wo 
ihre  Verbindlichkeit  für  die  Allgemeinheit  von  vornherein  wegfällt. 

Der  ernsthafte  Kunstaufsatz  aber  hat  sich  nicht  mehr  mit  den  tausenderlei 
Tageserscheinungen  eines  vor  allem  wirtschaftlich  bestimmten  Kunstmarkts  zu  be- 
schäftigen, sondern  allein  mit  dem  Wesentlichen:  mit  dem,  was  zum  Aufbau 
unserer  Oesamtkultur  beitragen  kann.  Dadurch  wird  zugleich  das  Feuilleton  ent- 
lastet und  in  ihm  Platz  geschaffen  für  eine  großzügige  Geistespolitik. 

Um  diese  grundsätzliche  kritische  Neueinstellung  in  der  Anschauung  der  künst- 
lerisch interessierten  Allgemeinheit  vorzunehmen,  sei  hier  der  Plan  zu  einer  Organi- 
sation entwickelt,  wie  sie  ähnlich  Fritz  Wiehert  in  seinem  Mannheimer  > Freien 
Bund  zur  Einbürgerung  der  bildenden  Kunst«,  in  seiner  »Akademie  für  jedermann« 
und  dem  beiden  Vereinigungen  dienenden  «Kunstwissenschaftlichen  Institut«  an  der 
Mannheimer  Kunsthalle  bereits  verwirklicht  hat. 

Die  neuen  Kurse  für  Kunstbetrachtung,  Kunstkritik  und  Kunstpolitik  sollen 
3 Kunstkritiker«  ausbilden.  Nach  den  obigen  Ausführungen  wird  dieser  Begriff 
alle  Kunstbetrachtenden  im  weitesten  Umkreis  umfassen,  nicht  nur  den  kritischen 
Schriftsteller,  sondern  auch  das  ganze  Publikum  und  den  Künstler  selbst  —  soweit 
er  Betrachter  fremder  oder  alter  Kunstwerke  ist. 

Grundlage  der  Schule  wird  eine  allgemeine  Abteilung  für  Kunst-  und  Kultur- 
philosophie sein  müssen:  Sie  hat  sich  mit  dem  Begriff  des  Kunstwerks  wie  dem 
der  ästhetischen  Erkenntnis  zu  beschäftigen,  um  zu  objektiven  Synthesen  im  Sinn 
individueller  Kunstleistungen  aller  Zeiten  und  Völker  zu  erziehen.  Anleitung  dazu 
können  Werke  wie  Broder  Christiansens  »Philosophie  der  Kunst«  oder  Moritz 
Geigers  »Phänomenologische  Untersuchungen«  geben. 

Um  nun  die  eigentlichen  Kulturwerke,  auf  Grund  deren  das  entscheidende  Ur- 
teil zu  fällen  ist,  sich   in  ihrer  ganzen  Mannigfaltigkeit  und  Wandelbarkeit  vorzu- 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissensdialt     XV.  14 


Ito^ 


210  BEMERKUNGEN. 


führen,  gilt  es,  sich  die  großen  kulturwissenschaftlichen  Zusammenhänge  wesentlich 
klar  zu  machen,  nicht  nur  in  der  geschichtlichen  Art,  wie  sie  Lamprecht  pflegte, 
sondern  auch  philosophisch  analytisch  unter  stärkstem  Bezug  auf  die  Gegenwart, 
wie  sie  in  den  Werken  von  Georg  Simmel,  Walter  Rathenau,  Oswald  Spengler 
verwirklicht  erscheint. 

Diese  vorbereitende  Abteilung  wird  für  sämtliche  ernsthafte  Teilnehmer  der 
Ausbildungskurse  zu  durchlaufen  sein,  bevor  sie  sich  den  einzelnen  Fachabtei- 
lungen für  Kritik  fest  verpflichten.  Letztere  gliedern  sich,  wie  üblich,  nach  den 
verschiedenen  Künsten:  1.  Musik,  2.  Dichtung,  3.  Theater  und  Tanz,  4.  bildende 
Künste,  diese  dann  wieder  in  die  drei  Unterabteilungen,  Malerei  und  Zeichnung, 
Plastik,  Architektur  und  Kunstgewerbe,  zerfallend. 

In  all  den  vier  Abteilungen  soll  von  fachmännischer  Seite  das  Wesen  der  Einzel- 
künste in  seinem  geschichtlichen  Werden,  seinen  technischen  Voraussetzungen,  seinen 
geistigen  und  formalen  Ergebnissen  dargestellt  werden.  Möglichst  unter  gleich- 
zeitiger Hinzunahme  praktischer  Übungen :  sei  es,  daß  in  der  Kunst  selbst  Versuche 
unternommen  werden,  sei  es,  daß  Konzert-  und  Theaterbesuche,  der  Vortrag  von 
Dichtwerken,  Besichtigung  von  Kunstausstellungen,  Museen,  Bauten  mit  anschließen- 
den kritischen  Debatten  und  schriftlichen  Skizzen  stattfinden,  die  als  Prüfung  für  die 
Studierenden  gelten  können. 

Die  beiden  ersten  Abteilungen  unserer  Kurse,  die  philosophische  und  die  fach- 
künstlerische, sind  ihrem  konzentrierten  Arbeitszweck  entsprechend  exklusiv  ge- 
dacht, etwa  in  der  Art  unserer  Hochschulseminarien :  gemeinschaftliche  Lektüre, 
Einzelreferate,  sachlich  begrenzte  Debatten  stellen  ihr  Hauptprogramm  dar.  Anderer- 
seits unterscheiden  sie  sich  von  dem  bloß  gelehrten  Universitätsbetrieb  durch  eine 
stete  Verbindung  mit  dem  schaffenden  Künstlertum  selbst.  Hier  intellek- 
tuelle wie  auch  moralische  Sympathien  zu  wecken,  muß  Hauptaufgabe  der  fach- 
künstlerischen Einzelabteilungen  sein.  Sie  wird  bestimmt  erfüllt  werden,  erinnert 
man  sich  des  einmütigen  Beifalls,  den  die  Ausführungen  von  schaffenden  Künst- 
lern, wie  dem  Schauspieler  Friedrich  Kayßler  und  dem  Architekten  Peter  Behrens, 
über  Wesen  und  Ziele  ihrer  Kunst  gerade  bei  den  Wissenschaftlern  des  »Kon- 
gresses für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft«  im  Herbst  1913  in  Berlin 
geerntet  haben.  (Siehe  Bericht  S.  251— 265:  Peter  Behrens,  Über  den  Zusammen- 
hang des  baukünstlerischen  Schaffens  mit  der  Technik.  S.  392—404 :  Friedrich 
Kayßler,  Das  Schaffen  des  Schauspielers.) 

Dennoch  sollen  für  die  beiden  ersten  Abteilungen  der  Kurse  in  der  Regel  nur 
solche  Teilnehmer  zugelassen  werden,  die  durch  ihre  künstlerische  oder  wissen- 
schaftliche Vorbildung  das  unbedingt  hier  zu  fordernde  geistige  Niveau  von  vorn- 
herein gewährleisten. 

Dagegen  wendet  sich  die  dritte  Abteilung  der  Kurse,  für  Kunstpolitik  und 
künstlerische  Volkserziehung,  an  viel  breitere  Kreise.  Sie  will  die  ganze, 
jetzt  so  aktuelle  Volkshochschulbewegung  den  künstlerischen  Bestrebungen  der  Neu- 
zeit dienstbar  machen  durch  öffentliche  Vorträge  und  Spiele,  durch  Führungen  und 
Demonstrationen,  alles  möglichst  umsonst  oder  gegen  denkbar  geringes  Entgelt. 
Hier  sollen  dem  großen  Publikum  die  Wege  zur  neuen  Kunst  gebahnt  werden,  in 
vorbereitenden  Vorträgen,  durch  wesensgemäß  eingestellte  Aufsätze  in  der  Tages- 
presse, am  besten  vielleicht  auch  noch  durch  eine  eigene,  wirklich  führende 
Kunstzeitschrift. 

Erst  dadurch  würde  der  ernsthaften  Kritik  der  Boden  bereitet:  in  einem  Publi- 
kum, das  aus  einer  umfassenden  Kulturgesinnung  heraus  das  neue  Kunstwerk 
richtig  versteht  und  wertet.   Damit  wäre  die  Brücke  zwischen  Künstler  und  Publikum 


BEMERKUNGEN.  211 


geschlagen  durch  die  Arbeit  des  schöpferischen  Kritikers,  des  idealen  Vertreters  des 

Publiicums,  der  sich  des  Kunstwerks  in  mitschaffender  Phantasie  annimmt. 

In  diesem  Sinn  will  der  »Deutsche  Werkbund«,  der  Förderer  eines  quali- 
täterfüllten Ausgleichs  zwischen  Industriestrenge  und  künstlerischer  F'hantasie  in 
Architektur  und  Kunstgewerbe,  für  seine  Ideen  mit  dem  Mittel  der  Volkshochschule 
werben.  Warum  soll  nun  dieser  Versuch  nicht  auch  auf  alle  anderen  Künste 
ausgedehnt  werden  und  das  Verständnis  für  sie  in  breiteste  Massen  tragen? 

Voraussetzung  ist  natürlich,  daß  sich  die  richtigen  Persönlichkeiten 
für  diese  ernsthafteste  Kulturaufgabe  finden:  Denn  wie  der  schöpferische  Künstler, 
so  wird  auch  der  schöpferische  Kunstbetrachter,  der  mit  Phantasie  und  instinktivem 
Urteil  ausgestaltete  Kritiker,  geboren.  Das  Studium  kann  der  Ausbildung  seiner 
kunstkritischen  Fähigkeiten  helfen,  sie  aber  niemals  aus  bloßer  Gelehrsamkeit  heraus 
erschaffen. 

So  wäre  denn  an  sich  der  hier  entwickelte  Plan  der  Kritikerkurse  sehr  frag- 
würdig, wenn  nicht  das  tatsächliche  und  geistige  Bedürfnis  mehr  Kritiker 
und  mehr  Kunstbetrachtungen  verlangte,  als  es  geborene  kritische  Genies  gibt:  Auf 
daß  sich  aber  nicht,  wie  eine  böse  Erfahrung  lehrt,  in  diese  so  ernsthafte  Aufgabe 
unberufene  Dilettanten  oder  gar  schmutzige  Schieberseelen  eindrängen,  darum  haben 
die  Kritikerkurse,  welche  man  sich  als  gelegentliche  Veranstaltung,  wie  auch  als 
bleibende  Einrichtung  denken  kann,  für  die  Ausbildung  eines  gut  gerüsteten,  stän- 
digen Ersatzes  in  diesem  geistigen  Beruf  zu  sorgen. 


Probleme  der  Uterarischen  Kritik  bei  Aug.  Wilh.  Schlegel. 

Von 

Heinrich  Merk. 

1. 

Die  Würdigung  von  A.  W.  Schlegels  kritischer  Tätigkeit  ist  Sache  des  Literatur- 
historikers. Die  Untersuchung  der  Probleme  jedoch,  mit  denen  er  das  Arbeitsfeld 
des  Kritikers  durchfurcht  hat,  gehört  zur  Geschichte  der  Ästhetik. 

Kritik  gilt  gewöhnlich  nur  als  eine  Oeschmacksäußerung;  es  fehlt  jede  ver- 
pflichtende Überlieferung.  Für  den  Kunstrichter  handelt  es  sich  meist  darum,  Inter- 
esse zu  wecken  —  sei  es  für  sich  oder  seinen  Gegenstand.  Wie  er  dies  zustande 
bringt,  ist  Privatangelegenheit;  die  Hauptsache  ist,  daß  es  ihm  gelingt  Schlegels 
Bemühungen,  so  wenig  sie  auch  beachtet  worden  sind,  können  daher  noch  nicht 
als  erledigt  betrachtet  werden.  Es  ist  darin  der  Versuch  gemacht,  den  entscheiden- 
den Fragen  auf  die  Spur  zu  kommen  und  so  von  Grund  auf  zu  bauen'). 

Wie  es  für  den  Erkenntnislheoretiker  unerläßlich  ist,  den  »Gegenstand  der  Er- 
kenntnis« scharf  zu  erfassen,  so  ist  es  nicht  minder  bedeutsam,  über  den  Gegen- 
stand des  kritischen  Urteils-  Klarheit  zu  besitzen.  Man  muß  doch  schließlich  wissen, 
womit  sich  der  Kritiker  auseinandersetzt.   Diese  Frage  ist  scheinbar  äußerst  einfach 


')  Schlegels  Werke  werden  in  folgenden  Abkürzungen  angeführt:  Sämtliche 
Werke  =  S.  W.  Kritische  Schriften  =  Kr.  Sehr.  Beriiner  Voriesungen  über  schöne 
Literatur  und  Kunst  —  B.  V.    Voriesungen  über  philosophische  Kunstlehre  =  K. 


212 


BEMERKUNGEN. 


und  darum  auch  ziemlich  überflüssig.  In  Wirklichkeit  aber  ist  es  anders  als  man 
glaubt. 

Schlegels  Entwicklung  ist  im  kleinen  ein  Abbild  der  verschiedenen  Strömungen, 
die  in  unserer  Zeit  noch  nicht  versiegt  sind.  Bei  seinen  frühsten  Versuchen  ist  für 
ihn  das  Kunstwerk  nur  ein  Durchgangspunkt,  um  zum  Künstler  zu  gelangen.  In 
einer  Dantestudie  fordert  er  vom  Kritiker:  ». . .  in  die  Zusammensetzung  eines  frem- 
den Wesens  einzudringen,  es  erkennen,  wie  es  ist,  belauschen,  wie  es  wurde,  nicht 
allein  die  verliehene  Kraft  gegen  das,  was  sie  gewirkt  hat,  wägen,  sondern  auch  den 
ganzen  Zusammenhang  der  Dinge,  den  Widerstand  oder  die  Hilfe  des  vielfach  bilden- 
den Schicksals  mit  berechnen«  (S.  W.  HI,  199).  Qundolf  bemerkt  in  seinem  Goethe- 
buch über  eine  solche  Hervorhebung  des  biographischen  Moments  treffend:  >Man 
kann  günstigenfalls  zeigen,  welche  Stimmung,  welcher  Raum,  welche  Erlebnisart  und 
Gesinnung  nötig  war,  damit  ein  solches  Kunstwerk  überhaupt  entstehen  konnte. 
Daß  es  daraus  entstehen  mußte  und  wie  es  in  die  letzten  Züge  hinein  gerade  so 
wurde,  läßt  sich  nicht  feststellen.«  Leben  und  Kunst  sind  eben  zwei  Welten,  die 
durch  keine  sichtbare  Brücke  miteinander  verbunden  sind.  Wenn  ein  Schriftsteller 
erklärt,  die  Schöpfung  seines  Werkes  sei  für  ihn  eine  Notwendigkeit  gewesen,  so 
hat  diese  Erklärung  nicht  den  geringsten  Erkenntniswert.  Und  wenn  ein  Kritiker 
an  einer  Dichtung  die  schöpferische  Notwendigkeit  vermißt,  so  sagt  er  genau  so 
.wenig  wie  jener  Schriftsteller. 

Schlegels  Methode  führt  außerdem  noch  zu  philologischen  und  psychologischen 
Exkursen,  die  uns  von  der  Kunst  selbst  immer  weiter  entfernen.  Sie  begnügt  sich 
gewöhnlich  mit  der  Sammlung  von  Tatsachenmaterial,  das  an  sich  äußerst  lehrreich 
sein  mag,  aber  für  das  kritische  Urteil  selbst  ohne  Bedeutung  ist.  Anderseits  kommt 
sie  zu  Ergebnissen,  die  der  Eigenart  ihres  Gegenstandes  in  keiner  Weise  gerecht 
werden.  Ein  berühmtes  Beispiel  hiefür  ist  Schillers  Bürgerkritik.  Die  dichterischen 
Unvollkommenheiten  des  Leonorendichters  werden  hier  aus  dessen  menschlichen 
Schwächen  hergeleitet:  Was  dem  Menschen  abgehe,  fehle  auch  dem  Künstler. 
Schiller  stand  auf  demselben  Boden  wie  Schlegel.  Dieser  mußte  daher  entweder 
die  völlig  einwandfrei  gezogenen  Folgerungen  anerkennen  oder  seinen  bisher  ein- 
genommenen Standpunkt  aufgeben.  Er  entschloß  sich  zu  einer  Standpunktsänderung. 
Schillers  moralisierender  Tendenz  hielt  er  folgende  grundlegenden  Sätze  entgegen: 
»Die  Zufälligkeiten,  welche  die  Entstehung  eines  Kunstwerkes  umgeben,  dürfen 
nicht  in  Anschlag  gebracht  werden,  wenn  von  einer  Beurteilung  nach  Kunstgesetzen 
die  Rede  ist  .  . .  Mit  dem  Hinstellen  für  die  äußere  Anschauung  ist  das  Gedicht  oder 
sonstige  Erzeugnis  des  Geistes  von  der  Person  des  Hervorbringers  ebenso  losgelöst, 
wie  die  Frucht,  welche  genossen  wird,  vom  Baume;  und  wenngleich  die  sämtlichen 
Gedichte  eines  Mannes  seinen  poetischen  Lebenslauf  darstellen  und  zusammen 
gleichsam  eine  künstlerische  Person  bilden,  in  welcher  sich  die  Eigentümlichkeiten 
der  wirklichen  mehr  oder  weniger,  unmittelbar  oder  mittelbar  offenbaren:  so  müssen 
wir  sie  doch  als  Erzeugnisse  der  Freiheit,  ja  der  Willkür  ansehen«  (Kr.  Sehr.  II,  7  f.). 
Das  Kunstwerk  ist  nach  dieser  Auffassung  ein  selbständiges  Ganzes,  das  seine 
eigenen  Gesetze  in  sich  trägt  und  aus  diesen  heraus  verstanden  werden  muß.  Der 
in  ihm  verkörperte  Gedanke,  und  zwar  nur  soweit  er  darin  in  die  Erscheinung  tritt, 
ist  Gegenstand  der  Betrachtung.  Was  einer  künstlerischen  Schöpfung  vorangegangen 
ist,  was  ihr  zugrunde  liegt,  kann  ihr  Verständnis  fördern,  aber  wertbestimmend  ist 
es  nicht.  Es  gibt  sogar  Kritiker,  die  auch  diese  Förderung  nur  ganz  gering  an- 
schlagen. In  Schlegels  Ausführungen  haben  wir  die  Anfänge  jenes  ästhetischen 
»Objektivismus«,  wie  er  in  unseren  Tagen  von  Max  Dessoir  u.  a.  vertreten  wird. 

Die  Bedeutung  dieser  »objektivistischen«  Richtung  hat  Schlegel   selbst   erkannt 


BEMERKUNGEN. 


213 


und  hervorgehoben:  »Wenn  wir  uns,  ohne  über  den  Urheber  richten  zu  wollen, 
bloß  an  das  Geleistete  halten,  so  bekommen  wir  statt  eines  unbekannten,  uner- 
gründlichen und  ins  Unendliche  hin  bestimmbaren  Subjekts,  das  auf  sich  selbst 
hätte  handeln  sollen  und  können,  bestimmte  Objekte,  auf  die  der  Dichter  gehandelt 
hat:  nämlich  seine  Vorbilder, 'die  poetischen  Gattungen,  wie  sie  sich  historisch  ge- 
bildet haben  oder  durch  ihren  Begriff  unwandelbar  festgesetzt  sind;  die  gewählten 
Gegenstände,  die  ihm  vielleicht  von  außen  her  überliefert  wurden;  endlich  die 
Sprache  und  die  äußerlichen  Formen  der  Poesie,  die  Silbenmaße,  wie  er  sie  vor- 
fand und  bearbeitete«  (Kr.  Sehr.  II,  11).  Schlegel  faßt  einmal  das  Problem  in  der 
Antithese  zusammen:  »Die  moralische  Würdigung  ist  der  ästhetischen  völlig  ent- 
gegengesetzt.   Dort  gilt  der  gute  Wille  alles,  hier  gar  nichts«  (Kr.  Sehr.  I,  427). 

In  diesem  Streben,  die  Probleme  klar  zu  erfassen  und  alle  Unklarheiten  auszu- 
schalten, bewährt  er  sich  als  Sohn  eines  von  rationalistischem  Geiste  getragenen 
Zeitalters.  Wie  Lessing  die  Grenzen  von  Poesie  und  Malerei,  wie  Kant  die  Gren- 
zen der  Vernunft,  wie  Wüh.  v.  Humboldt  die  Grenzen  der  staatlichen  Wirksamkeit 
zu  ergründen  sucht :  so  betrachtet  auch  er  es  als  eine  wichtige  Angelegenheit,  Gren- 
zen zu  ziehen  und  das  Gebiet  der  erreichten  Einsichten  genau  zu  bestimmen. 

Schlegel  bewegt  sich  bereits  in  den  Bahnen,  die  später  mit  größerer  Energie 
Wilh.  Scherer  eingeschlagen  hat.  Er  hat  jedoch  vor  diesem  voraus,  daß  er  nicht 
»theoretisiert«,  d.  h.  daß  er  die  Tatsachen  nicht  in  unzulängliche  Theorien  hinein- 
zwängt. Scherer  vergewaltigt  die  Dichtung  mit  einem  wissenschaftlichen  Dogmatis- 
mus ;  er  verliert  sich  in  Erörterungen  von  technischen  Problemen  und  glaubt  dabei 
von  der  Kunst  etwas  gesagt  zu  haben*).  Schlegel  aber  geht  in  der  Anwendung 
seiner  Grundsätze  nie  zu  weit,  er  bleibt  immer  zur  rechten  Zeit  stehen.  Er  weiß 
die  Kunsttechnik  von  der  Kunst,  das  bloß  Formale  von  der  eigentlichen  Form  wohl 
zu  unterscheiden.  »Es  gibt  in  der  Poesie  Geist  und  Buchstaben,  einen  schaffenden 
und  einen  ausführenden  Teü.  Ein  Gedicht  kann  nur  unter  bestimmten  Bedingungen 
zum  äußerlichen  Dasein  gelangen,  und  insofern  es  diese  in  Übereinstimmung  und 
ohne  Widerspruch  untereinander  erfüllt,  kann  es  korrekt  heißen.  Niemand  darf  auf 
den  Namen  eines  Künstlers  Anspruch  machen,  der  nicht  in  dieser  Technik  Meister 
ist.  Allein  sie  geht  zuvörderst  auf  das  Große  und  Ganze,  Reinheit  der  Dichtart, 
Anordnung,  Gliederbau  und  Verhältnis  und  betrachtet  das  Einzelne  immer  in  Be- 
ziehung auf  jenes«  (Kr.  Sehr.  II,  63  f.). 

Für  den  Kritiker  handelt  es  sich  darum,  eine  Schöpfung  als  Einheit  zu  erfassen,  | 
ihre  Eigenart  und  Einzigartigkeit  zu  durchdringen.  Schlegel  bekämpft  jede  >atomistische 
Kritik«,  die  »ein  Kunstwerk  wie  ein  Mosaik,  wie  eine  mühsame  Zusammenfügung 
toter  Partikelchen,  betrachtet  .  »Man  wird  finden,  daß  die  meisten  Menschen  an 
einem  Kunstwerke  nur  das  Einzelne  loben  und  tadeln:  von  dieser  oder  jener  Schön- 
heit, wie  man  zu  sagen  pflegt,  sind  sie  ergriffen;  das  Ganze  als  solches  aber  ist 
für  sie  eigentlich  gar  nicht  vorhanden,  besonders  wenn  es  von  bedeutendem  Um- 
fang ist«  (B.  V.  I,  25).  Wenn  man  daher  das  Problem  in  eine  kurze  Formel  zu 
fassen  versucht,  kommt  man  zu  folgendem  Ergebnis:  Das  Kunstwerk,  als 
organische  Einheit  gesehen,  ist  »Gegenstand  des  kritischen  Ur. 
teils«. 

Die  Aufgabe,  die  damit  gestellt  ist,  enthäh  Schwierigkeiten,  deren  sich  die 
ästhetische  Forschung  erst  allmählich  bewußt  geworden  ist.  Lessing  hat  bereits  in 
seiner  Abhandlung  über  die  Fabel  die  Frage  aufgeworfen,   worin  die  Einheit  eines 


/ 


')  Über  Scherer  vgl.  Rud.  Unger,   Philosophische    Probleme   in   der   neueren 
Literaturwissenschaft. 


214  BEMERKUNGEN. 


I 


K 


Ganzen  bestehe.  Er  findet  sie  in  der  Ȇbereinstimmung  aller  Teile  zu  einem  End- 
zwecke«. Der  Zweckzusammenhang  macht  demnach  aus  Einzelheiten  ein  Ganzes. 
Wenn  nun  ein  Kunstrichter  auf  irgend  welche  Weise  feststellt,  daß  sich  die  einzelnen 
Teile  in  Beziehung  auf  den  sie  beherrschenden  Zweckgedanken  nicht  widersprechen, 
so  hat  er  damit  noch  keine  »organische  Einheit-  erfaßt.  Er  hat  nur  eine  technische 
Frage  erörtert,  deren  Lösung  den  Wert  eines  Kunstwerkes  nicht  entscheidend  be- 
einflußt. Schlegel  erblickt  darum  auch  in  Lessing  nur  einen  genialen  Techniker,  der 
alles  mit  der  Verstandesbrille  untersucht  (vgl.  B.  V.  1,  30,  II,  91,  S.  W.  VI,  12). 

Die  neuere  Ästhetik  betrachtet  das  Problem  mehr  von  der  Innenseite  her,  so- 
weit das  möglich  ist.  Ein  Kunstwerk  steht  vor  uns  als  ein  selbständiges,  von  einem 
eigenen,  ursprünglichen  »Leben«  durchseeltes  Ganzes,  an  dem  wir  genießend  Teil 
zu  nehmen  glauben.  Dieses  objektivierte  »Leben«  ist  aber  in  Wirklichkeit  nur  als 
unser  »Erlebnis«  vorhanden.  Sein  Reichtum  besteht  für  uns  einzig  in  der  Fülle  der 
»Erlebnismöglichkeiten«,  die  sich  daran  entfalten  können.  Man  wäre  daher  ver- 
sucht, hier  von  einer  ästhetischen  Fiktion  zu  sprechen:  Wir  verhalten  uns  vor  einer 
Kunstschöpfung,  als  ob  sie  eigenes  Leben  in  sich  berge.  Eine  solche  Annahme 
wird  jedoch  den  Tatsachen  nicht  gerecht ;  sie  stört  die  Unbefangenheit  und  zerstört 
den  ästhetischen  Genuß.  Neue  Zweifel  stellen  sich  entgegen,  sobald  wir  die  im 
Kunstwerk  angeblich  vorhandene  »organische  Einheit«  suchen.  Wir  finden,  wenn 
wir  uns  an  das  äußerlich  »Gegebene«  halten,  nur  ein  »Aggregat  von  Einzelheiten«, 
die  sich  vielleicht  um  einen  Mittelpunkt  gruppieren;  aber  worauf  es  zurückzuführen 
ist,  daß  durch  eine  solche  Gruppierung  ein  Ganzes  zustande  kommt,  das  sagen  uns 
die  »Tatsachen«  nicht.  Das  »vereinheitlichende  Moment«  müssen  wir  also  anderswo 
suchen. 

Auf  dem  Weg  von  Lessing  zur  neuen  Ästhetik  steht  Schlegel.  Er  sieht  die 
Schwierigkeiten,  die  überwunden  werden  müssen;  er  ahnt  überall,  worauf  es  an- 
kommt. Aus  dem  Sprachgebrauch  einer  veralteten  Psychologie  spricht  ein  beachtens- 
werter Tatsachensinn. 

Ein  Objekt  der  Außenwelt  ist  für  uns  vorhanden,  sobald  wir  es  wahrnehmen. 
Anders  liegt  der  Fall  beim  Kunstwerk.  Solange  uns  dieses  nur  als  Gegenstand  der 
äußeren  Wahrnehmung  gegenübersteht,  hat  es  keine  andere  Bedeutung  als  etwa 
der  Baum,  den  wir  zufällig  sehen.  Als  Kunstwerk  kommt  es  erst  »durch  ein 
wunderbares  Spiel  der  menschlichen  Seelenkräfte  zu  einer  praktischen  Existenz  in 
uns«.  Wir  bezeichnen  darum  den  ästhetischen  Genuß  auch  als  schöpferische  Tätig- 
keit, für  deren  Erklärung  Schlegel  eine  besondere  Fähigkeit:  den  »Kunstsinn«  oder 
das  »Kunstgefühl«  annimmt  (K.  252,  B.  V.  I,  23).  Der  Kritiker  muß  außerdem  noch 
imstande  sein,  »eine  ganze  Reihe  von  Eindrücken  zu  einem  Oesamteindruck  zu  ver- 
einigen« (B.  V.  1,  25).  Schlegel  spricht  hier  von  einer  »poetischen  Synthese«  (K.  253). 
Das  Wesen  dieser  Synthese  erschöpft  sich  nicht  darin,  daß  ein  Mannigfaltiges  bloß 
verbunden,  sondern  daß  es  zu  einer  Einheit  verbunden  wird. 

Schlegel  steht  der  neueren  Ästhetik  näher  als  seinem  Vorgänger  Lessing.  Mit 
dem  Begriff  der  »poetischen  Synthese«  betont  er  das  in  jedem  kritischen  Urteil  lie- 
gende erzeugende  Moment.  Das  Kunstwerk,  wie  es  äußeriich  in  die  Erscheinung 
tritt,  ist  uns  nur  in  seinen  objektiven  Grundlagen  gegeben.  In  seiner  Wesenheit  er- 
fassen wir  es  erst,  wenn  sein  »Geist«  in  uns  lebendig  wird.  Dies  geschieht  jedoch 
nicht  durch  Überiegung  und  Analyse,  sondern  durch  einen  Akt  des  unmittelbaren 
Schauens  und  Ergreifens.  Es  fragt  sich  natüriich,  was  wir  hier  finden.  Die  Ant- 
wort kann  zunächst  nur  lauten:  uns  selbst.  Das  Kunstwerk  ist  der  Rahmen,  inner- 
halb dessen  unser  Seelenleben  eine  bestimmte  Form  empfängt  —  nämlich  diejenige, 
zu  der  sich  die  schöpferischen  Kräfte  des  Künstlers  entfaltet  haben,  in  der  sich  der 


BEMERKUNGEN. 


215 


Schaffensprozeß  vollzogen  hat.  Je  größer  diese  Verähnlichung  Ist,  um  so  reicher 
ist  unser  Kunsterlebnis;  um  so  eindringlicher  wird  daher  auch  unser  Kunstverständnis 
sein.  Indem  wir  das  »organische  Werden«  eines  Werkes,  wie  es  in  der  Seele  des 
Künstlers  vor  sich  ging,  in  uns  selbst  nacherleben,  gelingt  es  uns,  seiner  »organi- 
schen Einheit«  inne  zu  werden.  Die  einzelnen  Eindrücke,  die  gewissermaßen  nur 
Strahlenbündel  bilden,  werden  so  auf  ihre  gemeinschaftliche  Lichtquelle  zurück- 
geführt. 

Natürlich  liegt  auch  hier  noch  eine  Fülle  von  unberührten  Problemen  vor.  Was 
gibt  uns  z.  B.  —  um  nur  einiges  hervorzuheben  —  die  Gewißheit,  daß  wir  den 
Geist  eines  Kunstwerkes  wirklich  erfaßt,  daß  wir  es  nicht  verfälscht  haben  ?  Worin 
unterscheidet  sich  ferner  der  »poetische  Prozeß«  beim  Kritiker  von  dem  des  Künst- 
lers? Dort  findet  er  in  einem  Urteil,  hier  in  einem  Kunstwerk  seine  Vollendung. 
Diese  Verschiedenheit  des  Ziels  deutet  darauf  hin,  daß  hier  mit  dem  Wort  »poetisch« 
verschiedene  Tatsachen  gemeint  sind.  Die  Zweifel  werden  nicht  beseitigt,  wenn 
man  die  Tätigkeit  des  Kritikers  zum  Unterschiede  von  der  schöpferischen  des  Künst- 
lers als  »nachschaffend«  bezeichnet.  Für  den  romantischen  Denker  ist  ja  der  Be- 
griff »poetisch«  ein  allumfassendes  Wort;  gerade  darum  ist  es  immer  wichtig,  fest- 
zustellen, in  welcher  Bedeutung  er  gebraucht  wird. 

Mit  den  letzten  Erörterungen  haben  wir  bereits  in  das  Gebiet  des  kritischen  Ur- 
teils übergegriffen.  Es  ist  eben  auf  die  Dauer  nicht  möglich,  Probleme,  die  zu- 
sammengehören, künstlich  zu  trennen  und  getrennt  zu  behandeln. 

II. 

Der  Kritiker  spricht  weniger  von  den  Dingen,  die  ihn  beschäftigen,  als  vielmehr 
von  sich,  von  der  Art  und  Weise,  wie  er  sich  zu  den  Dingen  verhält.  Worin  be- 
steht also  das  Wesen  des  kritischen  Urteils?  Ist  es  mehr  als  nur  eine  Wiedergabe 
von  bloßen  »Impressionen«,  von  persönlichen  Eindrücken? 

Schlegel  gibt  folgende  Begriffsbestimmung:  »Ganz  einfach  erklärt,  ist  Kritik  die 
Fähigkeit,  Werke  der  schönen  Kunst  zu  beurteilen«  (B.  V.  I,  23). 

Der  Begriff  der  »Beurteilung«  hat  erst  in  der  neueren  Philosophie  tiefer  drin- 
gende Beachtung  gefunden  (Windeiband,  Sigwart,  B.  Erdniann).  Bei  der  Beurtei- 
lung urteilt  man  »über«  einen  Gegenstand,  wie  man  sich  auch  »über«  einen  Gegen- 
stand freut.  Der  Gedanke  liegt  nahe,  daß  zwischen  dem  Akt  der  Beurteilung  und 
unserem  Gefühlsleben  zum  mindesten  gewisse  Analogien  bestehen,  die  auf  eine  in- 
nere Verwandtschaft  schließen  lassen.  Beide  sind  Reaktionen  auf  einen  Eindruck, 
mit  dem  sich  ein  Individuum  dabei  auseinandersetzt. 

Die  logische  Eigenart  der  Beurteilung  tritt  in  den  Vordergrund,  wenn  wir  nach 
ihrem  Sinn  fragen.  Beurteilen  heißt,  wie  schon  der  Sprachgebrauch  sagt,  an  etwas 
Wertmaßstäbe  anlegen.  Der  Begriff  der  »Normation« ')  steht  dabei  im  Mittelpunkt. 
Wichtig  ist  hier  die  Feststellung,  woher  diese  Maßstäbe  genommen  werden,  welche 
Bedeutung  ihnen  zukommt.  Man  kann  überhaupt  die  Frage  aufwerfen,  ob  in  einem 
kritischen  Urteil  wirklich  Maßstäbe  angelegt  werden.  Die  Beobachtung,  daß  vor 
allem  Künstler  und  Kunstkenner  nichts  davon  wissen  wollen,  muß  zur  Vorsicht 
mahnen.  ♦ 

Die  beiden  Probleme,  die  wir  soeben  formuliert  haben,  schließen  zugleich  die 
Frage  in  sich:  Ist  die  Beurteilung  etwas  anderes  als  die  Anerkennung  einer  Tat- 
sache, eines  Vorganges,  einer  Beziehung  oder  nur  die  Anerkennung  eines  beson- 
deren Tatbestandes? 


')  Über  die  ästhetische  Normation  vgl.  vor  allem  Karl  Groos,  Ästhetik  in  »Die 
Philosophie  zu  Beginn  des  20.  Jahrhunderts«.    Hrsgb.  v.  W.  Windelband,  S.  490—505. 


216  BEMERKUNGEN. 


Wenn  wir  uns  von  den  hier  aufgestellten  Gesichtspunkten  aus  Schlegels  Ge- 
dankengängen zuwenden,  so  müssen  wir  uns  natürlich  vor  einer  Auslegung  hüten, 
die  mehr  herausliest  als  darin  liegt. 

Ein  Kunstwerk  kann  —  wie  Schlegel  immer  wieder  hervorhebt  —  nur  in  un- 
serer Gefühlsphäre  lebendig  werden.  »Was  mit  dem  Gefühl  nicht  aufgefaßt  wird, 
ist  in  dem  Kunstwerk  für  uns  nicht  vorhanden«  (B.  V.  I,  30).  Der  tiefere  Sinn  dieser 
Forderung  besteht  darin:  »Die  Hervorbringungen  der  schönen  Kunst  sollen  nicht  eine 
Sache  des  Verstandes  sein,  sondern  in  einer  näheren  Beziehung  auf  unser  ganzes 
Wesen  stehen«  (B.  V.  1,  32).  Dieser  Satz  gilt  sowohl  von  dem,  der  sie  schafft,  wie 
von  dem,  der  sie  in  sich  aufnimmt.  Voraussetzung  für  das  kritische  Urteil  ist  daher 
Empfänglichkeit,  und  zwar  »in  jedem  Augenblicke  die  reinste  und  regste  Empfäng- 
lichkeit für  jede  Art  von  Geistesprodukt«.  Schlegel  fügt  mit  Recht  hinzu:  »Dahin 
bringt  es  aber  vielleicht  niemand«  (B.  V.  I,  26;  vgl.  S.  W.  VII,  26).  Das  Kunst- 
erlebnis soll  nun  in  Erkenntnisbesitz  umgesetzt  werden.  Es  fragt  sich  dabei:  Ist 
die  Beurteilung  »Ausdruck«  eines  ästhetischen  Gefühlszustandes  —  ein  »Gefühls- 
urteil« —  oder  nur  ein  »Bericht«,  eine  Feststellung  der  Eindrücke,  die  der  Kritiker 
empfangen  hat')? 

Nach  Schlegels  Auffassung  ist  der  Kunstrichter  ein  Sprecher  der  »gemeinsamen 
Empfindungen«,  denn  »Mitteilung  und  Verständigung  darüber  erhöht  den  Genuß« 
(Kr.  Sehr.  Vorw.).  Er  muß  also  vor  allem  Klarheit  darüber  besitzen,  wovon  er 
sprechen  will.  Ein  Kunstwerk  ist  in  seinem  Wesenskern  eine  psychische  Erschei- 
nung; also  kann  das  kritische  Urteil  letzten  Endes  nur  eine  psychologische  Tatsachen- 
feststellung sein.  Das  Problem  der  Selbstbeobachtung  wird  so  für  Schlegel  zu  einem 
Grundproblem  der  Kritik.  »Es  soll  und  darf  nichts  an  unserem  Gefühle  selbst  mit 
Willkür  verändert  werden,  sondern  wir  müssen  nur  frei  darüber  reflektieren,  unsere 
Empfänglichkeit  selbst  zum  Gegenstande  unserer  Selbsttätigkeit  machen«  (B.  V.  I,  24, 
K.  252  f.).  Schlegel  sucht  auch  den  Weg  anzugeben,  wie  wir  dazu  kommen.  Die 
ersten  Eindrücke  stehen  unter  dem  Zeichen  der  Befangenheit;  wir  haben  die  Hen- 
schaft  über  uns  selbst  verloren  und  sind  nicht  imstande,  ein  entsprechendes  Urteil 
abzugeben.  »Erst  durch  häufige  Übung  bekommt  die  freie  Tätigkeit  im  Gemüte  die 
Oberhand  und  es  lernt  vergleichen  und  unterscheiden,  also  urteilen,  indem  dies  ja 
nichts  anderes  ist.  Die  Fähigkeit  zu  beurteilen,  beruht  also  darauf,  daß  man  die 
Eindrücke  nicht  ihrer  Beschaffenheit,  sondern  ihren  außerwesentlichen  Be  lingungen 
nach  in  seine  Gewalt  bekomme:  daß  man  sie  festhalten,  sie  beliebig  in  der  Er- 
innerung erneuern  ...  kann«  (B.  V.  I,  24  f.).  Bedeutsam  an  diesen  Ausführungen 
ist  die  Schlußbemerkung.  Sie  verrät  überraschendes  Verständnis  für  das  Wesen  der 
psychologischen  Methode,  vor  allem  für  den  experimentellen  Charakter  der  so- 
genannten Selbstbeobachtung. 

Wir  haben  hier  die  Frage  nach  dem  Wesen  der  Beurteilung  insoweit  aufgerollt, 
als  sie  Schlegel  behandelt  hat.  Mit  diesen  Bemerkungen  ist  natüriich  der  eigentliche 
Sinn  der  kritischen  Aufgabe  nicht  erschöpft,  ja  nicht  einmal  gestreift.  Kritik  ist 
doch  —  wie  die  tatsächliche  Übung  zeigt  —  schließlich  immer  Anerkennung  oder 
Ablehnung  eines  Werkes,  d.  h.  »Beurteilung«.  Es  ist  möglich,  daß  die  Maßstäbe 
und  Bewertungsgründe  des  kritischen  Urteils  dem  Inhalte  der  Selbstbeobachtung 


')  Über  den  Sinn  der  Begriffe  »Ausdruck«,  »Bericht«  vgl.  Theod.  Lipps :  »Inhalt 
und  Gegenstand;  Psychologie  und  Logik«  (Sitzungsber.  der  Bayer.  Akademie  d.W. 
Philos.-hist.  Kl.  1905).  Auch  Ant.  Marty  hat  sich  in  seinen  sprachphilosophischen 
Untersuchungen  mit  diesem  Problem  beschäftigt.  —  Über  den  Terminus  »Qefühls- 
urteil«  siehe  Th.  Lipps,  »Leitfaden  der  Psychologie'«,  S.  198  f. 


BEMERKUNGEN.  217 


II 


entnommen  werden,  wodurch  der  Zusammenhang  mit  den  vorausgehenden  Be- 
trachtungen hergestellt  wäre. 

Schlegel  ist  unermüdlich  bemüht,  ein  tragfähiges  Fundament  zu  errichten.  Man 
wird  finden,  wie  er  sich  immer  die  Frage  nach  dem  Rechtsgrunde  seiner  Bewertungen 
vorlegt.  Man  sieht  eben  bei  jeder  Gelegenheit,  was  er  für  ein  Rationalist  ist.  Voll- 
blutromantiker hätten  sich  durch  solche  Oewissensfragen  nicht  im  geringsten  be- 
unruhigen lassen.  Das  »Erlebnis«  —  sowohl  das  einem  Kunstwerk  zugrunde  lie- 
gende, wie  das  von  ihm  geweckte  —  war  für  sie  der  untrüglichste  Maßstab,  um 
die  Berechtigung  ihrer  Anschauungen  darzutun.  Schlegel  hingegen  begnügt  sich 
nicht  damit;  er  ist  rastlos  bestrebt,  seine  Erlebnisse  mit  'dauernden  Gedanken«  zu 
befestigen.  Er  geht  darum  niemals  an  grundsätzlichen  Fragen  vorüber;  er  geht 
den  Schwierigkeiten,  die  sie  bieten,  niemals  aus  dem  Weg. 

Wir  können  ganz  allgemein  die  Frage  stellen:  Steht  das  ästhetische  Urteil  auf 
gleicher  Höhe  mit  der  wissenschaftlichen  Wahrheit,  d.  h.  kann  es  wie  diese  An- 
spruch auf  allgemeine  Gültigkeit  erheben?  Hat  es  Erkenntniswert  oder  nur  Be- 
kenntnischarakter? Darin  ist  zugleich  die  Frage  nach  den  Rechtsgründen,  nach  den 
Wertmaßstäben  der  Beurteilung  enthalten.  Wir  müssen  dabei  Kants  Lehren  als 
geistigen  Hintergrund  ständig  voraussetzen. 

Jeder  Tätigkeit,  wobei  der  Mensch  Selbstzweck  ist,  kommt  nach  Schlegel  das 
Prädikat  »absolut«  zu.  Die  Kunst  ist  solch  ein  absoluter  Zweck.  Daraus  folgt,  daß 
wir  »ihr  Gesetz  im  menschlichen  Geist«  aufsuchen  müssen.  »Bei  allen  Dingen,  die 
ihren  Grund  im  Menschen  selbst  haben,  geht  die  Praxis  der  Theorie  voran;  so 
auch  bei  den  schönen  Künsten  und  der  Poesie«  (K.  251;  vgl.  B.  V.  I,  8  f.).  Aus 
der  Tatsache  nun,  daß  man  die  Kunst  nicht  erlernen  kann,  folgert  Schlegel  ganz 
im  Geiste  Kants,  daß  die  Einsichten,  die  uns  die  Wissenschaft  hier  vermittelt,  »bloß 
negativ«  sind.  Wir  erfahren  daraus  nur,  was  wir  vermeiden  müssen ;  »aber  sie  kann 
nicht  zur  Hervorbringung  eines  Kunstwerks  beitragen«.  »Das  Wesentliche  bei  den 
schönen  Künsten  ist  eben  das,  was  uns  die  Natur  gibt.  Von  einem  schönen  Kunst- 
werk fordern  wir  wirkliche  Energie.  Diese  kann  nicht  aus  einem  Begriffe  als  etwas 
Totem  herkommen.  Das  Genie  bringt  daher  etwas  hervor,  das  sich  nicht  erlernen 
läßt«  (K.  251).  Hier  finden  wir  bereits  Ansätze  zu  der  berühmten  Unterscheidung 
Schopenhauers  zwischen  »Idee«  und  »Begriff«  (vgl.  Welt  als  W.  und  V.  I,  3,  §  49). 
Was  uns  im  vorstehenden  als  »wirkliche  Energie«  entgegentritt,  ist  schließlich  nichts 
anderes  als  die  im  Kunstwerk  wirkende  »Idee«. 

Im  Verlauf  der  Untersuchung  gibt  Schlegel  dem  Problem  eine  schärfere  Formu- 
lierung, eine  positive  Wendung.  »Man  muß  immer  zwischen  den  Forderungen  an 
die  Kunst  (die  mit  dem  Umfang  und  der  Höhe  der  intellektuellen  Bildung  ins  Un- 
endliche steigen)  und  den  Gesetzen  der  Kunst,  die  auf  bestimmten  Verhältnissen 
beruhen,  die  immer  dieselben  bleiben,  weil  sie  auf  die  innere  Eigentümlichkeit  des 
Menschen  gegründet  sind,  unterscheiden.  Die  Regeln  der  Kunst  dürfen  den  Forde- 
rungen nicht  aufgeopfert  werden«  (K.  285).  Die  Gesetze  sind  die  Voraussetzungen, 
ohne  die  ein  Werk  nicht  bestehen  kann:  aber  sie  machen  nicht  sein  Wesen  aus. 
Sie  können  abgeleitet,  sie  können  gelehrt  und  gelernt  werden.  Sobald  wir  ihren 
Sinn  erfaßt  haben,  wissen  wir  auch,  was  wir  zu  vermeiden  haben.  Sie  besitzen 
keine  schöpferische  Kraft,  sie  sind  nur  Technik.  Schlegel  meint  damit  z.  B.  Lehren 
wie  die  Aristotelischen  Einheiten,  die  man  psychologisch  erklären  kann.  Die  »For- 
derungen« hingegen,  die  wir  stellen,  beziehen  sich  auf  etwas  ganz  anderes;  sie 
zielen  auf  eine  »Ästhetik  von  oben«.  Sie  erst  verleihen  einem  Werk  seinen  eigent- 
lichen Inhalt  und  Gehalt.  »Das  Ideal  des  Menschen  soll  in  der  Form  eines  Kunst- 
werks ausgedrückt  sein«  (K.  251).    Jene  »Forderungen«  sind  wie  das  menschliche 


218  BEMERKUNGEN. 


Ideal,  auf  das  sie  gerichtet  sind,  in  steter  Wandlung  begriffen  und  Icönnen  gleich 
ihm  nicht  in  feste,  begriffliche  Formeln  gebracht  werden. 

Mit  diesen  Feststellungen  ist  die  Kunstlehre,  d.  h.  die  Lehre  von  dem,  was  in 
der  Kunst  gelernt  werden  kann,  als  Grundlage  für  die  Kritik  erledigt.  Wenn  man 
diese  zur  Theorie  in  Beziehung  setzen  will,  so  ist  ihr  Verhältnis  direkt  umgekehrt. 
»Die  kritische  Reflexion  ist  eigentlich  ein  beständiges  Experimentieren,  um  auf 
theoretische  Sätze  zu  kommen«  (B.  V.  1,  27).  Die  Prinzipien,  die  der  Kritiker  be- 
nötigt, muß  er  vermöge  »eines  philosophischen  Instinkts«,  »durch  eine  Art  philo- 
sophische Divination«  selbst  finden  (K.  253). 

Der  Unterschied  zwischen  der  schöpferischen  Tätigkeit  des  Künstlers  und  der 
nachschaffenden  des  Kritikers  kann  hier  tiefer  erfaßt  werden.  Die  Ideen,  die  ein 
Kunstwerk  zum  Leben  wecken,  sind  etwas  Ursprüngliches;  man  kann  sie  nachträg- 
lich verstehen,  aber  nicht  voraussehen.  Ebensowenig  läßt  sich  die  Welt  des  Psychi- 
schen, in  der  sie  zeugend  wirken,  in  der  sie  zu  neuem  Leben  erwachen,  auf  eine 
psychologische  Formel  bringen,  aus  der  man  die  Erscheinungen  ableiten  könnte. 
Warum  ferner  ganz  bestimmte  Ideen  in  einem  Künstler  schöpferische  Kraft  ge- 
winnen, warum  sie  in  einer  ganz  bestimmten  Form  in  die  Erscheinung  treten, 
auch  das  läßt  sich  nicht  erklären.  Eine  Kritik,  die  —  wie  z.  B.  Nietzsche  fordert  — 
vom  Künstler  ausgehen  soll,  ist  darum  eine  Unmöglichkeit.  Der  Kritiker  muß  zwei- 
fellos vom  Kunstwerk  ausgehen.  Wie  dieses  in  ihm  zur  Entstehung  gelangt,  haben 
wir  bereits  angedeutet.  Das  kritische  Verständnis,  das  mehr  sein  will  als  bloße  Be- 
schreibung von  Empfindungen  und  Gefühlen,  muß  sich  also  darauf  beschränken,  die 
»Wirkungen  des  Kunstwerkes  aus  den  Anlagen  der  menschlichen  Natur,  aus  den 
Forderungen  des  äußeren  Sinnes,  der  Einbildungskraft,  des  Geschmackes,  des  Ver- 
standes und  des  sittlichen  Gefühls  befriedigend  zu  erklären ;  und  überall  von  dem 
besonderen  Fall  auf  allgemeine  Wahrheiten  und  Grundgesetze  zurückzuweisen«  (Kr. 
Sehr.  Vorw).  Alle  Erkenntnismittel,  mit  denen  wir  den  Geist  eines  Kunstwerkes 
und  der  Kunst  überhaupt  zu  erfassen  suchen,  sind  nur  voriäufiger  Ersatz  für  eine 
»Theorie  der  Poesie,  worin  die  Vorschriften  dieser  Kunst  aus  den  unabänderilchen 
Gesetzen  des  menschlichen  Gemütes  hergeleitet,  nach  dessen  notwendigen  Richtungen 
die  ursprünglichsten  Dichtarten  bestimmt  und  ihre  ewigen  Grenzen  festgestellt  wären«. 
Der  Kunstrichter  wäre  dann  in  der  Lage,  »die  schon  bekannte  Lehre  auf  einen  vor- 
liegenden Fall  anzuwenden«  (S.W.  XI,  183  f.;  vgl.  K.  §  166).  Man  darf  hier  natür- 
lich nicht  die  einzelnen  Worte  auf  die  Wagschale  legen,  sondern  muß  den  Sinn  des 
Ganzen  zu  erfassen  suchen.  Diese  Anschauungen  verraten  unverkennbar  ihre  Her- 
kunft aus  dem  Gedankenkreis  der  Aufklärungsphilosophie.  Um  die  Rechtsverbind- 
lichkeit ihrer  ästhetischen  Maximen  und  Prinzipien  zu  beweisen,  beriefen  sich  z.  B. 
die  Schweizer  Theoretiker  —  Bodmer,  Breitinger  —  auf  die  Forderungen  des  mensch- 
lichen »Gemüts«').  Was  in  der  Natur  der  Seele  begründet  schien,  konnte  sicher  auf 
Anerkennung  rechnen. 

Wilhelm  Wundt  hat  bereits  auf  die  Ähnlichkeit  zwischen  der  Aufkiärungsphilo- 
sophie  und  dem  philosophischen  Denken  unserer  Zeit  aufmerksam  gemacht*).  Dort 
wie  hier  besitzt  die  Psychologie  eine  beherrschende  Stellung.  Auch  Schlegels  Be- 
strebungen weisen  darum  nicht  nur  nach  rückwärts,  sondern   auch   nach  vorwärts. 

Die  Einsichten  des  Kritikers  können  sich  vorläufig  nicht  mit  den  Erkenntnissen 
der  Wissenschaft  vergleichen.    Ihre  Voraussetzungen  sind  unzureichend,  ihre  Ergeb- 


')  Vgl  Ernst  Cassirer,  Freiheit  und  Form,  S.  106.    Herrn.  Hettner,   Lit.-Gesch. 
d.  18.  Jahrh.  III,  1,  S.  343. 

")  Vgl.  W.  Wundt,  Psychologie  in  »Die  Philos.  z.  Bez.  des  20.Jahrh.<,  S.2. 


BEMERKUNGEN.  219 


nlsse  daher  unvollkommen;  der  Bekenntnischarakter  überwiegt.  Wir  sprechen  deshalb 
auch,  wenn  wir  uns  streng  ausdrücken,  nicht  von  der  Richtigkeit,  sondern  von  der 
Fruchtbarkeit  einer  Kritik.  Wir  sagen:  Sie  ist  ihres  Gegenstandes  würdig;  sie  ent» 
spricht  ihm,  sie  ist  ihm  angemessen.  Die  Grundfrage  ist  daher:  Wie  können  diese 
Schranken  der  Subjektivität  überwunden  werden?  Wenn  eine  Theorie  der  Poesie 
aufgestellt  werden  soll,  so  darf  sie  nicht  aus  den  individuellen  Eigenschaften  eines 
einzelnen,  sondern  muß  aus  den  Forderungen  der  menschlichen  Natur  überhaupt 
abgeleitet  werden.  Welche  Schwierigkeiten  sich  hier  entgegenstellen,  können  wir 
bei  jeder  Gelegenheit  beobachten.  Wir  schweigen  von  den  Hemmungen,  die  wir 
zu  überwinden  haben,  wenn  es  sich  um  ein  Werk  einer  fremden  Kultur,  einer 
fernen  Vergangenheit  handelt.  Schlegel  weist  nachdrücklich  darauf  hin,  wie  schwierig 
es  Ist,  ein  solches  Werk  aus  seinen  historischen  Bedingungen  heraus  kritisch  zu 
würdigen  (Kr.  Sehr.  I,  27  f. ;  II,  94).  Die  Literatur-  und  Kulturgeschichte  muß  dabei 
ergänzend  und  berichtigend  eingreifen  (vgl.  K.  253;  B.  V.  I,  26  f.).  Der  Kritiker 
gliedert  aber  seinen  Gegenstand  nicht  nur  in  einen  objektiv-historischen  Zusammen- 
hang ein,  d.  h.  er  betrachtet  ihn  nicht  nur  nach  den  näheren  Umständen,  unter  denen 
er  entstanden  ist,  sondern  er  sucht  zugleich  die  Eindrücke,  die  er  empfängt,  seinem 
eigenen  geistigen  Besitzstand  anzupassen.  Er  legt  an  jede  neue  Erscheinung  Maß- 
stäbe an,  die  er  seinen  bisherigen  Erfahrungen  entnimmt.  Das  Urteil  wird  also  ver- 
schieden sein,  je  nach  der  Entwicklung  des  Urteilenden.  »Solange  die  Gegenstände 
der  Vergleichung  mit  dem  vorliegenden  nur  diejenigen  sind,  die  sich  gerade  vor- 
finden, die  wir  so  zufällig  gesammelt  haben,  bleibt  das  Urteil  immer  bloß  subjektiv; 
objektiv,  über  unsere  Person  hinaus  gültig,  kann  es  nur  dadurch  werden,  daß  die 
Vergleichung  mit  solchen  Gegenständen  angestellt  werde,  die  wirklich  dazu  ge- 
hören und  einen  wahren  Maßstab  der  Vollkommenheit  abgeben  können,  welches 
denn  keine  andere  ist,  als  die  vortrefflichsten  Werke  derselben  Kunst  in  verschiedenen 
Gattungen«  (B.  V.  I,  26).  Auch  diese  »Vergleichung«  ist  natürlich  für  Schlegel  nur 
ein  unvollkommener  Ersatz  für  die  fehlende  Theorie.  In  welchem  Sinne  er  diesen 
Begriff,  der  leicht  mißverstanden  werden  kann,  genommen  haben  will,  zeigt  z.  B. 
seine  Kritik  von  »Hermann  und  Dorothea<:.  Er  geht  hier  von  einer  Betrachtung  des 
epischen  Gedichtes  aus,  wie  es  in  Homers  Werken  verkörpert  ist,  um  von  hier  in 
den  Sinn  von  Goethes  Dichtung  einzudringen.  Diese  ^Vergleichung  mit  klassischen 
Vorbildern«  besteht  jedoch  nicht  darin,  daß  der  Kritiker  den  griechischen  und  den 
deutschen  Dichter  gegenüberstellt,  sondern  das  Homerische  Gedicht  ist  für  ihn  nur 
der  Fundort  des  epischen  Gedankens.  Diesen  allein  will  er  ergründen,  um  Goethes 
Schöpfung  zu  würdigen. 

Die  Schwierigkeilen,  die  wir  hier  erörtert  haben,  sind  jedoch  nur  von  sekundärer 
Bedeutung  gegenüber  dem  Problem :  Was  berechtigt  uns  überhaupt,  für  unsere  kriti- 
schen Urteile  allgemeine  Anerkennung  zu  beanspruchen?  Wir  haben  bereits  darauf 
hingewiesen,  wie  wichtig  es  ist,  daß  der  Urteilende  »in  jedem  Augenblicke  die 
reinste  und  regste  Empfänglichkeit  für  jede  Art  von  Geistesprodukt  in  sich  hervor- 
rufe«, daß  er  »alles,  was  bloß  von  der  Stimmung  herrührt«,  von  der  Kunstbetrach- 
tung ausschließe  (B.  V.  1,  26;  K.  253).  Der  Kritiker  soll  ein  Kunstwerk  mit  dem 
Gefühl  aufnehmen;  er  soll  aber  dabei,  wie  Schlegel  hervorhebt,  nicht  als  Individuum, 
sondern  als  Mensch  affiziert  werden.  Er  darf  sich  darum  nicht  von  Stimmungen, 
d.  h.  von  zufälligen,  rein  persönlichen  Gefühlszuständen  bestimmen  lassen.  Alle 
diese  Zufallsmomente  müssen  ausgeschaltet  werden.  Es  wird  eine  Allgemeingültig- 
keit der  Gefühle,  eine  Gefühlsobjektivität  gefordert.  Für  den  Aufbau  der  Poetik 
stellt  Schlegel  gelegentlich  den  Satz  auf,  daß  sie  »aus  dem  reinen  Objekt,  aus  dem, 
was   der  Mensch  ohne   alle  empirische  Bestimmung   an   sich   ist,   schöpfen   müsse i. 


220  BEMERKUNGEN. 


(K.250).  Seine  Anschauungen  münden  damit  ein  in  Kants  Begriff  der  »subjektiven 
Allgemeinheit« ').  In  unserer  Zeit  haben  im  Anschluß  an  Fichte  vor  allem  Husserl 
und  Lipps  diese  Lehre  weiterzubilden  versucht:  Bei  jedem  logischen,  ethischen  oder 
ästhetischen  Urteil  wird  aus  dem  empirischen,  individuellen  Ich  das  »reine«,  »über- 
individuelle« Ich  herausgelöst.  Alles,  was  wir  als  »Norm«  bezeichnen,  was  allge- 
meine Gültigkeit  beansprucht,  hat  hier  seinen  Ursprung,  nimmt  von  hier  seine  ver- 
pflichtende Kraft.  Diese  Antwort  ist  natürlich  keine  »endgültige«  Lösung,  sondern 
eine  neue  Problemstellung.  Schließlich  ist  jede  wissenschaftlich  bedeutsame  Antwort 
nur  eine  neue  Problemstellung  auf  einer  höheren  Stufe.  Die  Annahme  einer  »sub- 
jektiven Allgemeinheit«,  eines  »reinen  Ich«  ist  mit  unverkennbaren  Schwierigkeiten 
belastet.  Vor  allem  dürfte  sie  ziemlich  unfruchtbar  und  logisch  nicht  ganz  unbe- 
denklich, sein.  Unser  Urteil  kann  Allgemeingültigkeit  beanspruchen,  wenn  das  »reine 
Ich«  urteilt.  Wann  aber  ist  dies  der  Fall?  Das  Kriterium  hiefür  fehlt.  Oder  soll  es 
die  tatsächliche  Anerkennung  sein?  Wenn  man  sich  nicht  in  einen  Zirkelschluß 
verlieren  will,  gerät  man  in  metaphysisches  Nebelreich.  Kart  Oroos  bezeichnet  die 
Hypothese  eines  »zeitlosen  überindividuellen  Bewußtseins«  mit  Recht  als  >ein  dünnes 
und  schwankes  Seil,  das  über  dem  .Abgrund  der  Metaphysik'  ausgespannt  ist«^). 

Gerade  für  den  Kritiker,  der  über  seine  Tätigkeit  nachdenkt,  müssen  diese 
Probleme  und  die  darin  verborgenen  Widersprüche  von  Bedeutung  sein. 

Eine  Kunstschöpfung  ist  keine  schemenhafte  Idee,  sondern  greifbare  Wirklich- 
keit. Aus  dem  Persönlichsten  eines  Künstlers  ist  sie  hervorgegangen ;  nur  in  einem 
reich  ausgeprägten  Seelenleben  kann  sie  wieder  lebendig  werden.  Und  doch  suchen 
wir  gerade  in  der  Kunst  überall  den  »typischen  Fall«.  Wir  fordern  von  einem  Kunst- 
werk, daß  es  mehr  sei  als  ein  Werk  der  Willkür  und  des  Zufalls;  wir  vertangen 
vom  kritischen  Urteil,  daß  es  nicht  von  Laune  und  Stimmung  diktiert  werde. 

Sind  mit  dieser  Gegenüberstellung  Gegensätze  aufgesteUt?  Ist  das  Typische  die 
Aufhebung  des  Individuellen  oder  erst  dessen  eigentliche  Vollendung?  Ist  es  nur 
eine  wirklichkeitsfremde  Abstraktion  oder  der  tiefere  Sinn  aller  konkreten  Erschei- 
nungen? Jeder  Versuch,  Allgemeingültiges  zu  schaffen,  Maßstäbe  und  verpflichtende 
Forderungen  zu  formulieren,  endigt  mit  solchen  Fragen. 

Schlegels  kritische  Grundgedanken,  die  er  aus  einem  umfassenden  Material 
herausgearbeitet  hat,  sind  ebensowenig,  wie  die  neuesten  Untersuchungen  auf  diesem 
Gebiete,  befriedigende  Antworten ;  aber  sie  sind  Beiträge  zur  Entwicklung  der  ästhe- 
tischen Probleme,  die  nicht  übersehen  werden  dürfen. 


')  Vgl.  Ernst  Cassirer,  Kants  Leben  und  Lehre,  S.  340  f. 
2)  Vgl.  K.  Oroos  a.  a.  O.,  S.  502. 


Besprechungen. 


Vom   Altertum   zur  Gegenwart.    Die  Kulturzusammenhänge  in  den  Haupt- 
epochen  und  auf  den  Hauptgebieten.  Verlag  von  B.  O.Teubner  in  Leipzig,  1919. 
gr.  8°.   308  S.  —  Das   Gymnasium   und  die  neue  Zeit     Fürsprachen 
und  Forderungen  für  seine  Erhaltung  und  seine  Zukunft.  Verlag  von  B.  G.  Teub- 
ner  in  Leipzig,  1919.    gr.  8».   220  S. 
Die  beiden  in  der  Überschrift  genannten  Bücher  gehören  nicht  eigentlich   in 
unser  Fachgebiet,  dennoch  sollen  sie  hier  erwähnt  werden,  da  ihre  Absicht,  die  Be- 
deutung des  klassischen  Altertums  und  des  humanistischen  Gymnasiums  ans  Licht 
zu  stellen,  auch  in  unsere  Wissenschaft  eingreift.    Das  erste  Buch   zeigt  die  Zu- 
sammenhänge zwischen  Altertum  und  Gegenwart   erst  im   allgemeinen  (Mittelalter, 
Renaissance,  Neuhumanismus,  neunzehntes  Jahrhundert),   dann  auf  den  einzelnen 
Gebieten.    Hier  kommen  für  uns  namentlich  bildende  Kunst  und  Literatur  in  Be- 
tracht; über  jene  schreibt  L.  Curtius,  über  diese  Roethe.  Beide  Aufsätze  sind  zu  rühmen, 
denn  ihre  Verfasser  haben  die  Fähigkeit,  aut  zwanzig  Seiten  bekannte  Hauptsachen 
rein  und  klar  darzustellen,  ohne  in  bloßes  Geschwätz  zu  verfallen;  andere  Mitarbeiter 
sind  der  Gefahr  eines  leeren,  mehr  oder  mindergut  klingenden  Geredes  nicht  ausgewichen. 
Noch  höher  aber  möchte  ich  einen  Beitrag  stellen  wie  den  von  Ernst  Goldbeck  über 
Weltbild   und   Physik,    weil  in   ihm   neue  Gesichtspunkte  überzeugend   verwertet 
sind.    Das  zweite  Buch,  aus  vielen  Mosaiksteinchen  zusammengesetzt,  wirkt  durch 
seine  Buntfarbigkeit.    Ich   habe  meine   helle  Freude  daran  gehabt,  zu  beobachten, 
wie   verschieden  die  Persönlichkeiten  sich   äußern,  obwohl  sie  alle  auf  der  Seite 
der  Bejahung   stehen.    Wäre   ich  gefragt   worden,  ich   hätte  zwischen  dem  Gym- 
nasium, das  mir  vorschwebt,  und  der  Schule,  in  der  ich  elf  Lebensjahre  verbringen 
mußte,  einen  dicken  Trennungsstrich  gemacht. 

Berlin.  Max  Dessoir. 


Theodor  A.  Meyer,  Die  ästhetische  Erziehung  in  der  Schule.  Tü- 
bmgen  1919,  J.  C.  B.  Mohr  (Paul  Siebeck).  30  S. 
Das  Problem  der  ästhetischen  Erziehung,  das  eine  Zeitlang  lebhaft  erörtert  wurde 
wird  jetzt  bei  den  mancherlei  pädagogischen  Reformplänen  leider  zu  wenig  berück- 
sichtigt. Es  ist  daher  sehr  zu  begrüßen,  daß  Th.  A.  Meyer  dieses  Problem  zum  Gegen- 
stand eines  Vortrags  auf  der  Jahresversammlung  des  Württembergischen  Philologen- 
vereins gemacht  hat.  In  klar  formulierten  Ausführungen  behandelt  er  die  prinzipielle 
Frage  nach  dem  Charakter  und  dem  Wert  der  ästhetischen  Erziehung  in  der  Schule, 
ohne  dabei  auf  praktische  Vorschläge  über  die  Anwendung  im  einzelnen  einzugehen. 
Als  erste  Aufgabe  der  ästhetischen  Erziehung  stellt  Th.  A.  Meyer  im  Gegensatz  zu 
anderen  Ansichten  nicht  die  Darbietung  von  Kunstgenüssen  auf,  sondern  die  Heran- 
bildung zur  Form,  zur  freien  Menschlichkeit.  Ästhetische  Erziehung  soll  zum  Hervor- 
bringen, zum  Schaffen  des  Schönen  anleiten  in  ganz  elementarer  Weise,  auf  münd- 
lichen, schriftlichen  und   zeichnerischen  Ausdruck   der  Schüler,  auf  körperliche  Bc 


222  BESPRECHUNGEN. 


wegung  und  persönliches  Auftreten  soll  sie  sich  erstrecken.  Das  Ideal  der  griechi- 
schen Kalokagathie  will  Meyer  erreichen.  Der  Begriff  der  ästhetischen  Erziehung 
wird  hier  also  in  einem  sehr  weiten  Sinn  genommen,  Form  ist  als  Form  der  indi- 
viduellen Lebensführung  überhaupt  verstanden.  »Man  erziehe  die  Schüler  zu  grö- 
ßerer Selbsttätigkeit,  man  gebe  ihnen  mehr  Freiheit  der  Bewegung,  dann  wird  sich 
die  Form  als  Frucht  fast  von  selber  einstellen«  (S.  14),  so  meint  Th.  A.  Meyer,  viel- 
leicht doch  etwas  zu  optimistisch  von  der  Selbsttätigkeit  und  ihrer  Wirkung  urteilend. 
Als  zweite  Aufgabe  erscheint  die  Erziehung  zum  Verständnis  des  Schönen,  also 
eine  ästhetische  Erziehung  im  engeren  Sinn.  Hier  gibt  Meyer  eine  dithyrambische 
Schilderung  über  den  idealen,  allgemeinbildenden  Wert  der  Kunst  und  das  Interesse 
der  Jugend  an  ihr  —  da  wünschte  man  doch  positivere,  psychologisch  begründete 
Darlegungen :  man  wird  zweifeln,  ob  den  Kleinen  gerade  für  die  »Treuherzigkeit 
und  Gemütswärme  von  Meistern  wie  Richter  und  Thoma«  das  Verständnis  leicht 
zu  erwecken  wäre  (S.  14)  oder  ob  moderne  erwachsende  Knaben  nacherlebend  »in 
sich  den  großen  Heroismus  des  Willens  und  der  Freiheit«  entdecken,  der  ihnen 
»aus  Schiller  entgegenleuchtet«  (S.  20).  Das  Kunstwerk  ist  für  Meyer  vor  allem 
Ausdruck  der  Künstlerpersönlichkeit,  des  Volkscharakters  und  des  Menschentums. 
Aber  so  wichtig  solcher  Lebenswert  der  Kunst  für  die  Erziehung  auch  ist,  so  fragt 
es  sich  doch,  ob  darin  die  Hauptaufgabe  der  ästhetischen  Erziehung  beschlossen  ist 
oder  ob  nicht  auch  eine  andere  Betrachtungsweise  der  Kunst  berechtigt  sein  kann, 
die  darum  nicht  in  Ästhetizismus  auszuarten  braucht.  Meyer  geht  so  weit,  daß  er 
es  geradezu  als  »eine  Versündigung  an  der  Nation-  ansieht,  »wenn  man  die  Kunst- 
erziehung an  griechischen  und  italienischen  Werken  ihren  Anfang  nehmen  läßt'< 
(S.  23).  Von  der  Einführung  eines  besonderen  Lehrfachs  der  Kunstgeschichte  glaubt 
er,  daß  dadurch  nur  der  »Notizenkram  der  Schule«  vermehrt  und  die  »Kunstfreudig- 
keit untergraben  würde«  (S.  27).  Das  wird  bei  einem  Unterricht,  der  mit  pädagogi- 
schem und  ästhetischem  Verständnis  methodisch  geleitet  wird,  keineswegs  der  Fall 
sein,  vielmehr  bietet  sich  gerade  hier  ein  wichtiges  Mittel  der  ästhetischen  Erziehung. 
Mit  Recht  weist  aber  Th.  A.  Meyer  am  Schluß  seines  Vortrags  darauf  hin,  daß 
die  Kunsterziehung  nicht  nur  ein  Problem  der  Schulreform,  sondern  auch  eines  der 
Lehrervorbildung  sei  (S.  28),  daß  unsere  Lehrer  auch  zu  Kunstverständigen  heran- 
gebildet werden  müßten. 

Mag  man  auch  in  manchen  Punkten  mit  Th.  A.  Meyer  nicht  übereinstimmen, 
so  wird  man  doch  aus  seinen  klugen,  feinsinnigen  Worten  Anregung  schöpfen. 

Oreifswald.  Willy  Moog. 

Rudolf  Bernauer,  Die  Forderungen  der  reinen  Schauspielkunst. 
Ein  erkenntnistheoretischer  Versuch.  Erich  Reiß  Verlag,  Berlin  1920.  gr.  8°. 
181  S. 

Hätte  Bernauer  —  ähnlich  wie  Engel  in  seinen  Ideen  zu  einer  Mimik  — 
in  zwangloser  Folge  seine  Gedanken  über  Schauspielkunst  aneinandergereiht,  er 
hätte  uns  die  Besprechung  seines  Buches  bedeutend  erleichtert.  Daß  er  es  mit  dem 
anspruchsvollen  Apparat  wissenschaftlicher  Beweisführung  auszustatten  sucht,  und  so 
zum  Vergleich  mit  dem  einzigen  wirklichen  Wissenschaftler  auf  diesem  Gebiet  zwingt, 
den  er  seltsamerweise  nicht  erwähnt  —  nämlich  Rötscher  —  das  kommt  dem 
Ganzen  nicht  zustatten. 

Es  ist  der  grundlegende  Irrtum  dieses  Buches,  zu  glauben,  der  reichliche  Ge- 
brauch wissenschaftlicher  Ausdrücke  trage  wesentlich  zu  einer  Beweisführung  bei. 
Man  wird  diesen  irrtümlichen  Respekt  vor  der  Kraft  der  Deduktion  dem  Nicht- 
wissenschaftier gerne   nachsehen,  aber  gesagt  muß  doch  werden,  daß  der  scharf- 


BESPRECHUNGEN. 


223 


sinnigste  logische  Aufwand  da  schmählich  vertan  ist,  wo  von  falschen  Voraussetzungen 
ausgegangen  wird. 

I  Das  Ergebnis  der  Bernauerschen  Untersuchung  sind  drei  Gesetze:  die  »konzen- 
trische Perzeption«,  die  Verkörperung  der  dichterischen  Figur  durch  die  Mittel  der 
Menschendarstellung  und  drittens,  das  Zusammenspiel  im  Sinne  der  höheren  dich- 
terischen Einheit.  Um  zu  diesen  Gesetzen,  die  eigentlich  Selbstverständlichkeiten 
sind,  zu  gelangen,  baut  der  Verfasser  eine  breite  grundsätzliche  Untersuchung  auf, 
deren  Gedankengang  etwa  der  ist:  Alle  Künste  ergehen  sich  in  ihren  Bezirken. 
Auch  die  sogenannten  reproduktiven  Künste.  Der  Musiker  spielt  Musik.  Spielt  aber 
der  Schauspieler  auch  Schauspiel?  Nein.  Der  Schauspieler  spielt  Dichtung.  Hie 
Lßchauspiel  —-  hie  Dichtung.  Zwei  gänzlich  verschiedene  Gebiete,  die  überbrückt 
"werden  müssen.  Die  Brücke  zu  beiden  schlägt  die  reine  Schauspielkunst.  So  an- 
regend diese  Ausführungen  sind,  so  haben  sie  doch  leider  den  Fehler,  von  einer  un- 
fruchtbaren Grundüberlegung  auszugehen,  nämlich  der,derSchauspieler  spiele  Dichtung. 

Der  Schauspieler  spielt  lediglich  Schauspiel.  Auch  für  das  Stegreif-Schauspiel  — 
also  die  nicht  schriftlich  fixierte  Komödie  —  müßten  die  Forderungen  der  reinen 
Schauspielkunst  gelten.  Daß  das  schriftlich  niedergelegte,  nicht  gespielte  Drama  in 
Buchform  ein  Eigenleben  führt,  ist  keineswegs  ausschlaggebend.  Die  Schrift  ist  das 
Mittel,  dessen  sich  der  Dichter  bedient,  dem  Theatermann  sein  Werk  vorzulegen. 
Genau  so  wie  die  Noten  das  übermittelnde  Medium  für  den  Musiker  sind.  Ber- 
nauers Versuch,  von  der  Schauspielkunst  im  Gegensatz  zur  Musik  nachzuweisen, 
sie  lebe  sich  im  »exogenen«  Element  aus,  ist  trotz  aller  Anstrengungen  gescheitert. 
Der  Komponist  schreibt  für  den  Musikspieler;  der  Dichter  schreibt  nicht  für  den 
Schauspieler«  heißt  es  bei  Bernauer.  Aber  er  übersieht  völlig  das  Zwingende  in  der 
Transkription  eines  Kunstschaffens.  Das  Musikstück  wird  ebensowenig  komponiert 
im  Hinblick  darauf,  gespielt  zu  werden,  wie  das  Drama  aufführungshalber  geschrieben 
wird.  Beide  werden  zunächst  lediglich  um  ihrer  selbst  willen  geschaffen.  In  Noten 
und  Buchstaben  niedergelegt,  erwachen  sie  zu  ihrem  wahren  Leben  durch  die 
Wiedergabe.  Das  Theaterstück,  nur  gelesen,  entspricht  der  Sinfoniepartitur,  die  man 
auf  dem  Klavier  spielt.  Die  Forderungen  der  reinen  Schauspielkunst,  die  ein  Vor- 
recht eben  dieser  aprioristischen  Erkenntnisse  sein  sollen,  gelten  sinngemäß  ebenso 
für  die  Musik.  Auch  der  Violoncellist  im  Streichquartett  muß  das  »Gesamtwerk« 
verstanden  haben,  um  seine  Stimme  richtig  auszuführen;  auch  hier  genügt  nicht 
mechanische  Wiedergabe.  Ein  grundsätzlicher  Unterschied  zwischen  dem  Verhältnis 
des  reproduzierenden  Musikers  zum  Musikstück  und  des  Schauspielers  zum  Schau- 
spiel ist  in  keiner  Hinsicht  bewiesen,  läßt  sich  nach  unserer  Meinung  auch  nicht 
beweisen.  Es  ist  also  ein  unnützer  Umweg,  wenn  der  Verfasser,  um  zur  Erkenntnis 
seiner  Gesetze  zu  gelangen,  eine  Sonderstellung  der  Schauspielkunst  konstruiert. 
Es  liegt  nicht  an  dieser  Sonderstellung,  wenn  die  drei  Gesetze,  die  er  aufsteih, 
richtig  sind,  sondern  ihre  Begründung  stammt  aus  dem  Wesen  der  reproduzierenden 
Kunst  überhaupt.  Ohne  die  Konstruktion  dieser  Sonderstellung  sind  andere  Schrift- 
steller aus  dem  Begriff  der  Schauspielkunst  heraus  zur  Aufstellung  der  gleichen 
Gesetze  gelangt. 

Die  Lektüre  dieses  Buches  hat  vielfach  angeregt,  obwohl  sie  meist  zum  Wider- 
spruch herausfordert.  Wenn  Fachleute  ihre  Erfahrungen  und  Wahrnehmungen 
bei  Ausübung  der  Kunst  uns  mitteilen,  ist  das  nur  aufs  lebhafteste  zu  begrüßen; 
aber  sie  tun  gut  daran,  sie  uns  in  schlichter  Form  weiterzugeben.  Dem  Wissen- 
schaftler mag  es  dann  vorbehalten  bleiben,  diese  Bausteine  zu  systematischen  Er- 
kenntnissen zu  verwerten. 

Beriin.  Robert  Klein. 


224  BESPRECHUNGEN. 


Der  Schauspieler.  Von  Ferdinand  Gregor i.  Aus  Natur  und  Oeisteswelt 
Bd.  692.  Verlag  von  B.  O.  Teubner,  Leipzig,  kl.  8°.  132  S. 
Dies  Werkchen  ist  aus  einer  vielseitig  reichen  Erfahrung  geboren,  ist  getragen 
vom  Liebeshaß  gegen  das  Theater,  ist  in  einem  guten,  männlichen  Deutsch  ge- 
schrieben —  und  bleibt  dennoch  unterhalb  der  dem  Verfasser  erreichbaren  Voll- 
kommenheit, weil  es  mit  einer  inneren  Unruhe  behaftet  ist,  die  keinen  der  an- 
geschlagenen Töne  ausklingen  läßt.  Nach  einem  flüchtigen  Rückblick  auf  die  ge- 
schichtliche Entwicklung  kommen  zuerst  ein  paar  Seiten  über  das  Leben  des  Schau- 
spielers als  Mensch,  die  allerdings  jeder  Anwärter  des  Berufs  Wort  für  Wort  lesen 
sollte,  die  aber  auch  viele  Fragen  offen  lassen.  —  Uns  Theoretikern  ist  der  dann 
folgende  Abschnitt  wichtiger.  Es  handelt  sich  da  um  das  Verhältnis  zur  Dichtung, 
zum  Spielleiter  und  zum  Publikum;  wir  finden  in  diesem  Abschnitt  ausgezeichnete 
Bemerkungen,  schlagende  Beispiele,  doch  nicht  jene  Bohrarbeit,  zu  der  Oregori 
wie  kein  anderer  seiner  Berufsgenossen  befähigt  ist  und  der  er  hier  trotzdem  ent- 
sagt —  aus  irgendwelchen  Gründen,  aus  Raummangel  oder  aus  Rücksicht  auf  die 
Masse  der  jugendlichen  Leser.  Einen  wirklichen  Gewinn  bringt  im  nächsten  Kapitel 
die  Unterscheidung  von  Stufen  beim  schauspielerischen  Schaffen:  das  Ertasten,  das 
Zergliedern,  das  Aufbauen.  Weniger  kommen  für  uns  in  Betracht  die  späteren  Ab- 
schnitte, in  denen  vom  Lehrer,  vom  Bühnenweg,  vom  Film  und  von  der  sozialen 
Stellung  gesprochen  wird.  Ich  wünschte  also  sehr,  daß  Gregori  einmal  eine  bis 
in  die  Tiefen  dringende  Untersuchung  seiner  Kunst  durchführte,  unabhängig  von 
diesem  Büchlein,  das  dem  Schauspieler-Anfänger  auf  der  einen  Seite,  dem  Theater- 
freund auf  der  anderen  Seite  durchaus  nützlich,  indessen  weder  der  Problematik  der 
Schauspielkunst  noch  der  geistigen  Bedeutung  des  Verfassers  völlig  angemessen  ist. 

Beriin. 

iVlax  Dessoir. 

Hans  Hildebrandt,  Wandmalerei;  ihr  Wesen  und  ihre  Gesetze.  Mit 
462  Abbildungen,  darunter  266  Hilfszeichnungen  des  Verfassers.  Deutsche 
Verlagsanstalt,  Stuttgart  und  Berlin  1920.    X  und  351  S. 

Dieser  stattliche  Band  kennzeichnet  sehr  deutlich  die  Tendenz  der  jüngeren 
Kunstgeschichte  nach  kritischer  Selbstbesinnung  und  systematischer  Aufklärung.  Ihr 
Erfolg  soll  in  Aufdeckung  der  Gesichtspunkte  und  Leitbegriffe  bestehen,  die  eine 
Auswertung  des  kunsthistorischen  Materials  in  angemessener  Weise  ermöglichen. 
Hildebrandt  merkt  man  die  Lippsschule  an,  besonders  dessen  »ästhetische  Mechanik«. 
Er  ist  aber  nicht  einseitig;  die  Kunstdiskussionen  der  letzten  Jahre  spiegeln  sich  in 
seiner  Schrift.  Sie  zeichnet  sich  durch  lebendige  Kunstnähe  und  geschmackvolle 
Darstellung  aus;  die  etwas  ermüdende  Breite  kommt  jedoch  nicht  einer  letzten  Ver- 
tiefung zustatten.  Der  Verfasser  liebt  die  Nebeneinanderstaffelung,  meist  ohne  dem 
sie  erzeugenden  Rechtsgrund  nachzuspüren.  Dazu  gesellt  sich  noch  eine  merk- 
würdige Literaturbehandlung:  im  Anhang  werden  auf  15  Seiten  eine  Unzahl  von 
Arbeiten  genannt  —  sehr  flüchtig  und  mit  störenden  Druckfehlern  —  der  Text  aber 
bekümmert  sich  wenig  um  sie.  So  ist  z.  B.  das  einleitende  Kapitel  —  über  die 
Begriffsbestimmung  des  Kunstwerks  —  auffallend  dürftig.  Doch  sollen  diese  Mängel 
nicht  den  Blick  für  die  Vorzüge  dieses  verdienstvollen  Werkes  trüben,  das  ein  weites 
und  sprödes  Gebiet  klar  und  kenntnisreich  durchforscht. 

Das  Tafelbild  erscheint  als  ausschließliches  Werk  der  Malerei ;  das  Wandgemälde 
als  Werk  der  Malerei  und  der  Architektur.  Darum  werden  in  besonderen  Ab- 
schnitten die  Elemente  des  Bildes  und  die  der  Wand  geprüft;  ihre  Vereinigung  ist 
nur  möglich,  wenn  Malerei  wie  Architektur  auf  strengste  Durchführung  ihrer  beson- 


I 
i 


BESPRECHUNÜEN. 


225 


deren  Schaffensgesetze  verzichten,  um  eine  neue  Einheit  zu  schaffen.  Weitere  Unter- 
suchungen gelten  der  geistigen  Angliederung  des  Wandgemäldes  und  seiner  Ein- 
teilung in  das  Formgefüge  des  Bauwerks.  Ein  eigener  Abschnitt  ist  der  räumlichen 
Wirkungsrolle  der  Wandmalerei  gewidmet.  Ihre  einzelnen  Arten  (Decken-  und 
Oewölbemalereien,  Fassadenmalereien  usw.)  werden  behandelt,  ebenso  ihre  Technik. 
Betrachtungen  über  Ergänzungen  der  Wandmalerei  (Schmuck  des  Fußbodens,  Olas- 
gemälde,  Intarsia,  Wandteppich  und  Vorhang)  bilden  den  Abschluß.  —  Schlechthin 
bewundernswert  sind  die  Druckausstattung  des  Buches  und  die  überreiche,  vor- 
treffliche Illustrierung. 

Rostock.  Emil  Utitz. 


Carl  Robert,  Archäologische  Hermeneutik.  Anleitung  zur  Deutung  klas- 
sischer Bildwerke.     Berlin,  Weidmannsche  Buchhandlung,  1919.   8".    432  S. 

Während  Robert  bereits  im  Jahre  1886  in  seinem  »Bild  und  Lied«  betitelten 
Werk  eine  systematisch  angelegte  Untersuchung  des  Verhältnisses  der  literarischen 
Überlieferung,  des  Stoffes,  zu  den  Kunstwerken  des  Altertums  gegeben  hat,  betont 
er  in  dem  kurzen  Vorwort  zu  seinem  neuen  Buch,  daß  er  nur  Regeln  vortrage,  die 
sich  ihm  auf  rein  empirischem  Wege,  also  während  seiner  jahrzehntelangen  erfolg- 
reichen Lehrtätigkeit,  ergeben  haben.  Er  überläßt  es  »philosophischeren  Köpfenc,  die 
Gesetze  der  Hermeneutik  in  ein  System  zu  bringen.  Daraus  geht  hervor,  daß  Robert 
den  Begriff  der  Hermeneutik  nicht  in  ihrem  eigensten  Sinn,  als  Theorie  von  den 
verschiedenen  möglichen  Methoden  der  Erklärung  faßt,  sondern  —  wie  es  auch  die 
Theologen  bei  dem  geläufigeren  Begriff  der  biblischen  Hermeneutik  tun  —  als  die 
dem  modernen  Archäologen  selbstverständliche  sachliche  Exegese,  die  historisch- 
literarische Erklärung  und  Auslegung  der  Bildwerke  selbst.  Auch  die  Beschreibung, 
die  doch  nicht  selbst  Hermeneutik  ist,  sondern  nur  ihre  notwendige  Grundlage 
bildet,  behandelt  Robert  ausführlich  im  ersten  Abschnitt  und  zieht  sie  dann  immer 
wieder  heran.  An  der  Hand  von  300  Abbildungen,  die  er  größtenteils  mustergültig 
beschreibt  und  analysiert,  lehrt  Robert  den  Leser  die  Kunst  des  klassischen  Alter- 
tums erkennen  und  verstehen.  Er  dringt  vor  allem  darauf,  jedes  Kunstwerk  zu- 
nächst aus  sich  selbst  heraus  zu  erklären,  den  Absichten  des  Künstlers  nachzuspüren, 
dann  aber  Mythologie,  Literatur,  besser  erhaltene  andere  Bildwerke,  Umgebung, 
Pendants  und  Fundort  mit  Vorsicht  und  ohne  »übel  angewandte  Gelehrsamkeit« 
als  Hilfsmittel  der  Deutung  heranzuziehen.  Reine  kritische  Tatsachen-Forschung 
will  Robert  geben.  Da  es  aber  zwischen  beschreibender  und  normativer  Wissen- 
schaft keinen  scharfen  Schnitt  gibt,  so  berührt  Robert  immer  wieder  systematische 
Grundfragen,  obwohl  er  ihre  grundsätzliche  Behandlung  ablehnt.  Während  ihm  jede 
theoretische  Beschäftigung  mit  den  Formen  und  Gesetzen  der  Kunst,  jedes  ästhetische 
Urteil  über  formale  Eigenschaften  der  Kunstdenkmäler  fern  liegt,  gibt  er  glänzende 
Analysen  nicht  nur  des  stofflichen  oder  geistigen  Inhalts,  sondern  auch  der  Elemente 
der  künstlerischen  Gestaltung,  z.  B.  für  den  Ostfries  des  Parthenon  (S.  31  f.).  Seine 
vorzüglichen  Interpretationen  der  Kunstwerke  erziehen  zu  genauem  Sehen  und  zum 
Nachempfinden  der  Absichten  des  Künstlers.  In  einigen  Fällen  freilich  veriührt 
das  lebhafte  Temperament  des  Verfassers  ihn  zu  so  abstrusen  Deutungen  wie  die 
des  Ares  Borghese  auf  Paris  (S.  42  f.)  und  des  Ostgiebels  von  Olympia  auf  den 
Auszug  zweier  Krieger  zum  Kampf  (S.  290  ff.)  oder  zu  den  übertriebenen  Aus- 
deutungen des  Ausdrucks  der  Augen  auf  attischen  Vasenbildern  (S.  122  ff.  u.  359  f.). 
Höchst  gefähriich  ist  die  Behauptung,  daß  es  in  der  Wissenschaft  unendlich  mehr 
auf  die  Methode  als  auf  die  augenblicklichen  Resultate  ankommt.  Für  Robert  selbst, 
dessen  geniale  Methode  mit  ungeheurem,   kritischen  Scharfsinn   und  ausgebreiteter, 

Zeitichr.  f.  Ästhetik  u.  Mg.  Kunttwiuenschaft.    .KV.  15 


226  BESPRECHUNGEN. 


lebendiger  Gelehrsamkeit  verbunden  ist,  so  daß  sie  ihn  zu  relativ  wenigen  falschen 
neben  vielen  zutreffenden  Ergebnissen  geführt  hat,  ist  sie  richtig.  Dagegen  l<ann  sie 
auf  kleinere  und  unreife  Geister  verheerend  wirken,  wenn  sie  nach  diesem  Rezept 
es  für  unnütz  halten,  die  vorauseilende  Divination  mit  vorsichtiger  Prüfung  zu  vereinen. 

Nach  der  scharfen,  aber  höchst  parteiischen  Scheidung,  die  kürzlich  Eugen  Lüthgen 
(Aufgaben  der  Kunst  und  des  kunstgeschichtlichen  Hochschulunterrichts,  Verlag 
Kurt  Schröder,  Bonn  und  Leipzig  1919)  zwischen  der  »offiziellen  Kunstgeschichte« 
und  der  »jüngeren  Schule«  vorgenommen  hat,  gehört  Robert  zu  der  nach  Lüthgen 
überlebten,  unfruchtbaren  älteren  Schule,  die  der  beschreibenden  Methode  den 
weitesten  Spielraum  einräumt.  Roberts  Buch  beweist,  daß  diese  Methode  von  dem 
richtigen  Meister  angewendet  das  Ziel  erreicht,  das  Lüthgen  mit  Recht  als  Haupt- 
ziel der  kunstgeschichtlichen  Forschung  hinstellt :  den  Schlüssel  zur  Erschließung 
von  Sinn  und  Wesen  des  Kunstwerks  zu  finden.  Sehr  richtig  hebt  Lüthgen  auch 
hervor,  daß  die  Archäologie  viel  mehr  als  die  neuere  Kunstgeschichte  es  als  ihre 
selbstverständliche  Aufgabe  betrachtet,  die  Kernfrage  nach  dem  Wesen  des  Künst- 
lerischen zu  klären.  Wenn  Robert  diese  Frage  nicht  systematisch  angefaßt  hat,  so 
hat  er  doch  durch  ein  praktisches  Lehrbuch  in  einer  Reihe  von  Fragen  einen  Zu- 
wachs an  Klarheit  gebracht,  der  einen  ästhetischen  Genuß  gewährt.  Er  hat  beson- 
ders in  den  letzten  Abschnitten  über  Fehlerquellen,  Ergänzungen,  falsch  Gedeutetes, 
Ungedeutetes  und  Undeutbares  die  Grenzen  unseres  Wissens  abgesteckt  und  er- 
weitert. 

Wie  geläufig  und  selbstverständlich  Robert  die  von  ihm  nicht  behandelten 
künstlerischen  Gesetze  von  der  Ausnutzung  des  Raums,  der  Anordnung  der  Haupt- 
linien im  Kunstwerk  u.  dergl.  sind,  beweist  die  Ausstattung  seines  Buchs.  Die  Ein- 
fügung der  Textabbildungen  in  den  Schriftsatz  und  das  Verhälinis  der  Abbildungen 
auf  den  beiden  gegenüberliegenden  Textseiten  zueinander  ist  mit  bescheidenen 
Mitteln  zu  einem  mustergültigen,  sorgsam  abgewogenen,  ästhetisch  durchaus  be- 
friedigendem Oesamteindruck  ausgestaltet. 

Gießen.  Margarete  Bieber. 

W.Stein,  Die  Erneuerung  der  heroischen  Landschaft  nach  1800. 
Straßburg,  J.  H.  Ed.  Heitz,  1917.  116  Seiten  Text  mit  Vorwort  und  18  Licht- 
drucktafeln. 

Wenn  die  bedeutsame  deutsche  Jahrhundertausstellung  Berlin  1906  auch  keine 
durchgreifende  Revision  der  Kunstgeschichtschreibung  für  den  von  ihr  umspannten 
Zeilraum  notwendig  gemacht  hat,  so  hat  sie  doch  in  mehr  als  einem  Falle  bedeut- 
same neue  Wertungen  ermöglicht  und  veranlaßt:  sei  es  durch  Heraushebung  einer 
Künstlerpersönlichkeit  und  ihres  Werkes  (z.  B.  A.  Feuerbach),  sei  es  durch  Schaffung 
einer  zusammenfassenden  Übersicht  wie  der  »über  die  künstlerischen  Werte  jener 
idealistischen  Landschaftsauffassung,  die  sich  im  Zeitalter  des  Klassizismus  wie  der 
Romantik  entwickelt  hatte«.  Hierdurch  kam  auch  J.  A.  Koch,  der  Landschafter, 
zu  neuer  Anerkennung.  Es  hatte  wohl  schon  1905  E.  Jaffe  eine  Monographie 
über  Koch  geschrieben.  In  ihr  war  Kochs  Leben  gut  zur  Darstellung  gebracht, 
aber  nicht  sein  Werk.  Die  Arbeit,  die  so  noch  zu  tun  blieb  —  über  die  Skizze  von 
H.  Riegel  (1876)  hinaus  — ,  nahm  Stein  in  Angriff  und  löste  sie  in  der  vorliegen- 
den Schrift. 

In  sorgfältiger  Weise,  die  bis  zu  »historischer  Kleinarbeit«  geht,  bearbeitet  Stein 

unter  dem  entwicklungsgeschichtlichen   sowie  stilkritischen  Gesichtspunkt  das  Werk 

.  Kochs.    Dabei  wurden  »namentlich  auch  der  reiche  zeichnerische  Nachlaß  Kochs  in 

der  Wiener  Akademie,  die  wichtigen  Aquarelle  und  Sepiablätter  der  Berliner  National- 


BESPRECHUNG! 


227 


galerie,  der  Alberfina  und  des  Stuttgarter  Ktipferstichkabinetts  verwerfet.  (Vorwort 
S.  X).  Leicht  fällt  die  große  Exaktheit  in  der  Bilderbetrachtung  auf:  die  Bild- 
beschreibung zeichnet  sich  durch  ihre  Treffsicherheit  aus.  Mit  Begriffen  logisch 
klarer  Prägung  dringt  der  Verfasser  in  die  S'.ruktur  des  Bildorgatiismus  ein,  nicht 
ihn  zerstörend,  sondern  seine  Gesetzmäßigkeit  im  Sinne  des  esse  est  pircipi  er- 
weckend: •.  . .  Kochs  Landschaft  ist  dort  wo  sie  sich  erfüllt  hat,  normhaft.  Damit 
rückt  sie  in  die  Sphäre  jener  Kunst,  die  vom  Beschauer  mehr  verlangt,  als  bloß 
empfängliche  Organe:  nämlich  den  Sinn  für  die  Gesetzmäßigkeit  alles  Lebendigen. 
Die  Schönheit  dieses  Gesetzes  zu  empfinden  zwingt  uns  mit  seiner  Landschaft 
Koch  ....  (S.  8S). 

Um  »die  besondere  Leistung  Kochs  als  Gestalters  der  Landschaft  ...,  inwie- 
fern Koch  die  heroische  Landschaft,  deren  Schöpfer  Poussin  ist,  erneuert  hat«,  darum 
ist  es  dem  Verfasser  vor  allem  zu  tun  (S.  X). 

Um  diese  Untersuchung  durchführen  zu  können,  mußte  auf  Poussins  Land- 
schaftskunst zurückgegangen  werden.  Ihr  ist  ein  eigenes  Kapitel,  das  erste,  gewidmet. 
Es  ist  für  den  Aufbau  der  Studie  von  besonderer  methodischer  Bedeutung:  der  Ver- 
fasser wollte  erst  die  Poussin  eigene  Landschaftsform  und  seinen  Weg  zu  ihr 
(wenigstens  skizzierend)  darlegen  und  daraus  eine  Definition  des  Wesens  der  heroi- 
schen Landschaft  gewinnen  —  W.  Friedländer,  O.  Orautoff,  E.  Magne  hatten  ihren 
Werken  über  Poussin  ein  breiter  genommenes  Ziel  gesteckt  und  waren  deshalb  diesem, 
freilich  am  stärksten  in  die  Tiefe  führenden  Begritf  nicht  mit  der  Schärfe  der  Haupt- 
unttrsuchung  nachgegangen.  Von  J.  Gramms  Arbeit  (»Die  ideale  Landschaft«)  aber 
sagt  (S.  XI)  der  Verfasser,  sie  irre  vom  Wesentlichen  ab.  Darum  das  eigene  Be- 
mühen. Den  methodischen  Gesichtspunkt,  von  dem  Stein  dabei  sich  leiten  ließ, 
formuliert  er  scharf  dahin:  »ohne  den  Weg  zu  einer  letzten  Form  klarzulegen,  läßt 
sich  diese  letzte  Form  nicht  definieren.  (S.  X). 

Mag  nun  auch  diese  methodologische  Behauptung  in  der  Form  ihrer  Aus- 
schließüchkeit  angefochten  werden  können,  das  bleibt  bestehen:  für  den  vorliegenden 
Fall,  wo  es  sich  um  einen  Begriff  aus  dem  Bereich  des  künstlerischen  Gestaltens 
handelt,  nicht  um  einen  urtümlich-formalen,  sondern  um  einen  mit  einem  bestimmten 
Lebensgefühl  gesättigten,  empfiehlt  sich  der  genetische  Weg,  trotz  des  metaphysi- 
schen Einschlages  in  jenem  Begriff.  Ja  gerade  das  metaphysische  Moment  in  ihm 
weist  die  Untersuchung  auf  diesen  Weg,  denn  so  gewinnt  sie  für  ihren  Gegen- 
stand und  dessen  Oefüge  eine  empirisch  nachprüfbare  Unterlage:  man  kann 
stufenweise  sehen,  wie  das  Heroische  Gestalt  gewann,  wie  der  Künstler  fortschrei- 
tend, wenn  auch  mühsam,  sich  des  Heroischen  mit  den  ihm  zu  Gebote  stehenden 
Mitteln  bemächtigte,  und  wie  der  Begriff  des  Heroischen,  den  man  schließlich 
gewonnen  hat,  mit  der  Gestalt  des  Heroischen,  die  der  Künstler  ihm  verliehen 
hat,  verwachsen,  ja  gewachsen  ist.  Die  längere  Erstreckung  des  Weges  zum  Resultat 
nützt  seiner  Reifung  auch  in  der  Weise,  daß  hiedurch  der  Gefahr,  die  in  Frage 
stehende  Wesensbestimmung  von  einem  zu  knapp  genommenen  oder  unrichtig  ge- 
wählten Bildmaterial  abzulesen,  mehr  vorgebeugt  ist.  Und  in  der  Tat  macht  der 
Verfasser  auch  geltend,  daß  bei  der  Bestimmung  des  Stiles  der  heroischen  Land- 
schaft, die  Poussin  geschaffen,  nicht  die  »Polyphem-Landschaft.  in  den  Vordergrund 
gestelh  werden  darf  (S.  16,  38),  wie  es  sich  bei  Friedländer  (N.  Poussin,  S.  95  f .) 
findet. 

Und  nun  des  Verfassers  eigene  Auffassung  vom  Wesen  der  heroischen  Luid- 
Schaft  bei  Poussin  und  bei  Koch,  soweit  ihre  Besprechung  an  dieser  Stelle  von 
Interesse  sein  kann.  An  einer  der  Hauptstellen  (S.  16  f.)  schreibt  der  Verfasser: 
». . .  gerade  die   Überwindung  jenes  romantischen  oder  wissenschaftlichen  Hanges 


228  BESPRECHUNGEN. 


nach  dem  Sonderbaren  in  der  Natur . . .,  die  Überwindung  von  Panorama  und  von 
Wildnis  führt  Poussin  zu  seiner  großen  Landschaft,  die  heroisch  ist,  weil  in  ihr  der 
Affekt  bezwungen,  das  Pathetische,  aber  nicht  die  Spannung,  verflogen  in  der  klaren 
Festigkeit  endgültiger  Formen,  die  ihre  Kraft  im  Ruhen,  ihre  Gültigkeit  im  Sein  er- 
weisen. Zu  nichts  drängt  Poussin  unbedingter  als,  die  Form  so  endgültig  zu  er- 
ledigen, daß  die  Gebärde  des  Geschehens  wie  Blätterrauschen  durch  die  Räume  zieht, 
ihre  Tektonik  nur  noch  sichtbarer  bezeugend.«  Vor  allem  soll  also  das  Wesen  der 
heroischen  Landschaft,  das  Heroische,  nicht  in  der  Relation  der  Landschaft  zum 
menschlichen  Affekt  liegen  (S.  104).  »Der  Affekt  bezwungen,  das  Pathetische, 
aber  nicht  die  Spannung,  verflogen  in  der  klaren  Festigkeit  endgüHlger  Formen.« 
Auch  hier  kann  die  psychologische  Formel  lauten:  nicht  Pathos,  sondern  Ethos. 
Damit  könnte  nun  freilich  auch  von  der  Landschaftsdarstellung  Weitabliegendes 
charakterisiert  sein,  etwa  Typen  oder  Perioden  plastischen  Qeslahens.  Die  not- 
wendige Präzisierung  liegt  in  der  näheren  Bestimmung  des  Ethos  und  in  der  Ein- 
beziehung der  Darstellungsmittel.  Das  Ethos  beschreibt  Stein  nach  Poussins  Land- 
schaft der  fünfziger  Jahre  als  das  »Oroß-Hirtenmäßige  der  Frühzeit,  wo  Götter  sich 
den  Menschen  gesellen,  welchen  aus  diesem  Hirtendasein  die  Kraft  zum  Helden- 
tum erwächst  (S.  18).  Es  ist  ein  Hirtendasein,  wo  die  Menschen  in  der  Landschaft 
wohnen,  »nicht  büßend  oder  frönend,  sondern  erfüllt  von  einer  gläubigen,  klaren  und 
tiefen,   von   einer  heroischen  Liebe  zu  ihrer  Erde«  (S.  21). 

Und  wenn  nun  dieses  Ethos  zur  Bilderscheinung  im  Bildorganismus  gebracht 
wird,  dann  sind  es  etwa  Worte  wie  die  folgenden,  die  das  Heroische,  ausgedrückt 
durch  die  Bildgestaltung,  zu  definieren  vermögen  (es  handelt  sich  um  das  Bild  von 
Koch  »Unterseen«  in  Innsbruck):  ».  .  .  ein  Eingehen  in  die  Gestalt  der  Erde,  und 
nichts  als  ihre  Sprache,  von  Bäumen,  Hirten,  Herden,  Bauten  in  den  Raum  hinein- 
getragen, daß  er  sie  fasse  und  daß  sie  mit  ihrem  Dasein  ihn  aufbauen  helfen.« 
Der  Verfasser  verstärkt  noch  seine  Charakteristik  des  Heroischen  im  Kompositionellen 
und  fragt:  ». . .  ist  das  nicht  das  Heroische  diese  provinzielle  Natur,  ohne' ihr  Ge- 
walt anzutun,  zur  allgemeinen  erhoben  und  ein  Haus  und  einen  Menschen  darin 
aufstehen  lassen,  die  beide  etwas  Regelhaftes,  unterschieden  von  jener  Natur,  den- 
noch ganz  hineinwachsen  in  sie,  die  ordnungsfrohe«  (S.  83). 

Noch  viel  weiter,  bis  in  die  letzten  Elemente  hinein,  verfolgt  der  Verfasser, 
man  möchte  sagen,  die  Heroik  des  Formalen  —  als  Vorlage  dient  Poussins  »Fin- 
dung Mosis«  im  Louvre.  »Das  Zwingende  an  diesem  Bild,«  betont  er,  »ist  die  Statik. 
Ihrem  Gesetz  fügen  sich  die  Figuren,  jedes  Bauwerk,  Baum  und  Berg.  .  .  .  ihre  lo- 
gische Durchdringung  . . .  nicht  errechnet,  sondern  aus  dem  Charakter  eines  jeden 
Dinges  entwickelt  . . .  dieses  Eingliedern  von  Menschen,  Bäumen,  Bauten  in  die 
Gestalt  der  Erde,  wo  jedes  seine  Festigkeit  und  Würde  wahrt,  wo  jedes  sich  aufs 
andere  bezieht  und  dennoch  für  sich  ist  . . .«  (S.  11).  Stein  sieht  hierin  Poussins 
neue  Form,  die  Pforte  zur  heroischen  Landschaft.  Auch  die  Terrainentwicklung  hat 
ihren  bestimmten  Charakter.  Der  Verfasser  liest  ihn  ab  von  Poussins  »Landschaft 
mit  Hirten«  im  Prado:  »Diese  Disposition  aufstrebender  Stämme  und  Bauten  in 
den  verschiedenen  Gründen,  wodurch  der  Landschaftsraum,  ohne  in  einen  Rahmen 
gespannt  zu  werden,  frei  sich  entfaltet,  das  Gleichgewicht  und  die  Erstreckung  bis 
in  den  letzten  Grund  klarlegend:  diese  Disposition  bleibt  eine  Grundforderung  der 
heroischen  Landschaft.  .  .  .  Bedingung  ist,  daß  diese  klare  Begrenzung  nicht  im 
Atmosphärischen  sich  löse,  daß  vielmehr  Licht  und  Farbe  der  Klarheit  des  Aufbaues 
dienen.  . . .  Das  Reiz-  oder  Spukhafte  der  Erscheinung,  das  oft  den  Charakter  des 
Dings  verrät,  soll  nicht  herrschen  dürfen  über  das  Wesen«  (S.  19). 

Es  geht  nicht  an,  all  die  für  das  Problem  ergiebigen  Stellen  hieher  zu  setzen. 


BESPRECHUNGEN  22Q 


Es  sei  nur  noch  hingewiesen  auf  das  Qesetz  der  Bildorganisation  nach  der  Seite 
der  Zusammenordnung  des  Ganzen  und  des  Besonderen  (S.  88,  89,  11),  auf  die 
Funktion  der  Farbe  (S.  87;  z.  v.  S.  7  f.,  10,  19  f.:  Poussin),  die  oft,  doch  nicht  immer 
(Tschudi)  bei  Koch  getadelt  worden  war,  auf  die  Baumbiidung  (S.  86,  85,  93).  Noch- 
mals ins  Ganze  greifend:  Kochs  Sinn  für  die  Form  der  Erde  als  der  formalen 
Grundlage  für  jedes  Wachstum  über  ihr  (S.  44  f.).  Und  das  Antlitz  der  Erde:  »In 
Bindung  und  Fügung  atmet  sie  frei,  nie  aufgezehrt  vom  Licht,  aber  auch  nie  ver- 
stört durch  elementare  Gewalten«  (S.  86;  S.  40,  44  f.  berücksichtigen  einen  Durch- 
gangspunkt). 

Im  Entscheidenden,  glauben  wir,  hat  Stein  mit  seiner  Bestimmung  des  Wesens 
der  heroischen  Landschaft  das  Richtige  getroffen:  das  gilt,  rückschauend  können 
wir  seine  methodisch  bedingte  Gegenüberstellung  umkehren,  für  die  Charakte- 
risierung der  Form  wie  auch  für  dieAufzeigung  desWeges  zu  ihr.  Nur 
macht  sich  in  dem  Poussin  gewidmeten  Abschnitt  das  Skizzenhafte  der  Darstellung 
geltend,  insofern  als  die  Klarheit  und  damit  die  Sicherheit  in  der  Führung  der 
Entwicklungslinie  durch  den  skizzenhaften  Wechsel  des  Gesichtspunktes  der  Be- 
trachtung: historisch-stofflich-formal,  beeinträchtigt  wird.  Gegenüber  der  Ablehnung 
der  Auffassung:  heroische  Landschaff  —  das  vom  menschlichen  Affekt  getragene 
Landschaftsbild  (S.  16,  Anm,  11)  könnte  man  fragen,  ob  diese  Wesensbeslimmung 
wirklich  von  der  des  Verfassers:  eine  Landschaft,  die  heroisch  ist,  weil  in  ihr  der 
Affekt  bezwungen,  das  Pathetische  (.iber  nicht  die  Spannung)  verflogen  in  der  klaren 
Festigkeit  endgültiger  Formen,  grundsätzlich  verschieden  ist,  wenn  doch  auch  der 
Verfasser  in  seine  Definition  das  Moment  der  Spannung  aufgenommen  hat  und  es 
gerne  hervorhebt.  Von  Poussins  »Landschaft  mit  Orpheus  und  Eurydike«  im  Louvre 
schreibt  er:  ».  .  .  Das  Schicksalvoile  in  dieser  unbewegten  Landschaft,  die  nicht 
theatralisch  ist,  aber  voll  Spannung.  Es  ist  eine  getragene  Spannung;  nichts  ver- 
möchte wie  sie  die  innere  Dramatik  der  Szene  zu  steigern«  (S.  18).  Besonders  aber 
jene  Stelle  von  der  Farbe  der  heroischen  Landschaft:  »Die  Farbe  als  Reiz  gehört 
für  ihn  zum  unbedeutend  Natürlichen,  das  den  großen  Sinn,  ja  die  Spannung  seiner 
Landschaft  aufheben  würde.  Denn  die  problemlose  Lieblichkeit  des  sinnlichen  Da- 
seins, selbst  das  schuldlos  Vegetative  der  Blumen  weiß  nichts  von  jenem  großen 
Sinn  und  von  der  Spannung  des  vom  Tiefsten  bewegten  iV\enschen.  Der  sinnliche 
Wohllaut  der  Farbe  löst  die  Spannung.  (S.  87).  Und  noch  mehr:  der  Verfasser 
sieht  in  Goethes  Definition  der  heroischen  Landschaft  gleichsam  eine  Norm  (Anm.  11, 
S.  86),  die  ihm  die  Richtigkeit  der  von  ihm  selbst  erarbeiteten  Bestimmung  bestätigt. 
In  ihr  kommt  aber  das  Moment  der  Spannung  nicht  zur  Geltung  (Goethes  Schriften 
und  Aufsätze  zur  Kunst:  Künstlerische  Behandlung  landschaftlicher  Gegenstände 
(Hempel-Klassikerausgaben:  Goethe,  Bd.  XXVIII  S.  882;  z.  v.  8"8  f.]). 

Wir  verstehen  es  nun  so:  im  Affekt  —  es  ist  hier  nicht  die  Frage,  was  er 
rein  an  sich  als  Bewußtseinsphänomen  ist,  sondern  wie  er  als  herrschendes  ideelles 
Element  die  Landschaftsgestaltung  durchwirkt  —  in  ihm  sieht  der  Verfasser  etwas 
grundsätzlich  Dualistisches  (z.  v.  S.  21,  7  f.),  das  einen  ganz  anderen  Bildbau  be- 
dingte als  der  ist,  den  Poussins  und  Kochs  heroische  Landschaften  aufweisen.  Was 
der  Verfasser  unter  der  Spannung  versteht,  soll  nach  der  einen  Seite  das  Herein- 
stoßen eines  fremden  Elementes  oder  das  Hinausgreifen  nach  einer  jenseifigen 
Sphäre  ausschließen.  Nach  der  andern  aber  soll  dadurch  die  innere  Erregung  be- 
zeichnet sein,  ohne  die  kein  Leben  und  kein  Lebenszustand  zu  denken  ist,  und  ihre 
formal-architektonische  Gestaltung  im  Bilde.  Diese  innere  Erregung  darf  aber  nicht 
wiederum  psychologisch  individuell  zugespitzt  (z.  v  S.  7,  20,  21),  sondern  muß,  wir 
möchten   fast    sagen:    biologisch-elementar   verstanden   werden.     Schon   E.   Förster 


230  BESPRECHUNGEN. 


empfand  in  Kochs  heroischen  Landschaften  »jene  reine  Stille  der  Natur  in  der  Mit- 
tagsstunde, welche  die  Alten  unter  dem  Namen  der  Pansruhe  kannten«  (S.  100). 

Ob  die  vom  Verfasser  abgelehnte  Definition  der  heroischen  Landschaft  sich 
wirklich  bei  Gramm  (Die  ideale  Landschaft)  und  »nach  Gramms  Vorgang«  bei 
Orautoff  (N.  Poussin)  findet,  wie  der  Verfasser  in  Anm.  11  sagt?  Wenigstens  fan- 
den wir  sie  nicht  an  der  vom  Verfasser  zitierten  Stelle  bei  Grautoff.  Seine  Auf- 
fassung würden  wir  Bd.  I  S.  243ff. ,  besonders  S.  245,  nicht  S  251,  suchen  Und 
bei  Gramm  erschien  uns  S.  16  zur  Feststeilung  seiner  Ansicht  wichtiger  als  S.  76  ff. 
Außerdem:  Grautoffs  Auffassung  geht  tiefer  als  die  Gramms  (S.  16  mft  37)  und  steht 
in  ihren  entscheidenden  Momenten,  die  Grautoff  nach  der  formalen  Seite  hin  von 
der  heroischen  Landschaft  »ihre  vom  heroischen  Empfinden  beseelten  Formen,  ihre 
gleichsam  übermenschlichen  Dimensionen«  (S.  244)  hervorheben  und  nach  der 
psychologisch-ethischen  Seite  hin  betonen  lassen:  »Poussin  erkannte  sich  als  willen- 
losen Faktor  im  großen  Kausalzusammenhang  und  ordnete  alle  seine  Erkenntnisse 
und  subjektiven  Einsichten  dem  Allgefühl  vor  der  Natur  unter«  (S.  245)  dem  »von 
menschlichem  Affekt  getragenen  Landschaftsbild«  ferne.  Doch  auch  Gramms  vor- 
wiegend deduktiv  abgeleitete  Definition  scheint  uns  in  ihrem  ursprünglichen  Kern 
Steins  Auffassung  nahe  zu  stehen.  Nur  ermangelt  sie  wohl  der  letzten  Klärung: 
Gramm  will  Merkmale  vereinen  wie:  »in  all  ihren  Formen  das  Einfach-Klare,  Große 
und  Bedeutende  verkörpernd«  und:  das  »Hin- und  Herwogen  der  Stimmung«  wider- 
spiegelnd (S.  16). 

Es  mag  noch  angeschlossen  werden,  daß  der  Verfasser  außer  von  der  heroi- 
schen Landschaft  auch  von  der  historischen  bei  Koch  spricht.  Er  unterscheidet: 
Erste  historische  Landschaft.  Die  neue  heroische  Landschaft.  Zweite  historische 
Landschaft.  Es  ist  uns  das  als  innere  Gliederung  oder  als  Absetzung  der  einen 
Form  von  der  andern  in  der  Ausführung  nicht  verständlich  geworden.  Die  Be- 
merkungen auf  S.  33,  8")  greifen  nicht  durch.  Es  möchte  uns  scheinen,  daß  gerade 
an  diesem  Punkte  das  Übermaß  an  formaler  Analyse  oder  doch  das  teilweise  Aus- 
bleiben der  begrifftichen  Synthese  besonders  fühlbar  wird.  Die  Bemerkungen  {S.33 
mit  den  Anm.  43-45,  S.  92,  100,  102)  zu  dem  Begriff  des  Historischen  (ohne  Be- 
ziehung zum  Begriff  des  Heroischen)  sind  beachtenswert.  Bei  Feuerbach  (Brefe 
an  seine  Mutter  Bd.  I  S.  31:  aus  dem  Jahre  1845)  findet  sich  eine  interessante  Pa- 
rallele zu  Kochs  Auffassung,  wie  der  Verfasser  sie  (S.  33)  feststellt.  Im  »Ver- 
mächtnis. (S.  286  ff.  der  Ausgabe  von  1913)  erscheint  der  Begriff  wieder,  inhaltlich 
wie  formal  bereichert  und  vertieft. 

Es  ist  dem  Verfasser  sichtlich  darum  zu  tun  gewesen,  das  Psychische,  wenn 
auch  nicht  vom  Wesen  der  heroischen  Landschaft  auszuschließen,  so  doch  möglichst 
elementar,  möglichst  unpsychologisch,  d.  h.  möglichst  wenig  psychologisch  differen- 
ziert zu  fassen  und  in  den  Begriff  einzusetzen.  Die  Formanalyse  alsdann  ist  aus- 
gesprochen objektiv  gehalten:  es  ist  die  Rede  von  der  »klaren  Festigkeit  end- 
gültiger Formen,  die  ...  ihre  Gültigkeit  im  Sein  erweisen.«  Es  ist  das  wie  eine 
Erinnerung  an  Piaton,  den  baumeisterlichen  Mann,  wie  Goethe  ihn  einmal  nennt. 
Im  einzelnen  findet  sich  aber  doch  auch  manches,  das  psychologisch  angeschaut 
und  gut  gesehen  ist,  z.B.  Kochs  Künstlerfyp  nach  der  geistigen  Seite  hn  (S.  31). 
Dabei  die  feine  Bemerkung  aus  zweiter  Hand,  je  feiner  der  Mensch  geistig  fühlte 
und  lebte,  desto  abgestumpfter  würde  jener  elementare  Sinn,  der  ihn  befähigte,  von 
dem  eigentümlichen  Leben  jeder  Form  berührt  zu  werden.  Oder  die  Parallele  mit 
Poussin,  bei  der  man  auch  an  Dürer  oder  Feuerbach  denken  mag:  »Poussin  sah  in 
der  Malerei  eine  geistige  Tat,  welcher  eine  umfassende  Bildung  den  BoJen  bereien 
half.    Für  solche  Künstler  ist  es  ein  Bedürfnis  an  den  Ideen  teilzuhaben,  die  ihre 


BESPRECHUNGEN.  231 


Zeit  bewegen,  und  wenn  ihre  Zeit  ihnen  ideenlos  erscheint,  so  fassen  sie  desto 
intensiver  das  Gedachte  und  Gebildete  gröBerer  Zeiten  auf-  (S.  31).  Von  Kochs 
Typ  nach  der  i<ünstlerisch-schaffenden  Seite  hin  sagt  der  Verfasser,  man  spüre,  »wie 
Koch,  oft  ungeschlacht,  durchaus  von  dem  ihn  bestimmenden  Eindruck  in  der  Land- 
schaft ausgeht,  daß  er  das  Gesetzmäßige  in  ihr  sieht,  auffaßt  und  in  schwerer  Weise 
sich  zum  i<ünstlerischen  Ausdruck  dieser  Gesetzmäßigkeit  durchringt«  (S.  68).  Ein 
andermal  (S.  88)  betont  er  »Kochs  phanlasievolle  Art,  wie  nach  Jahren  etwas  Oe- 
schautes  bei  ihm  wiiksam  wird«:  ein  echtes  Künstlerphänomen.  Von  Kochs  Alters- 
werken liest  er  als  Gesetz  ab,  »daß  typische  Gestaltung  durch  eine  Formel  niemals 
erzielt  werden  kann,  daß  zum  Gestalten  untrennbar  gehört  ein  stets  erneutes  Um- 
greifen des  Stoffs  von  einem  lebendigen  Zentrum  aus«  (S  89).  Der  entgetiengesetzfe 
Fall:  »Als  eigentliches  Movens  darf  Kochs  Bedürfnis  gelten,  dem  Druck  der  Formel 
auszuweichen,  worin  sein  Landschaftsgefühl  zu  erstarren  drohte«  (S.  40.  Damit  soll 
die  Hinwendung  zu  den  wilden  Formen  der  Natur  um  1800  erklärt  werden). 

Unmittelbar  wendet  sich  die  Betrachtungsweise  ins  Psychologische,  wenn  der 
Verfasser  sein  Problem:  Koch  und  die  heroische  Landschaft,  hineinverfolgt  in  die 
individuelle  geistige  Konstitution  des  verehrten  Meislers.  Aus  einer  doppelten 
Wurzel  und  nach  zwei  Seiten  hin  glaubt  er  Kochs  heroische  Landschaft  erklären  zu 
können.  Seine  Kraft  der  Gestaltung  leiiet  er  ab  von  der  besonderen  Art  seines 
Kunstsinnes:  »Koch  hat  die  provinzielle  Natur  zur  allgemeinen  machen  können,  weil 
in  ihm  der  Kunstsinn  rege  war,  der  aufs  Gültige  geht  und  der,  genährt  von  An- 
schauung, Werke  schafft  von  allgemeiner  Bestimmtheit  —  nicht  von  al'gemeiner 
Flauheit . . .«  (S.  87  f.;  dazu  noch  S.  23  f.  mit  der  bedeutsamen  Briefstelle).  Die  Tat- 
sache, daß  Koch  die  Landschaft  gerade  heroisch  auffaßte,  sieht  Stein  begründet  in 
Kochs  Mißtrauen  gegen  das  Fach,  wie  es  aus  dem  Worte  spricht:  »Wenn  die  Land- 
schafter über  die  Kunst  und  über  ihr  Fach  recht  nachdenken,  dann  ists  auch  aus 
mit  der  Landschafterei.  Die  Kunst  soll  eins  sein,  wie  die  Natur,  und  nicht  in 
Fächer  getrennt«  (S.  87.  Kochs  Abneigung  gegen  das  »Fach«  in  der  Kunst  spricht 
auch  aus  seiner  »Kunstchronik«,  z.  B.  S.  50,  15.  Ausg.  Carlsruhe  1834).  Die  Mög- 
lichkeit einer  realistischen  Landschaftsdarstellung  ist  aber  deswegen  nicht  als  für 
Koch  in  jedem  Betracht  ausgeschlossen  zu  denken.  Im  Hinblick  auf  das  Bild 
»Oberhasli«  und  seine  Baumzeichnung  betont  der  Verfasser  geradezu:  »Das  Wissen 
um  die  besondere  Form  hat  Koch  wie  nur  ein  Realist  der  Zeit  besessen  ...  er  ist 
ebenso  naturwahr,  wie  sie  aber  charakteristischer,  weil  er  das  nicht  Wesentliche  aus- 
zuschalten weiß  (S.  76  f ).  In  Kochs  psychischer  Struktur  war  dem  Sinn  für  die 
Einzelbildung  die  Potenz  die  das  Ganze  durchwaltende  und  gerade  das  Heroische 
fundamentierende  Gesetzlichkeit  zu  fassen  übergeordnet.  Aber,  viel  mehr  als  beim 
Denker  etwa,  wäre  gerade  beim  Künstler,  zumal  dem,  der  über  die  nature  morte 
hinaus  will,  die  psychische  Struktur  für  sich  nur  ein  Halbes.  Sie  verlangt  nach  der 
Technik,  dieses  Wort  nicht  bloß  im  Sinne  der  Übung  des  Handgelenkes  verstanden. 
Koch  selbst  erklärte:  »Wer  die  Welt,  das  Leben  und  die  Natur  nicht  durch  lange 
Studien  und  Erfahrungen  in  sich  verarbeitet  und  das  Verarbeitete  sich  ganz  pflichtig 
gemacht  hat,  der  wird  . . .  kein  Landschaftsmaler.«  Es  ist  das  ein  für  jede  Land- 
schaftsmalerei, ob  klassisch,  ob  impressionistisch,  ob  expressionistisch,  für  diese  viel- 
leicht noch  ganz  besonders,  wertvolles  Wort. 

»Weil  unsere  Zeit  wieder  zur  Gestalt  drängt,  stehen  ihr  Schellenberg  und  Koch 
so  nahe«  (S.  106).  Diese  »Nähe«  spürt  der  Beschauer  nahezu  körperhaft,  wenn  er 
in  der  neu  eingerichteten  Neuen  Pinakothek  in  München  vor  der  Wand  mit  den 
drei  »Koch«  steht:  »Landschaft  mit  Regenbogen«  (in  der  Mitte),  »Schniadribach« 
(rechts),  »St.  Georg«  (links).    Man  ist  geradezu   betroffen  von  dem  Eindruck,  wie 


232  BESPRECHUNGEN. 


stark  und  lebendig  der  alte  Koch  wirkt.  Das  wirklich  Unwesentliche  an  den  Bildern 
fällt  von  selbst  ab.  Dazu  gehört  die  Figurenstaffage  und  das  Kolorit  der  Figuren. 
Nicht  aber  die  Gestaltung  des  Landschaftscharaklers  mit  ihrem  Flächenaufbau  in 
Linie  und  Farbe.  Vor  allem  die  Farbe:  Sie  gemahnt  an  entscheidenden  Stellen  in 
ihrer  Weichheit,  ihrem  verhaltenen  Leben  und  in  ihrer  Kraft  Flächen  zu  formen, 
die  von  innerem  Leben  bewegt  sind,  besonders  im  Bilde  mit  dem  St.  Georg,  an 
Cezanne.  Freilich  erreichen  durchaus  nicht  alle  Bilder  Kochs  diese  Höhe.  So  können 
wir  z.  B.  das  Bildchen  »Ziegelhütten  von  Olevano«  (Schackgalerie)  nicht  so  gut  fin- 
den wie  der  Verfasser  (S.  84).  Es  ist  doch  im  ganzen  farbig  hart  und  im  Aufbau 
gestückt.  Es  mag  dies  als  Beispiel  dienen,  wie  doch  auch  den  Verfasser  die  Kon- 
zentration auf  seinen  Gegenstand  da  und  dort  zu  einer  leisen  Wertsteigerung  ge- 
führt hat.  Es  ist  natürlich,  daß  dabei  die  Kritik  am  verehrten  Meister  doch  nicht 
fehlt  (z.  B.  S.  93f.,  96,98,  aber  auch  schon  S.  39,  48).  Mit  dem  Urteil:  »dem 
Deutschrömer  Koch  . . .  ist  gelungen  was  keinem  vor  und  nach  ihm  gelang:  sie 
(=  Hochgebirgslandschaft  des  Obersteinbergs)  bildhaft  zu  gestalten«  (S.  81),  streift 
der  Verfasser  das  Problem  der  Gebirgsmalerei.  Es  hätte  sich  wohl  empfohlen 
darauf  einzugehen,  um  die  Leistung  Kochs  am  Problem  zu  messen  und  die  Lösung 
des  Problems  hinwiederum  vom  Werke  Kochs  aus  zu  versuchen.  Daß  der  Ver- 
fasser gerade  in  diesem  Zusammenhang  Koch  als  Deutschrömer  ansprechen  kann 
ist  noch  von  spezieller  Bedeutung.  »Deutschrömer«  hat  sonst  keinen  so  starken 
Klang:  man  wollte  ihrer  Kunst  keine  solche  Erdennähe  und  erobernde  Kraft  zu- 
trauen. 

Als  Standort  für  »St.  Georg«  muß  jetzt  Neue  Pinakothek  München  angegeben 
werden,  nicht  mehr  Galerie  Augsburg  (Verzeichnis  der  Tafeln).  Außer  den  drei 
genannten  Bildern  besitzt  die  Neue  Pinakothek  noch  ^  Diana  und  Aktaeon«  (in 
Hochformat,  nicht  die  Fassung,  die  auf  Tafel  II  abgebildet  ist)  und  »Italienisches 
Winzerfest«. 

München.  Georg  Schwaiger. 


n 


I 


Schriftenverzeichnis  fär  1Q19. 

Zweite  Hälfte. 

I.  Ästhetik. 

1.  Geschichte  und  Allgemeines. 

Immisch,  O.,  Das  Nachleben  der  Antike.  X,  64  S.  Das  Erbe  der  Alten.  N.  F. 
I.Heft.    Leipzig,  Dieterichsche  Verlagsh.    3.50  M. 

Lach,  R.,  Mozart  als  Theoretiker.  lV\it  2  Tafeln.  100  S.  Denkschriften  der  Akad. 
d.  Wiss.  in  Wien.    Phil.-hist.  Klasse.  61.  Bd.  1.  Bch.    A.  Holder  in  Komm.    25  M. 

Oiese,  F.,  Der  romantische  Charakter.  I.  Bd.  Die  Entwicklung  des  Androgynen- 
problems  in  der  Frühromantik.  VIH,  466  S.  gr.  8°.  Langensalza,  Wendt  u.  Klau- 
well.   15  M. 

Michel,  E.,  Der  Weg  zum  Mythos.  Zur  Wiedergeburt  der  Kunst  aus  dem  Geiste 
der  Religion.    139  S.  8».    Jena,  E.  Diederichs. 

2.   Prinzipien  und   Kategorien. 

Vischer,  Fr.  Th.,  Das  Schöne  in  Natur  und  Geschichte.  Eine  Auswahl  aus 
Vischers  »Ästhetik«.  Herausgeg.  von  A.  Buchenau.  360  S.  Deutsche  Bibliothek. 
126.  Bd.  kl.  8°.    Berlin,  Deutsche  Bibl.    3  M. 

Dilthey,  W.,  Das  Erlebnis  und  die  Dichtung.  6.  Aufl.  VII,  476  S.  8*.  Leipzig, 
B.  G.  Teubner.    9  M. 

Klinger,  M.,  Malerei  und  Zeichnung.  Inselbücherei.  Nr.  263.  48  S.  Leipzig,  Insel- 
verlag.   1 .20  M. 

Graut  off,  O.,  Formzertrümmerung  und  Formaufbau  in  der  bildenden  Kunst.  86  S. 
und  32  S.  Abb.  gr.  8«.    Berlin,  Wasmuth.    8  M. 

Adler,  Q.,  Die  Methode  der  Musikgeschichte.  IV,  222  S.  gr.  8".  Leipzig,  Breit- 
kopf &  Härtel.    16  M. 

Biehic,  J.,  Raum  und  Ton.    Zeitschr.  f.  Musikwiss   2.  Jahrg.  S.  129—140. 

Becking,  G.,  »Hören«  und  »Analysieren«.  Zeitschr.  f.  Musikwiss.  1.  Jahrg.  S.  587 
bis  603. 

Storck,  K.,  Der  Tempel  der  Kunst.    25  S.  gr.  8».    Regensburg,  G.Bosse.    0.80  M. 

3.  Kunst    und   Natur. 

Meyer,  H.,  Natur  und  Kunst  bei  Aristoteles.  Studien  für  Geschichte  der  Kultur 
des  Altertums.    10.  Bd.  2.  Heft.    Paderborn,  F.  Schöningh.    9  M. 

Traumann,  E.,  Eriebnis  und  Dichtung  in  Goethes  »West-östlichem  Diwan«.  Deut- 
sche Revue.  44.  Jahrg.  S.  167—174  u.  274-283. 

Bücher,  K.,  Arbeit  und  Rhythmus.  5.  verb.  Aufl.  Mit  26  Abb.  auf  14  Taf.  XII, 
517  S.  gr.  8".    Leipzig,  E.  Reinicke.    16.80  M. 

Duvals  Grundriß  der  Anatomie  für  Künstler.  Deutsche  Bearb.  von  E.  Gaupp. 
5.  Aufl.  Mit  4  Tafeln  und  108  Textabb.  XII,  321  S.  gr.  8».  Stuttgart,  F.  Enke. 
16  M. 


234  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 


4.  Ästhetischer  Eindruck. 
Koffka,  K.,  Beiträge  zur  Psychologie  der  Gestalt.    I.  Bd.  VII,  324  S.  mit  Fig.  gr.  8». 

Herausgeg.  J.  A.  Barth.    12  M. 
Werner,   H.,   Rhythmik,   eine   mehrwertige  Oestaltenverkettung.    Zeitschr.  f.  Ps. 

Bd.  82.  S.  198—218. 
Wjngender,  P.,  Beiträge  zur  Lehre  von  den  geometrisch-optischen  Täuschungen. 

Zeitschr.  f.  Ps.  Bd.  82.  S.  21— 66. 

II.  Allgemeine  Kunstwissenschaft. 

1.  Das  künstlerische  Schaffen. 

Seitz,  F.,  Künstler  und  Dichter.    Die  Tat.  11.  Jahrg.  S.  602-613. 
Hof  mann,  E,  Künstlertum  und  Politik.    Nord  und  Süd.  44.  Jahrg.  S.  84— 90. 
Lüljeharms,  J.  F.,  Genie  —  Entwicklung.    3.  Tl.  8».    Kassel,  Lütegia-Verlag.  (Leip- 
zig, Carl  W.  Schulze.)   307  S.    12  M. 

2    Anfänge  der  Kunst. 

Schäfer,  H.,  Von  ägyptischer  Kunst,  besonders  der  Zeichenkunst.  Eine  Einfüh- 
rung in  die  Betrachtung  ägyptischer  Kunstwerke.  2  Bde.  XII,  203  S.  und  III, 
S.  205—251  mit  Abb.  und  54  Tafeln,  gr.  8".     Leigzig,  J.  C  Hinrichs.    18  M. 

With,  K.,  Buddhistische  Plastik  in  Japan  bis  in  den  Beginn  des  8.  Jahrhunderts 
n.  Chr.  2  Bde.  Lex.  8».  Wien.  Kunstverl.  A.  Schroll  &  Co.  Textb.  28  Abb.  auf 
8  Tafeln.  207  S.  —  Tafelb.  mit  224  Tafeln. 

Achelis,  H.,  Der  Entwicklungsgang  der  altchristlichen  Kunst.  Mit  5  Tafeln 
47  S.  8°.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer.    2  M. 

Springer,  A.,  Handbuch  der  Kunstgeschichte.  II.  Frühchristliche  Kunst  im  Mittel- 
alter. 10 ,  umgearb.  Auflage.  Bearbeitet  von  J.  Neuwirth.  Mit  732  Abb.  im  Text 
und  14  Farbendr. -Tafeln.    X,  525  S.  Lex.  8".    A.  Kröner.    15  M. 

3.  Tonkunst  und  Bühnenkunst. 

Riemann,  H.,  Grundriß  der  Musikwissenschaft.  3.,  verm.  u.  verb.  Aufl.  156  S. 
Wissenschaft  und  Bildung.    34.  Bd.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer.    2.50  M. 

Marquardt,  R.,  Der  Harmonielehrer.  Ein  Lehrbuch  der  Harmonie,  hervorge- 
gangen aus  einer  langjährigen  Praxis.  3.,  verb.  Auflage.  VIII,  298  S.  gr.  8'. 
Berlin,  A.  Parrhysius.    Pappb.  9.50  M. 

K  r  e  h  1 ,  S.,  Die  Dissonanz  als  musikalisches  Ausdrucksmittel.  Vortrag.  Zeitschr. 
f.  Musikwiss.   1.  Jahrg.  S.  645— 654. 

Cahn- Speyer,  R.,  Handbuch  des  Dirigierens.  VIII,  284 S.  gr.  8".  Leipzig,  Breit- 
kopf &  Härtel.    15  M. 

Heuß.A.,  Kammermusikabende.  XXIV,  152  S.  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.  Musik- 
bücher.   4.50  M. 

Kretzschmar,  H.,  Führer  durch  den  Konzertsaal.  L  Abt.  5.,  neu  durchges.  Auf- 
lage.   VII,  864  S.    Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel     25  M. 

Kretzschmar,  H.,  Geschichte  der  Oper.  VI,  286  S.  Kleine  Handbücher  der  Musik- 
geschichte nach  Gattungen.    Bd.  6.    Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.    14  M. 

Riemann,  H.,  Handbuch  der  Musikgeschichte.  I.  Bd.  Altertum  und  Mittelalter. 
1.  Teil:  Die  Musik  des  Ahertums.  2.,  verb.  u.  verm.  Auflage.  XVI,  276  S.  Leip- 
zig, Breitkopf  &  Härtel.    15  M. 

Riemann,   H.,  Kleines   Handbuch  der  Musikgeschichte.    3.,  durchges.  Auflage. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919.  235 


XI,  296  S.    Handbücher  der  Musiklehre.   2.  Bd^Xeipzig,  Breitkopf  &   Härtel. 

7.50  M.  ^k 

Nohl,  L,  Allgemeine   Musikgeschichte.    NeubeartM^^H  fortgeführt  von  M.  Chop. 

478  S.    Redams  Univ.-Bibl.  N.  1511-1513a,  b.      ^* 
Weinmann,  K.,  Das  Konzil  von  Ttient  und  die  Kirchenmusik.    IX,  155  S.    Leipzig, 

Breitkopf  &  Här.els  Musikbücher.   8". 
Chrysander,  Fr.,  O.  F.  Händel.    1.,  2.  u.  3.  Bd.  1.  Hälfte,  unveränderte  Auflage. 

gr.  8».    Leipzig,  Breilkopf  &  Härtel.    12  M.  u.  6  M. 
Frimmel,  Th.,   Ludwig  v  Beethoven.    5.,   verm.  u.  verb.  Aufl.    109  S.   mit  Abb. 

Berlin,  Schles.  Verl.  Anstalt.    14  M. 
Huschke,  K.,   Beethoven  als  Pianist  und  Dirigent.    102  S.  8».    Berlin,  Schuster  ft 

Loeffler.    2.50  M. 
Waechter,  E.,  Musikkritische  Gedanken.    I.Teil.  Fr.  Schuberts  Liederzyklus  »die 

schöne  Müllerin«.    Eine  analytisch-kritische  Studie.  37  S.   Leipzig,  C.  F.  W.  Siegel. 

3  M. 
Hirschberg,  L,  Die  Kriegsmusik  der  deutschen  Klassiker  und  Romantiker.    XV, 

271  S.  gr.  8».    Berlin,  Gh.  F.  Vieweg.    17.50  M. 
Reimann,  H.,  Johannes  Brahms.    5.  Aufl ,  durchges.  und  ergänzt  von  Br.  Schrader. 

136  S.  mit  Abb.    Berlin,  Schles.  Verl.-Anstalt.    14  M. 
Da h m s,  W.,  Mendelssohn.   202  S.  gr.  8».    Berlin,  Schuster  ft  Loeffler.    6  M. 
Lange,   F.,  Joseph  Lanner  und  Johannes  Strauß.    Ihre  Zeit,   ihr  Leben  und  ihre 

Werke.   2.  Auflage.  197  S.  mit  Abb.  8  Tafeln  und  2  Faks.  8".   Leipzig,  Breitkopf  & 

Härtel.    4.50  M. 
Weißmann,  A.,  Chopin.    3.  u.  4.  Aufl.  187  S.  gr.  8'.    Berlin,  Schuster  &  Loeffler. 

5  M. 
Istel,  E.,  Nicolo  Paganini.    60  S.    Breitkopf  &  Härteis  Musikbücher. 
Stefan,  P.,   Die  Feindschaft  gegen  Wagner.    Eine  geschichtliche  und  psycholo- 
gische Untersuchung.    84  S.  gr.  8".    Regensburg,  G.  Bosse.    2.40  M. 
Batka,  R,  R.Wagner.    2.  verb.  Auflage.  128  S.    Berlin,  Schles.  Verl.-Anstalt.    14  M. 
Schmid,  O.,  R.Wagners  Opern-  und  Musikdramen  in  Dresden.    42  S.  und  14  3. 

Abb.  8».    Dresden,  O.  Laube.    3.60  M. 
Seiling,   U.,  Die  Musik  im  Kunstwerk  R.Wagners.    87  S.  8".    München,  Hans- 
Sachs-Verlag.    4.50  M. 
Glasenapp,  C.  F.,  Siegfried  Wagner  und  seine  Kunst.   Ges.  Aufs.  N.  F.  II.  Sonnen- 
flammen.   VIII,  130  S.  Lex.  8».    Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.    12  M. 
Specht,   R.,   Richard  Strauß,   Die   Frau  ohne  Schatten.    Thematische  Einführung. 

150  S.  und  2  Tafeln,  kl.  8".    Berlin,  A.  Fürstner.    2.50  M. 
Bekker,  P.,  Franz  Schreker.    Studie  zur  Kritik  der  modernen  Oper.    1.  u.  2.  Taus. 

62  S.  8».    Berim,  Schuster  8t  Loeffler.    2.40  M. 
Bekker,   P.,  Neue  Musik.    Tribüne  der  Kunst  und  Zeit.   6.  Heft.  80  S.    Berlin, 

E.  Reiß.    2  60M. 
Storck,  K.,  Die  Musik  der  Gegenwart.    192  S.  Lex.  8*.    Stuttgart,  Muth.    8  M. 


Bach-Jahrbuch.    15  Jahrg.  1918.    Herausgeg.  von  A  Schering.    Veröffentlichungen 

der  neuen  Bach-Gesellschaft.    III,  156  S.  und  1  Tafel.  8".    Leipzig,   Breitkopf  & 

Härtel.    Halbleinwandbd.  10  M. 
Jahrbuch   der   Musikbibliothek    Peters   für  1918.     Herausgeg.  von  R.  Schwartz. 

25.  Jahrg.   VIII,  106  S    Lex.  8».    Leipzig,  C.F.Peters.    4M. 
Olück-Jahrbuch.    4.  Jahrg.  1918.    Im  Auftrag  der  Glück-Gesellschaft  herausgeg. 

von  Herrn.  Abert.  V,  172S.  8".  Leipzig,  Breitkopf  &  Härtel.  Halbleinwandbd.  10  M. 


236  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 


Rötscher,  H.  Th.,  Die  Kungfader  dramatischen  Darstellung.  Mit  einem  Geleitwort 
von  O.  Walzel.    XVI,  2tJft_ex.  8°.    Berlin,  C.  Reiß.    12  M. 

Winds,  H.,  Die  Technik  dflechauspielkunst.  Mit  14  Abb.  im  Text.  2.,  neu  bearb. 
Auflage.  207  S.    Dresden,  H.  Minden.    8  M. 

Lange,   K.,   Die  Illusion  im  Theater.    Kunstwart.  32.  Jahrg.  S.  107— 111.  150—154. 

Levy,  H.,  Das  Erzieherische  der  Theaterdekoration.  Das  junge  Deutschland. 
2.  Jahrg.  S.  223-227. 

Jolles,  A.,  Von  Schiller  zur  Gemeinschaftsbühne.  XII,  136  S.  mit  Abb.  8".  Leip- 
zig. Quelle  &  Meyer.    4.40  M. 

Krauß,  R.,  Klassisches  Schauspielbuch.  Ein  Führer  durch  den  Theaterspielplan 
der  älteren  Zeit.    390  S.  kl.  8».    Stuttgart,  Muth.    6  M. 

Genast,  E.,  Aus  Weimars  klassischer  und  nachklassischer  Zeit.  Erinnerungen 
eines  alten  Schauspielers.  Neu  herausgeg.  von  R.  Kohlrausch.  5.  Aufl.  323  8. 
Memoirenbibl.  2.  Reihe.  5.  Bd.    Stuttgart,  R.  Lutz.    7  M. 

Eulenberg,  H.,  Mein  Leben  für  die  Bühne.  IX,  403  S.  8".  Berlin,  Br.  Cassirer. 
8.50  M. 

Winds,  A.,  Quer  über  die  Bühnen.    181  S.    Berlin,  Schuster  &  Loeffler.    5  M. 


Pordes,  V.,  Das  Lichtspiel.    Wesen,  Dramaturgie,  Regie.    161  S.  gr.  8".    Wien, 

R.  Lechner.    10  M. 
Porges,  F.,  Fünfzig  Meter  Kinoweisheit.    Aus  der  Werkstatt  eines  Erfahrenen  über 

Filmdichtung,  Filmregie  etc.    84  S.  16*.    Wien,  K.  Harbauer.    1.50  M. 


Laban,  R.  v.,  Symbole  des  Tanzes   und  Tanz  als  Symbol.    Die  Tat.    11.  Jahrg. 
S.  669—675. 

4.  Wortkunst. 
K  r  e  1 1 ,  U. ,  Über   neue   Prosa.    2.  Auflage.    Tribüne  der  Kunst  und  Zeit.    Heft  7. 

80  S.    E.  Reiß,  Berlin.    2.60  M. 
Bahr,  W.,  Der  goldene  Schnitt  am  Sonnett.    Literarisches  Echo.  22.  Jahrg.  Sp.  281 

bis  283. 
Wol ff.  F.,  Der  Tanz  ums  Drama.    79  S.  kl.  8°.    München,  Delphinverl.    3  M. 
Gunkel,  H.,  Eine  hebräische  Meistererzählung.    Internat.  Monatsschrift.  14. Jahrg. 

Sp.  73-90.  155—168. 
Oelderblom,  E.,   Humor  in  den  Reden  Jesu?    Der  Türmer.  22.  Jahrg.  S.  34— 39. 
Brünnemann,  A.,  Die  Frau  als  Skizzenschreiberin.    Kunstwart.  32.  Jahrg.  S.  203 

bis  208. 
Burckhardt,  P.,  Die  Landschaft  in  Karl  Spittelers  »Olymp.  Frühling  .     Eine  kri- 

tisch-ästh.  Untersuchung  vornehml.  unter  dem  Gesichtspunkt  des  Laokoon-Pro- 

blems.    181  S.  gr.  8".    Zürich,  Rascher  &  Cie.    12  M. 
Schücking,  L.,  Die  Charakterprobleme  bei  Shakespeare.    Eine  Einführung  in  das 

Verständnis  des  Dramatikers.    XVI,  286  S.  8».    Leipzig,  B.  Tauchnitz.    5.50  M. 
Engel,  E.,  Shakespeare-Rätsel.    3.,  durchges.  Auflage.    142  S.  8*.    Leipzig,  F.  Brand- 

stetter.    3.50  M. 
Jahrbuch  der   deutschen   Shakespeare-Gesellschaft.     Herausgeg.   von   W.  Keller. 

55.  Jahrg.    VI,  242  8.  gr.  8".    Beriin,  Vereinigung  wiss.  Verleger.    11  M. 
Chamberlain,  H.  St.,   Goethe.    2.  Aufl.  2.  Hälfte.    Vlll,  848  S.  kl.  8».    München, 

Bruckmann.    12  M. 
Neubert,   F.,  Goethe   und   sein   Kreis.    Erläuterung  und  dargestellt  in  651  Abb.. 

XXX,  220  S.  mit  Abb.    Leipzig,  J.  J.  Weber.    Halbleinwandbd.  22.50  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919.  237 

Herold,  E.,  Jean  Paul  als  Oberfranke.    31  S.  kl.  8».    Wunsiedel.    1  M. 

Knecht,  F.,  Die  Frau  im  Leben  und  der  Dichtung  Fr.  Hebbels.  84  S.  Zürich, 
Rascher  &  Co.    7  M. 

Janssen,  H.,  Die  Frauen  rings  um  Hebbel.  Hebbel-Forschungen,  herausgeg.  von 
R.M.Werner  und  W.  Bloch-Wunschmann.  Nr.  8.  XIV,  144  S.  Beriin,  Behrs 
Verlag.    3  M. 

Spitteler,  C,  Gottfried  Keller.    Die  Tat.  11.  Jahrg.  S.  641— 650. 

Hochdorf,  M.,  Gottfried  Keller  im  europäischen  Gedanken.  Schweizerische  Bi- 
bliothek.   Nr.  14.  75  S.    2.20  iVl. 

Huber,  \X^,  Gottfried  Keller  und  die  Frauen.    82  S.  8°.    Bern,  F.  Wyß.    5  M. 

K  laiber,  Th.,  Gottfried  Keller  und  die  Schwaben.  111,  111  S.  8».  Stuttgart, 
Strecker  &  Schröder.    2.80  M. 

Kriesi,  H.  iVl.,  Gottfried  Keller  als  Politiker.  320  S.  gr.  8«.  Frauenfeld,  Huber  & 
Co.    Halbleinwandbd.  7.50  M. 

Eggert-Windegg,  W.,  Ed.  iVlörike.  2.,  neu  bearb.  Auflage.  VUl,  148  S.  8».  Stutt- 
gart, Strecker  &  Schröder.    3  50  M. 

Briefwechsel  zwischen  Th.  Storm  und  E.  Mörike.  iVtit  25  bisher  unveröffent- 
lichten und  17  weiteren  Beigaben.  Herausgeg.  von  H.  W.  Rath.  VIII,  100  S.  8*. 
Stuttgart,  J.  Hoffmann.    6  M. 

Schlosser,  S.  F.,  E.  v.  Wildenbruch  als  Kinderpsychologe.  47  S.  gr.  8".  Bonn, 
Rhenania-Veriag  (in  Komm.).    2  tA. 

Reik,  Th.,  Das  Werk  Beer-Hofmanns.    63  S.  8".    Wien,  K.  Löwit.    2  M. 

Meßleny,  R.,  Über  die  JVlystik  Rainer  JVtaria  Rilkes.  Die  Tat.  11.  Jahrg.  S.  661 
bis  669. 

Benz,  R.,  Das  Drama  Alfred  Momberts.    Die  Tat.  U.Jahrg   S.  522-530. 

Benz,  R.,  Über  Emil  Richard  Herrmann.    Die  Tat.  U.Jahrg.  S.  502-514. 

Meyer-Benfey,  Ilse  Frepan.  Norddeutsche  JVlonatshefte.  5.  Jahrg.  S.  21— 27.  69—74. 

Bartels,  A.,  Die  deutsche  Dichtung  der  Gegenwart.  9.,  stark  verm.  u.  verb.  Auf- 
lage.   XI,  708  S.  8».    Leipzig,  St.  Haessel.    10  JVl. 

5.   Raumkunst. 

Heuß,  Th.,  Phantasie  und  Baukunst.    Kunstwart.  32. Jahrg.  S.  17—20. 

JVlüller-Wulkow,  W.,  Aufbau  —  Architektur!  3.  Auflage.  Tribüne  der  Kunst  und 
Zeit.  4.  Heft.    Beriin,  E.  Reiß.   2.60  M. 

Eh  mann,  E.,  Der  neue  Baustil.    96  S.  mit  Abb.  8».    Stuttgart,  J.  Hoffmann.    5  JVl. 

Bosselt,  R.,  Probleme  plastischer  Kunst  und  des  Kunstuntenichts.  198  S.  mit 
139  S.  Abb.  gr.  8°.    Magdeburg,  K.  Peters.    40  M. 

Bergemann-Könitzer,  M.,  Erziehung  zur  Plastik.  Ein  Beitrag  zur  Methodik  des 
plastischen  Unterrichts.  S.-A.  aus  der  Zeitschrift  »Die  Plastik«.  Lex.  8'.  Mün- 
chen, G.  D.  W.  Callwey.    2  M. 

Bühlmann,  J.,  Die  Architektur  des  klassischen  Altertums  und  der  Renaissance. 
2.  u.  3.  Abt.  4.,  neu  durchges.  Auflage.    Eßlingen,  P.  Neff.   Je  27.50  M. 

Salis,  A.  V.,  Die  Kunst  der  Griechen.  Mit  68  Abb.  X,  298  S.  und  38  S.  Abb. 
Lex.  8".    Leipzig,  Hirzel.    16  M. 

Pagenstecher,  R.,  Über  das  landschaftliche  Relief  bei  den  Griechen.  3  Tafeln 
und  3  Abb.  im  Text.  Sitzungsberichte  der  Heidelberger  Akademie  der  Wiss. 
Phil.-hist.  Klasse.  Jahrg.  1919.  I.Abt.    Cari  Winter.    2.50  M. 

Dehio,  O.,  Geschichte  der  deutschen  Kunst.  I.  Bd.  (2  Teile.)  Lex.  8».  Beriin,  Ver- 
einigung wiss.  Verieger.  Des  Textes  I.  Bd.  VIII,  372  S.  Der  Abb.  I.  Bd.  484  S. 
mit  484  Abb.    12  M.  und  18  M. 


238  SCHRrFTENVERZEICHNIS  FÜR  1019. 

Dehio,  G.,  und   O.  v.  Bezold,   Die  Denkmäler  der  deutschen  Bildhauerkunst. 

15.  Lieferung   20  Tafeln  und  1  Blatt  Text.    Ber;in,  E.  Wasmuth.    30  M. 
Graf,  H.,  Altbayerische  Frühgotik.    Ein  Beitrag  zu  Bayerns  Bauergeschichte.    Mit 

mehr   als    180  Einzeldarstellungen   auf   17  Tafeln.    X,  151  S.   gr.  8".    München, 

P.  Pieper  &  Co.    5  M. 
Much,  H.,  Norddeutsche  Backsteingotik.    3.,  völlig  umgearb.  Auflage.   Mit  87  Tafeln. 

48  S.  87  S.  Abb.    Braunschweig,  O.  Westermann.    18  M. 
Stahl,  F.,  Danzig,  eine  deutsche  Stadt.    4  S.  mit  1  Abb.  und  13  Tafeln.    Wasmuths 

Kunsthefte.  5.  Heft.    Berlin.    3.60  M. 
Tietze-Conrat,   E.,  Die  Bronzen  der  fürstlich  Liechtensteinschen  Kunstkammer. 

96  S.  mit  75  Abb.  31  x  23,5  cm.    Wien,  Kunstverlag  A.  Schroll  &  Co. 

H  i  1  d  e  b  r  a  n  d ,  A.  v..  Über  Museen  und  Ausstellungsanlagen.  Südd.  Monatshefte. 
17.  Jahrg.  S.  81-84. 

Migge,  L.,  Großstadtfriedhöfe  als  Kulturmale.    Kunstwart.  32.  Jahrg   S.  150-158. 

Orässel,  H.,  Über  Friedhofsanlagen  und  Grabdenkmäler.  Mit  54  Abb.  4.,  umge- 
arbeitete und  vergrößerte  Auflage.  46  S.  Flugschriften  zur  Ausdruckskultur. 
Nr.  60.    München,  Q.  D.  W.  Callwey.    4  M. 

6.  Bildkunst. 
Ozenfant  et  Jeanneret,  Apres  le  cubisme.    Paris,   Edition  des  commentaires 

sur  l'art  et  la  vie  moderne,   kl.  8«.   1918.  60  S    5  Fr. 
Hildebrandt,  H.,  Der  Expressionismus  in  der  Malerei.    Vortrag.    27  S.    Stuttgart, 

Deutsche  Verlagsanstalt.    1.60  M. 
Woermann,  K.,  Geschichte  der  Kunst  aller  Zeiten  und  Völker.    2.,  neu  bearbeitete 

und  verm.  Auflage.   (Zu  6  Bdn.)  4.  Bd.  Die  Kunst  der  älteren  Neuzeit  von  .1400 

bis  1550.    Mit  337  Abb.  im  Text.  6  Tafeln  in  Farbendruck   und  59  Tafeln.    XVI, 

636  S.  Lex.  8».    Leipzig,  Bibl.  Inst.    28  M. 
Springer,  A.,  Handbuch  der  Kunstgeschichte.    5  Bd.    Die  Kunst  von  1800  bis  zur 

Gegenwart.    7.,  verb.  u.  verm.  Auflage.    Bearb.  von  M.  Osborn.    Mit  585  Abb.  u. 

16  Tafeln.    XVI,  504  S.    Leipzig,  Kröner.    15  M. 
Filow,  B.,  Die  altbulgarische   Kunst.    Mit  58  Tafeln  und  72  Abb.  im  Text.    VIII, 

88  S.    Bern,  R.  Hempl.    35  M. 
Reichold,  K.,  Skizzenbuch  griechischer  Meister.    Ein  Einblick  in  das  griechische 

Kunststudium   auf   Grund   der  Vasenbilder.    Mit  300  Abb.    III,   167  S.   Lex.  8». 

München,  L.  Bruckmann.    15  M. 
Stahl,  E.  K.,  Die  Legende  vom  blinden  Riesen  Christophorus  in  der  Graphik  des 

15.  und  16.  Jahrhunderts.    Textbd.  und  Tafelbd.  XII,  225  S.  und  63  Tafeln.   Mün- 
chen, J,  J.  Leutner,    100  M. 
Schmarsow,   A.,  Das  Franziskusfenster  in  Königsfelden   und  der  Freskenzyklus 

in   Assisi.    Berichte   über  die  Verhandl.  d.  sächs.  Akad.   der  Wiss.   zu   Leipzig. 

Phil.-hist.  Klasse.   71.  Bd.   3.  Heft.   38  S.    Leipzig,  B.  G.  Teubner.    1  60  M. 
Wölfflin,  H.,  Die  Kunst  Albrecht  Dürers.    3.,  durehgearb.  Aufl.    Mit  143  Abb.  und 

Tafeln.    X,  340  S.  Lex.  8".    München,  Bruckmann.    15  M. 
Schuritz,  J.,  Die  Perspektive  Alb.  Dürers.    50  S.  mit  36  Fig.  und  22  Tafeln.    Frank- 
furt a.  M.,  H.  Keller.    25  M. 
Wald  mann,  E.,  A.Dürer.    Mit  8  Vollbildern  nach   Gemälden.    94  S.  und  80  S. 

Abb.  8".    Leipzig,  Insel-Verlag.    8  M. 
Hagen,  O.,  Matthias  Grünewald.    Mit  111  Abb.  227  S.  Lex.  8".  München,  R.  Piper 

&  Co.    Halbleinwandbd.  45  M. 


SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919.  239 


I 


Mayer,  A.  L,  Matthias  Grünewald.  Mit  68  Abb.  auf  Tafeln.  87  S.  gr.  8».  Mün- 
chen, Delphin-Verlag.    9  M. 

Hausenstein,  W.,  Der  Isenheimer  Altar  des  Matthias  Grunewald.  111  S.  Lex.  8*. 
München,  W.  C.  F.  Hirth.    15  M. 

Kehrer,  H.,  P.  P.  Rubens.  Briefe  des  Künstlers  und  seine  Schrift  »über  die  Nach- 
ahmung antiker  Statuen. ;  gewählt  und  eingei.  Mit  80  Abb.  99  S.  8".  München, 
H.  Schmidt.    3.60  M. 

Sinimel,  O.,  Rembrandt.    2.  Aufl.   VIII,  208  S.    Leipzig,  K.  Wolff.    4M. 

Avenarius,  F.,  Rembrandt.    Kunstwart.   32.  Jahrg.  S.  63— 69. 

Smidt,  H.,  Deutsche  Romfahrer  von  Winckelmann  bis  Böcklin.  Neue  Titelausgabe: 
Ein  Jahrhundert  römischen  Lebens.  XV,  295  S.  Tagebuchblätter  und  Briefe. 
Leipzig,  Dyksche  Buchh.    6  M. 

Schmidt,  H.A.,  A.  Böcklin.  95  Tafeln  mit  40  S.  Text  u.  Abb.  Lex.  8".  München, 
F.  Bruckmann.    75  M. 

Wolf,  G.  J.,  Deutsche  Malerpoeten.  Mit  Text.  128  S.  mit  Abb.  und  Tafeln,  gr.  8». 
München,  F.  Bruckmann.    12  M. 

Waetzoldt,  W.,  Deutsche  Malerei  seit  1870.  Mit  58  Abb.  2.,  verm.  und  verb. 
Auflage.   IIOS.   Wissen  und  Bildung.    144.  Bd.    Leipzig,  Quelle  &  Meyer.   2.50  M. 

Pauli,  O.,  Paula  Modersohn-Becker.  Das  neue  Bild.  Bücher  für  die  Kunst  der 
Gegenwart.  Herausgeg.  von  C.  G.  Heise.  1.  Bd.  91  S.  58  S.  Abb.  1  färb.  Tafel. 
Leipzig,  Kurt  Wolff.    Pappbd.  16  M. 

West  he  im,  P.,  Das  Werk  Oskar  Kokoschkas.  Mit  62  Abb.  54  S.  und  57  8.  Abb. 
Lex.  8".    Potsdam,  G.  Kiepenheuer.    22  M. 

7.  Geistige  und  soziale  Funktion  der  Kunst. 

Neumann,  C,  Vom  Glauben  an  eine  kommende  nationale  Kunst.    Ansprache. 

16  S.  8«.    Heidelberg,  C.  Winter.    1.70  M. 
Boeck,   Chr.,   Literaturschäden.     Konservative    Monatsschrift.    77.  Jahrg.    S.  142 

bis  146. 
Malkowsky,  G.,  Die  bildende  Kunst  im  freien  Volksstaat.    Die  Einheitsschule 

und  die   Erziehung  zum   Schönen.    55  S.    Soziallsmus  und  Kultur,  4.  u.  5.  Heft 

Berlin,  Furche- Verlag.    1.60  M. 
Zeh,  G.,  Bildende   Kunst  und   Volksschule.    Betrachtungen  und  Vorschläge.    IV, 

58  S.  8».    Marburg,  Elwert.    1  M. 
Feld,  W.,   Bildende  Kunst  und  Arbeiterschaft.    Kunstwart.  32. Jahrg.   S.208-212. 
Flemming,  W.,  Über  Geschmackbildung  an  Mädchenschulen.    38  8.  Schaffende 

Arbeit  in  Kunst  und  Schule.   Beiheft.   1.  8".    Leipzig,  A.  Haase. 
Lütt  gen,  E.,   Die  Aufgaben  der  Kunst  Und  des  kunstgeschichtlichen  Hochschul- 

umerrichts.   56  S.  gr.  8».    Bonn,  K.  Schroeder.    2.50  M. 
Schmidt,  A.  M.,   Kunsterziehung  und  Gedichtbehandlung.    2.  Bd.  gr.  8».  2.  Auf- 
lage.   X,  422  S.    Leipzig,  J.  Klinkhardt.    12  M. 
Schering,   A.,  Musikalische  Bildung  und  Erziehung  zum   musikalischen  Hören. 

3.,  veränderte  Auflage.   132  S.   Wiss.  und  Bildung.  85.  Bd. 
Rosenbaum,  J.,  Die  bildende  Kunst  als  Beruf  im  neuen  Deutschland.    47  S.  gr.  8». 

Breslau,  Volkswacht- Verlag.    1.25  M. 
Sab,  J.,  Produzenienanarchie,  Sozialismus  und  Theater.    32  S.  kl  8«.    Beriin,  Öster- 

held  &  Co.    1.20  M. 
Lange,  K.,  Theater  und  Kino  im  neuen  Volksstaat.    Deutsche  Revue.    44.  Jahrg. 

S.  40-50.  264—274. 


240  SCHRIFTENVERZEICHNIS  FÜR  1919. 


8.  Neue  Zeitschriften  und  Sammelwerke. 

Der  AnbrucJi.  Flugblätter  aus  der  Zeit.  Herausgeg.  von  Otto  Schneider  und 
J.  B.  Neumann.  Jahrg.  1919.  In  zwanglosen  Heften.  1.  Heft.  16  S.  mit  Abb.  8». 
Berlin,  Oraph.  Kabinett  J.  B.  Neumann.   Je  1  M. 

Der  silberne  Spiegel.  Zeitschrift  für  neue  Kunst  und  Kritik.  Herausgeg.  von 
E.  Rothschild.  Juli  1919  bis  Juni  19'.i0.  12  Nrn.  Nr.  1  12  S.  mit  1  Abb.  Lex.  8«. 
Dresden.    Halbj.  6  M. 

Das  neue  Hamburg.  Wochenschrift  für  Politik,  Wirtschaft  und  Kultur.  Heraus- 
gegeben von  H.  Bubendey.    Viertelj.  6  M. 

Die  junge  Kunst.  Herausgeg.  von  W.  v.  Hanstein.  1.  Jahrg.  Juni  1919  bis  Mai  1920. 
Nr.  1.   16  S.    Berlin,  Leydecker  &  Co.  G.  m.  b.  H.    Je  1  M. 

Literarisch-musikalische  JVlonatshefte.  Bundesorgan  der  Vortragsgenossen- 
schaft deutscher  Schriftsteller.  Schriftleitung  G.  Carlheinz  Junker  und  K.  Martin. 
1.  Jahrg.  Juli  1919  bis  Juni  1920.  1.  Heft  12  S.  Weinböhla,  Verlag  Aurora. 
Viertelj.  1.50  M. 

Die  Kritik.  Zeitschrift  und  Sammelwerk  für  Theaterinteressenten.  Herausgeg. 
von  J.  V.  le  Suire.  Ausg.  A:  Schauspiel.  Ausg.  B:  Oper,  Operette,  Tanz.  1.  Jahrg. 
August  1919  bis  Juli  1920.  Nr.  1  24  bzw.  20  S.    Güstrow.    Viertelj.  je  15  M. 

Freie  deutsche  Bühne.  Herausgeg.  von  M.Epstein  und  E.  Lind.  1.  Jahrg. 
August  1919  bis  August  1920.   Nr.  1—9  220  S.  8".    Berlin.    Jähri.  25  M. 

Bühne  und  Volk.  Eine  Monatsschrift  für  alle  neuzeitlichen  Theaterfragen. 
Herausgeg.  von  A.  Kronacher  und  A.  Schmidt-Volker.  1.  Jahrg.  Oktober  1919  bis 
September  1920.   1.  Heft  40  S.  8».    Leipzig,  Rainer  Wunderiich.    Jährl.  12  M. 

Literatur,  Kunst  und  Kino.  Illustrierte  Halbmonatsschrift  für  Literatur,  Kunst, 
Bühne,  Film,  Mode,  Gesellschaft.  Hauptschriftleitung:  A.  Fritz.  1 .  Jahrg.  Okto- 
ber 1919  bis  September  1920.    Magdeburg,  Burg-Veriag.    Viertelj.  5.50  M. 

Der  deutsche  Film  in  Wort  und  Bild.  Eine  Kampfzeitschrift  für  deutsche 
Kinokunst  und  -technik.  Hauptschriftleitung:  H.  Distler.  1.  Jahrg.  Juli  1919  bis 
Juni  1920.  Nr.  1  16  S.  mit  Abb.  Lex.  8».  München.  Viertelj.  10  M.  (Durch 
K.  F.  Koehler,  Leipzig.) 


VII. 

Die  lyrische  Stimmung. 

Von 

Hans  Klaiber. 

Die  lyrische  Stimmung  in  der  Poesie  ist  der  Gegenstand  dieser 
Untersuchung.  Wir  versuchen  ihrem  Wesen  zuerst  dadurch  näherzu- 
kommen, daß  wir  sie  den  anderen  Künsten  gegenüber  abgrenzen  und 
dann  positive  Merkmale  zu  ihrer  Beschreibung  suchen.  Dabei  legen 
wir,  wie  aus  der  Fassung  des  Themas  zu  begreifen  ist,  allen  Nach- 
druck auf  die  Vorgänge  gerade  des  Gefühlslebens,  während  in  der 
Psychologie  der  Lyrik  sonst  vielfach  mehr  auf  die  Vorstellungsseite 
der  einschlägigen  Bewußtseinsvorgänge  eingegangen  wird.  Die  Not- 
wendigkeit und  Bedeutung  solcher  Untersuchungen,  wie  z.  B.  über  die 
Rolle  des  Ich  in  der  Lyrik  oder  ähnliche  Fragen,  soll  damit  in  keiner 
Weise  bestritten  werden.  Die  lyrische  Veranlagung  ist  nicht  auf  die 
Poesie  beschränkt,  man  spricht  von  Lyrikern  bei  Dichtern,  Musikern 
und  Malern,  weniger  überzeugend  bei  den  raumbildenden  Künsten  der 
Architektur  und  Plastik.  In  dieser  allgemeinen  Fassung  ist  Lyrik  eine 
Neigung  zum  subjektiven  Gefühlsausdruck,  zur  Stimmungsdarstellung, 
wobei  es  sich  um  Gefühle  ohne  Stoß-  und  Zugkraft  auf  unser  prak- 
tisches Wollen  handelt.  Wo  derlei  praktische  Wirkungen  beabsichtigt 
sind,  mischt  sich  die  Tendenz  in  die  reine  Kunst  ein.  So  nicht  selten 
in  der  vaterländischen,  kriegerischen  und  religiösen  Lyrik;  doch  blüht 
auch  auf  allen  drei  Gebieten  die  tendenzfreie,  reine  Kunst.  Eine  ge- 
reimte Predigt,  die  dogmatisch  belehren  oder  zu  sittlichem  Lebens- 
wandel anhalten  will,  ist  leicht  zu  unterscheiden  vom  Gefühlserguß 
einer  frommen  Seele,  die  in  demütiger  Hingabe  an  die  göttliche  Macht 
Genüge  findet,  oder  vom  pantheistischen  Hochgefühl  des  Sicheinsfühlens 
mit  dem  Weltgeist.  Die  patriotische  und  kriegerische  Dichtung  der  Befrei- 
ungskriege z.  B.  ist  vielfach  mit  politischen  und  militärischen  Tendenzen 
durchsetzt,  die  sachlich  ebenso  in  Ansprachen,  Aufrufen  und  Proklama- 
tionen der  Zeit  wiederkehren.  Doch  hat  sie  auch  die  Töne  einer  ab- 
sichtslosen, nur  sich  selbst  objektivierenden  Gefühlswelt  gefunden,  in 
der  opferwilligen  Hingabe  an  das  Ganze,  der  gläubigen  Ergebung  in 
den  Willen  des  Schlachtenlenkers,  in  der  wilden  Lust  an  Trompeten- 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenscha«.     XV  16 


242  HANS  KLAIBER. 

schmettern  und  Schwerterklang  oder  in  der  bangen  Todesahnung.  Ein 
Streben  wohnt  freilich  auch  diesen  Gefühlsvorgängen  inne,  das  aber 
nicht  über  ihre  ideale  Welt  in  das  wirkliche  Leben  hinausreicht;  es 
ist  der  Drang  zur  Objektivierung,  d.  h.  durch  sinnlichen  Ausdruck  gegen- 
ständlich zu  werden.  Dieser  Produktionsdrang  fehlt  dem  Träumer, 
der  sonst  in  der  allgemeinen  Richtung  seines  Phantasie-  und  Gefühls- 
lebens dem  Lyriker  nahesteht.  Auch  er  liebt  es,  statt  mit  tatkräftiger 
Hand  die  Zügel  seiner  Gedanken  und  Gefühle  zu  führen,  sich  ihrem 
Spiel  hinzugeben,  von  ihrem  Strom  sich  treiben  zu  lassen  und  auf  sein 
Innenleben  zu  horchen,  aber  es  fehlt  ihm,  abgesehen  von  der  Be- 
schaffenheit seiner  Gefühlserlebnisse,  der  künstlerische  Gestaltungs- 
trieb, sein  Innenleben  strebt  nicht,  nach  Ribots^)  treffendem  Ausdruck, 
sich  zu  materialisieren.  Wir  erleben  wohl  in  träumerischen,  dem  prak- 
tischen Leben  abgekehrten  Stunden  lyrische  Stimmungen,  aber  soweit 
wir  nicht  produktive  künstlerische  Begabung  besitzen,  entbehren  wir 
der  Fähigkeit  sie  in  adäquater  Form  gegenständlich  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Prüfen  wir  nun,  um  dem  Wesen  der  Lyrik  in  der  Poesie 
näherzukommen,  die  Anwendung  des  Begriffes  auf  andere  Künste. 
Am  wenigsten  ist  er  in  der  Architektur  üblich,  obwohl  er  in  der 
oben  gegebenen,  allgemeinsten  Fassung  auf  Baukünstler,  denen  die 
Erzielung  einer  bestimmten  Raumstimmung  am  meisten  am  Herzen 
liegt,  mit  gutem  Sinn  anzuwenden  wäre.  Unter  den  Plastikerri  gibt 
es  Naturen  von  entschieden  lyrischer  Richtung,  die  man  nicht  nur  an 
der  Wahl  der  Motive,  sondern  auch  an  Komposition  und  Linienführung 
erkennt.  Allerdings  kommt  der  Bildhauer  mit  seinen  Kunstmitteln  über 
eine  allgemeine  Andeutung  der  Stimmung  nicht  hinaus,  wenn  er  uns 
etwa  den  stillen,  dem  tätigen  Leben  entrückten  Seelenzustand  der 
Träumerei  in  Haltung  und  Ausdruck  vor  Augen  stellt.  Die  Herkunft, 
die  Formen  des  Ablaufs,  die  fein  unterschiedenen  Stufen,  mannigfaltigen 
Komponenten  und  gegenständlichen  Beziehungen  dieser  Seelenzustände 
wiederzugeben  ist  ihm  versagt.  Besser  stellt  sich  hierin  die  Malerei. 
Sie  hat  reichere  Mittel  zur  Versinnlichung  lyrischer  Stimmungen  in 
Linie,  Farbe  und  Licht  und  verwendet  sie  in  Einzelfiguren  und  Gruppen- 
bildern wie  in  der  Landschaft,  der  wir  unsere  Gefühle  leihen.  Auch  ist 
sie  imstande,  durch  Leitung  unseres  Blickes  vermittelst  der  genannten 
Wirkungen  gewisse  Beziehungen  zwischen  Personen  oder  zwischen 
Personen  und  Dingen,  Mensch  und  Natur  anzudeuten.  Durch  Ver- 
teilung von  Licht  und  Schatten,  Wahl  und  Abstufung  von  Färb-  und  Licht- 
werten und  Harmonien  vermag  sie  tiefer  in  die  Nuancen  unseres  Seelen- 
lebens einzudringen.  Aber  verglichen  mit  den  Künsten  der  Zeit  bleibt  der 


')  Ribot,  Die  Schöpferkraft  der  Phantasie.    Deutsch  von  Mecklenburg,  1002. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  243 


Maler  dabei  doch  in  groben  Umrissen  stecken.  Es  liegt  nun  einmal, 
dem  Futurismus  zum  Trotz,  im  Wesen  und  den  Grenzen  der  bildenden 
Künste,  daß  sie  das  zeitlich  im  Raum  Koexistierende  zum  Stoffgebiet 
haben.  Schon  in  der  Wiedergabe  der  materiellen  Bewegung  sind  ihnen 
enge  Schranken  gesetzt,  der  Seelenbewegung  stehen  sie  machtlos  gegen- 
über. Wie  ein  seelischer  Vorgang  durch  Ursachen  angeregt  und  in 
Fluß  gebracht,  durch  kreuzende  Motive  beeinflußt  und  etwa  nach 
anderen  Richtungen  abgelenkt  wird,  wie  ein  Gefühlszustand  durch  neu 
dazutretende,  einander  ablösende  Gefühlstöne  bereichert,  variiert  und 
schließlich  umgebildet  wird,  wie  eine  zuerst  noch  unbestimmte,  ver- 
schwommene Stimmung,  durch  Zerlegung  in  ihre  Komponenten  geklärt, 
zuletzt  voll  und  rein  erklingt,  wie  sich  zwischen  einem  fühlenden  Be- 
trachter und  der  umgebenden  Natur  Beziehungen  anspinnen,  die  in 
erotischen,  religiösen  oder  philosophischen  Gefühlen  ihren  Ausdruck 
finden,  wie  ein  uns  selbst  unbewußtes  oder  nur  dunkel  geahntes 
körperliches  Gemeingefühl  auf  unser  geistiges  Leben  ausstrahlt  und 
sich  im  Verlauf  des  Prozesses  in  ein  Schmerz-  oder  Wehmutsgefühl 
um  geistige  Werte  umsetzt,  —  wie  vermöchte  der  Maler  mit  Linien, 
Formen,  Farben  und  Lichtwirkungen  derlei  Erlebnisse  wiederzugeben? 
Kann  er  doch  in  der  Hauptsache  nur  die  Personen  und  Dinge  vor  uns 
hinstellen  und  die  zwischen  ihnen  laufenden  Beziehungen  lediglich  an- 
deutungsweise erraten  lassen.  Seine  Aufgaben  liegen  ja  auch  auf 
anderem  Feld.  Selbst  der  Landschaftsmaler  versagt  hiebei  gänzlich, 
so  gewiß  er  auch  in  all  den  Formen,  Farben-  und  Lichtwerten  seiner 
landschaftlichen  Gebilde  die  allgemeinen  Stimmungen  des  Heiteren, 
Düsteren,  Anmutigen,  Erhabenen,  Schwermütigen  u.  dgl.  ausdrücken 
kann.  So  bleibt  das  Reich  des  lyrisch  gestimmten  Malers  entsprechend 
den  Grenzen,  die  den  Raumkünsten  gezogen  sind,  deutlich  genug  dem 
Dichter  gegenüber  abgeschrankt.  Ihm  kommen  wir  wenigstens  in 
manchen  Beziehungen  mit  der  Musik  am  nächsten;  sie  ist  hervor- 
ragend befähigt,  in  zeitlicher  Folge  verlaufende  seelische  Entwicklung 
wiederzugeben,  und  hat  mit  der  sprachlichen  Kunst  nicht  nur  die  Mög- 
lichkeit gemein,  das  aufeinander  zu  beziehen,  was  in  zeitlich  aufeinander- 
folgender Darbietung  gegeben  wird,  sondern  auch  eine  Reihe  von 
Mitteln  in  der  Wiedergabe  seelischer  Abläufe.  Es  ist  bekannt,  welche 
Rolle  diese  musikalischen  Momente  in  einer  gewissen  Richtung  der 
lyrischen  Poesie  spielen.  Daß  ihre  Überschätzung  zu  einer  geistigen 
Verarmung  des  lyrischen  Erlebnisses  führen  kann,  bestätigt  wohl  am 
besten  die  Ansicht  jener  Franzosen,  die  vom  Dichter  nur  die  Geschick- 
lichkeit des  sprachlichen  Handwerkers  verlangten,  ohne  an  seine  geistige 
Bildung  höhere  Ansprüche  zu  stellen.  Für  ihn  (den  Dichter)  haben 
die  Worte  an  sich,  abgesehen  von  ihrem  Sinn,  eine  eigene  Schönheit 


244  HANS  KLAIBER. 


und  einen  eigenen  Wert  gleich  kostbaren  Steinen,  die  noch  nicht  ge- 
schliffen und  noch  nicht  in  Armspangen,  Ketten  und  Ringe  gefaßt 
sind.  Sie  entzücken  den  Kenner,  der,  aufmerksam  geworden,  sie  aus 
ihrem  Versteck  ans  Licht  zieht<  (Oautier).  Bei  manchem  dieser  Sprach- 
juweliere ist  die  Kennerfreude  am  Klangwert  des  Wortes  zur  Oleich- 
gültigkeit gegen  Sinn  und  Bedeutung  geworden,  so  daß  dem  Nicht- 
eingeweihten  ein  Verstehen  kaum  mehr  möglich  ist,  da  die  sprach- 
lichen Ausdrucksmittel  nicht  durch  den  Zusammenhang  der  Vorstel- 
lungen und  Gefühle,  sondern  durch  die  Forderungen  melodischer  und 
rhythmischer  Effekte  bestimmt  werden.  Wohl  ist  es  im  Wesen  der 
lyrischen  Kunst  begründet,  wenn  sich  der  Dichter  der  musikalischen 
Hilfsmittel  zum  Ausdruck  seiner  Oefühlserlebnisse  gern  bedient,  und 
es  kommt  seinen  Wirkungen  zustatten.  Aber  es  gab  und  gibt  Lyriker, 
bei  denen  das  musikalische  Element  stark  in  den  Hintergrund  tritt,  ja 
es  kann,  abgesehen  vom  Rhythmus  in  seiner  elementarsten  Form,  — 
davon  ist  später  ausführlicher  zu  sprechen  —  ganz  fehlen,  ohne  daß 
man  solchen  Gebilden  den  Charakter  echter  lyrischer  Stimmung  ab 
streiten  dürfte.  Es  ist  tatsächlich  möglich,  zum  mindesten  gewisse 
lyrische  Stimmungen  durch  entsprechende  Auswahl  und  Anordnung 
der  gefühlstragenden  Sprachvorstellungen  auch  ohne  sie  zu  erzeugen, 
mag  sich  auch  der  Dichter  dabei  erprobter  Hilfsmittel  begeben:  Das 
Wesen  der  lyrischen  Stimmung  ist  nicht  unbedingt  an  sie  gebunden, 
so  adäquat  sie  ihr  auch  sein  mögen.  Jedenfalls  führt  uns  eine  Be- 
trachtung der  Wesensunterschiede  zwischen  Musik  und  Sprachlyrik') 
besser  zum  Ziel  als  eine  Oleichsetzung  der  beiden  Künste  auf  Grund 
gewisser  Übereinstimmungen.  Dabei  muß  natürlich  die  absolute  Musik 
zugrunde  gelegt  werden,  nicht  etwa  Lieder-  oder  Opernkomposition; 
denn  in  diesen  Gattungen  hat  sich  bereits  ein  Kompromiß  zwischen 
Tonkunst  und  Sprachdichtung  vollzogen,  bei  dem  die  Musik  allerlei  Zu- 
geständnisse an  die  poetische  Form  auf  Kosten  ihres  Eigenwesens  macht. 
Wie  es  in  der  Lyrik  eine  musikalische  Richtung  gibt,  so  vertritt  umge- 
kehrt die  lyrische  Stimmung  nur  einen  Typus  des  Musikers  bzw.  ein  zeit- 
weiliges Verhalten  des  Tonkünstlers,  der  daneben  »auch  anders  kann  . 
Wollten  wir  den  lyrischen  Dichter  unter  einen  jener  Typen  künstlerischer 
Tätigkeitsformen,  wie  sie  z.  B.  Müller-Freienfels  aufgestellt  hat,  einreihen, 
so  müßten  wir  ihn  doch  wohl  zu  den  subjektiven,  rezeptiv-sensiblen 
Ausdruckskünstlern  rechnen,  wobei  innerhalb  der  Gattung  natürlich 
ein  mehr  oder  weniger  bei  den  einzelnen  Eigenschaften  möglich  ist 
und  je  nach  der  Vorliebe  für  Bewegung  oder  Zuständlichkeit,  für  geistige 


')  Vgl.  Th.  A.  Meyer,  Das  Stilgesetz  der  Poesie,  S.  207,  mit  der  Polemik  gegen 
Vischer. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  245 


Innerlichkeit  oder  äußere  Sinnlichkeit,  für  das  akustische  oder  visuelle 
Sinnesgebiet  usw.  Untertypen  zu  unterscheiden  wären.  Die  Zustände 
des  Subjekts,  die  inneren  Vorgänge  sind  ihm  alles,  äußere  haben  für 
ihn  nur  Bedeutung,  sofern  sie  seelisches  Leben  widerspiegeln  oder 
beeinflussen.  Ohne  Neigung,  selbst  in  den  Verlauf  der  Dinge  tätig 
einzugreifen,  Menschen  und  Zuständen  den  eigenen  Willen  aufzu- 
zwingen, lauscht  er  hingegeben  den  Schwingungen,  in  denen  das  emp- 
findliche Instrument  seiner  Seele  auf  äußere  Eindrücke  oder  innere 
Vorgänge  im  Gefühl  reagiert;  dieser  passiv-rezeptive  und  sensible 
Zug  eignet  dem  Wesen  des  geborenen  Lyrikers.  Sein  Schaffen  geht 
von  innen  nach  außen,  was  im  Innern  Erlebnis  geworden  ist,  sucht 
Ausdruck  in  einer  Form  zu  gewinnen,  die  in  gleichgestimmten  Seelen 
suggestiv  gleiche  Vorgänge  weckt,  während  beim  >Oestaltungskünstler« 
ein  zur  Verarbeitung  lockender  Stoff  den  Trieb  anregt.  Soweit  der 
echte  Lyriker  Objektives  in  sein  Werk  hineinzieht,  sind  es,  wie  Simmel 
von  George  sagt,  nur  die  verschiedenen  Rollen,  in  denen  seine  Seele 
sich  spielt.  So  treffend  diese  Charakterisierung  für  den  lyrischen 
Dichter  sein  mag,  so  ist  doch  klar,  daß  sie  für  den  Musiker  viel  zu 
eng  wäre.  Oft  genug  ist  es  gerade  ein  Tonmotiv,  das  durch  seine 
rhythmischen  oder  melodischen  Eigenschaften  den  Musiker  zum  Aus- 
spinnen reizt  und  seinen  tonbildnerischen  Sinn  anregt;  neben  den  sub- 
jektiven Naturen  gibt  es  auch  objektive  unter  den  Tonkünstlern,  denen 
es  weniger  um  den  Ausdruck  einer  inneren  Stimmung  als  um  die  Ver- 
wirklichung eines  nach  den  Gesetzen  der  Tonkunst  gebauten  Gebildes 
zu  tun  ist.  Ja  bei  einem  und  demselben  Komponisten  kann  je  nach 
der  musikalischen  Gattung  —  nennen  wir  etwa  die  Fuge  als  Aufgabe 
für  den  Gestaltungskünstler  —  bald  die  eine,  bald  die  andere  Schaffens- 
art vorwiegen.  Wichtiger  ist  uns  ein  zweiter  Unterschied.  Der  Zu- 
sammenhang zwischen  den  stimmungsanregenden  Vorgängen  (a),  dem 
Verlauf  der  Gefühle  (b)  und  ihrer  Verkörperung  in  mitteilbarer  Form 
(c)  ist  in  den  beiden  Künsten  grundverschieden.  Zunächst  ist  die  Be- 
ziehung zwischen  den  zwei  erstgenannten  Faktoren  (a  und  b)  in  der 
Musik  viel  weniger  bestimmt  faßbar  als  in  der  Dichtung  und  nicht 
nur  dem  Nacherlebenden,  sondern  auch  dem  Künstler  selbst  unbekannt 
oder  nur  dunkel  und  bruchstückweise  bewußt.  Die  verschiedenartigsten 
Erlebnisse  äußerer  und  innerer  Art  aus  Natur  und  Menschenwelt  wirken 
auf  den  Musiker  ein.  »Es  affiziert  mich  alles,  sagt  Schumann  von  sich, 
was  in  der  Welt  vorgeht,  Politik,  Literatur,  Menschen,  über  alles  denke 
ich  In  meiner  Weise  nach,  was  sich  dann  in  der  Musik  Luft  machen, 
einen  Ausweg  suchen  will.  Deshalb  sind  auch  viele  meiner  Kompo- 
sitionen so  schwer  zu  verstehen,  weil  sie  an  entfernte  Interessen  an- 
knüpfen, oft  auch  bedeutend,  weil  mich   alles  Merkwürdige  der  Zeit 


246  HANS  KLAIBER. 


ergreift  und  ich  es  dann  musii<aiisch  wieder  aussprechen  muß.«  Da- 
bei handelt  es  sich  nicht  etwa  um  ein  Transponieren  von  literarischen, 
politischen  und  anderen  Vorgängen  in  Musik,  sondern  nach  des  Kom- 
ponisten eigenen  Worten  nur  um  ein  affiziert  und  angeregt  werden. 
Jene  Vorgänge  wirken  auf  das  Gefühlsleben  des  Künstlers  und  er- 
zeugen in  ihm  Stimmungen,  die  in  ihren  Verlaufsformen  bereits  er- 
kennbare Beziehungen  auf  Vorstellungen  von  Tongebilden  und  Rhythmen 
haben,  hi  der  Verfolgung,  Klärung  und  Herausarbeitung  solcher  Be- 
ziehungen entsteht  dann  das  musikalische  Kunstwerk.  Wie  beim  Dichter 
die  Gefühle  in  sprachlicher  Form,  so  ringen  sie  beim  Musiker  in  Ge- 
stalt von  Tonvorstellungen  nach  Ausdruck  und  finden  für  ihre  Eigen- 
art durch  nichts  klarere  Versinnlichung  als  eben  durch  solche.  So 
verstehen  wir,  wenn  sich  Mendelssohn  gegen  eine  Textdichtung  zu 
seinen  Liedern  ohne  Worte  wehrte  mit  der  Begründung,  die  Musik 
definiere  besser  als  das  Wort  und  sie  durch  Worte  erklären  hieße 
sie  verdunkeln.  »Ich  glaube  nicht,  daß  Worte  dafür  genügen  und 
wenn  ich  vom  Gegenteil  überzeugt  wäre,  würde  ich  nicht  komponieren. 
Es  gibt  Leute,  die  die  Musik  der  Vieldeutigkeit  zeihen  und  meinen, 
Worte  verstände  man  immer.  Für  mich  ist  gerade  das  Gegenteil  wahr. 
Worte  erscheinen  mir  vag,  zweideutig,  unverständlich  im  Vergleich 
mit  wahrer  Musik,  welche  besser  als  die  Sprache  die  Seele  mit  tiefen 
Gefühlen  erfüllt.  Was  mir  die  geliebte  Musik  ausdrückt,  ist  mir  -eher 
zu  klar  als  zu  unklar,  um  es  durch  Worte  zu  erläutern.«  Auch  hier 
ist  offenbar,  daß  es  sich  nicht  um  das  Verhältnis  zwischen  den  an- 
regenden Umständen  (a)  und  der  Komposition  (c),  sondern  zwischen 
den  Gefühlseriebnisfen  (b)  und  ihrer  Verkörperung  in  Tönen  (c)  handelt. 
Das  Auf-  und  Abwogen,  Anschwellen  und  Nachlassen,  Spannung  und 
Lösung,  Erregung  und  Beruhigung,  Hinschmelzen  und  Aufraffen  und 
all  die  anderen  Stadien  und  Formen,  die  sein  Gefühl  durchläuft,  lassen 
sich  für  ihn  am  klarsten  und  treuesten  in  Tönen,  Rhythmen,  Melodien 
wiedergeben.  Während  nun  der  Dichter  die  Gefühlsvorgänge  in  sich 
selbst  dadurch  wiedereriebt,  daß  er  sich  jene  erregenden  Umstände  in 
Erinnerung  ruft,  und  in  uns  ein  Nacherleben  ermöglicht,  indem  er  jene 
Geschehnisse  oder  Zustände  in  suggestiver  sprachlicher  Form  schildert, 
braucht  der  Musiker  die  anregenden  Vorgänge  wie  z.  B.  Sonnen- 
untergang, Landschaftsbild,  Begegnung  mit  der  Geliebten  oder  dgl. 
überhaupt  nicht  in  das  Kunstwerk  hereinzuziehen.  Die  Zusammen- 
hänge zwischen  ihnen  und  seinen  nachmals  in  Musik  umgesetzten 
Stimmungen  brauchen  ihm  selbst  nicht  bekannt  zu  sein,  noch  weniger 
dem  Nacherlebenden.  Meist  wird  es  sich  nicht  um  zwei  parallel 
laufende  Prozesse  handeln  wie  bei  Gefühls-  und  Tonbewegung,  son- 
dern um   Anregungen,  Anstöße,  Assoziationen  der  Ähnlichkeit   und 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  247 


des  Gegensatzes.  Bei  dieser  Deutung  des  Mendelssohnschen  Selbst- 
bekenntnisses braucht  man  sich  also  kein  Gewissen  daraus  zu  machen, 
trotzdem  von  der  Vieldeutigkeit  oder  Unbestimmtheit  der  Musik  etwa 
im  Sinn  von  Dessoir^)  zu  sprechen,  der  die  hier  besprochenen  Unter- 
schiede so  formuliert,  daß  der  Maler  Darstellungsfähigkeit,  der  Dichter 
Ausdruckskraft  und  der  Musiker  Suggeriervermögen  besitze.  Die 
Schwäche  der  einzelnen  Künste  ist  eben  als  notwendiges  Korrelat 
zu  ihren  spezifischen  Wirkungsmöglichkeiten  zu  verstehen.  Der  wich- 
tigste Unterschied  zwischen  Musik  und  lyrischer  Poesie  ruht  schließ- 
lich in  der  Verschiedenheit  der  Darstellungsmittel:  beim  Dichter  die 
gefühlsdurchlränkte  Sprache,  beim  Musiker  das  nach  Dauer,  Höhe, 
Stärke,  Klangfarbe  und  harmonischen  Verhältnissen  abgewandelte  und 
zu  Einheiten  verarbeitete  Tonmaterial. 

In  der  Verschiedenheit  der  Darstellungsmittel  liegt  es  begründet, 
daß  selbst  da,  wo  Musik  und  Lyrik  sich  auf  gemeinsamem  Boden  treffen, 
noch  große  Unterschiede  walten.  Nicht  entfernt  kann  sich  der  sprach- 
liche Rhythmus  in  der  Poesie  an  Genauigkeit  der  Charakterisierung, 
Feinheit  der  Übergänge,  Reichtum  der  Abstufungen,  unmittelbar  packen- 
der Wirkung  auf  unsere  motorischen  Empfindungen  mit  dem  musi- 
kalischen messen.  Grundlegende  Gegensätze  wie  schwer-leicht,  ruhig- 
cregt,  geläufig-stockend,  rasch-langsam,  schaukelnd-gemessen  u.  dgl. 
vermag  der  sprachliche  Rhythmus  auszudrücken.  Wo  es  sich  aber 
um  feinere  Unterscheidungen  handelt,  muß  der  Dichter  gegenständliche 
Erinnerungen  an  entsprechende  Vorgänge  in  uns  wachrufen,  an  Be- 
wegungen belebter  oder  unbeseelter  Körper  wie  schreiten,  schweben, 
trippeln,  gleiten,  rollen,  wirbeln  usw.,  ohne  doch  die  sinnlich  packende 
Wirkung  des  musikalischen  Rhythmikers  zu  erreichen.  Die  Klänge 
der  Musik  sind  eben,  wie  Dessoir  in  dem  angeführten  Zusammenhang 
treffend  unterscheidet,  ein  gefügigeres  Material  für  rhythmische  Wir- 
kungen als  die  Worte  der  Sprache,  die  schon  Eigenwerte  an  Länge 
und  Kürze,  Haupt-  und  Nebenton  mit  sich  bringen  und  den  Dichter 
vor  die  Aufgabe  stellen,  »einen  metrischen  Rahmen  mit  einem  bereits 
rhythmischen  Material  auszufüllenc  In  der  Feinheit  der  Dynamik  wird 
selbst  der  geübteste  Vortragskünstler  sich  mit  dem  Musiker  in  keinen 
Wettstreit  einlassen  wollen.  Lustreize  der  Melodie  und  Klangfärbung 
fehlen  zwar  der  Sprache  nicht,  aber  die  Bedeutungsentwicklung  der 
Worte  ist  nicht  von  melodischen  Rücksichten  geleitet.    Will  also  der 


')  Dessoir,  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft  (1906),  sieht  in  der  Unbestimmt- 
heit der  musil<a!ischen  Oleichnissprache  ein  gefühlsmäßiges  Gegenstück  zum  Allge- 
meinbegriff. Die  Töne  geben  den  Kreis  an,  nicht  was  in  diesem  Kreis  an  bestimmten 
Vorgängen  sich  abspielt.  Hierfür  liefern  dann  programmatische  Andeutungen  des  Kom- 
ponisten über  seine  Anregungen,  seinen  Weckruf  eine  Ergänzung  und  Besonderung. 


248  HANS  KLAIBER. 


Dichter  sich  nicht  mit  einem  melodischen  Wortgekiingel  begnügen, 
sondern  einen  Sinn  ausdrücl<en,  so  muß  er  die  Worte  nach  der  Be- 
deutung wählen  und  der  musikalische  Reiz  kommt  für  ihn  erst  als 
wirkungverstärkendes  Moment  hinzu.  Kann  daher  der  Dichter  in  den 
musikalischen  Elementen  den  Wettbewerb  mit  dem  Tonkünstler  nicht 
aufnehmen,  so  hat  er  dafür  die  besonderen  Vorzüge  seines  sprach- 
lichen Vorstellungsmaterials  vor  ihm  voraus.  Auf  der  Grundlage  des 
Gemeingefühls  baut  er  eine  konkret  faßbare  Gefühlswelt  auf,  die  den 
weitesten  Kreis  unserer  geistigen  Interessen  in  sich  aufnehmen  kann. 
Natur  und  Menschenleben,  erotische,  philosophische,  religiöse  Vorstel- 
lungen —  alles  ist  dem  Lyriker  zugänglich,  die  Wechselbeziehungen 
zwischen  Zuständen  und  Vorgängen  in  der  äußeren  Natur  und  im 
Seelenleben  des  Menschen  sind  ihm  vor  anderen  vertraut.  Demgegen- 
über kommt  die  Musik,  wo  sie  statt  Gefühls-  und  Willensvorgängen 
äußere  Ereignisse,  Zustände  oder  gar  ursächliche  Zusammenhänge 
zwischen  solchen  schildern  will,  über  allgemeine,  unbestimmte  An- 
deutungen nicht  hinaus.  Selbst  überzeugte  Anhänger  der  Programm- 
musik können  nicht  behaupten,  daß  sie  zusammenhängende  Gescheh- 
nisse und  deren  kausale  Beziehungen  —  ohne  sie  bliebe  doch  ein 
größerer  Zusammenhang  unverständlich  —  mit  ihren  Mitteln  deutlich 
erfaßbar  mache.  Diesem  Vorstellungsreichtum  der  Lyrik  entspricht  der 
inhaltliche  Reichtum  der  Gefühlswelt.  Die  verwickeltsten  seelischen 
Zustände,  ihre  feinsten  qualitativen  Nuancen,  ihre  geheimnisvollen  Über- 
gänge, Schattierungen  und  Verschmelzungen  erleben  wir  da  in  einer 
Klarheit,  die  uns  ohne  die  Hilfe  des  lyrischen  Dichters  niemals  erreich- 
bar wäre.  Auch  der  Musiker  hat  z.  B.  sehnsuchtsvolle  Klänge,  aber 
ihnen  fehlt  die  gedankliche  Bestimmtheit.  Ist  es  die  Sehnsucht  nach 
der  fernen  Heimat,  nach  verlorenen  Lieben,  nach  entschwundenen  Idealen, 
nach  religiöser  Befriedigung  in  der  Unrast  des  Lebens,  ist  es  mehr  ein 
ungestilltes  Wünschen,  oder  ein  Ausmalen  der  lustvollen  Erinnerung, 
des  Vermissens,  ist  sie  strebend,  resignierend  oder  zum  Entschlüsse 
führend,  und  welche  Stelle  nimmt  sie  ein  in  der  Kette  der  seelischen 
Entwicklungen?  Erwächst  sie  aus  konkreten  Erinnerungen  an  vermißtes 
Glück,  ist  sie  aus  allgemeinem  Weltschmerz  geboren,  hat  sie  ihren 
Untergrund  in  der  Unlust  des  Gemeingefühls,  die  sich  allmählich  zu 
greifbaren  Gefühlsregungen  persönlichen,  nationalen,  religiösen  Cha- 
rakters abklärt?  Ist  sie  ein  Teilklang  unseres  seelischen  Akkordes, 
baut  sie  sich  aus  ihren  Komponenten  auf  oder  zerfließt  sie  im  Ab- 
lauf der  inneren  Vorgänge  in  ihre  Partialtöne,  um  schließlich  in  un- 
vermerkten Übergängen  in  einen  neuen  Seelenzustand  überzuführen? 
Mit  diesen  Fragen,  die  der  Musiker  mit  seinen  Mitteln  gar  nicht  be- 
antworten kann    und   will,    betreten   wir    das    ureigenste  Gebiet    der 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  249 


lyrischen  Stimmung  in  der  Poesie,  das  wir  seither  wesentlich  negativ 
durch  Abgrenzung  gegen  andere  Künste  umschrieben  haben. 

Dem  lyrischen  Dichter  eignet  vor  anderen  die  innere  Notwendig- 
keit und  Geschlossenheit  seiner  Oefühlserlebnisse,  die  sie  aus  allem 
auf  die  praktischen  Interessen  Bezüglichen  heraushebt  und  vor  der 
Durchkreuzung  durch  die  Zufälligkeiten  unserer  durch  äußere  Ein- 
drücke oder  aufsteigende  Erinnerungen  geweckten  Gedankenverbin- 
dungen bewahrt. 

Für  die  Charakterisierung  der  dem  Lyriker  eigenen  Oefühlserleb- 
nisse wird  man  immer  wieder  auf  die  in  ihrer  Art  unübertreffliche 
Schilderung  Diltheys')  zurückkommen  müssen.  »Den  lyrischen  Dichtern 
ist  gegeben,  den  stillen  Ablauf  innerer  Zustände,  der  sonst  vom  Ge- 
triebe der  äußeren  Zwecke  gestört  und  von  dem  Lärm  des  Tages  über- 
tönt wird,  in  sich  zu  vernehmen,  festzuhalten,  zum  Bewußtsein  zu  er- 
heben. Indem  sie  so  in  uns  selber  einen  Zusammenhang  inneren 
Lebens  wieder  aufrufen,  der  auch  in  uns  einmal  da  war,  aber  nicht  so 
stark,  nicht  so  eigen,  in  so  ungestörtem  Ablauf  und  so  mit  Bewußt- 
sein aufgenommen,  wird  ihre  Kunst  zum  Organ,  uns  im  Persönlichsten 
besser  zu  verstehen  und  unseren  Gesichtskreis  über  die  eigenen  Ge- 
mütserlebnisse hinaus  zu  erweitern.  Die  Genies  des  Gemüts  offen- 
baren einem  jeden  von  uns  seine  eigene  innere  Welt  und  sie  lassen 
in  eine  fremde,  die  uns  doch  auch  verwandt  ist,  hineinblicken  .  .  .  Das 
lyrische  Genie  liegt  zunächst  in  der  Eigenheit  des  lyrischen  Dichters, 
kraft  deren  er  diesen  inneren  Vorgang  nach  der  ihm  eigenen  Gesetz- 
lichkeit voll  und  rein  durchlebt,  ihm  ganz  hingegeben,  unberührt  von 
dem,  was  von  außen  diesen  gesetzlichen  Ablauf  stören  könnte  .  .  . 
Wie  ein  anfänglicher  Oefühlszustand  sich  in  seinen  Teilen  entfaltet  und 
schließlich  in  sich  zurückkehrt,  nun  aber  nicht  mehr  in  seiner  ersten 
Unbestimtheit,  sondern  in  der  Erinnerung  des  Verlaufs  zusammen- 
genommen zu  einer  Harmonie,  in  welcher  die  einzelnen  Teile  zusammen- 
klingen; wie  unser  Gefühl  anschwillt  und  dann  in  einer  Wendung  des 
seelischen  Verlaufs  langsam  sinkt;  wie  ein  Kampf  kontrastierender  Ge- 
fühle in  uns  sich  löst  oder  wie  der  höchsten  Steigerung  eines  allzu 
Schmerzlichen  die  Beruhigung  folgt.«  —  Zu  diesen  die  Verlaufsformen 
betreffenden  Zügen  kommt  also  noch  hinzu,  daß  der  Lyriker  die  Stim- 
mungen tiefer  und  intensiver  als  unsere  an  der  Oberfläche  verrauschen- 
den Gefühle  erlebt,  inhaltlich  reicher  und  dabei  doch  so  klar,  daß 
die  Teilgefühle  nicht  im  ganzen  unbemerkt  untergehen,  sondern  ihm 
eine  spezifische  Färbung  verleihen,  und  selbst  wenn  sie  zeitweise  in 
den  Unterströmungen  verschwunden  scheinen,  wieder  auftauchen.    Nur 


')  Dilthey,  Erlebnis  und  Dichtung  S.  372  ff. 


250  HANS  KLAIBER. 


diese  abgestufte,  vom  Dichter  erlebte  Mannigfaltigl<eit  ermöglicht  ihm 
bei  der  Objektivierung  seiner  Gefühle  in  sprachlicher  Form  die  Zer- 
legung der  Totalgefühle  in  ihre  Komponenten,  und  die  Klarheit  der 
inneren  Entwicklungslinien  verbürgt  die  Folgerichtigkeit  und  Ge- 
schlossenheit der  äußeren  Form.  Die  Forderung,  daß  die  Gefühlsvor- 
gänge ein  eigenartiges,  das  individuelle  Wesen  spiegelndes  Gepräge 
tragen  müssen,  stellen  wir  an  jedes  Kunstwerk;  es  ist  keine  Besonder- 
heit der  lyrischen  Poesie,  wohl  aber  bei  ihr  in  stärkster  Prägnanz  aus- 
gebildet. Dagegen  ist  für  den  Lyriker  neben  der  Gabe,  Gefühlszustände 
der  geschilderten  Art  zu  erleben,  ebenso  v/ichtig  die  Fähigkeit,  sie  in 
der  Erinnerung  klar  und  bestimmt  festzuhalten,  um  sie  beim  Objektivie- 
rungsprozeß gegenwärtig  zu  halten.  Das  will  nicht  wenig  besagen, 
wenn  man  bedenkt,  wie  flüchtig  uns  der  Verlauf  wechselnder  Stim- 
mungen zerrinnt,  wie  schwer  wir  über  gewisse  allgemeine  Erinnerungen 
hinauskommen.  Dem  Lyriker  ist  das  in  erster  Linie  dadurch  möglich 
gemacht,  daß  seine  Gefühle  schon  im  Augenblick  des  Erlebens  ge- 
wisse Beziehungen  auf  Sprachvorstellungen  (wie  beim  Musiker  auf 
Tonvorstellungen)  an  sich  tragen,  die  natürlich  im  Lauf  der  Ausarbei- 
tung sich  mehren  und  klären,  aber  doch  von  Anfang  an  der  Repro- 
duktion die  notwendigste  Hilfe  bieten.  Während  uns  sonst  bei  neu- 
artigen, noch  nie  erlebten  oder  komplizierten  Stimmungen  gerade  das 
Dunkle,  Verschwommene,  in  Worten  Unfaßbare  besonders  eindrücklich 
wird,  ist  dem  Lyriker  schon  in  der  Art  seines  Erlebens  die  erste  Möglich- 
keit geboten,  sie  sprachlich  zu  verständlichem  und  auf  einen  auch  auf 
andere  Personen  unmittelbar  wirkenden  Ausdruck  zu  bringen.  Geiger  i) 
spricht  von  einer  Tendenz  des  inneren  Bildes  zum  sprachlichen  Ausdruck, 
der  nicht  von  außen  an  dasselbe  herantritt,  sondern  sich  aus  ihm  selbst 
herausentwickelt  wie  die  Blüte  aus  der  Pflanze,  und  in  diesem  Sinn  läßt 
sich  auch  das  Wort  Hebbels  anführen:  »Das  erste  Stadium  der  Form 
ist  das  Wort,  in  dem  der  Gedanke  sich  verkörpern  muß,  um  nun 
selbst  zu  werden.«  Da  dem  Dichter  die  Phantasie  analoge  Vorgänge 
auf  dem  gleichen  oder  einem  anderen  Gebiet  des  körperlichen  und 
geistigen  Lebens  zur  Verfügung  stellt,  vermag  er  selbst  die  zartesten 
und  feinsten  inneren  Vorgänge  oder  die  im  Halbdunkel  des  Bewußt- 
seins ablaufenden,  für  unsere  Gesamtstimmung  so  überaus  wichtigen 
Organgefühle  noch  in  Worte  zu  fassen.  Was  gäbe  es  z.  B.  Feineres 
und  sprachlicher  Einkleidung  gegenüber  Empfindlicheres  als  das  Nach- 
zittern eines  vorübergerau sehten  lustvollen,  überwältigenden  Affektes 
und  wie  unmittelbar  packend  weiß  Hölderlin  in  seinem  »Sonnenunter- 
gang«  (»Wo  bist  du?  trunken  dämmert  die  Seele  mir  von  all  deiner 


')  E.  Geiger,  Beiträge  zu  einer  Ästhetik  der  Lyrik  1905. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  251 

Wonne«)  diesen  seelischen  Zustand  durch  einen  gefühlsverwandten  wie 
die  selige  Verzücktheit  des  Rausches,  die  Benommenheit  und  Um- 
nebeiung  des  Bewußtseins  im  halbwachen  Zustand,  das  hingegebene 
Lauschen  auf  den  Nachhall  eines  verklingenden  Saitenspieles  faßbar 
zu  machen!  Ermöglicht  wird  ihm  dies  durch  sein  reiches  Gefühlsleben, 
das  ihm  eine  fein  abgestufte  Leiter  von  Oefühlstönen  verfügbar  hält, 
die,  an  die  verschiedensten  Vorstellungen  geknüpft,  durch  die  Asso- 
ziation der  Ähnlichkeit  geweckt  werden.  Was  in  ihm  vorgeht,  läßt  die 
Saiten  seines  Inneren  erklingen  und  gemahnt  ihn  an  Erlebnisse,  die, 
in  der  Gefühlsbetonung  verwandt,  zur  Verdeutlichung  angezogen 
werden  können.  Dieser  Reichtum  an  qualitativ  und  in  den  Intensitäts- 
graden verwandten  Gefühlstönen  erklärt  es  ja  auch,  daß  bei  Künstlern 
die  Synästhesie  häufig  vorkommt,  jenes  Überfließen  der  Empfindungen 
über  die  Grenzen  ihres  Sinnesgebietes.  Zwar  die  Synästhesie  im 
streng  physiologischen  Sinn,  wobei  durch  eine  Sinnesempfindung  eine 
regelrechte  (subjektive)  Empfindung  auf  dem  Gebiet  eines  anderen 
Sinnes  ausgelöst,  also  ein  Ton  gesehen,  eine  Farbe  gehört  wird  u.  dgl., 
ist  keineswegs  notwendig.  Es  genügt,  wenn  die  Ähnlichkeit  der  Re- 
aktion unseres  Bewußtseins  auf  zwei  verschiedene  Erlebnisse  durch 
Reproduktion  zu  einer  mehr  oder  minder  innigen  Verkettung  derselben 
führt,  von  der  losen  Assoziation,  bei  der  beide  Vorgänge  deutlich  als 
getrennt  empfunden  werden,  bis  zur  engsten  Verwachsung.  Mit  Hilfe 
dieser  Gefühlsassoziation  gelingt  es  auch  dem  Dichter,  den  wichtigen 
Anteil  des  körperlichen  Gemeingefühls  in  Worte  zu  bringen.  Die 
Traumpsychologic  ')  lehrt  uns,  wie  stark  die  Organempfindungen  samt 
den  daran  geknüpften  Gefühlen  in  Zuständen,  wo  die  Leitung  des  Willens 
zurücktritt  oder  ganz  ausgeschaltet  ist,  auf  unsere  Phantasie  einwirken. 
Hunger,  Durst,  Übelkeit,  Störungen  des  Gemeingefühls  durch  schwere 
Atmung,  unbequeme  Lage  des  Leibes  oder  Schmerzen  einzelner  Körper- 
teile und  anderes  weckt  Vorstellungen  von  ähnlicher  Gefühlsbeto- 
nung. So  vermag  auch  der  Dichter  durch  Tätigkeits-  oder  Zustands- 
vorstellungen  von  entsprechender  Gefühlbetonung,  die  sich  ihm  beim 
Hinhorchen  auf  seine  inneren  Vorgänge  ungesucht  einstellen,  die 
Qualitäten  des  Gemeingefühls,  das  Gehobene  und  Gedrückte,  Leichte 
und  Schwere,  Freie  und  Beengte,  Aufstrebende  und  Gepreßte,  Kraft- 
volle und  Matte,  Gierende  und  Satte,  Ruhelose  und  Behagliche  usw. 
unserem  Mitempfinden  nahezubringen.  Ein  weiterer  Faktor  des  Ge- 
meingefühls, auf  den  Elsenhans  in  seiner  Psychologie  aufmerksam  macht, 
die  Reaktion  auf  die   verschiedene  Intensität  unserer  Empfindungen, 

')  Du  Prel,  Psychologie  der  Lyrik  1S80,  spricht  des  längeren  über  das  Traum- 
hafte der  künstlerisclien  Schöpfung,  ohne  aber  viel  Greifbares  aufzudecken.  Auch 
Vischer  hat  sich  an  verschiedenen  Stellen  dazu  geäußert. 


252  HANS  KLAIBER. 


kommt  im  praktischen  Leben  des  Alltags  selten  zu  bewußtem  Erfassen, 
spielt  aber  für  den  Gefühlsmenschen  eine  wichtige  Rolle.  Er  kennt 
die  Lust,  die  das  bewußt  zum  stärksten  Grad  gesteigerte  Sinnesempfinden 
begleiten  kann.  Wir  denken  an  G.  Kellers  >Trinkt,  o  Augen,  was 
die  Wimper  hält,  von  dem  goldenen  Überfluß  der  Welt«.  Das  Ein- 
saugen der  Sinnesreize  mit  allen  Poren,  das  genießende  Schlürfen,  das 
Ein-  und  Untertauchen  mit  der  Lust  des  Schwimmers  in  der  klaren, 
kühlen  Flut,  dieses  bewußte  Erstreben  einer  dargebotenen  Empfindung 
ist  unabhängig  von  ihrem  Inhalt  von  sinnlichen  Gefühlen  begleitet, 
die  für  unsere  gesamte  Stimmung  von  großer  Wichtigkeit  sind.  Noch 
häufiger  treffen  wir  entsprechend  dem  rezeptiven  Zug  im  Charakter 
des  Lyrikers  Gefühle,  die  ein  hingegebenes,  des  bewußten  Strebens 
bares  Aufnehmen  der  Eindrücke  bezeichnen.  Ihm  rinnen  und  gleiten, 
rauschen,  raunen  und  singen  die  Töne  ins  Ohr,  er  fühlt  sich  von 
Lüften  gestreift,  umfangen,  umflattert,  von  Düften  umwogt,  umwölkt, 
von  Dunkel  umhüllt,  vom  Fluß  umspült  und  angefühlt,  von  Licht  um- 
faßt, von  lebender  oder  toter,  aber  durch  die  einfühlende  Phantasie 
belebter  Natur  freundlich  angeschaut,  angelacht  oder  drohend  ange- 
starrt und  erlebt  die  Passivität  dieser  Zustände  zu  ihrem  Inhalt  hin. 
»Mein  Fluß«  von  Mörike  enthält  die  schönsten  Beispiele  dafür. 
»Er  fühlt  mir  schon  herauf  die  Brust;<  heißt  es  in  der  ersten  Strophe. 

»Die  Woge  ringet  aus  und  ein 
Die  iiingegebenen  Glieder: 
Die  Arme  hab  ich  ausgespannt, 
Sie  kommt  auf  mich  hinzugerannt, 
Sie  faßt  und  läßt  mich  wieder.« 

So  malt  mit  Rhythmus  und  Laut  die  zweite  das  Spiel  der  Wellen,  dem 
sich  der  Dichter  im  Geist  in  wohliger  Hingabe  überläßt.  Oder  in  der 
fünften  Strophe:  »Mit  Grausen  übergieße  mich!«  Mit  dem  Traumleben 
hat  die  Lyrik  die  Objektivierung  des  Gemeingefühls  im  Sinne  einer  Über- 
tragung auf  Gebilde  der  poetischen  Phantasie  gemein.  Mörikes 
»Um  Mitternacht «  überträgt  den  persönlichen  Zustand  einer  müde  hin- 
gelehnten Träumerei,  bei  der  man  rein  passiv  und  rezeptiv  sich  die  Ge- 
räusche der  Außenwelt  ans  Ohr  schlagen  und  sich  von  ihrem  gleich- 
förmigen Rhythmus  schließlich  überwinden  und  einschläfern  läßt,  auf 
die  Gestalt  der  am  Berg  gelehnten  Nacht.  Ein  Hauptreiz  der  > Serenade 
auf  dem  Meer«  von  Isolde  Kurz  ruht  in  der  Verkörperung  der  sinn- 
lichen Gefühle,  die  von  den  Rhythmen  der  Musik  erregt  in  uns  mit- 
schwingen. Geisterhaft  klingt  von  fernher  eine  Serenade  über  die  mond- 
hellen Wasser,  das  einförmige  Murmeln  der  um  die  Klippen  waschenden 
Wellen  übertönend.  Das  Gefühl  des  Mitschwingens  und  -schwebens 
mit  ihren   über  die  Wogen  gleitenden  Rhythmen  wird  zum   flockigen 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  253 

Wolkenbette,  das  uns  umschwellt,  zur  Cherubimgiorie,  die  uns  auf- 
nimmt, durcii  die  Mondnacht  schweben  läßt  und  im  Verklingen  schlafend 
in  ein  seliges  Traumreich  emporträgt. 


»Wolkenbette  mich  umflockt! 
Jeder  Ton  ein  Cherub  goldgelockt! 

Übers  Meer  hinan 

Schweb  ich  helle  Mondenbahn. 

Mit  den  Wolken  aufwärts  wallend, 

Sanft  verhallend, 

Trägt  mich  der  beschwingte  Chor 

Schlafend  zu  den  Seligen  empor.« 

Für  eine  andere,  gleichfalls  stark  vom  Oemeingefühl  durchsetzte  Stim- 
mung, das  Sichschaukeln  und  -wiegen  in  schillernden  Hoffnungen,  das 
frohe  Schweben  in  Illusionen  —  wer  denkt  nicht  an  die  Reizträume 
des  Fliegcns,  die  leichte  Atmung  und  gehobenes  Gemeingefühl  in  uns 
erwecken  —  darf  noch  ein  bezeichnendes  Stück  von  Ricarda  Huch 
zitiert  werden. 

Hoffnung. 
»Hoffnung  wiegt  sich  auf  dem  Aste  Flügel,  wie  sein  Rad  der  Pfau, 

Meines  Herzens;  bleibe,  raste  Spannt  sie  hundertangig,  blau; 

Noch  ein  Weilchen  in  der  Laube  Duckt  sich,  schwingt  sich  auf;  es  wanken 

Meiner  Brust,  du  wilde  Taube.  Meines  Herzens  leichte  Ranken. < 

Im  allgemeinen  wird  das  lyrische  Erlebnis  sich  nicht  sogleich  in 
einem  fertigen,  sprachlich  abgerundeten,  formgeklärten  Ausdruck  nieder- 
schlagen. Immerhin  dürfte  ein  derartiges  improvisierendes  Gestalten 
gerade  bei  der  Lyrik  noch  am  ehesten  vorkommen,  da  sie  unter  den 
redenden  Künsten  vor  allem  prägnante  Kürze  liebt  und  mit  wenigem 
vieles  zu  sagen  weiß.  R.  M.  Werner  ^)  erklärt  das  Improvisieren  für 
eine  Virtuosität,  welche  mit  der  Dichtkunst  nicht  viel  mehr  als  die  Form 
gemein  habe.  In  diesem  Sinn  einer  äußerlichen  Reim-  und  Versmaß- 
technik scheidet  es  aus  unserer  Erörterung  selbstverständlich  aus.  Wir 
verstehen  es  vielmehr  wie  E.  Geiger  seine  »Gelegenheitsdichtung«,  daß 
nämlich  der  Dichter  beim  Erleben  selbst  in  produktiver  Stimmung 
ist.  Das  Gegenteil  wäre  die  > Erinnerungsdichtung«.  Wenn  sich  im 
ersten  Fall  Erinnerungsmomente  einmischen,  so  ist  das  u.  E.  für  die 
vorliegende  Unterscheidung  belanglos  und  berechtigt  uns  nicht,  von 
einer  Zwischenstufe  zwischen  Gelegenheits-  und  Erinnerungsdichtung 
zu  sprechen.  Denn  das  unterscheidende  Merkmal,  das  Vorhandensein 
der  produktiven  Stimmung  fehlt.  Dagegen  bezeichnet  Geiger  mit  Recht 
alle  Lyrik  insofern  als  Erinnerungsdichtung,  als  nicht  im  Augenblick  der 


')  R.  M.  Werner,  Lyrik  und  Lyriker  1890. 


254  HANS  KLAIBER. 


Erregung  selbst,  sondern  unter  dem  Eindruck  der  im  primären  Gedächtnis 
vorhandenen  Erregung  geschaffen  wird.  Der  Zustand  muß  zu  einem  ge- 
wissen Abschluß  gekommen,  eine  Losiösung  vom  Erlebnis  eingetreten 
sein,  damit  noch  unter  seiner  unmittelbaren  Nachwirkung  die  schöpfe- 
rische Tätigkeit  einsetze.  Dies  ergibt  sich  für  uns  schon  aus  unserer 
Auffassung  der  Stimmung  als  eines  aus  verschiedenen  Komponenten 
gebildeten  Ganzen,  das  erst  zusammengefaßt,  als  Einheit  erlebt  und 
empfunden  sein  muß,  bevor  es  sich  in  einer  Form  niederschlagen  kann. 
In  das  Schema  einer  physiologischen  Erklärung,  die  das  lyrische  Produkt 
alle  Zustände  des  werdenden  Organismus  vom  Keim  bis  zum  äußeren 
Wachstum  durchlaufen  läßt,  will  freilich  das  Improvisieren  schlecht 
hereinpassen,  dafür  ist  es  aber  durch  das  Selbstzeugnis  bedeutendster 
Lyriker  wie  Goethe,  Heine  und  anderer  verbürgt.  Wohl  tragen  die  Ge- 
fühle, wie  oben  bemerkt,  ihre  Beziehungen  zu  rhythmischer  und  sprach- 
licher Formulierung  an  sich,  aber  ihre  Stärke  und  Klarheit  wird  beim 
einzelnen  verschieden  sein.  Sie  sind  die  Hilfen,  die,  beim  Schöpfungs- 
prozeß dem  Schaffenden  selbst  nur  dunkel  bewußt,  Rhythmen,  wir- 
kungsvolle Störungen,  Abänderungen  und  Unterbrechungen  des  viel- 
leicht aus  äußeren  Gründen  der  Tradition  gewählten  Versmaßes,  Wechsel 
im  Tempo  durch  leichte  oder  gehemmte  Atemführung,  die  melodischen 
Elemente  des  Klangreizes,  Reimes,  der  Lautmalerei  finden  lassen.  Schiller 
sagt  von  sich,  das  Musikalische  eines  Gedichtes  schwebe  ihm  oft 
deutlicher  vor  der  Seele  als  der  klare  Begriff  vom  Inhalt.  Von  Hebbel 
wissen  wir,  daß  ihm  das  Gedicht  oft  mit  einer  Melodie  kam,  leise 
singend,  summend  fand  er  seinen  Ausdruck.  Ebenso  unterstützen  den 
Schaffenden  jene  Beziehungen  in  der  Wahl  der  suggestiv  wirkenden 
sprachlichen  Bezeichnungen  für  innere  Zustände  und  Entwicklungen,  die 
er  anderen  zugänglich  machen  möchte.  Je  stärker  diese  Mitwirkung 
schon  unter  dem  unmittelbaren  Eindruck  des  Erlebnisses  ist,  je  bereit- 
williger sich  da  schon  die  treffenden  sprachlich-musikalischen  Aus- 
drucksmittel zu  Gebot  stellen,  um  so  eher  wird  es  zur  improvisieren- 
den Inspiration  kommen.  Daß  sie  weder  das  Regelmäßige  noch  not- 
wendig ist,  hat  man  mit  Berufung  auf  Selbstzeugnisse  zahlreicher 
Dichter  nachgewiesen.  Doch  möchten  wir  ein  solches  Bekenntnis 
von  Sully  Prudhomme  aus  Ribots  zitiertem  Werk  als  besonders  lehr- 
reich hier  einfügen.  »Ich  habe  die  Gewohnheit,  eben  gedichtete  Verse 
beiseite  zu  legen  und  einige  Zeit  im  Schreibtisch  zu  lassen,  bevor 
ich  die  letzte  Hand  an  sie  lege.  Wenn  sie  mir  verfehlt  erscheinen, 
vergesse  ich  sie  bisweilen  und  es  kommt  vor,  daß  ich  sie  nach  mehreren 
Jahren  wieder  finde.  Ich  dichte  sie  dann  um  und  ich  habe  die  Fähig- 
keit, das  Gefühl,  das  sie  mir  eingegeben  hatte,  mit  großer  Deutlichkeit 
wachzurufen.     Dieses  Gefühl  lasse  ich  in  meinem  Inneren  sozusagen 


I 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  255 


Modell  stehen  und  kopiere  es  mit  der  Palette  und  dem  Pinsel  der  Sprache. 
Es  ist  gerade  das  Gegenteil  des  Improvisierens  und  es  scheint  mir, 
daß  ich  alsdann  nach  der  Erinnerung  des  Gefühlszustands  arbeite. 
Wenn  ich  mich  der  Gemütsbewegung  erinnere,  die  mir  der  Einzug 
der  Deutschen  verursacht  hat,  so  ist  es  ganz  unmöglich,  daß  ich  nicht 
gleichzeitig  und  in  untrennbarem  Zusammenhang  damit  diese  Gemüts- 
bewegung selbst  aufs  neue  empfinde,  während  das  Gedächtnisbild  des 
damaligen  Paris  sich  von  jeder  gegenwärtigen  Wahrnehmung  ganz 
deutlich  abhebt.  <  Mögen  übrigens  die  Gefühlserlebnisse  bis  zur  Aus- 
drucksgestaltung scheinbar  in  Vergessenheit  geraten  oder  bis  zum 
letzten  Ausfeilen  im  Schreibtisch  ruhen,  so  brauchen  sie  darum  in 
dieser  Zwischenzeit  nicht  tot  zu  liegen.  Die  reproduzierende  Phan- 
tasie bringt  sie  nicht  unverändert  zum  Vorschein,  insbesondere  werden 
die  gefühlsbetonten  Momente  an  Kraft  gewonnen  haben,  andere  dafür 
verblaßt  oder  ausgefallen  sein,  und  die  Auslese,  die  schon  bei  der 
Wahrnehmung  unwillkürlich  nach  dem  Gefühlscharakter  erfolgt  ist, 
wird  sich  bei  der  Reproduktion  verstärkt  haben.  Die  verklärende  Um- 
bildung, die  wir  alle  als  Zauberkraft  der  Phantasie  kennen,  wird  nun 
durch  bewußte  künstlerische  Gestaltung  und  Ordnung  im  Hinblick 
auf  ein  bestimmtes  Ziel  unterstützt,  oder  mit  Hebbel  zu  sprechen,  die 
Phantasie  bekommt  Versland.  Damit  sind  wir  auf  den  Weg  gelangt, 
den  wir  in  den  bildenden  Künsten  in  Studien  und  Skizzenbüchern  ver- 
folgen können,  und  der  bei  dem  einen  langsamer,  bei  dem  anderen 
rascher  zum  Endergebnis  des  Kunstwerks  führt.  Es  ist  nicht  zu  leugnen, 
daß  sich  zu  diesem  Entwicklungsgang  manche  Parallelen  aus  dem 
Werden  des  Organismus  ziehen  lassen,  allein  sie  sind  weder  für  die 
Lyrik  noch  auch  nur  für  die  Kunst  eigentümlich,  sie  lassen  sich  bei- 
spielsweise ebenso  einleuchtend  auf  das  Keimen,  Heranwachsen  und 
Ausgestalten  wissenschaftlicher  Gedanken  oder  Theorien  anwenden. 

Aus  den  bisherigen  Ausführungen  erhellt  schon,  daß  wir  unter 
der  Stimmung  ein  Totalgefühl  verstehen,  in  dem  verschiedene  Gefühle 
beziehungsweise  Nachwirkungen  von  solchen  sich  miteinander  ver- 
binden. Wann  legen  wir  nun  einem  Totalgefühl  vorzugsweise  den 
Namen  Stimmung  bei?  Als  wichtigstes  Merkmal  betrachten  wir,  daß 
es  im  Vergleich  zu  den  rasch  ablaufenden  einzelnen  Gefühlsvorgängen 
etwas  Bleibendes,  Dauerhaftes  an  sich  hat;  in  diesem  Sinn  pflegt 
z.  B.  eine  heftig  abgelaufene  Gemütsbewegung  einen  eine  gewisse 
Zeit  anhaltenden  Niederschlag  in  einer  Stimmung  zu  hinterlassen. 
Ferner  wissen  wir,  daß  unser  geistiges  wie  körperliches  Verhalten, 
letzteres  durch  das  Gemeingefühl  gleichermaßen  daran  beteiligt  ist,  daß 
also  eine  Mehrheit  von  Faktoren  dabei  mitwirkt,  ohne  daß  wir  uns 
jedoch  über  sie  im  einzelnen  oder  ihren  jeweiligen  Beitrag   im  klaren 


256  HANS  KLAIBER. 


wären.  Gerade  das  Unbestimmte,  nicht  auf  spezielle  Inhalte  Bezieh- 
bare ist  diesem  Zustand  eigen.  Endlich  ist  es  für  dieses  Zusammen- 
gesetzte und  verhältnismäßig  Andauernde  bezeichnend,  daß  ein  einzelner 
Faktor  in  ihm  die  Herrschaft  derart  an  sich  reißen  kann,  daß  er  der 
ganzen  Bewußtseinslage  seine  Färbung  verleiht  i).  Im  praktischen  Leben 
sind  diese  Stimmungen  von  großer  Wichtigkeit  für  unsere  Willensvor- 
gänge und  wir  sind  bald  in  der  Stimmung,  bald  nicht  in  der  Stimmung 
dies  oder  jenes  zu  tun.  In  diesem  Sinn  einer  seelischen  Disposition 
gebraucht  R.  M.  Werner  den  Begriff,  für  ihn  ist  es  der  von  Tages-  und 
Jahreszeit,  Wetter,  menschlicher  und  landschaftlicher  Umgebung  ab- 
hängige ahnungsvolle  Zustand,  die  innere  Sammlung,  die  den  Dichter 
befähigt,  sich  von  einem  Erlebnis  anregen  zu  lassen.  Eine  solche  Dis- 
position, die  bei  den  einzelnen  unter  individuell  verschiedenen  Ein- 
flüssen steht,  wird  von  den  Künstlern  selbst  zur  Genüge  bezeugt; 
sie  hat  aber  mit  der  Stimmung  in  unserem  Sinn  nichts  zu  tun.  Wir 
verstehen  darunter  nach  der  obigen  Erklärung  den  eine  seelische  Einheit 
bildenden  Niederschlag  des  lyrischen  Gefühlserlebnisses,  den  der  Nach- 
erlebende als  Ertrag  des  selbst  als  Einheit  genossenen  und  erfaßten 
Gedichtes  gewinnt.  Für  den  Dichter  ist  sie  die  Zusammenfassung  der 
Einzelgefühle,  der  Ausgangspunkt  des  Schaffens,  muß  er  doch  den 
sprachlichen  Ausdruck  für  die  einzelnen  gefühlsbetonten  Vorstellungen 
im  Hinblick  auf  die  zu  erzielende  Gesamtstimmung,  bildlich  gesagt 
als  Einzeltöne  eines  ihm  vorschwebenden  Akkordes  wählen.  Der 
Akkord  aber  muß  feststehen,  wenn  man  seine  Einzeltöne  anschlagen 
will,  wie  bereits  bei  der  Frage  des  improvisierenden  Dichtens  voraus- 
geschickt worden  ist.  Die  Stimmung  in  diesem  Sinn  hat  mit  allem 
ästhetischen  Verhalten  gemein,  daß  ihr  die  Beziehungen  auf  unser  prak- 
tisches Wollen  fehlen.  Außerdem  möchten  wir  ihr  zwei  Merkmale  zu- 
sprechen; erstens,  daß  sie  keine  Gefühlskombination,  sondern  eine  Ge- 
fühlsverbindung ist,  was  wir  sofort  näher  erklären,  zweitens,  daß  sie 
ein  in  sich  geschlossener,  durch  formale  und  inhaltliche  Beziehungen 
als  Einheit  empfundener  Vorgang  ist,  dessen  Ergebnis  einen  Zustand 
unseres  inneren  Seins  darstellt. 

Unter  Gefühlskombination  verstehen  wir  mit  M.  Geiger-)  ein  Total- 
gefühl, das  sich  aus  zufällig  gleichzeitigen  Elementen  zusammensetzt, 
unter  Gefühlsverbindung  dagegen  ein  solches,  dessen  gleichzeitige 
Gefühlselemente  in  ihren  Entstehungsbedingungen  im  Zusammenhang 
stehen.    Nehmen  wir  dafür  ein  Beispiel  aus  dem  täglichen  Leben.    Wir 

')  Störring,  Experimentelle  Beiträge  zur  Lehre  vom  Gefühl.  Archiv  f.  d.  ges. 
Psychologie  1906,  S.  316  f. 

-)  M.  Geiger,  Bemerkungen  zur  Psychologie  der  Gefühlselemente  und  Oefühls- 
verbindungen.    Archiv  f.  d.  ges.  Psychologie  1905,  S.  233  ff. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG. 


257 


sitzen  an  einem  i<aiten  Wintertag  im  wohldurcli wärmten,  behaglichen 
Heim  und  blicken  auf  die  Straße  und  die  Vorübergehenden  hinaus. 
Da  fällt  uns  eine  dürftig  gekleidete  Familie  ins  Auge,  die  in  eisigem 
Frost  zitternd  obdachlos  ihren  ärmlichen  Hausrat  auf  der  Straße  ein- 
herkarrt,  und  ein  Gefühl  des  Mitleids  gesellt  sich  zur  Stimmung  be- 
haglich-wohliger Geborgenheit,  das  in  seiner  Entstehung  durch  die 
vorhandene  Stimmung  mitbedingt  ist.  Kämpften  wir  uns  selbst  etwa 
auf  einem  Berufsgang  zu  gleicher  Zeit  mühsam  durch  Wind  und 
Wetter,  so  könnte  dasselbe  Bild  eindruckslos  am  Auge  vorüberziehen. 
Wenn  wir  endlich  von  unserm  Fensterplatz  aus  einen  Bekannten  ent- 
deckten, den  wir  längst  abgereist  wähnten,  so  hat  das  Gefühl  der  Über- 
raschung mit  der  vorhandenen  Stimmung  nichts  zu  tun,  ist  nur  ein 
gleichzeitiges  Element,  das  in  unser  Totalgefühl  zufällig  eingeht.  Nun 
noch  ein  Beispiel  aus  der  Dichtkunst,  das  zarte  kleine  Bildchen  von 
Chr.  Morgenstern,  betitelt: 

Erster  Schnee. 
Aus  silbergrauen  Gründen  tritt 

Ein  schlankes  Reh 

Im  winterlichen  Wald 
Und  prüft  vorsichtig,  Schritt  für  Schritt, 
Den  reinen,  kühlen,  frischgefallenen  Schnee. 
Und  deiner  denk  ich,  zierlichste  Gestalt. 

Das  Bild  des  schlanken,  vorsichtig  aus  verschneitem  Winterwald  heraus- 
tretenden Rehs  verschmilzt  in  der  Phantasie  des  Dichters  mit  der  Vor- 
stellung der  zierlichen  Gestalt  der  Geliebten,  und  damit  ist  die  Orund- 
stimmung  geschaffen,  die  für  die  Auswahl  der  Einzelzüge  des  Bildes 
maßgebend  wird.  Wieviele  Einzelzüge  enthielt  das  Wahrnehmungs- 
bild selbst,  wieviele  gefühlsbetonte  Assoziationen  kann  es  wecken! 
Die  Kälte  kann  die  Vorstellung  des  molligen,  wohlgeheizten  Hauses, 
die  Stille  des  Winterwalds  das  bange  Gefühl  der  Vereinsamung  oder 
das  beseligende  Bewußtsein  des  Alleinseins  mit  sich  selbst,  das  Auf- 
tauchen des  Rehs  Erinnerungen  an  traute  Kindermärchen  oder  fröh- 
liche Jagd  hervorrufen.  Unter  dem  bestimmenden  Einfluß  der  Stim- 
mung haben  sich  aber  nur  Vorstellungen  ausgesondert  und  sind  gleich 
verwandten  Elementen  zusammengeschossen,  die  in  ihren  Entstehungs- 
bedingungen mit  der  Grundstimmung  und  untereinander  zusammen- 
hängen. Die  schlanke  Gestalt  des  Rehs  von  feinem  silbergrauem  Hinter- 
grund sich  abhebend,  mit  zierlich-scheuem  Tritt  die  frische  Kühle  des 
keuschen,  unberührt  in  weißer  Reinheit  glänzenden  Neuschnees  be- 
tastend —  lauter  Eindrücke  der  Gesichts-,  Temperatur-,  Bewegungs-  und 
Berührungssinne,  deren  Gefühlsbetonung  zu  einheitlicher  Stimmung  zu- 
sammenwirkt.   Die  Analogie  zum  Schaffen  des  bildenden  Künstlers  liegt 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u    »llg.  Kunstwissenschaft.    XV.  17 


258 


HANS  KLAIBER. 


nahe.  Wie  bei  ilim  der  Leitstern  die  vorschwebende  Raumgestalt  oder 
Biidwirkung  ist,  zu  deren  idarer  Herausarbeitung  er  die  Mittel  finden  muß, 
so  hier  die  durch  Verschmelzung  von  Natureindruck  und  Erinnerungs- 
bild entstandene  Stimmung,  deren  Komponenten  es  zu  erfassen  und 
auf  sprachlichen  Ausdruck  zu  bringen  gilt.  Je  überzeugender  das  ge- 
lingt, um  so  klarer  und  reiner  kommt  die  Stimmung  heraus,  um  so 
sicherer  überträgt  sie  sich  auf  den  Nachfühlenden.  Daß  dieses  Nach- 
fühlen bei  verschiedenen  Personen  selbst  wieder  eine  verschiedene 
individuelle  Note  bekommt,  ergibt  sich  aus  der  Verschiedenheit  der 
Erlebnisse,  deren  Oefühlsniederschlag  beim  Hören  oder  Lesen  des  Ge- 
dichtes zum  Klingen  gebracht  wird.  Ein  Auftauchen  jener  für  den  Ge- 
fühlston im  Leben  des  einzelnen  maßgebenden  Vorstellungen  kann 
dem  Nacherlebenden  nicht  verwehrt  werden,  sind  sie  doch  wesentlich 
für  sein  innerstes  persönliches  Verhältnis  zum  einzelnen  Gedicht.  Für 
das  Nacherleben  in  den  bildenden  Künsten  ist  ja  die  Frage,  welche 
Assoziationen  der  Beschauer  ausspinnen  darf,  welche  er  als  ästhetisch 
belanglos  abzuweisen  hat,  in  den  bekannten  Untersuchungen  von  Külpe, 
Groos,  V.  Allesch  und  anderen  eingehend  behandelt  worden.  Natürlich 
hat  schon  die  Stimmung  eine  Auslese  unter  den  Details  des  Wahr- 
nehmungsbildes getroffen,  die  nicht  gleich  stark  zur  Wirkung  kamen, 
aber  es  können  zunächst  doch  noch  manche  Elemente  sich  einmischen, 
die  in  der  Gefühlskombination  nicht  stören,  in  die  Gefühlsverbindung 
dagegen  nicht  hereingehören  und  im  Verlauf  des  Schöpfungsvorganges 
noch  beseitigt  werden  müssen.  Schwieriger  als  in  diesem  einfach  ge- 
wählten Fall  liegt  die  Sache,  wo  der  Dichter  es  unternimmt,  eine  unab- 
hängig von  äußeren  Eindrücken,  aus  den  Tiefen  des  Gefühls  als  Aus- 
strahlung des  ganzen  Gemütslebens  aufsteigende  Stimmung  durch  das 
Prisma  seiner  Sprachkunst  in  ihre  Regenbogenfarben  zerlegt  uns  vor 
Augen  zu  führen.  Wie  muß  ihm  da  die  durch  die  Stimmung  in  Tätig- 
keit gesetzte  und  befruchtete  Phantasie  mit  ahnungsvoller  Treffsicher- 
heit die  Bahnen  der  Sprachvorstellungen  weisen,  auf  denen  wir  über 
die  einzelnen  nacheinander  angeschlagenen  Töne  zum  Erleben  des  ge- 
samten Gefühlsakkordes  gelangen.  Wie  behutsam  muß  alles  nur  zu- 
fällig Gleichzeitige  ausgeschieden  werden,  damit  im  Akkord  nichts  an- 
klingt, was  nicht  dazustimmt,  nichts,  was  in  unserem  Innern  tot  und 
ohne  Widerhall  bliebe  oder  einen  Mißton  erweckte. 

Das  zweite  Merkmal  der  lyrischen  Stimmung  ist  ihre  innere  Ge- 
schlossenheit, die  auch,  wo  es  sich  um  einen  sukzessiven  Ablauf 
verschiedener  ineinander  übergehender  Einzel-  oder  Totalgefühle  handelt, 
den  Eindruck  eines  dauernden  Zustandes  machen  kann.  Dabei  muß 
zunächst  zu  einer  Begriffsbestimmung  der  Lyrik  Stellung  genommen 
werden,  die  das  Feld  dieser  Kunst  unbillig  einengt.    Schon  E.  Geiger 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG. 


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charakterisiert  sie  gegenüber  der  Epik  und  dem  Drama  dadurch,  daß 
sie  nicht  wie  diese  eine  Zeitreihe  und  Entwicklung  gebe,  sondern  zeit- 
los einen  Zustand  oder  einen  aus  der  Zeitreihe  herausgegriffenen  Moment 
gebe.  Gestützt  auf  eine  Richtung  der  modernen  Lyrik,  die  sich  zum 
Ziel  setzt,  Worte  für  die  Schilderung  eines  seelischen  Zustandes  zu 
finden,  dem  jede  Beziehung  auf  Geschehen,  Handeln  und  Entwicklung 
abzugehen  scheint,  hat  H.  Herrmann')  aus  der  echten  Lyrik  alle  zeit- 
liche Entwicklung  verbannt.  Das  lyrische  Gedicht,  so  heißt  es,  ist  ein 
Gebilde,  in  dem  ein  Zustand  seelischen  Seins  als  gegenständlicher 
Organismus  in  Sprache  und  Rhythmus  erscheint;  es  hat  die  Tendenz, 
alles  als  eine  Bewegtheit  zu  geben,  die  in  sich  kreist,  als  Aktivität,  die 
nicht  über  sich  hinausstrebt,  es  strebt  nicht  vorwärts,  gibt  keine  Ent- 
wicklung, keine  Zeitfolge.  Die  lyrische  Sprache  benützt  Worte  rein 
als  Gefühlsgebärde,  nicht  als  Sachbezeichnung  oder  Aktionssignal. 
Die  lyrische  Komposition  ist  kreisförmig,  der  lyrische  Rhythmus  hat 
den  Charakter  der  Eintönigkeit,  Refrain  und  strophische  Gliederung  be- 
tonen das  Gefühlsbindende,  das  stilreine  lyrische  Gedicht  ist  demnach 
unfähig,  eine  Zeitfolge  als  solche  darzustellen.  Zeitbezeichnende  Wörter 
werden  ihrer  zeitmessenden  Bedeutung  entkleidet  und  erhalten  steigernde 
und  verbindende  Kraft.  Das  in  der  Zeit  Erfahrene  wird  als  zeitlose 
Dauer  gegeben,  an  Stelle  des  Vergehens  tritt  das  Vergänglichsein,  an 
Stelle  des  Drängens  das  Drangvolle.  Vorgänge  sind  meist  nur  Kunst- 
griffe, um  die  Wirkung  ruhender  Bewegtheit  zu  steigern.  Was  der 
Schluß  bringt,  ist  eigentlich  von  Anfang  an  da.  Die  Lyrik  erfaßt  den 
ganzen  Lebensstoff  und  verwandelt  ihn  in  ihr  Element,  das  zeitlose 
innere  Sein,  wobei  selbst  zeitbezeichnende  Wörter  nur  Symbole  für 
Gefühle  werden,  in  der  »unreinen  Lyrik  wird  der  Geschehnischarakter 
gegenüber  der  reinen  Handlungsballade  wenigstens  verflüchtigt,  ge- 
lähmt und  abgedämpft. 

Soviel  genügt  wohl  zur  Beurteilung  einer  Ansicht,  an  der  gemessen 
der  größere  Teil  dessen,  was  bisher  als  Lyrik  galt  und  als  solche 
ästhetisch  empfunden  wurde,  einer  unreinen  Gattung  zuzuweisen  und 
schon  halb  zur  Ballade  zu  rechnen  wäre.  Dieses  Bedenken  hat  Müller- 
Freienfels  in  der  Dikussion  über  den  Vortrag  sofort  geäußert,  während 
Bab  noch  weiter  gehen  und  die  Zeitlosigkeit  als  Wesensmerkmal  der 
Poesie  angesehen  wissen  wollte.  Da  es  bei  der  Lyrik  besonders  stark 
ausgeprägt  auftrete,  soll  sie  die  »reinste  Form<  der  Poesie  sein.  Sollte 
wirklich  das  Drama  in  seiner  Art  weniger  rein  oder  nicht  vielmehr 
ein  Maßstab  falsch  sein,  durch  den  solche  Wertunterschiede  in  gleich- 


')  Helene  Herrmann,  Die  Erscheinung  der  Zeit  im  lyrischen  Gedicht.     Bericht 
des  Kongresses  für  Asthetilv  u.  allgemeine  Kunstwissenschaft,  1914. 


260  HANS     KLAIBER. 


berechtigte,   unter   verschiedenen   Bedingungen  arbeitende  Gattungen 
hineingetragen  werden?  Es  ist  kein  Zweifel,  daß  viele  der  besten  lyrischen 
Gedichte  von  Goethe,  Hölderhn,  G.  Keiler,  Moerike  —  um  nur  große 
Namen  zu  nennen  —  zeitlichen  Verlauf,  Vorgänge,  Handlungen,  Be- 
wegungen materieller  und  geistiger  Art  enthalten,    ohne   daß  ihrem 
lyrischen  Wert  und  Charakter  dadurch  der  geringste  Eintrag  geschähe, 
während  manche  moderne  Gedichte,  die  jenen  Forderungen  genügen, 
mehr  als  metaphysische  Reflexion  denn  als  stimmungsgeborene  Lyrik 
anmuten.    Gewiß  kann  ein  Zustand  Gegenstand  eines  lyrischen  Ge- 
dichtes sein,  sei  es  ein  innerer  Seelenzustand,  sei  es  ein  Zustand  der 
umgebenden  äußeren  Natur.    In  seiner  Schilderung  zerlegt  der  Dichter 
ihn  selbst   und   damit  die  aus  ihm   entspringende  Stimmung  in  ihre 
Faktoren  und  setzt  aus  ihnen  das  Bild  zusammen.    Auch  gibt  es  sicher- 
lich ein  Übergangsgebiet,  wo  Lyrik  und  Ballade  sich  begegnen,  aber 
die  Grenze  ist  anders  zu   ziehen,  wenn   man  nicht  die  vermeintliche 
Stilreinheit  einem  verhältnismäßig  kleinen  Teil   der  Gesamtproduktion 
vorbehalten   will.     Nicht  das  Vorhandensein  von  zeitlicher  Folge  und 
Vorgängen  entscheidet,  sondern  die  Frage,  was  den  Anstoß  zum  dichte- 
rischen Erlebnis  gegeben  hat,   die  seelische  Stimmung,  die  Zustände 
und  Vorgänge  in  uns  auslösen,  oder  das  Interesse  an  der  Schilderung 
eines  Handlungsverlaufes,  der  sich  in  Abschnitte  gliedert  und  Personen 
zu  Trägern  hat.    Dem  Lyriker  ist  der  Vorgang  als  solcher  gleichgültig, 
er  existiert  für  ihn  nur  als  Symbol  inneren  Seins,  aber  darum  braucht 
er  ihn  nicht  zu  meiden.     Das  Stoffgebiet  der  lyrischen  Poesie  wäre 
bedauerlich  eingeschränkt,  wenn  sie  wirklich  Worte  nur  als  Gefühls- 
gebärde benützen  dürfte.    In  der  Tat  verwendet  sie  dieselben  in  ent- 
sprechenden Zusammenhängen  ebenso  als  Sachbezeichnungen  wie  als 
Aktionssignale  zum  Ausdruck  von  Wünschen,  Befehlen  oder  zur  Schilde- 
rung von  äußeren  und  inneren  zeitlichen  Folgen.    Nichts  ist  häufiger 
als  Rückblicke  in  eine  schönere  Vergangenheit  wie  das  unschuldsvolle 
Kindesalter,   die  sorgenlose  Jugend   oder   die   Zeit  entschwundenen 
Liebesglücks,  ebenso  wie  Ausblicke  aus  einer  drangvollen  oder  trüben 
Gegenwart  in  eine  bessere  Zukunft,   aus  der  Unrast  des    irdischen 
Lebens  auf  die  ewige  Ruhe.     In  all  diesen   Fällen  könnte  sich  der 
Dichter  sprachlich  gar  nicht  verständlich  machen,  wenn  er  sich  nicht 
»zeitmessender«    Bezeichnungen    bediente.     Wie   man  aber  z.  B.  die 
Bindewörter  der  Zeit,  wie  als,  bis,  wann,  nachdem,  bevor  u.  dgl. 
ihrer  zeitlichen  Bedeutung  soll  entkleiden  und  zu  Gefühlsträgern  machen 
können,  ist  unfaßlich.    Sie  spielen  ihre  grammatisch-logische  Rolle  im 
sprachlichen    Bau    eines  Vorstellungskomplexes    in  der  Poesie   nicht 
anders  als  in  der  Prosa.    Auch  zur  Beschreibung  äußerer  Vorgänge 
im  Leben  des  Menschen  und  der  Natur  wie  Auf-  und  Untergang  der 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  261 

Sonne,  Hereinbrechen  der  Nacht,  allmähliches  Tagen,  Gang  durch  den 
Wald,  die  nächtliche  Stadt  und  vieles  andere,  was   in   der  Naturlyrik 
so  oft  als  Symbol  inneren  Geschehens  vorkommt,   sind  sie  nicht  zu 
entbehren.    Kurz  es  ist  ganz  unmöglich,  Zeitfolge  und  Bewegung  aus 
der  Lyrik  als  stilwidrig  verschwinden  zu  lassen,  ohne  ihr  die  stärkste  Ge- 
walt anzutun.    Entwicklung  zu  geben   ist  sogar  das    eigenste  Gebiet 
der  Lyrik,  freilich  nicht  die  von  Ereignissen,  äußeren  ursächlichen  Zu- 
sammenhängen, Charakteren,  sondern  diejenige  von   seelischen  Vor- 
gängen, die  in  der  Stille  des  Gefühlslebens  ablaufen,  aufeinanderfolgen, 
ineinander  übergehen,  um  dann  schließlich  in  ihrer  Zusammenfassung 
eine  zuständliche  Gesamtgefühlslage  zu  repräsentieren.    In  gewissem 
Sinn  kann  man  allerdings  von  ihr  sagen,  daß  sie  nicht  nach  vorwärts 
drängt.    Sie  gleicht  nicht  dem  Lauf  eines  Flusses,  dessen  Wellen  immer 
weiter  von  der  Quelle  weggetragen  werden  und  endlich  den  Zusammen- 
hang mit  ihrem  Ursprung  ganz  verlieren.     Die  seelische  Bewegung 
der  lyrischen  Stimmungsfolge    ist  vielmehr  der  Wellenbewegung  zu 
vergleichen,  die  in  einem  Teich  durch   einen   ins  Wasser  geworfenen 
Stein  erzeugt  wird.    Auch  da  ist  Bewegung  in  zeitlicher  Folge.    Jedes 
neue  Stadium  des  Stimmungsablaufes  ähnelt  dem  konzentrischen  Wellen- 
ring, der  die  vorhergehenden  in  sich  schließt  und  wenn  die  Bewegung 
beim  äußersten  Ring  angekommen  ist,   so  schwingen  die  Wasserteil- 
chen der  inneren  Kreise  noch  mit.    So  umfaßt  jedes  neue  im  Lauf  der 
Oefühlsentwicklung  sich  bildende  Totalgefühl   die  vorhergehenden   in 
sich,  wenigstens  in  der  Form,  daß  sie  im  Bewußtsein   deutlich   nach- 
wirken als  an  der  Entstehung  des  gegenwärtigen   beteiligt.     Schildert 
uns  der  Dichter  Erlösung  von   nächtlichem  Grauen  durch   das   tröst- 
liche Frührot  des  kommenden  Tages  oder  wie  in  R.  Dehmels     Stiller 
Stadt«  durch  das  Aufblinken  eines  Lichtleins  und  einen  frommen  Lob- 
gesang aus  Kindermund,  so  zittert  noch  in  der  Endslimmung  der  Be- 
freiung und  Beruhigung  das  zuvor  erlebte  Bangen  und  Grauen  nach 
und  gibt  ihr  ihr  besonderes  Gepräge.  Und  erkennen  wir  im  Schlußakkord 
die  Teiltöne,  die  zu  Anfang  und  im  Verlauf  einer  Gefühlsentwicklung 
angeklungen  haben,  dann  ist  es  in  der  Tat,  als  wäre  »das  was  der 
Schluß  bringt,  von  Anfang  an  da<.    Aber  nicht  weil  ein  seelisches  Ge- 
schehen in  einen  dauernden  Zustand  verwandelt  worden  wäre,  sondern 
weil  infolge  der  Stetigkeit  der  Umbildung  die  früheren  Stadien  des  Ge- 
fühlsprozesses in  den  späteren   noch   nachzuspüren  sind.     Manchmal 
kommt  es  auch  vor,  daß  der  Dichter  zu  Beginn  den  Gesamtakkord 
mit  einem  oder  einigen  Worten  von  starker,  treffend  gewählter  Gefühls- 
betonung anschlägt,  ihn  dann  im  Fortgang  in  seine  Bestandteile  auf- 
löst und  am  Ende  voller,  reicher  und  klarer  als  es  zu  Anfang  möglich 
war,  in  sich  und  in  uns  ausklingen  läßt.    Oder  daß  er  in  der  Form 


262  HANS  KLAIBER. 


zum  Schluß  wieder  an  den  Ausgangspunkt  anknüpft,  in  dem  er  die 
Anfangsverse  oder  die  ganze  erste  Strophe  am  Ende  noch  einmal  wieder- 
holt. In  solchen  besonderen  Fällen  mag  man  dann  wohl  von  einer 
kreisförmigen  Komposition  sprechen.  Aber  es  gibt  auch  viele  andere 
Möglichkeiten  des  Abschlusses:  der  stärkste  Gegensatz  ist  die  bei 
Heine  beliebte  Weise,  durch  eine  Pointe  die  Stimmung  zum  Schluß 
umschlagen  zu  lassen,  eine  Wendung,  die  man  von  Anfang  an  gewiß 
nicht  voraussehen  kann.  Der  Impressionismus  liebt  es,  seine  Stim- 
mungen abreißen  oder  verwehend  ausklingen  zu  lassen,  die  bei  den 
Neueren  viel  gepflegte  visionäre  und  Traumlyrik  läßt  Gedanken  und 
Gefühle  im  Dunkel  des  Halbbewußten  verdämmern.  — 

Die  Geschlossenheit  der  Gefühlsentwicklung  beruht  zunächst  auf 
dem  Prozeß  der  Verschmelzung,  in  dem  gleichartige  oder  verwandte 
Gefühle  sich  vereinigen.  Im  einfachsten  Fall  der  Wiederholung  kehrt 
ein  Gefühl  im  wörtlich  gleichen  Ausdruck  einmal  oder  bei  einem  den 
einzelnen  Strophen  angehängten  Refrain  mehrmals  wieder,  und  diese 
identischen  Gefühlstöne  schmelzen  natürlich  ohne  weiteres  zusammen. 
Damit  soll  über  den  Zweck  dieses  Kompositionsmittels  nichts  gesagt 
sein.  Oder  aber  kann  die  Wiederholung  eine  Steigerung  bedeuten, 
an  Stelle  der  einfachen  Erneuerung  ein  Crescendo  des  Gefühls.  So 
weckt  Dehmel  in  der  » Stillen  Stadt«,  die  nach  dem  Verblassen  eines 
lichtlosen  Tages  in  undurchdringliche,  mond-  und  sternenlose  Nacht 
gehüllt  im  Tale  liegt,  das  Gefühl  des  Trüben,  Bangen  und  Gedrückten 
und  steigert  es  durch  die  Ausmalung,  wie  die  Nebel  von  den  Bergen 
herab  schwer  lastend  auf  die  Stadt  drücken,  so  daß  keine  menschliche 
Behausung  zu  erkennen,  kein  Laut  eines  lebendigen  Wesens  zu  ver- 
nehmen ist,  zum  unheimlichen,  grauenvollen  Eindruck  einer  toten 
Stadt.  Sehr  häufig  besteht  die  Wiederholung  darin,  daß  der  gefühls- 
betonte Vorgang  zuerst  in  symbolischer  Gestalt,  dann  des  Bildlichen 
entkleidet  erscheint.  Die  an  unsere  Sinneserlebnisse  gebundenen  Re- 
aktionsgefühle wirken  frischer  und  unmittelbarer,  sie  packen  kräftiger 
und  lassen  uns  das  vollwertige  Erleben,  die  Ergriffenheit  der  gesamten, 
körperlichen  und  geistigen  Persönlichkeit  noch  besser  nachempfinden. 
In  der  »Abendstimmung<  von  A.  Bartels  sehen  wir  den  Dichter  beim 
Vergehen  des  letzten  Abendscheines  müde  und  träumerisch  in  die  Gassen 
hinabschauen. 


2.  Dort  strahlt  bereits  des  Oaslichts  gelber  Schein 
Und  unaufhaltsam  seh  ich  Menschen  wogen. 
Mir  ist,  als  sei  nur  ich  zu  Haus  allein, 

Die  ganze  Welt  der  Freude  nachgezogen. 

3.  Mir  ist,  als  fliehe  mich  die  ganze  Welt, 
Und  nahe  sei  die  Nacht,  die  letzte,  grause, 


n 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  263 

Wo  alles  wankt  und  stürzt  und  jäh  zerfällt  — 
Und  mich  alleine  träfe  sie  zu  Hause. 

Hier  malt  die  zweite  Strophe  die  Stimmung  banger,  freudloser  Verlassen- 
heit sinnlich  durch  das  Zurückbleiben  in  dunkler  Einsamkeit,  indessen 
auf  den  erleuchteten  Straßen  eine  wogende  Menge  nach  Licht,  Luft 
und  Leben  drängt.  Die  Schlußstrophe  spricht  es  aus  und  führt  die 
Stimmung  zu  Ende,  wobei  das  in  der  Grundstimmung  der  Verlassen- 
heit einbeschlossene  Gefühl  der  Bangigkeit  noch  besonders  hervor- 
gehoben und  durch  seine  Steigerung  zur  Dominante  des  ganzen  see- 
lischen Akkordes  gemacht  wird.  Eine  besondere  Art  der  Wiederholung 
ist  es,  wenn  ein  Gefühl  zuerst  durch  umschreibende,  vorbereitende  Aus- 
drücke erweckt  und  dann  zum  Schluß  durch  die  eigentliche,  in  Erwartungs- 
gefühlen geahnte  Bezeichnung  bestätigt  wird.  Den  Übergang  von  der 
Spannung  zu  Lösungsgefühlen,  der  sich  an  eine  solche  Ausdrucks- 
weise knüpft,  hat  Goethe  in  »Wanderers  Nachtlied«  aufs  glücklichste 
in  den  Dienst  der  Stimmung,  der  Sehnsucht  nach  erlösendem  himm- 
lischem Frieden,  gestellt. 

Der  Wiederholung  verwandt  ist  die  Variation:  ein  Gefühlsthema 
wird  aufgestellt  und  dann  unter  verschiedenen  Beleuchtungen  gezeigt, 
d.  h.  beispielsweise  auf  verschiedenen  Sinnesgebieten  durchgeführt. 
So  finden  wir  etwa  das  Gefühl  der  Abgeschiedenheit  von  Welt  und 
Menschen  mit  Hilfe  der  verschiedenen  Sinne  in  Variationen  behandelt. 
Ein  unendliches  Meer  trennt  uns  von  der  Menschheit,  ein  dunkles, 
felsenumschlossenes  Tal  ohne  Ausgang  hält  uns  gefangen,  wir  sind 
lebendig  in  den  Sarg  gelegt,  Grabesstille  umgibt  uns.  Gesichts-,  Tast- 
und  Gehörssinn  sind  es,  über  die  in  diesem  Beispiel  das  Gefühl  ab- 
gewandelt wird.     Eine  andere  Art  der  Variation  zeigt   uns  H.  Hesses 

in   der   Nacht. 
An  dem  Gedanken  bin  ich  oft  erwacht, 
Daß  jetzt  ein  Schiff  geht  durch  die  kühle  Nacht 
Und  Meere  sucht  und  nach  Gestaden  fährt, 
Nach  denen  heiße  Sehnsucht  mich  verzehrt. 
Daß  jetzt  an  Orten,  die  kein  Seemann  kennt, 
Ein  rotes  Nordlicht  ungesehen  brennt. 
Daß  jetzt  ein  schöner  fremder  Frauenarm 
Sich  liebesuchend  preßt  in  Kissen  weiß  und  warm. 
Daß  einer,  der  zum  Freund  mir  war  bestimmt, 
Jetzt  fern  im  Meer  ein  dunkles  Ende  nimmt. 
Daß  meine  Mutter,  die  mich  nimmer  kennt, 
Vielleicht  im  Schlaf  jetzt  meinen  Namen  nennt. 

Die  schmerzliche,  ungestillte  Sehnsucht  nach  einem  uns  scheinbar  von 
der  Natur  oder  vom  Schicksal  bestimmten,  aber  in  rätselhafter  unerreich- 
barer Ferne  liegenden  Glück  spiegelt  sich  in  fünf  verschiedenen  Bildern 


264  HANS  KLAIBER. 


von  dem  Schiff,  das  fern  durch  die  Nacht  den  ersehnten  Gestaden  zusegelt, 
vom  NordHcht,  dessen  Pracht  von  niemand  geschaut  verglüht,  von  Frauen- 
sehnen, Freundschaft  und  Mutterliebe,  die  nicht  zum  Ziele  kommen. 
Dabei  fällt  der  Ton  bald  mehr  auf  die  Unerreichbarkeit,  bald  auf  die 
Sinnlosigkeit  und  schmerzende  Grausamkeit,  mit  der  Zusammengehöriges 
auseinandergerissen.  Zusammenstrebendes  getrennt  wird  oder  nicht  zu- 
sammenkommen kann,  doch  so,  daß  in  allen  Bildern  auch  das  weniger 
betonte  Gefühl  wenigstens  durchschillert. 

Handelte  es  sich  bisher  um  die  Wiederholung  und  Abwandlung 
von  im  wesentlichen  identischen  Gefühlen,  um  ein  Aufgehen  eines  Ge- 
fühlstons in  einem  schon  angeschlagenen,  so  kommen  wir  nun  an  die 
Verschmelzung  verwandter  Töne  zu  einem  Akkord.  Sie  ist  um  einen 
Grad  weniger  innig,  sofern  auch  noch  im  Zusammenklang  die  Einzel- 
töne für  sich  gehört  werden  können.  Ob  sie  als  zusammengehend 
empfunden  werden,  darüber  entscheidet  ein  Zustimmungs-  oder  Un- 
stimmigkeitsgefühl in  uns  und  dient  als  Gradmesser,  ob  und  wie  ein 
neuer  Gefühlston  in  eine  vorhandene  Disposition  sich  einfügt.  So 
führt  Hölderlin  in  seiner  »Abendphantasie«  bei  der  Schilderung  der 
Abendruhe  in  Dorf  und  Stadt  den  genügsamen  Pflüger  uns  vor  Augen, 
der  nach  des  Tages  Mühe  in  Erwartung  der  bescheidenen  Abendmahl- 
zeit vor  seiner  Hütte  sitzt,  den  Wanderer,  den  die  Abendglocke  freund- 
lich im  Dorf  empfängt,  den  Schiffer,  der  in  den  sicheren  Hafen,  ein- 
läuft, die  Freunde,  die  nach  verrauschtem  Lärm  des  Marktes  in  stiller 
Laube  sich  zum  geselligen  Mahl  vereinen,  und  weckt  durch  diese 
Bilder  die  harmonisch  zusammenklingenden  Eindrücke  ausruhender  Zu- 
friedenheit, freundlicher  Geborgenheit,  behaglicher  Sicherheit,  traulicher 
geselliger  Erholung,  denen  dann  als  starker  Kontrast  die  eigene  innere 
Unrast  und  Ruhelosigkeit  mit  der  schmerzlichen  Frage:  Wohin  dann 
ich?  gegenübergestellt  wird.  Ein  Gedicht  von  Bierbaum  sei  noch  als 
Probe  angeführt,  nicht  als  ob  es  an  geistigem  Gehalt  sich  mit  denen 
eines  Hölderlin  messen  könnte,  sondern  weil  es  unter  dem  Gesichts- 
punkt des  Zusammenstimmens  charakteristisch  ist. 

Traum  durch  die  Dämmerung. 

Weite  Wiesen  im  Dämmergrau; 
Die  Sonne  verglomm,  die  Sterne  zielien: 
Nun  geh  ich  zu  der  schönsten  Frau, 
Weit  über  Wiesen  im  Dämmergrau, 
Tief  in  den  Busch  von  Jasmin. 

Durch  Dämmergrau  in  der  Liebe  Land; 
Ich  gehe  nicht  schnell,  ich  eile  nicht; 
Mich  zieht  ein  weiches,  samlnes  Band, 
Durch  Dämmergrau  in  der  Liebe  Land, 
In  ein  blaues,  mildes  Licht. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  265 


Es  ist  bemerkenswert,  wie  gut  sich  die  einzelnen  Züge  dieser  Traum- 
stimmung ineinanderfügen.  Im  Raumbild  gleich  zu  Beginn  ein  Verwischen 
der  Umrisse,  ein  verschwommenes  Verdämmern;  auf  das  Bewußtsein 
übertragen  ein  traumhaft  dämmernder,  willenloser  Zustand  des  Gezogen- 
und  Geleitetwerdens;  wo  aber  alles  Bestimmte,  Klare  und  Gewollte 
verschwimmt,  zerfließt  das  Gefühl  in  einer  weichen,  süßen  und  milden 
Stimmung.  Geruchssinn  (Jasminduft),  Tastsinn  (das  weiche,  samtene 
Band)  und  Gesichtssinn  (das  blaue,  milde  Licht)  vereinigen  ihre  Gefühls- 
noten, Rhythmus  und  Lautmalerei  mit  weich  klingenden  Worten,  Wortan- 
fänge und  Laufe  geben  ihren  Beitrag,  um  den  Hauptakzent  auf  das 
Weiche  einer  süßen  Liebesstimmung  fallen  zu  lassen.  Ähnliche  Betrach- 
tungen ließen  sich  noch  an  anderes  von  Bierbaum,  z.  B.  seinen  »Bangen 
Abend«  anknüpfen.  Es  ist  schon  oben  als  psychologische  Eigentümlich- 
keit der  Stimmung  angedeutet  worden,  daß  oft  ein  Ton  aus  dem  Akkord 
so  anschwillt,  daß  er  die  ganze  Gefühlslage  beherrscht;  im  Lauf  der 
Entwicklung  kann  er  wieder  zurücktreten,  im  Ganzen  verschwimmen 
und  vielleicht  einem  anderen  Platz  machen.  In  dem  zuletzt  genannten 
Gedicht  tritt  aus  der  bangen,  gedrückten  Stimmung  zuerst  das  Gefühl 
der  Verlassenheit  hervor:  der  Dichter  fühlt  sich  verlassen,  nirgendwo 
zu  Hause,  in  den  traulich  erhellten  Häusern  winkt  ihm  keine  Schwelle. 
Im  weiteren  Verlauf  verschwindet  dieser  einzelne  Gefühlston  in  der 
Gesamlstimmung  eines  schalen,  kraft-,  färb-  und  klanglosen  Lebensge- 
fühles, symbolisch  dargestellt  in  dem  stillen,  matten  und  flachen  Da- 
hinschleichen  eines  Flüßchens  durch  die  graue,  lastende  Stummheit 
fahler  Wiesengründe.  Ursprung,  Sinn  und  Wesen  seiner  zunächst 
als  bange  Vereinsamung  gefühlten  Stimmung  sind  ihm  im  Erleben 
des  Natur  Vorganges  erst  recht  aufgegangen.  Von  einem  »Dominanten- 
wechsel«  ließe  sich  häufig  bei  religiös  ausklingender  Lyrik  sprechen 
wie  etwa  bei  Rückerts  Abendlied  (»Ich  stand  auf  Berges  Halde«).  Hier 
ist  wohl  zu  Anfang  mit  dem  Frieden,  der  vom  Himmel  auf  die  Erde 
niedertaut,  mit  den  Abendglockenlaufen,  unter  denen  die  Natur  zur  Ruhe 
geht,  ein  religiöser  Ton  vorbereitend  angeschlagen.  In  der  folgenden 
Schilderung  der  zur  Rüste  gehenden  Natur  hält  er  sich  aber  ganz  in 
der  Unterstimmung  des  Gefühls,  wirkt  nur  dunkel  aus  ihr  heraus  nach, 
um  dann  zum  Schluß  aufzutauchen  und  als  Sehnsucht  nach  dem  Frieden 
der  himmlischen  Heimat  der  ganzen  Stimmung  seine  Färbung  zu  ver- 
leihen. 

Wir  haben  bisher  nur  von  der  Verschmelzung  gleichartiger  und 
verwandter  Gefühle  gesprochen,  es  gibt  aber  auch  eine  solche  von 
kontrastierenden.  Da  sich  unser  ganzes  Gefühlsleben  stark  in  Kon- 
trasten bewegt,  so  muß  dieses  Prinzip  auch  in  der  Lyrik  seine  Stelle 
einnehmen.    Zwar  können  wir  den  Kontrast  nicht  unter  ihre  Wesens- 


266  HANS  KLAIBER. 


merkmale  aufnehmen,  wie  man  schon  getan  hat;  dem  ohne  jeden 
Kontrast  durchgeführten,  oben  zitierten  Idyll  von  Morgenstern  wird 
man  so  wenig  echt  lyrische  Stimmung  absprechen  dürfen  wie  manchen 
ähnlichen  kleinen  Stimmungsbildern  von  Holz  oder  Schlaf.  Immerhin 
wird  sich  bei  verwickeiteren  Seelenvorgängen  die  Kontrastbeziehung 
sehr  häufig  einstellen.  Oft  beruht  die  ganze  Stimmung  ihrem  innersten 
Wesen  nach  auf  einem  Oszillieren  zwischen  zwei  Gegensätzen,  so  be- 
sonders in  dem  Lieblingsthema  der  lyrischen  Dichtung,  dem  Ruhebe- 
dürfnis eines  unruhigen  Herzens.  Der  Dichter  versenkt  sich  einfühlend 
in  die  Ruhe-  und  Friedensstimmung  der  Natur  oder  menschlichen  Um- 
gebung und  findet  doch  darin  keine  Beruhigung,  ja  er  kommt  dadurch 
erst  recht  zum  Bewußtsein  seiner  quälenden  Unrast.  Dieser  Gegen- 
satz kann  breit  ausgeführt  sein,  oder  wie  in  Goethes  Worten:  »Warte 
nur,  balde  ruhest  du  auch«  nur  angedeutet  werden.  Ein  gutes  Bei- 
spiel eines  durch  drei  Strophen  durchgeführten  Schaukeins  zwischen 
zwei  Polen  bietet  K.  Hauptmanns  ; Erdgeborene  Erdgeboren  fühlt  sich 
der  Dichter  und  sendet  doch  seine  Träume  hinauf  ins  Blaue,  gleich 
den  Bäumen,  die  im  Boden  wurzelnd  ihre  Wipfel  im  Heidewind  schaukeln, 
gleich  den  Lerchen,  die  in  den  Schollen  hausend  sich  im  Sommerwind 
emporschwingen;  hier  das  erdenschwere  Sicheinsfühlen  mit  dem  Mutter- 
boden, der  uns  erzeugt,  dort  der  Aufschwung,  die  Erhebung  über  die 
Erde  in  luftigen  Dichterträumen,  und  die  zwei  miteinander  um  den 
Besitz  der  Seele  streitenden  Gefühle  vereinigt  zu  einem  Totalgefühl, 
das  nun  eben  den  Charakter  der  Zwiespältigkeit  trägt.  Wo  der  Gegen- 
satz so  grundlegend  für  die  Stimmung  ist,  erzeugt  er  ein  starkes  Ein- 
heitsbewußtsein; ebenso  wenn  er  den  rhythmischen  Verlauf  der  Stim- 
mung bestimmt  wie  häufig  bei  Hölderlin.  Wie  sich  bei  ihm  der  Strophen- 
bau im  Gegensatz  von  Thema  und  Gegenthema  und  ihrer  Synthese 
vollzieht,  das  hat  Victor ')  behandelt  und  auf  die  Parallele  zur  Hegel- 
schen  Begriffsdialektik  treffend  hingewiesen.  Doch  hat  er  gewiß  recht 
damit,  daß  es  sich  dabei  nicht  um  eine  bewußte  logische  Konstruktion 
handelt,  sondern  um  den  Ausdruck  eines  spontanen  Gefühlserlebnisses, 
wobei  poetisches  Erleben  und  sinnliche  Form  sich  in  wunderbarer 
Weise  decken. 

Die  schon  aus  anderem  Anlaß  angeführte  »Abendphantasie«  ist 
geradezu  typisch  für  die  im  Gegensatz  von  Erhebung  und  Depression 
verlaufende  Stimmungsentwicklung  und  reizt  uns,  den  mehrmaligen 
Wechsel  der  Gefühlslage  durch  das  Steigen  und  Fallen  einer  Kurve 
zu  veranschaulichen.    Zuerst  Erhebung  in  dem  freundlichen  und  tröst- 


')  K.  Victor,  Der  Bau  der  Gedichte  Hölderlins.    In  dieser  Zeitschrift  Bd.  XIV, 
S.  340  ff. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  267 


liehen  Akkord  der  Abendruhe  in  Dorf  und  Stadt,  dann  die  gedrückte 
Frage  »Wohin  dann  ich?«  Im  Gegensatz  zur  äußeren  Ruhe  lastet  die 
innere  Friedlosigkeit  um  so  schwerer.  Neuer  Aufschwung:  Der  lieb- 
lich in  purpurnen  Duft  zerfließende  Abendhimmel  gibt  einen  Lichtblick 
und  Hoffnung  auf  Erlösung,  aber  bald  sinkt  die  Schale  wieder,  und 
in  einsamem  Dunkel  steht  der  Dichter  verlassen.  Doch  er  rafft  sich 
zum  Schluß  wieder  auf  und  ringt  sich  durch  zum  stillen  Verzicht  auf 
die  Träume  der  ruhelosen  Jugend  und  erreicht  so  eine  der  Eingangs- 
stimmung bescheidener,  ruhiger  Zufriedenheit  verwandte  Gefühlslage. 
Doch  braucht  von  dieser  rhythmischen  Führung  der  Stimmungskurve, 
von  der  Auflösung  des  Kontrastes  und  derlei  in  ästhetischen  Analysen 
viel  behandelten  Dingen  nicht  weiter  die  Rede  zu  sein.  Nur  soviel 
sei  gesagt:  Je  mehr  sich  der  Kontrast  auf  den  Grundcharakter  und  die 
spezifischen  Verlaufsformen  der  Gefühle  bezieht,  desto  durchsichtiger 
bleibt  die  Linienführung,  desto  eher  ist  es  möglich,  das  letzte,  oberste 
Totalgefühl  noch  als  eine  Einheit  zu  erfassen  und  als  Stimmung  zu 
erleben.  Je  mehr  sich  dagegen  der  Kontrast  auf  die  Vorstellungsseite 
bezieht,  um  so  reicher  und  mannigfaltiger  kann  der  geistige  Inhalt 
des  Gedichtes  werden,  um  so  lockerer  werden  aber  auch  die  Bezie- 
hungen; es  bleibt  zwar  ein  Gefühl  von  der  Stetigkeit  der  Entwick- 
lung, aber  das  Endergebnis  wird  bisweilen  mehr  einem  das  Ganze 
umschwebenden  Duft,  als  einem  in  den  Einzeltönen  noch  erkennbaren 
Akkord  gleichen. 

Aber  die  Begabung  des  echten  Lyrikers  tut  sich  nicht  nur  in  der 
bisher  geschilderten  Fälligkeit  kund,  eine  Stimmung  zu  zerlegen  und 
aus  ihren  Bestandteilen  in  einer  reaktive  Gefühle  weckenden  Form  auf- 
zubauen, er  versteht  auch,  uns  in  der  sprachlichen  Form  Anhaltspunkte 
für  die  Arten  des  Verlaufes  zu  geben.  Zunächst  wird  die  sprachliche 
Gliederung  auf  diejenige  des  Gefühlsprozesses  Bezug  nehmen.  Wie 
eine  epische  Dichtung  die  verschiedenen  Stadien  einer  Handlung  und 
geschilderten  Charakterentwicklung,  wie  das  Drama  die  Stufen  eines 
dargestellten  Konfliktes,  so  bildet  die  Lyrik  die  Stufen,  Einheiten  und 
Abschnitte  der  Stimmungsentwicklung  durch  äußere  Gliederung,  sprach- 
liche, rhythmisch- melodische  Einschnitte,  Ruhepausen,  Abschlüsse  nach. 
Dabei  kann  das  vom  Dichter  gewählte  Versmaß  gute  Dienste  leisten, 
ohne  daß  er  sich  etwa  an  seine  Strophengliederung  pedantisch  anzu- 
schließen hätte.  Es  .handelt  sich  für  uns  dabei  überhaupt  weniger 
um  das  äußere  Versmaß  —  die  rhythmisch  bewegte  Prosa  steht  dar- 
in der  metrischen  Poesie  nicht  nach  -  als  um  das,  was  Heine  die 
innere  Metrik  nennt,  deren  Norm  der  Schlag  des  Herzens  ist,  die  Ruhe- 
pausen und  Einschnitte,  die  das  »geheime  Atemholen  der  Muse^  an- 
zeigen.    Die  Wahl   eines  Metrums   ist  häufig  gar  nicht  bedingt  durch 


268  HANS  KLAIBER. 


den  Wunsch,  einen  besonderen  Rhythmus  des  Oefühlsverlaufes  zum 
Ausdruck  zu  bringen,  sondern  von  äußeren  Einflüssen,  Vorbildern  und 
Tradition  abhängig.  Die  innerlichsten  Beziehungen  zu  den  Gefühls- 
abläufen offenbaren  sich,  von  den  freien  Rhythmen  abgesehen,  nicht  in 
der  Wahl,  sondern  in  der  Behandlung  des  Versmaßes.  Der  Stimmungs- 
charakter eines  Metrums  ist  bekanntlich  überaus  unbestimmt  und  viel- 
deutig, der  Versuch,  Versmaße  für  Dichtungen  dieser  oder  jener  Stim- 
mung festzulegen,  scheitert  an  der  tatsächlichen  Mannigfaltigkeit  ihrer 
Verwendung.  An  diesen  allgemeinen  Charakter  der  Metren  denkt 
Lehmann'),  wenn  er  behauptet,  in  der  melischen  Lyrik  der  Alten  nehme 
die  Kunst  der  metrischen  Form  keine  Rücksicht  auf  den  Inhalt,  da 
die  gleichen  Formen  für  alle  möglichen  Empfindungen  und  Gegen- 
stände, Klage  und  Freude,  Liebeslied,  Trinklied,  politisches  Lied  ver- 
wendet würden.  Als  ob  nicht  erst  in  der  Behandlung  dieser  Strophen, 
der  Verteilung  der  Wörter  auf  den  Vers  und  der  Gliederung  durch 
Zäsuren  die  Kunst,  sie  in  den  Dienst  der  Stimmung  zu  stellen,  sich 
zeigte!  Es  würde  nicht  leicht  fallen,  dem  Hexameter,  der  auch  in  der 
antiken  Lyrik  Verwendung  gefunden  hat,  einen  bestimmten  Stimmungs- 
charakter beizulegen.  Welch  ungeahnten  Reichtum  an  rhythmisch- 
melodischen Wirkungen  durch  Wahl  und  Stellung  der  Wörter  dieser 
Vers  in  sich  schließt,  wenn  ein  feinhöriger  Rhythmiker  ihn  belauscht, 
beweist  für  die  lateinische  Sprache  Ed.  Nordens  Analyse  des  vergilschen 
Hexameters.  Für  die  Lyrik  ist  also  die  Meinung,  als  ob  die  Beziehung 
zwischen  Inhalt  und  Rhythmus  erst  auf  den  höchsten  Stufen  dichte- 
rischer Entwicklung,  und  auch  da  nur  verhältnismäßig  spät  und  selten 
auftrete,  keinesfalls  zutreffend,  sobald  man  sich  nicht  in  äußerlicher 
Weise  an  das  Versmaß  hält.  Sie  ist  vielmehr  in  der  s  inneren  Metrik  < 
des  wahren  Lyrikers  stets  vorhanden.  Künstliche  Formspielereien,  bei 
denen  es  nicht  auf  den  sprachlichen  Ausdruck  einer  Stimmung,  sondern 
einer  metrischen  Form  ankommt,  fallen  nicht  darunter,  sie  gehen  in 
der  >äußeren  Metrik«  auf.  Welche  Bewegungsfreiheit  vollends  die 
deutschen,  nicht  an  strenge  Silbenzahl  gebundenen  Versmaße  mit  ihrem 
Wechsel  von  Hebung  und  Senkung  dem  Dichter  lassen,  wird  heut- 
zutage bei  jeder  ästhetischen  Würdigung  eines  lyrischen  Gedichtes 
aufgezeigt.  Auch  die  Intensitätsverhältnisse  der  einzelnen  Gefühlswerte 
kommen  in  der  Form  weitgehend  zum  Ausdruck  in  der  Stellung  und 
Betonung  derjenigen  Sprachvorstellungen,  die  ihre  Träger  sind.  Die 
beiden  Mittel  verwendet  z.  B.  Tibull  in  seinem  Lob  des  Friedens,  um 
den  Eindruck  des  Schaurigen  von  Krieg  und  Streit  als  Leitrnotiv  der 
ersten  Verse  aufzustellen.    Quis  fuit  horrendos  primiis  qui  protulit 


')  R.  Lehmann,  Deutsche  Poetik  1908. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  269 


enses?  Die  Vorausstellung  und  Wahl  der  aus  drei  im  Vers  betonten 
Längen  bestehenden  Bezeichnung  für  das  Schaurige  drückt  die  Stärke 
des  Oefühlstones  aus.  Hinsichtlich  der  Wortstellung  haben  allerdings 
die  antiken  Sprachen  eine  für  uns  unnachahmbare  Freiheit.  In  der 
deutschen  Dichtung,  wo  Sinn-  und  Versbetonung  zusammengehen, 
läßt  sich  durch  die  Führung  der  Sprachmelodie  —  es  handelt  sich  da- 
bei nicht  um  die  stimmungsschildernde  Klangmalerei  —  speziell  den 
Tonfall  ein  gefühlsbetontes  Vorstellungselement  in  den  Vordergrund 
rücken  oder  ein  Gefühlseindruck  äußerlich  abrunden.  Nehmen  wir 
etwa  das  Musterbeispiel,  das  Holz*)  in  seinem  Kampf  gegen  die 
Musik  in  der  Lyrik  als  eine  Probe  des  »natürlichen  Rhythmus«  auf- 
stellt: »Hinter  blühenden  Apfelbaumzweigen  geht  der  Mond  auf«  im 
Gegensatz  zur  prosaischen  Stellung:  »Der  Mond  geht  hinter  blühen- 
den Apfelbaumzweigen  auf.«  Im  ersten  Fall  ergibt  sich  eine  Schluß- 
kadenz mit  natürlicher  Tonsenkung  auf  Mond,  die  einen  bestimmten 
Vorstellungs-  und  Gefühlsverlauf  zum  Abschluß  bringt;  auch  erleichtert 
uns  die  Stellung,  die  hauptsächlichen  Gefühlswerte  der  Szenerie  und 
des  Vorgangs,  dem  sie  als  Vordergrund  dient,  zu  erleben.  Ein  näheres 
Eingehen  auf  diese  Probleme  der  Tonführung  würde  uns  in  Sievers' ') 
Lehre  von  den  klanglichen  Konstanten  in  der  dichterischen  Sprache 
hineinführen.  Im  Kunstwerk,  und  träte  es  selbst  in  elementarster  Form 
entgegen  wie  hier,  liegt  ein  suggestiver  Zwang,  so  und  nicht  anders 
erlebt  zu  werden,  und  indem  wir  reproduzierend  diese  Forderungen 
erfüllen,  kommt  es  im  Genuß  erst  zur  vollen  Auswirkung  seiner  inneren 
Gesetzmäßigkeit.  Daneben  spielt  übrigens,  wie  man  schon  oft  festge- 
stellt hat,  gerade  in  den  besten  Holzschen  Gedichten  auch  der  Rhythmus 
im  herkömmlichen  Sinn,  der  Wechsel  zwischen  Hebungen  und  Sen- 
kungen, seine  Rolle,  mag  man  nun  die  überlieferten  Zeichen  oder  Zahlen 
für  den  Wechsel  der  Hauptton-,  Nebenton-  und  unbetonten  Silben 
verwenden.  Daß  Versmaß,  Strophe  und  Reim  für  Dichter  zweiten 
Ranges,  die  das  Gut  der  Großen  verwerten  und  einem  volkstümlicheren 
Geschmack  näherbringen.  Gefahren  mit  sich  bringt,  ist  Holz  gegen- 
über nicht  zu  bestreiten,  aber  ebensowenig,  daß  die  von  ihm  und 
seinen  Genossen  gepflegte  rhythmische  Prosa  sich  nicht  für  jeden 
lyrischen  Stoff  eignet.  Dasselbe  gilt  für  die  sogenannten  freien  Rhyth- 
men. Es  war  darum  nicht  Mangel  an  Einsicht,  wenn  einige  unserer 
großen  Lyriker  zwar  freie  Rhythmen  für  manche  Stoffe  benützt,  aber 
daneben  auch  in  der  herkömmlichen  Form  geschaffen  haben,  als  ob 

')  A.  Holz,  Revolution  der  Lyrik  1899. 

■)  Eine  kurze  Darstellung  dieser  Lehre  im  Bericht  des  Kongresses  für  Ästhetik 
u.  allg.  Kunstwissenschaft  S.  456  ff.  Dazu  auch  Dessoir  in  der  Eröffnungsrede  dieses 
Kongresses  S.  53. 


270  HANS  KLAIBER. 


sie  etwa  das  betretene  Neuland  gar  nicht  erkannt  und  gewürdigt  hätten. 
Nur  wo  die  innere  Anteilnahme  des  Dichters  in  erster  Linie  von  der 
Eigenart  der  Veriaufsformen  seiner  Gefühlsvorgänge  in  Anspruch  ge- 
nommen ist,  von  dem  Wechsel  des  crescendo  und  diminuendo,  der  steigen- 
den und  fallenden  Kurve,  dem  Gegensatz  zwischen  langgezogenen  und 
kurzen,  kleinteiligen  Verläufen,  zwischen  Fließendem  und  Stockendem, 
Leichtem  und  Getragenem  usw.,  da  werden  die  Möglichkeiten,  die  ein 
gegebenes  Metrum  der  individuellen  Rhythmisierung  bietet,  ihm  nicht 
mehr  genügen,  und  der  Wogengang  der  Gefühle  schafft  sich  in  den 
freien  Rhythmen  seine  eigenen  Ausdrucksformen.  Dies  ist  also  nach 
unserer  Auffassung  nicht  ein  Novum,  sondern  nur  der  Höhepunkt 
eines  Prozesses,  der  in  seinen  Vorstufen  in  jedem  echten  lyrischen 
Kunstwerk  zu  erkennen  ist.  Daß  wir  Höhepunkt  hier  nicht  im  Sinn 
einer  Wertung  verstehen,  ergibt  sich  aus  den  bisherigen  Ausführungen; 
im  Gegensatz  zu  Sieburg  i),  der  im  Sinn  einer  metaphysischen  Ästhetik 
den  Hymnus  als  die  Formung  des  »absoluten  Wortes«,  als  Kongruenz 
von  Ich  und  Erlebnis  den  Formungen  des  >Gedichtes<'  und  des  »Liedes« 
gegenüberstellen  will.  Abgesehen  davon,  daß  die  Kategorisierung  nach 
seinen  eigenen  Worten  sich  nicht  durchführen  läßt  und  die  von  ihm 
auf  drei  Stufen  verteilten  Elemente  in  Wirklichkeit  im  Schaffen  der- 
selben Dichter  durcheinandergehen,  ist  seine  Gleichsetzung  von  Melodie 
und  Stimmung  durchaus  willkürlich.  Sollte  an  der  Stimmung  in  dem 
allgemein  angenommenen  Sinn  des  Wortes  nicht  eben  der  Rhythmus 
wesentlich  beteiligt  sein?  Auch  scheint  er  sich  seinen  Begriff  vom 
Hymnus  zu  einseitig  an  den  Schöpfungen  der  letzten  Periode  Hölderlins 
gebildet  zu  haben,  in  deren  Wertung  wir  Diltheys  Urteil  den  Vorzug 
geben.  Wer  die  Sprache  als  das  Darstellungsmittel  der  Poesie  be- 
trachtet, wird  Auflösung  der  Form  und  höchste  Formung  auseinander- 
halten und  auch  Kiopstocks  Versuch,  das  horazische  >aequam  memento 
rebus  in  arduis^  unter  Nachbildung  der  lateinischen,  freien  Wortstel- 
lung zu  übersetzen,  doch  nur  als  »Schrulle«  bezeichnen,  unvereinbar 
mit  den  Gesetzen  der  modernen  Sprachen.  Um  so  mehr,  als  hier  alles 
andere  denn  ein  Hymnus  vorliegt.  Für  gewöhnlich  ist  die  Beziehung 
zur  Form  des  Gefühlsverlaufes  nicht  fortlaufend  durch  eine  eigene 
metrische  Form  verwirklicht,  sondern  innerhalb  eines  übernommenen 
Maßes  durch  Andeutungen  besonders  an  markanten  Stellen,  Höhe- 
punkten, Umschlägen,  wobei  der  künstlerische  Charakter  des  Schöpfers 
ebenso  wie  des  Themas  weite  Grenzen  lassen.  Diesen  Fragen  der 
Rhythmik  im  einzelnen  nachzugehen,  liegt  aber  außer  dem  Rahmen 


')  Fr.  Sieburg,  Die  Grade  der  lyrischen  Formung.    In  dieser  Zeitschrift  Bd.  XIV, 
S.  356  ff. 


DIE  LYRISCHE  STIMMUNG.  271 

unserer  Arbeit.  Ebenso  die  Würdigung  der  übrigen  musikalischen 
Mittel,  deren  Bedeutung  für  die  lyrische  Poesie  durch  gewisse  Über- 
treibungen oder  durch  Gefahren  für  schwächere  Talente  natürlich  nicht 
herabgesetzt  werden  kann.  Wie  wunderbar  sie  bei  einem  Verlaine 
oder  George  an  der  Erzeugung  einer  in  sich  vollkommen  geschlossenen 
Stimmung  mitwirken,  ist  allbekannt.  Trotzdem  möchten  wir  mit  dem 
früher  aufgestellten  Satze  schließen,  daß  sie  zwar  der  lyrischen  Stimmung 
aufs  innigste  wesensverwandt,  aber  zu  ihrem  Zustandekommen  nicht 
unbedingte  Voraussetzung  sind. 


vni. 

Über  Wesensdeutung  von  Landschaftsbildern 

gezeigt  an  der  holländischen  Landschaftsmalerei  des 

17.  Jahrhunderts. 

Von 

Willy  Drost. 

Vorbereitend  auf  die  Art  der  folgenden  Betrachtung,  die  an  dem 
besonderen  Gegenstände  der  holländischen  Landschaftsmalerei  im 
17.  Jahrhundert  versucht  werden  soll,  mögen  am  Eingange  zwei  Gesichts- 
punkte hervorgehoben  werden,  die  ständig  wechseln,  wenn  wir  uns 
den  Kunsterzeugnissen  der  Vergangenheit  zuwenden  und  uns  ihrer 
begrifflich  zu  bemächtigen  suchen.  Unter  dem  einen  sehen  wir  die 
Objekte  auf  die  Abweichungen  hin  an,  unter  dem  anderen  auf  ihre 
Gleichartigkeit.  Hier  kommen  wir  zu  dem  stetig  fortschreitenden 
Gange  einer  kontinuierlichen  Entwicklung,  indem  wir  die  Objekte,  wie 
sie  sich  in  steten  Differenzierungen  zeitlich  folgen,  koordinieren,  dort 
erhalten  wir  obere  Gattungsbegriffe,  zentralistische  Punkte,  von  denen 
eine  Reihe  von  Erscheinungen  nach  vorwärts  und  rückwärts  ausstrahlen. 
Grundlage  für  beide  Betrachtungsarten  ist  der  lückenlose  Zusammen- 
hang in  der  Welt  der  Kunstprodukte.  Es  ist  eine  Ueberzeugung  a  priori 
des  Forschers,  daß,  wie  die  Natur  keinen  Sprung  macht,  auch  in  dieser 
Kette  kein  Glied  fehlen  kann.  Ragt  ein  Kunstwerk  unvermittelt  auf, 
wie  zum  Beispiel  der  Genter  Altar  der  Brüder  van  Eyck,  so  wird  in 
dem  Bewußtsein  nach  den  vermittelnden  Gliedern  gesucht,  sie  sind 
vorhanden,  man  kennt  sie  nur  nicht.  Während  aber  der  Gesichtspunkt 
der  Entwicklung  die  Versuchung  mit  sich  bringt,  ein  Glied  von  dem 
anderen  herzuleiten  und  die  Abweichung  kausal  zu  erklären,  muß  es 
sich  der  andere  angelegen  sein  lassen,  jene  zentralistischen  Punkte  durch 
einen  inneren  Sinnzusammenhang  zu  stützen.  Begriffe  wie  das  Roma- 
nische, Gotische,  die  ja  auch  die  entwicklungsgeschichtliche  Betrachtung 
annimmt,  sind  nur  möglich  durch  die  Konstituierung  eines  geistigen 
Sinnzusammenhanges,  dessen  jeweilige  Auffassung  den  Streit  um  die 
historische  Begrenzung  erklärt.  Wir  erhalten  Ideen,  die  sich  aus  dem 
geschichtlichen  Zusammenhange  herauslösen  und  sab  specie  aeternitatis 


n 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  273 

betrachten  lassen.  Hier  liegt  die  Gefahr  eines  dogmatischen  Ver- 
fahrens vor,  das  den  empirischen  Bestand  vergewaltigt. 

Für  den  Nachweis  des  Zusammenhangs  der  Kunstgebiide  scheint 
der  modernen  Kunstwissenschaft  das  Raumschema  ein  gültiges  Kriterium 
abzugeben.  Die  Gesetzmäßigkeit  in  der  Entwicklung  des  Raumge- 
fühls ist  offenbar  und  gibt  eine  sichere  Handhabe.  Einerseits  macht 
man  nun  in  dem  Gefühle  der  vollständigen  Lösung  des  Raumproblems 
durch  die  Gegenwart  die  geschichtlichen  Gebilde  zu  Etappen  auf  dieses 
Ziel  hin,  andrerseits  erkennt  man  das  jeweilige  Schema  als  eine  mit 
der  Idee  notwendig  verknüpfte  Form  und  darum  als  Endpunkt  und 
restlose  Lösung. 

Indem  wir  uns  hier  der  holländischen  Landschaftsmalerei  im 
17.  Jahrhundert  zuwenden,  folgen  wir  der  ideellen  Betrachtungsart,  ohne 
daß  wir  uns  anmaßen,  in  der  Klassifizierung  verschiedener  geistiger 
Einstellungen  den  Eigengehalt  der  darunter  fallenden  Werke  und  Künstler- 
persönlichkeiten vollständig  auszuschöpfen.  In  Vollständigkeit  soll  sie 
uns  nur  die  Mittel  an  die  Hand  geben,  die  wir  nun  selbst  als  heuristi- 
sche Prinzipien  auf  die  Erscheinungen  anwenden  können,  um  das 
Menschliche  in  ihnen  zu  erleben.  Geschichtlich  genommen  ist  die 
großartige  Leistung  dieser  Malerei  die  vollkommene  Darstellung  des 
unendlichen  Freiraums,  an  der  viele  Jahrhunderte  gearbeitet  haben. 
Von  der  Idee  aus  gesehen  verknüpft  sich  diese  Art  der  räumlichen 
Gestaltung  mit  einer  besonderen  Stellung  des  Menschen  zur  Welt, 
sie  wird  aber  durch  den  Ausdruckswillen  eines  Gsistes,  der  be- 
deutsam über  seine  Zeit  hinauswächst,  durchkreuzt.  So  verschieden 
der  Geist  Rembrandts  von  dem  der  holländischen  Volksmaler  ist,  so 
verschieden  sind  auch  die  Merkmale  der  räumlichen  Synthese  ihrer  Bilder. 


In  überraschendem  Reichtum  und  mannigfaltigen  Spielarten  kommt 
im  Anfange  des  17.  Jahrhunderts  in  Holland  eine  Landschaftsmalerei 
auf,  die  sich  von  allem,  was  vorher  und  nachher  auf  diesem  Gebiete 
hervorgebracht  wurde,  im  inneren  Wesen  unterscheidet.  Hier  erst  er- 
hält die  Landschaftsmalerei  ihre  volle  Legitimität  und  tritt  gleichbe- 
rechtigt neben  die  anderen  Gattungen  der  Malerei.  Und  zwar  er- 
scheint das  nicht  als  die  Tat  einzelner  hervorragender  Künstler.  In 
dem  eigentümlichen  Gepräge  der  Erzeugnisse  sehen  wir  nicht  den  Aus- 
druck individueller  Persönlichkeiten.  Denn  unzählig  sind  die  Namen 
derer,  die  sie  hervorbrachten,  menschlich  unbedeutend  und  uns  mehr 
oder  minder  gleichgültig,  und  doch  beweisen  diese  Werke  einen  ein- 
heitlichen Geist  und  ein  nahezu  einheitliches  künstlerisches  Niveau 
auch  in  technischer  Beziehung.    Es  ist,  als  wenn  die  Zeit  selbst  in 

Zritsclir.  f.  Äsllietik  u.  all^.  Kunstwincnschaft.     XV.  18 


274  WILLY  DROST. 


dem  eng  umgrenzten  Lande  von  besonderer  Nationalität  und  besonderen 
Lebensbedingungen  eine  Frucht  zur  Reife  gebracht  hätte,  die  nun  aller- 
orten in  ungeheurem  Reichtum  eingeerntet  würde. 

Auch  diese  Landschaftsmalerei  steht  natürlich  in  einem  durch- 
gehenden Flusse.  Wir  können  sogar  in  enger  geographischer  Lokali- 
sation von  den  burgundischen  Miniaturen,  insbesondere  den  Kalender- 
bildchen über  die  Hintergründe  von  Bildern  altniederländischer  Schulen 
und  der  seit  den  Breughel  stark  landschaftlich  empfindenden  flämischen 
Malerei  die  Linie  verfolgen.  Aber  die  überindividuelle  Note,  die  Zahl 
der  Bilder,  legt  ganz  besonders  eine  Betrachtung  nahe,  die  die  holländi- 
sche Landschaft  des  17.  Jahrhunderts  nicht  aus  der  fiämisch-italisierenden 
ableitet,  ihrer  genetischen  Entwicklung  und  dem  Einmünden  in  die 
französische  Landschaft  nachgeht,  sondern  nach  dem  inneren  Wesen 
fragt,  das  ihre  Gebilde  als  einheitliches  Band  umschlingt.  Was  eben 
vielleicht  ein  konsequentes  Übergangsglied  war,  wird  jetzt  zur  besonderen 
Erscheinungsform  einer  Idee,  die  sich  nach  vielen  Seiten  in  der  Wirk- 
lichkeit auswirkt.  Den  geistigen  Urgrund  der  holländischen  Landschafts- 
malerei wollen  wir  hier  festzuhalten  versuchen. 

Zunächst  wenden  wir  uns  den  Bildern  zu,  die  uns  am  reinsten 
die  Idee  der  holländischen  Landschaftsmalerei  im  17.  Jahrhundert  dar- 
zustellen scheinen,  und  wählen  aus  dem  Heer  der  Maler  Jan  van  Goyen 
als  den  bezeichnendsten  und  bekanntesten  Vertreter  heraus.  Wir  heben 
also  nicht  seine  künstlerische  Individualität  hervor,  sondern  nehmen  ihn 
lediglich  als  typischen  Vertreter  einer  Landschaft,  deren  eigentümlichster 
Gehalt  im  Gegenteil  durch  ein  persönliches  Hervorragen  des  Meisters 
zerstört  würde.  Dieser  Teil  bleibt  das  Fundament  auch  für  die 
anderen.  Dann  betrachten  wir  die  Abwandlung  des  realistischen  Vor- 
wurfs zum  sentimentalen  Gefühlsausdruck,  wie  sie  der  eigenartige  Jakob 
van  Ruisdael  verwirklicht,  verfolgen  die  weitere  romantische  Zuspitzung 
in  den  italisierenden  Landschaften  Jan  Boths,  Berghems,  um  in  dem 
Werke  der  großen  Persönlichkeit  Rembrandts  einen  Gipfel  und  zu- 
gleich die  Überwindung  des  Zeitgeistes  festzustellen.  Wir  gehen  dabei 
nicht  von  irgendwelchem  kulturellen  Unterbau  und  Zeitverhältnissen, 
sondern  von  den  Objekten  selbst,  der  Welt  der  Bilder,  aus.  Die  bildende 
Kunst  hat  ihre  eigene  Gesetzlichkeit,  und  ihrer  Erkenntnis  kann  ein 
Vordringen  von  anderen  Gebieten  her  nur  schädlich  sein.  Aus  der 
Betrachtung  allein  der  Objekte  in  bezug  auf  die  formale  Gestaltung 
muß  sich  die  letzte  geistige  Deutung  ableiten  lassen,  wozu  dann  der 
Blick  auf  das  Menschliche  der  Künstlerpersönlichkeit  und  das  übrige 
geistige  und  kulturelle  Leben  der  Zeit  Hilfsmittel  hergeben  mag. 

Die  kosmische,  naiv  realistische  Landschaft.  Ganz  be- 
sonders verdienen  den  Namen  einer  holländischen  Landschaft  im  engeren 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  275 


Sinne  jene  Bilder,  die  auch  gegenständlich  genommen  das  Bezeichnende 
des  holländischen  Landes  darstellen,  die  weite,  von  Kanälen  und  Fluß- 
läufen durchzogene  Fläche,  auf  der  man  bis  zum  dunstigen  Horizonte 
in  Mühlen,  Segeln,  Häusern  die  Anzeichen  der  regsamen  Menschen- 
hand wahrnimmt,  und  ein  riesiger  wolkiger  Himmel.  Als  getreuester 
Maler  dieser  heimischen  Landschaft  ist  stets  Jan  van  Goyen  bezeichnet 
worden '),  der  sich  aus  einer  Menge  von  Volksmalern  heraushebt,  die 
ähnliche  Absichten  verfolgen.  Mit  wenigen  Worten  ist  das  auf  seinen 
späteren  Bildern  fast  durchgängig  angewandte  Schema  gezeichnet: 
Ein  Fluß  zieht  sich  breit  von  den  Seiten  des  Rahmens  aus  diagonal 
ins  Bild  hinein.  Seine  Ufer  sind  mannigfach  belebt.  Auf  dem  zunächst- 
iiegenden  erkennen  wir  Hütten  oder  Gehöfte  unter  alten  Bäumen, 
Menschen,  Fuhrwerke  davor,  das  entferntere,  gegenüberliegende  zeigt 
ebenfalls  Siedlungen,  die  mit  Kirchturm  und  Baumkronen  schließlich 
in  der  Ferne  des  Horizontes  verschwinden.  Der  Fluß  selbst  ist  mit 
Kähnen  und  Segelschiffen  bedeckt,  die  stufenweise  in  die  Tiefe  führen. 
Auf  den  Vordergrund  zu  sammelt  sich  eine  Dunkelheit,  die  Boot  und 
Menschen  beim  Fischfang  zu  dunkler  Silhouette  vereinigt  und  dadurch 
alles  andere  kräftig  zurückdrängt.  Darüber  aber  webt  der  große  nie- 
mals klare  Himmel,  ohne  daß  sich  die  Wolken  zu  bestimmten  Formen 
zusammenballen.  In  solchen  und  ähnlich  angelegten  Bildern  tritt  das 
Wesentliche  der  holländischen  Landschaftsmalerei  am  deutlichsten  zu- 
tage; von  ihnen  gehen  wir  vornehmlich  aus,  wenn  wir  nun  zusammen- 
fassend die  formalen  Merkmale  bestimmen,  deren  innerer  Zusammen- 
hang uns  die  Idee  der  spezifisch  holländischen  Landschaftsmalerei 
geben  soll.  Doch  erstreckt  sich  die  Analyse  auf  eine  größere  Anzahl 
von  Meistern  und  Abwandlungen  der  eben  gekennzeichneten  Art,  von 
der  die  folgenden  Bestimmungen  als  zusammenfassende  Sätze  gelten 
wollen. 

Das  zunächst  in  die  Augen  Fallende  ist  die  Einheitlichkeit  desp 
Tones,  der  sich  vom  Lufträume  aus  auch  über  alles  Körperliche  ver- 
breitet. Keines  von  den  gegenständlichen  Dingen  wird  als  einzelnes 
gesehen.  Seine  Einzelexistenz  wird  herabgedrückt,  wo  sie  sich  auf- 
zeigen könnte:  in  der  Eigen(Lokal-)farbe,  im  abgrenzenden  Umriß, 
in  der  plastischen  Körperlichkeit.  Die  Eigenfarbe  ist  zu  einem  schwer 
beschreibbaren  Ton  gedämpft,  der  sich  zwischen  einem  warmen  Braun 
und  Grün  hält.  Die  Abgrenzung  des  Gegenstandes  erfolgt  nicht  in 
Form  einer  bestimmten,  sprechenden  Linie,  durch  die  ein  jeder  tast- 

')  So  von  Bode,  Rembrandt  und  seine  Zeitgenossen  2.  Aufl.,  1907,  S.  123  u. 
129;  Wurzbach,  Oesciiichte  der  Holland.  Malerei  1885,  S.  153;  Friedländer,  Von  der 
niederländ.  Landschaftsmalerei,  Das  Museum  Bd.  6,  S.  46;  Neumann,  Rembrandt 
1902,  S.  150  und  anderen. 


276  WILLY  DROST. 


bare  Körper  isoliert  wird,  sondern  ist  ein  schummernder  Übergang 
in  den  Luftraum.  Die  greifbare  Körperiichl<eit  ist  zu  Tonwerten  opti- 
scher Art  gewandelt.  Schwerlich  wird  man  je  eine  einheitliche  Fläche 
an  Gegenständen  wahrnehmen  können.  Ein  wahres  Netz  von  Farb- 
tüpfeln oder  -strichen  überzieht  die  neutrale  Grundfarbe.  Dieser  Wille 
stimmt  mit  der  Wahl  des  Motivs  überein,  der  strohgedeckten  Hütte, 
der  krausen  Mannigfaltigkeit  des  Hausrates,  den  alten  Bäumen  und 
ähnlichem.  Das  Nebeneinander  von  unendlich  vielen  Tüpfeln,  die 
etwa  eine  Baumkrone  ausmachen,  stellt  nicht  die  einzelnen  Blätter  dar, 
sondern  gibt  nur  das  mannigfaltige  tonige  Relief,  das  die  Summe  der 
Blätter  als  optischer  Eindruck  bietet.  Das  Relief,  das  eine  solche  Auf- 
lösung des  isolierten  Körpers  hervorbringt,  ist  nicht  tastbar  hart,  sondern 
wollig  weich,  sich  verflüchtigend  in  unendlich  reichen  Abstufungen. 
Der  Einzelgegenstand  geht  in  das  übergeordnete  Ganze  des  Luft- 
raumes ein,  der  sich  im  Unbegrenzten  verliert.  Dieser  wird  nicht 
erst  über  dem  Horizont  sichtbar,  er  schwebt  schon  über  dem  Gegen- 
stände, der  dem  unteren  Bildrande  zunächst  liegt,  und  drückt  seine 
Eigenheit  in  Form  und  Farbe  zu  Trägern  für  ein  alles  durchwebendes 
Raumleben  herab.  Das  Körperliche  nimmt  auch  rein  der  Ausdehnung 
nach  überhaupt  keinen  großen  Maßstab  im  Bilde  ein,  wird  vielmehr 
ins  Winzige  gedrängt;  das  heißt:  die  Distanz  vom  Beschauer  zum 
mindest  entfernten  Punkte  des  dargestellten  Ausschnitts  wird  so  weit 
genommen,  daß  keine  Gefahr  besteht,  es  könnte  ein  Gegenstand'  in 
plastischem  Vollwert  aufdringlich  werden.  Eine  Vordergrundsebene,  die 
besondere  Bedeutung  beanspruchen  könnte,  gibt  es  damit  nicht.  Ohne 
den  Widerstand  einer  Komposition  in  der  Ebene  gleitet  das  Auge  auf 
der  weiten,  wenn  auch  noch  so  vielfach  belebten  und  gefüllten  Hori- 
zontalfläche entlang  bis  in  die  weiteste  Ferne.  Das  Bild  verliert  das 
Gepräge  des  gegenüberstehenden  Objekts.  Der  Beschauer  wird  beim 
Anschauen  gleichsam  mithineingezogen  und  sein  Blick  fährt  in  ihm 
herum  wie  in  einer  eigenen  Welt.  So  unendlich  weit  die  Erdfläche 
sich  aber  auch  in  den  Bildraum  hineinerstreckt,  sie  nimmt  nur  einen 
geringen  Teil  der  Bildfläche  ein.  Der  Augenpunkt  ist  so  tief  gewählt, 
daß  sie  flach  daliegt.  Außerdem  ist  sie  durch  die  Vielfältigkeit  der 
Erscheinungen  auch  farbig-tonig  so  aufgelöst,  daß  keinesfalls  ihr  plasti- 
scher Zusammenhang  wirksam  wird.  Der  tiefliegende  Horizont,  bis 
zu  dem  wir  in  ununterbrochenem  Verlaufe  geführt  werden,  ist  eines 
der  wichtigsten  Merkmale  dieser  Bilder.  Was  die  Bildtafel  zum  größten 
Teil  füllt,  ist  der  Luftraum.  Hier  braucht  nicht  Gegenständliches  seiner 
plastischen  Form  entkleidet  zu  werden.  Die  leichten  wandelbaren  Ge- 
bilde der  Atmosphäre  kommen  der  Absicht  des  Malers  entgegen,  aber 
auch  die  substantiellen  Farben,  wie  Blau  und  Weiß,  die  Himmelsgrund 


OBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  277 

und  Wolken  isolieren  würden,  werden  vermieden,  und  frei  entwickelt 
sich  in  grauen  und  braunen,  lichtdurchstrahlten  Wolken  ein  immaterielles 
Leben  von  Tonwerten  und  Lichtabstufungen. 

Wählen  wir  für  diese  formalen  Bestimmungen  einen  zusammen- 
fassenden Ausdruck,  so  scheint  uns  der  allgemeine  Begriff  kosmisch 
als  Bezeichnung  dafür,  daß  hier  stets  die  Vielheit  des  Einzelnen  vom 
Ganzen  aus  gesehen  ist,  zutreffend  zu  sein.  Das  Kosmische  ist  das 
Nichtsubjektive.  Vom  Universum  aus  gesehen  ist  der  Mensch  und 
seine  Welt  nur  ein  Teil  unter  unendlich  vielen  und  sein  Denken  nur 
eine  an  seinen  Organismus  geknüpfte  Lebensäußerung.  Auch  rein 
gegenständlich  genommen  ist  ja  der  Reichtum  des  Lebens  in  den 
holländischen  Landschaftsbildern  oft  so  groß,  daß  sie  die  Note  der 
Unübersehbarkeit  an  sich  tragen.  Etwa  zahllose  Schlittschuhläufer 
und  Schlitten  auf  dem  Eise,  Bäume,  Gerät,  Häuser,  Dörfer,  die  sich 
über  weite  Ebenen  erstrecken,  und  überall  darinnen  noch  Menschen, 
die  wir  in  punktartigen  Andeutungen  bisweilen  mehr  ahnen  als  er- 
blicken, oder  unzählige  Schiffe  mit  winzigen  Figürchen  auf  weiter 
Meeresfläche.  Aber  noch  in  anderer  Weise  spricht  dieser  weite,  welt- 
hafte Aspekt  auch  aus  dem  Einzelnen.  Die  braungrüne  Farbe,  die 
aufgelöste  Form,  sie  stellen  die  Abgeschlossenheit  eines  begrenzten 
Seins  in  Frage  und  lassen  in  den  Gegenständen  ihr  Werden  und  Ver- 
gehen erkennen.  Es  ist  der  Prozeß  der  Zeit  in  den  räumlich-simul- 
tanen Bestand  hineinverwoben.  So  werden  die  Dinge,  wenn  die  Zeit 
über  sie  hinweggeht.  Staub,  Fäulnis,  Rost  verdrängen  die  blanke  Farbe 
und  zersetzen  die  glatte  Fläche.  Sie  führen  zu  dem  erwähnten  Relief, 
zu  dessen  Gunsten  die  begrenzende  Linie  weichen  muß.  Das  Stroh, 
das  die  Bedachung  der  Wohnstätte  ausmacht,  vermodert,  das  Holz 
der  tragenden  Pfosten  und  Zäune  krümmt  sich  und  verrottet.  Die 
Ziegel  werden  mürbe  und  bröckeln  ab,  die  Bäume  bekommen  Runzeln, 
Knorpeln  und  werden  morsch.  In  jedes  Gebilde  der  Menschenhand 
dringt  die  Natur  und  macht  es  verfallen,  während  sie  sich  selbst  erneut. 
Zwischen  den  Rissen  und  Sprüngen  wuchern  Pilze,  Moos  und  Gras 
und  ziehen  jedes  künstliche  Menschengebilde  in  das  große  ewige  Leben 
des  Kosmos.  Und  selbst  die  Menschen  in  ihren  wulstigen  Kleidern, 
ihrer  verhutzelten  Haltung  und  den  plumpen  Gesichtern  scheinen  in 
diesen  rein  naturhaften  Zusammenhang  mit  aufgenommen  zu  sein. 

Die  Auflösung  des  objektiv  festen  Bestandes  eines  Gegenstandes  zu 
malerisch-toniger  Wirkung  dürfen  wir  keinesfalls  als  einen  willkürlichen 
Akt  des  schaffenden  Subjekts  nehmen.  Fassep  wir  die  Darstellung  des 
Gegenständlichen  selbst  näher  ins  Auge,  so  erweist  sich,  daß  der 
Gegenstand  trotz  seines  immateriellen  Wesens  seine  ihm  eigene  Gestalt 
beibehält   und   nach   statischen  Gesetzen   im  Räume  ruht.     Ein  Baum 


278  WILLY  DROST. 


verrät  nicht  den  subjektiven  Schwung  der  Künstlerhand,  die  ihn  nach 
ihrem  Ermessen  etwa  dem  Bildrande  angleicht  oder  mit  ihm  in  dekora- 
tiver Weise  eine  Mittelgruppe  einschließt.  Er  hat  seine  eigene  natür- 
liche Gesetzlichkeit,  der  der  Künstler  folgen  muß,  und  unbarmherzig 
muß  ihn  der  Bildrand  mitten  hindurchschneiden,  wenn  die  Komposi- 
tion des  Meisters  ihn  nicht  ganz  in  den  Bildraum  hineinrückt.  Denn 
zwar  besitzt  der  holländische  Maler  im  höchsten  Grade  Komposition 
dergestalt,  daß  er  die  Dinge  solange  zurechtrückt  und  -schiebt,  bis 
sie  das  Ansehen  der  Zufälligkeit  verlieren  und  dem  Bildganzen  einen 
formalen  Zusammenschluß  geben;  in  bezug  auf  den  Raum  aber  ist  die 
Bildtafel  nur  ein  Ausschnitt  aus  dem  Freiraum.  Er  komponiert  nicht 
aus  seinem  subjektiven  Schöpfergeist  ein  Bild  auf  die  Fläche,  sondern 
überläßt  die  vereinheitlichende  Kraft  dem  unendlichen  Räume,  und  der 
Rahmen  bezeichnet  nur  die  Grenzen  des  Ausschnitts.  Das  Überge- 
ordnete ist  der  Raum,  und  die  mit  Recht  gerühmte  Komposition  der 
Holländer  ist  nicht  eine  Organisation  der  Bildtafel  selbst,  sondern  eine 
oft  allerdings  meisterhafte,  bis  zur  zwingenden  Notwendigkeit  gehand- 
habte Anordnung  der  Dinge,  die  sich  innerhalb  des  Bildraumes  be- 
finden. So  schiebt  man  auf  einer  Bühne,  die  sich  nach  hinten  ja  auch 
manchmal  ins  Unbegrenzte  verlieren  soll,  jedes  Requisit  solange  um- 
her, bis  es  seinen  rechten  Platz  hat,  aber  der  Bühnenraum  ist  als  über- 
geordnet gegeben,  und  mit  ihm  läßt  sich  nichts  anfangen. 

Der  Raum,  der  innerhalb  des  Bildes  Menschen  und  Dinge  umfängt, 
ist  der  im  Unendlichen  sich  verflüchtigende  Raum.  Er  tritt  in  Er- 
scheinung in  der  Luft,  die  alles  Körperliche  umspielt  und  eine  Perspek- 
tive herstellt.  Es  ist  also  jenes  neutrale  Substrat  dargestellt,  das  in 
gleicher  Weise  die  Menschen  und  leblosen  Dinge  des  Vordergrundes 
wie  der  fernsten  Ferne  umgibt.  Ob  wir  uns  im  Bilde  am  Strande  des 
Meeres  befinden  oder  in  der  weiten  Heidelandschaft,  in  der  Dorfstraße 
oder  im  Innenraum,  es  ist  immer  der  eine  allumfassende  Unendlichkeits- 
raum, der  im  Bilde  gestaltet  ist.  Er  ruht  vollkommen  und  nur  die 
Dinge  bewegen  sich  in  ihm.  Mag  der  Himmel  noch  so  von  Wolken 
überquellen,  die  Erde  von  Gestalten  wimmeln,  alles  ist  in  ihm,  der 
gleichmäßig  ruht.  Der  Mensch  ist  nicht  Schöpfer  dieses  Raumes, 
sondern  er  ist  nur  geschaffenes  Wesen  im  Räume.  Hier  drückt  sich 
das  Stillebenhafte  aus,  das  in  allen  Gattungen  der  holländischen  Malerei 
vorhanden  ist;  es  ist  das  vollständige  Aufgeben  der  subjektiven  Durch- 
dringung des  Raumes,  die  absolute  Herrschaft  des  Kosmos. 

Wir  nennen  den  Ausschnitt  aus  dem  unendlichen  Raum,  den  der 
Holländer  darstellt,  den  objektiven  Raum  und  können  sagen,  daß  dieser 
Raum  in  gleicher  uninteressierter  Weise  alles  umgibt,  was  in  ihm  ist. 
Nehmen  wir  auf  der  Bildtafel  einen  Baum,  der  innerhalb  dieses  Raumes 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  270 


dargestellt  ist,  so  heißt  das:  der  den  wirklichen  Baum  in  allen  seinen 
Teilen  umgebende  Luftraum  steht  in  keinerlei  Wechselbeziehung  zu 
ihm.  Er  kümmert  sich  nicht  um  ihn,  hat  kein  Interesse  für  ihn,  und 
so  fällt  auch  auf  der  Bildtafel  Gegenstand  und  Lufthintergrund  als 
»Loch«  auseinander.  In  dieser  Beziehungslosigkeit  zum  Gegenstände 
in  ihm  können  wir  das  Wesen  des  objektiven  Raumes  als  undynamisch 
oder  als  uninteressiert  kennzeichnen.  Der  Ausdruck  uninteressiert  wird 
uns  nicht  irre  machen,  die  wir  in  der  holländischen  Landschaft  nach- 
drücklich die  Verwandtschaft,  ja  Homogenität  des  Luftraumes  mit  allem 
Körperlichen  in  ihm  festgestellt  haben.  Aber  gerade,  weil  der  Zu- 
sammenhang von  All  und  Einzelwesen  noch  nicht  gelöst  ist,  weil  das 
Einzelne  als  eine  selbstverständliche  Inkarnation  des  Alls  erscheint, 
kann  ein  Interesse  gar  nicht  statthaben.  Das  kann  erst  sein,  wenn  der 
Mensch  und  sein  bewußtes  Leben  in  den  Vordergrund  gerückt  ist, 
wenn  jene  Bewußtheit  erwacht  ist,  die  den  Menschen  sich  selbst 
wie  alles  Körperliche  als  Einzelnes  dem  All  gegenüberstehend  sieht. 
Dann  ist  er  seiner  Gefühle  und  seiner  Umgebung  bewußt  geworden 
und  kann  die  Natur  gewissermaßen  von  sich  abhängig  machen,  indem 
er  sie  zum  Ausdruck  seiner  subjektiven  Gefühle  benutzt.  Diesen  Weg 
wollen  wir  später  verfolgen. 

In  der  spezifisch  holländischen  Landschaftsmalerei  des  17.  Jahr- 
hunderts malt  der  Holländer  das  Treiben  der  Menschen  und  die  ein- 
fachen Dinge  der  alltäglichen  Umgebung  im  Unendlichkeitsraume. 
Er  hat  dabei  kein  sentimentales  Gefühl,  das  das  Bewußtsein  der 
menschlichen  Kleinheit  gegenüber  der  unabsehbaren  Weite  hervor- 
bringen könnte.  Nichts  weist  in  den  Bildern  darauf  hin.  Nur  wie 
ein  Kind  von  sich  in  der  dritten  Person  redet,  so  stellt  der  Künstler 
sich  selbst  manchmal  im  Bilde  mit  dem  Skizzenbuch  dar.  Er  unter- 
scheidet sich  keineswegs  von  seinen  Mitmenschen  beim  Fischen, 
Eislauf  oder  anderen  ameisenhaft  erscheinenden  Beschäftigungen. 
Weitab  liegt  jeder  Gedanke  an  den  Menschen  als  schöpferischen 
Intellekt  bei  diesen  winzigen  Figürchen,  die  noch  durch  schwere  wul- 
stige Kleidung,  durch  einfache  Silhouette,  die  alle  selbständige  Funk- 
tion von  Gliedmaßen  möglichst  unterdrückt,  zum  Ding  herabgedrückt 
werden.  Und  auch  die  Dinge  selbst  verraten  nichts  von  einer  persön- 
lich künstlerischen  Durchdringung.  In  aller  Knorpligkeit  und  Eckig- 
keit wird  alles,  wie  es  im  Räume  nach  statischen  Gesetzen  ruht,  be- 
lassen. Die  vielästigen  Bäume,  die  Flügel  der  Windmühlen,  die  be- 
schornsteinten  Dächer,  die  spitzen  Kirchtürme,  die  Segel  mit  ihren 
Wimpeln,  sie  ragen  je  nach  ihrer  Eigengestalt  in  den  Unendlichkeits- 
raum hinein,  jenen  Raum,  der  alles  gleichmäßig  uninteressiert  umgibt, 
und  den  der  Künstler  als  gegeben  hinnimmt.    Wir  ziehen  die  Summe 


280  WILLY  DROST. 


dieser  Feststellungen  —  Dinge  in  ruhender  Eigengestalt  im  großen 
ruhenden  Räume  —  in  dem  Begriffe  eines  naiven  Realismus.  Das 
Sein  der  Dinge  ist  unabhängig  vom  Bewußtsein  des  Menschen,  es 
hat  eine  eigene  absolute  Wesenheit.  Uns  bleibt  gegenwärtig,  wenn 
wir  von  Realismus  reden,  daß  die  Einzelexistenz  des  Dinges,  das 
gläubig  hingenommen  wird,  dennoch  in  einem  großen  Zusammen- 
hang untergeht,  es  also  zwar  nicht  als  Erzeugnis  eines  geistigen  Sub- 
jekts erscheint,  wohl  aber  des  gewaltigen  Raumes,  der  es  des  Eigen- 
wertes beraubt  und  als  Ausdruck  eines  übergeordneten  Lebens  des 
Universums  erscheinen  läßt.  Das  ruhende  körperliche  Sein  des  Gegen- 
standes ist  ja  durch  die  Luft  aufgelöst,  zeigt  das  wollig  krause,  sub- 
stanzlose Relief  und  eine  eben  so  neutrale,  immaterielle  Farbe.  Da- 
durch hat  es  eine  geheimnisvolle  Beziehung  zum  Unendlichen  erhalten. 
Der  Bildner  von  Werken,  die  wir  hier  betrachten,  ist  deshalb  wohl 
Realist,  indem  er  sich  dem  Sein  unterordnet,  sich  dem  Zwang  der 
Dinge  fügt;  aber  seine  Werke  beweisen,  daß  er  die  einzelnen  Objekte 
doch  nicht  allein  so  aufnimmt,  wie  seine  Sinne  sie  ihm  darbieten,  daß 
er  also  mehr  ist  als  ein  bloßer  Realist,  indem  unbewußt  dem  Bildner 
ein  kosmischer  Geist  durch  ihn  wirkt,  der  seine  innere  Verbunden- 
heit mit  dem  Dasein,  sein  tiefes  Wurzeln  in  der  ewig  schöpferischen  Natur 
offenbar  macht.  Der  Meister  der  Naturnachahmung,  der  geduldige, 
treue  und  selbstlose  Abbildner  der  Wirklichkeit  dokumentiert  unbe- 
wußt in  dem  Erzeugnis  seinen  Zusammenhang  mit  der  Unendlichkeit. 
So  wird  nach  dem  Vorangegangenen  die  Formel  nicht  widerspruchs- 
voll erscheinen,  in  der  wir  die  Idee  der  holländischen  Landschafts- 
malerei nun  kurz  zusammenfassen:  ein  naiver  aber  kosmisch  gerichteter 
Realismus').  — 

Diese  geistige  Haltung  erklärt  auch  die  ungeheure  Masse  von 
wertvollen  Produkten.  Sie  ist  nur  möglich  durch  den  tüchtigen  Charakter 
eines  ganzen  erdhaften  Volkes.  Die  von  sich  aus  die  Welt  durch- 
dringende große  Persönlichkeit  ist  dabei  ausgeschlossen.    Sie  würde 


')  Von  Nutzen  kann  hier  ein  vergleichender  Hinweis  auf  das  Rembrandt- 
buch  Neumanns  sein.  Dieser  stellt  (S.  148)  dem  Idealisieren  des  Italieners  den 
Galerieton  der  Holländer  als  idealisierendes  Moment  entgegen.  Sich  auf  die  Land- 
schaftsmalerei beziehend  betont  er,  daß  hier  nicht  Gestalten  und  Einzeldinge  ge- 
malt werden,  sondern  »atmosphärische  Mächte  und  Relationen,  in  denen  die  Ge- 
stalt in  geheimnisvollem  Schein  des  Werdens  und  Vergehens  auftaucht  und  unter- 
taucht« (S.  187).  Bäume  und  Sträuche,  Häuser  und  Kanäle,  ob  häßlich  oder 
schön,  »sie  wollen  nichts  für  sich  sein;  sie  sind  das  Antlitz,  auf  dem  kosmische 
und  seelische  Mächte  ihre  Stimmungen  ausdrücken  und  spiegeln«.  Und  ebenfalls 
schließt  er  das  subjektive  Ausdrucksmoment  bei  unserem  Vertreter  des  naiven  kos- 
mischen Realismus  aus:  iGoyen  gibt  keine  Tonstimmung  als  Vehikel  von  seelischen 
Empfindungen«  (S.  149). 


1 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  281 


I 


den  uninteressierten  Freiraum  nicht  als  gegeben  und  allumfassend  hin- 
nehmen. In  dieser  Sprache  der  Unendlichkeit  durch  das  naturhafte 
Wesen  ist  auch  die  Zeitlosigkeit  der  Holländer  begründet.  Es  liegt 
die  eigentümliche  Erscheinung  vor,  daß  die  ungeistigsten  Menschen 
in  großartiger  Weise  eine  geistige,  immaterielle  Wesenheit  der  Welt 
zum  Ausdruck  bringen. 

Es  gibt  nur  wenige  auf  philosophische  Begriffe  zu  bringende 
Orundeinstellungen  des  Menschen  zur  Welt.  Immer  handelt  es  sich 
um  das  Verhältnis  des  denkenden  Individuums  zum  Sein  des  Alls,  in 
das  es  doch  mit  eingeschlossen  ist.  Ist  das  Sein  der  Welt  wirklich 
objektiv  und  wird  es  uns  nur  durch  die  Sinne  vermittelt,  oder  wird 
es  vom  Geist  erst  schöpferisch  hervorgebracht.  Geist  und  Materie 
sind  die  polaren  Gegensätze,  die  als  Ausgangspunkte  für  das  Erkennen 
genommen  mit  den  Begriffen  Idealismus  und  Realismus  bezeichnet 
werden.  Wir  verstehen  hier  unter  diesen  Bezeichnungen  mehr  als  bloße 
Formen  der  Erkenntnis.  Wir  fassen  sie  metaphysisch  gegründet  aus 
dem  Gefühl  eines  tiefen  von  allem  Erkennen  unabhängigen  Wesens- 
unterschiedes, das  die  Richtung  des  Erkennens  erst  bestimmt  und  die 
Folgerungen  bis  ins  ethisch-religiöse  Leben  zieht. 

Der  Mensch,  der  im  Verhältnis  zu  den  Dingen  seiner  Umwelt  in 
der  Bewußtseinlage  lebt,  daß  dieser  Baum,  diese  Hütte  unter  dem 
weiten  Himmel  ihre  unerschütterliche  Existenz  haben  und  in  nichts 
mit  seinem  menschlichen  Bewußtsein  zusammenhängen,  er  lebt  im 
engen  Bereiche,  als  wenn  es  so  sein  müßte  und  es  nichts  Selbstver- 
ständlicheres gäbe.  Die  Natur  seines  Körpers  und  die  Notwendigkeit 
des  Lebens  gibt  ihm  die  Richtschnur  seines  Handelns.  Die  leiblichen 
Genüsse  sind  das  Ziel  seines  Vergnügens.  Anders,  wenn  der  Mensch 
in  dem  Gefühl  lebt,  er  baut  sein  Haus,  er  ordnet  sein  Leben  nach 
eigenem  Willen,  er  unterfängt  sich,  selbst  die  großen  Gesetze  des 
Universums  als  von  seinem  Erkennen  abhängig  zu  sehen,  und  in  Frei- 
heit unterzieht  er  sich  einem  selbst  aufgestellten  Sittengesetze,  das  die 
Herrschaft  über  die  naturhaften  Triebe  dokumentiert.  In  den  hol- 
ländischen Werken  lebt  ein  unbedingter  Glaube  an  die  mannigfaltigen 
unser  alltägliches  Dasein  umgebenden  Dinge  bis  zu  einer  uns  er- 
schütternden Hingabe.  Ihr  Sein,  ihr  Dasein  an  und  für  sich  ist  dem 
holländischen  Maler  genügender  Vorwurf  zur  künstlerischen  Gestaltung, 
und  so  wird  ergriffen,  was  sich  den  Augen  bietet,  das  menschliche 
Porträt,  die  Landschaft,  Architektur,  Blumen,  Tiere  und  anderes.  Auch 
das  Zufällige  wird  mit  der  ganzen  Hingabe  an  seine  Existenz  ge- 
malt bis  auf  die  Feder,  die  sich  von  dem  Gefieder  eines  auf  dem 
Tische  liegenden  Rebhuhns  losgelöst  hat,  wie  sie  sanft  zur  Erde  gleitet. 
Es  gibt  nichts  Wichtiges  und  Unwichtiges,  nichts  Notwendiges  und 


282  WILLY  DROST. 


Zufälliges,  sondern  alles  erhält  seinen  tiefsten  Wert  dadurch,  daß  es 
ist.  Das  Einzelne  ist  ja  nichts  Selbständiges,  das  sich  als  Eigenes 
gegen  die  andere  Welt  behauptet,  sondern  es  bringt  sich  selbst  als 
ein  Teilstück  des  Ganzen  dar,  es  hat  den  Exponenten  der  Unendlich- 
keit an  sich.  Die  baufällige  Hütte,  die  hier  auf  der  weiten  Ebene  hin- 
gelagert liegt,  geduckt  unter  mächtigen  alten  Bäumen  und  einem  riesigen 
Wolkenhimmel,  von  dem  ein  heller  Schein  über  dem  Horizont  ihren 
plumpen  Umriß  deutlicher  hervortreten  läßt,  mit  ungepflegtem  Gärt- 
chen,  altem  Plankenzaun  und  schiefem  Türeingang,  das  ist  nicht  allein 
Wirklichkeitstreue,  die  hier  zum  Ausdruck  kommt.  Da  ist  aber  auch 
keine  subjektive  Zutat  des  Künstlers  zu  merken.  Ein  »Außen<  gibt  den 
letzten  Sinn  und  die  Gestaltungsform.  Das  Leben  des  Alls  webt  in 
den  individuellen  Gestaltungen.  Das  macht,  wie  wir  sahen,  die  un- 
endliche Weite  um  sie,  das  Graugrün  und  Braun  ihrer  Farbe,  in  dem 
das  Einzelne  verschwindet,  die  Unartikuliertheit  und  wollige  Krausheit 
ihrer  Formen.  Hier  liegt  auch  der  letzte  Grund  für  den  Willen  des 
Holländers  zum  Krausen  und  Plumpen.  Keine  selbstherrliche  Ein- 
beziehung des  Gegenstandes  in  die  menschliche  Sphäre,  die  ihm  gern 
einen  einfachen,  übersichtlichen  Umriß  und  geschlossene  Gestalt  geben 
würde,  soll  stattfinden.  Wie  die  Einzeldinge  sich  nicht  eigenwillig  ab- 
lösen, sind  wir  fernab  von  der  Loslösung  eines  bewußten  Einzelichs, 
das  die  Welt  zu  durchdringen  trachtete.  Im  dumpfen  Traum  bleibt  die 
Welt  befangen.  Im  Dämmer  des  Hüttenwirrsals  geht  auch  der  Mensch 
mit  unter.  Alles  verharrt  in  der  Verschwiegenheit  und  Ungelöstheit 
eines  tief  in  sich  gekehrten  Seins,  in  der  Zeitlosigkeit,  die  dem  unbe- 
wußten Zustande  anhaftet,  und  redet  doch  eine  ergreifende  Sprache 
dem,  der  sie  zu  deuten  versteht. 

So  lebt  der  holländische  Mensch:  er  ißt  und  trinkt  gut,  er  folgt 
den  Trieben  des  Leibes  und  verfolgt  mit  klarem  Verstände  naheliegende, 
irdische  Ziele.  Seine  Kirchen  sind  so  nüchtern  wie  seine  Religion  (die 
Frauen  gehen  mit  dem  Gebetbuch  in  der  einen  und  der  Wärmflasche 
in  der  anderen  Hand  hinein).  Wenn  er  auch  mit  zäher  Energie  unter 
ungeheuren  Opfern  sein  Land  dem  Meere  abgezwungen,  es  fruchtbar 
gemacht  und  bebaut  hat,  daß  wir  bis  in  die  weite  Ferne  in  dem  Ge- 
wirre von  Kanälen,  Schiffsmasten,  Windmühlen,  Ansiedlungen  den  tätigen 
Menschengeist  erkennen,  so  hat  das  nicht  das  Gefühl  der  Würde  und 
Persönlichkeit  des  Einzelnen  in  der  Weise  erhöht,  daß  er  die  realen  Be- 
dingungen seiner  Natur  verleugnet  hätte.  Schmausereien  und  Zechgelage 
bleiben  sein  liebstes  Vergnügen.  Er  duckt  sich  unter  das  All  und 
bleibt  im  menschlichen  Bereiche.  Keine  hohe  Philosophie,  keine  welt- 
umspannende Dichtung  zeugt  von  einem  idealen  Streben.  Aber  sein 
Leben  ist  noch  tief  verankert  in  der  Natur,  im  Wesen  der  Dinge.    Ob 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  283 

er  ein  bewußtes  Gefühl  seines  Zusammenhanges  mit  dem  All  gehabt 
hat,  das  seinem  eigenen  triebhaften  Leben  einen  großen  Unterton  gab? 
Sicher  nicht,  denn  dann  wäre  sein  Schaffen  wohl  doch  sentimentaler, 
romantischer  geworden.  Kein  mystisches  Gefühl  der  Abhängigkeit  vom 
Unendlichen  bezeugt  seine  Religion.  Was  er  bewußt  durchsetzte,  war 
eine  rein  diesseitige  Aufgabe,  Gewinn,  Sicherheit  und  Behaglichkeit 
des  bürgerlichen  Daseins.  Indessen  sehen  wir  bei  einem  guten  Teil 
der  Künstler  das  naturhafte  Wesen  in  einer  mehr  elementaren  Weise 
durchbrechen.  Sie  verbringen  ihr  Leben  in  den  Schenken,  spielen, 
trinken  und  raufen  wohl  auch.  Viele  Dokumente  beweisen,  wie  oft 
der  Gastwirt  zur  Begleichung  ihrer  Schulden  Bilder  um  einen  Spott- 
preis in  Zahlung  nahm.  Dafür  wurden  sie  von  den  ehrbaren  Bürgern 
weniger  geachtet  und  die  Darstellungen  des  Lebens  in  den  ärmlichen 
Spelunken  weniger  bezahlt.  Aber  die  Bilder  werden  nun  ein  eigen- 
tümliches Zeugnis  für  die  Echtheit  und  Tiefe  auch  in  diesem  Sein.  Es 
sind  nicht  Oberflächenerscheinungen  eines  zerrütteten  Lebens,  es  ist 
ganz  wurzelhaft.  Die  Bilder  beweisen  das  Religiöse  auch  in  diesem 
Leben.  Oder  sollten  wir  weniger  berechtigt  dazu  sein,  es  Religion 
zu  nennen,  wenn  der  Mensch  zwar  nicht  zu  einem  Gefühl  schlecht- 
hinniger  Abhängigkeit  vom  Unendlichen  kommt,  wohl  aber  aus  tier- 
haften Verhältnissen  heraus  unbewußt  mitteilt,  daß  sein  Leben  sab 
specie  aeternitatis  steht?  Denn  mit  zum  Ausdruck  gebracht  hat  der 
holländische  Maler  die  Unendlichkeit  als  mitschwingende  Resonanz 
immer  wieder.  Immer  hat  er  sein  Haus  oder  die  Hüttej  klein  im  un- 
ermeßlichen Raum  gemalt,  und  bei  dem  ausgelassensten  Kirmesfest 
macht  das  Gebälk  des  großen  Raumes,  in  dem  das  Fest  stattfindet, 
die  Freude  keineswegs  mit,  sondern  verdämmert  schwer  und  uninter- 
essiert im  Halbdunkel. 

Für  den  heutigen  Betrachter  des  holländischen  Landschaftsbildes 
bestimmt  diese  Antinomie  den  Eindruck,  die  dumpfe  Befangenheit  des 
Menschlichen,  die  besonders  unmittelbar  aus  dem  Figürlichen  spricht, 
und  dabei  doch  die  konsequente  Objektivation  der  wimmelnden  Klein- 
heit des  Lebens,  in  dem  das  Ich  verschwindet,  unter  dem  Aspekt  des 
Kosmischen.  Wir  sehen  zwar  den  einheitlichen,  nicht  reflektierenden 
Geist,  der  den  weiten  Luftraum  und  was  in  ihm  ist,  als  dessen  Aus- 
geburten gewissermaßen  als  einer  Substanz  angehörig  auffaßte,  aber 
in  bewußter  Betrachtung  müssen  wir  nun  doch  die  Kleinheit  des 
Menschen  mit  den  Gebilden  seiner  menschlichen  Umwelt  im  Verhält- 
nis zum  übergeordneten  Raum  dualistisch  fassen.  Was  der  Holländer 
aus  seinem  naiven  Gefühl  heraus  monistisch  erschuf,  wird  in  der  Be- 
trachtung des  Denkenden  Dualismus.  Wir  sehen  als  schaffenden 
Künstler  eine  unbewußte,  dumpfe  Menschlichkeit,  die  instinktiv  ihren 


284  WILLY  DROST. 


eigenen  Zustand  objektiv  werden  läßt,  indem  sie  einen  übergeordneten 
Zusammenhang,  den  Unendlichi<eitsraum  mitmait,  wir  steilen  uns  einen 
mit  beiden  Beinen  auf  der  Erde  stehenden,  im  triebhaften  Leben  aufgehen- 
den Maler  vor,  noch  außerdem  vielleicht  Gastwirt  oder  Krämer,  der  zu- 
gleich das  Fragmentarische  und  Rätselhafte  seiner  dumpfen  Existenz  mit 
darstellt.  Gerade  die  Einfühlung  in  die  auf  diesen  Bildern  dargestellten 
Menschen,  die  wohl  kaum  auf  einem  Bilde  der  hier  ins  Auge  gefaßten 
Gattung  fehlen,  gibt  einen  Schlüssel  für  das  geistige  Erfassen  dieser  Malerei. 
Es  kann  vor  den  einfachen  Bildern  zu  einem  erschütternden  Gefühl 
werden,  zu  sehen,  wie  die  Menschen,  die  doch  in  ihrem  trefflich  organi- 
sierten, Sicherheit  des  Lebens  gewährenden  Lande  sind,  fischen,  zechen, 
auf  der  Fähre  sitzen  als  formlose  ungegliederte  Klumpen,  dargestellt 
wie  verloren  in  der  ungeheuren  Weite  um  sie  und  über  ihnen.  Die 
Tätigkeit  des  Menschen  ist  eben  eine  durchaus  relative,  ameisenhafte. 
Sie  ist  niemals  eine  Handlung,  die  novellistischen  oder  historischen 
Charakter  tragen  könnte,  denn  sie  würde  den  Menschen  und  die  Be- 
wältigung der  Welt  von  ihm  aus  in  den  Vordergrund  rücken  und  den 
kosmischen  Charakter  zerstören').  Und  wer  erinnerte  sich  nicht  der 
zahlreichen  Darstellungen,  in  denen  das  Tierische,  Animalische  des 
menschlichen  Lebens  noch  unterstrichen  wird!  Aber  der  Raum,  der 
sich  im  Unendlichen  verliert,  sei  es  in  dem  fernen  Horizont  der  Land- 
schaft oder  dem  Halbdunkel  eines  Interieurs,  er  nimmt  dem  nüchtern 
und  phantasielos  wiedergegebenen  menschlichen  Getriebe  das  End- 
gültige: der  Mensch  ist  ein  kleines  Wesen  neben  Baum  und  Tier  im 
großen  unbegrenzten  Unerforschlichen.  Das  greift  dem  Betrachter, 
der  bewußt  ist,  ans  Herz  und  läßt  ihn  unsägliche  Stimmung  in  diesen 


')  Alois  Riegl  bezeichnet  in  seinem  Aufsatz  über  das  holländisctie  Gruppen- 
porträt (Wiener  Jahrbucii  1902,  S.  73)  wegen  der  Handlungsiosigi<eit  bei  innerem, 
psychischem  Leben  das  Oruppenporträt  als  das  charakteristischste  und  kunsthistorisch 
wichtigste  Erzeugnis  Hollands!  Er  kommt  dazu,  weil  für  ihn  der  Vereinheitlichung 
der  Körper  im  Räume  durch  die  verbindende  Luft  die  seelische  Verbindung  der 
Personen  durch  die  aktionslose  Aufmerksamkeit«  entspricht,  dieser  Ausdruck  aber 
nur  an  der  menschlichen  Figur  Anwendung  finden  konnte  (S.  277).  Vielleicht  be- 
rührt sich  die  Riegische  »Aufmerksamkeit«  der  Figuren  mit  dem,  was  wir  den  Aus- 
druck  des  Kosmischen  in  der  Landschaft  genannt  haben,  die  wir  darum  geneigt 
sind,  für  das  echteste  Erzeugnis  Hollands  zu  halten.  Wir  werden  an  unsere  Anti- 
nomie erinnert,  wenn  Riegl  z.  B.  anläßlich  eines  Bildes  von  Th.  de  Kayser  den  Wider- 
streit zwischen  der  konsequenten  Entkörperlichung  des  plastisch  Einzelnen  und  dem 
regungslosen  Insichverharren  der  Persönlichkeiten  im  Bilde  empfindet:  »Die  Ent- 
körperlichung durch  Abstreifen  der  das  Haptische  stets  begleitenden  Lokalfarben  in 
unmerklich  ineinander  überfließende  Lichter  und  Schatten  verbindet  sich  hier  mit 
der  erwähnten  äußeren  Regungslosigkeit  und  Handlungsscheu  zu  jenem  unsagbaren 
Stimmungseindruck,  der  von  diesem  und  ähnlichen  Bildern  der  holländischen  Haupt- 
meister ausgeht«  (S.  200). 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  285 


Darstellungen  erleben.  Er  steigt  herab  von  der  hohen  Warte  des 
organisierenden  Intellekts,  der  die  Welt  von  sich  aus  erschaffen  will. 
Er  verwandelt  sich  einfühlend  zum  Kinde  und  dumpfen  Menschen,  er 
läuft  mit  gleichen  über  die  weite  Eisbahn  der  Flußfläche,  er  versetzt 
sich  in  das  einfach  trauliche  Leben  in  den  Hütten  und  kleinen  Häusern. 
Aber  dabei  will  er  sich  als  Kind  auf  jenem  im  Abend  schummernden 
Stege,  als  Bauer,  als  Reiter,  als  Fischer  bei  aller  Dumpfheit  dieses 
Lebens  ehrfürchtig  als  ein  Teil  des  Ganzen  fühlen,  und  dieser  mit- 
vibrierende Stimmungston  macht  einen  feinen,  unendlichen  wehmütigen 
Reiz  in  der  Wirkung  dieser  Bilder  aus.  Unbewußtes  tiefes  Naturge- 
fühl wirkt  nun  sentimenlalisch  und  versetzt  das  Innere  in  einen  selt- 
samen Schwebezustand.  Der  Holländer  ist  wie  ein  kleines  Zweiglein, 
das  in  seiner  Treue  unbewußt  mit  sich  selbst  seine  Stückhaftigkeit 
mit  darstellt,  denn  wie  könnte  das  Zweiglein  sich  unterfangen,  über 
den  ganzen  Baum  etwas  auszusagen  und  ihn  zu  durchdringen,  an 
dem  es  doch  erwachsen  ist.  Der  bewußte  Betrachter,  der  in  rast- 
losem, geistigem  Streben  jenen  Zusammenhang  verloren  hat,  der  in 
sich  den  letzten  Schöpfungsakt  verlegt  hat,  er  ist  müde  seiner  Oott- 
herrlichkeit  und  möchte  wohl  wieder  als  Kind  in  den  Schoß  der  Natur 
zurück.  Das  Bewußtsein  aber,  tierhaft  mitzuschwimmen  im  Strom  des 
Alls,  kleiner  Teil  vom  Ganzen  zu  sein,  das  gibt  den  dunklen  Unterton, 
der  den  ganzen  Reiz  ausmacht,  und  das  kann  ihn  ja  nicht  verlassen, 
denn  wenn  er  naiv  wie  der  Holländer  sie  schuf,  die  Bilder  besieht, 
dann  ist  die  Stimmung  in  dem  ausgeführten  Sinne  unmöglich.  Naiver 
Realismus,  der  eine  kosmische  Sprache  redet,  ist  etwas  anderes  als 
bewußtes  Erleben  dieses  naiven,  kosmischen  Realismus.  Der  Realismus, 
gegenständlich  gemacht,  wird  aufgehoben.  Deshalb  muß  der  holländi- 
sche Monismus,  die  Einheit  von  All  und  Einzelwesen  dem  bewußten 
Betrachter  zum  Dualismus  werden  und  zu  sentimentalischen  Wirkungen 
führen. 

Die  sentimentale  Landschaft  mit  realistischen  Mitteln. 
Nachdem  wir  uns  auf  Grund  der  geistigen  Ausdeutung  einer  zusammen- 
fassenden formalen  Analyse  die  Idee  der  rein  holländischen  Land- 
schaftsmalerei mit  den  Begriffen  des  Kosmischen  und  Naiv-Realistischen 
zu  vergegenwärtigen  versucht  haben ,  und  uns  diese  gegensätzliche 
Formel  auch  das  wesentliche  Merkmal  zur  Beschreibung  der  Wirkung 
der  Bilder  auf  den  heutigen  Betrachter  gegeben  hat,  wenden  wir  uns 
den  Abweichungen  von  der  Grundform  zu,  die  für  uns  den  Ausgangs- 
punkt gebildet  hat.  Dadurch  wird  jene  Idee  schärfer  hervortreten; 
dann  aber  werden  wir  sehen,  wie  die  konsequente  Abweichung  uns 
zu  einer  anderen  geistigen  Einstellung  hinführt  und  andere  obere 
Gattungsbegriffe  notwendig  macht,  wenn  auch  der  gemeinsame  Zeit- 


286  WILLY  DROST. 


grund  bleibt.    Selbst  bei  dem  getreuesten  Vertreter  der  Art,  bei  Jan 
van  Goyen,  werden  wir  manchmal  stutzig.    Steigert  sich  doch  die  er- 
wähnte Auflösung  des  Gegenstandes  als  eines  isolierten  bis  zu  einer 
skizzenhaften,  geistreich  hinwerfenden  Art,  die  die  treue  Hingabe  an 
das  eckige  Naturvorbild  vermissen  läßt.    Geistreichtum  ist  aber  bei  der 
im  dumpfen  Traum  befangenen   holländischen  Landschaft  unmöglich 
denn  er  weist  auf  das  Subjekt  hin.    Schon  Fromentin,  der  Maler  und 
Kunstschriftsteller  sprach  sich  über  die  subjektiv  flüchtige  Art  Goyens 
aus.    Die  Worte,  die  er  dabei  anwandte,    zu  ungewiß,  »verflüchtigt«, 
dunstig  und  wollig« '),  widersprechen  aber,  wie  wir  gesehen  haben, 
an  sich  nicht  dem  gänzlich  unsubjektiven  Wesen  der  holländischen 
Malerei.  Sodann  tritt  die  ferne  Horizontlinie,  die  in  unserer  Analyse 
eine  wichtige  Rolle  spielte,  erst  in  einer  späten  Phase  seines  Schaffens 
auf,  und  doch  tragen  auch  die  früheren  Werke,  die  in  einem  größeren 
körperlichen,  diagonal  ansteigenden  Aufbau    ein  von   Esaias   van   de 
Velde  übernommenes  Erbteil  der  flämischen  Malerei  verraten,  einen  echt 
holländischen  Charakter,  und  diesem  Typus  gehört  eine  Unzahl  hol- 
ländischer Bilder  an.    Vergegenwärtigen  wir  uns  etwa  die  Dresdner 
Landschaft  mit  dem  Ziehbrunnen,  wo  Bauernhütten  zwischen  Bäumen, 
deren  Umriß  eine  krause,  dauernd  unterbrochene  Diagonale  von  ein- 
heitlicher Richtung  ausmacht,  sich  aus  mäßiger  Entfernung  schräg  nach 
vorne  schieben,  so  kann  man  in  dem  abgestimmten  Wechsel  von  Hell 
und  Dunkel,   der  sich  bis  über  die  Erdwellen   des  äußersten  Vorder- 
grundes erstreckt,  sogar   von    einer  rhythmischen  Bewegtheit  reden. 
Aber  ferne  liegt  es  uns  hier,  an  einen  Gestaltungsrhythmus  zu  denken,  - 
der    die  Dinge  unter    ein  vom   Subjekt  aufgestelltes   Gesetz    zwingt. 
Dem  widerspricht  auch  schon  das  Loch  des  Himmels,  der  sich  schroff 
dem  subjektiven  Gestaltungswillen  entzieht.     Jene  Bewegtheit  erklärt 
sich  nur  aus  dem  Drange  nach  Auflösung  des  plastisch-kompakten 
Bestandes  zu  einem  immateriellen  Hin-  und  Herweben.    Die  Hinüber- 
führung aller  Dinge  ins  Krause,  das  erwähnte  wollige  Relief,  kann  in 
diesen   Diagonallandschaften,  wo  wir  in   größerer  Abgeschlossenheit 
und  Nähe  das  trauliche  Beieinander  einer  engen  Welt  des  Menschen 
vorgeführt  erhalten,   zu  besonderer  Entfaltung  gelangen,  wenn  auch 
die  Auflösung  des  Körperlichen  folgerichtig  zu  einer  quantitativen  Ver- 
ringerung hinführt  und  schließlich  der  absoluten  Herrschaft  des  Luft- 
raumes im  Bilde  mit  der  horizontalen  Ferne  Platz  macht.    Zu  ähnlichen 
Erwägungen    kommen   wir  vor    manchen   Bildern    von  Salomon    van 
Ruisdael,  der  stets  eine  Vorliebe  für  hohe,  fast  über  die  ganze  Bild- 


')  Fromentin,  Les  inaitres  (Tautrefois,  Patis  1877,  p.  249  f.   ^trop  inceiiain,  volatil, 
evapore,  cotonneux<'.    Deutsch  bei  Cassirer  1Q17,  S.  195. 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  287 

höhe  gehende  Bäume  behält,  die  sich  in  seiner  frühen  Zeit  in  merk- 
würdig Skelett-  und  strukturloser  Weise  winden  und  krümmen  und 
sehr  weiches,  wolliges  Laub  aufweisen.  Auch  bei  abweichenden  Einzel- 
heiten im  empirischen  Bestände  werden  wir  erkennen,  wo  die  Idee  der 
holländischen  Landschaftsmalerei  in  dem  von  uns  ausgeführten  Sinne 
lebendig  ist. 

Gegen  wesentliche  Merkmale  jedoch  wird  verstoßen,  wenn  die 
Landschaft  einen  stärker  plastischen  Aufbau  und  damit  einen  linearen 
Zusammenhang  und  deutlichere  Lokalfarben  erhält.  Das  ist  der  Fall 
bei  dem  Meister,  der  oft  als  der  Bedeutendste  unter  den  holländischen 
Landschaftsmalern  bezeichnet  wird,  bei  Jakob  van  Ruisdael.  Er  reprä- 
sentiert in  der  Mehrzahl  seiner  Bilder  eine  Landschaftsform,  die  wir 
als  selbständig  und  eigenartig  der  eigentlich  holländischen  Landschaft 
gegenüberstellen  müssen.  Die  Regel  ist  bei  ihm  ein  ziemlich  massiger 
Aufbau,  sei  es  in  bewegten  Dünen,  in  mächtig  aufsteigenden  Wald- 
hängen und  Flußufern  oder  einem  Waldinnern  von  allen  Baumriesen. 
Schwere,  kühle  Farben,  in  denen  Dunkelgrün,  das  sich  oft  bis  ins 
Schwärzliche  vertieft,  vorherrscht,  geben  dem  körperlichen  Oesamt- 
aufbau  plastische  Wucht  und  substantielle  Schwere,  obschon  im  einzel- 
nen auch  die  Zweige  und  Blätter,  der  Dünensand  mit  den  Gräsern  in 
ein  körniges  Relief  aufgelöst  sind.  Es  spricht  nicht  mehr  der  einheit- 
lich warme,  durch  alle  Einzelgegenstände  hindurchleuchtende  Ton.  Die 
Lokalfarben,  allerdings  in  ganz  gewisser  Auswahl  und  Zusammen- 
stellung, treten  stärker  hervor.  Mit  der  Körperlichkeit  gewinnt  die 
Komposition,  der  architektonische  Aufbau  an  Bedeutung.  Einheitliche 
Bewegungszüge  ziehen  die  Massen  zusammen  und  lassen  die  ansteigen- 
den Hügellinien  in  pathetischem  Schwünge  etwa  in  eine  imposante 
Mühle  mit  ragenden  Flügeln  oder  in  ein  Schloß  auslaufen.  Und  der 
Himmel,  der  nunmehr  wesentlich  geringeren  Bildraum  einnimmt,  wird 
vermittels  einer  grandiosen  Wolkengestaltung  in  die  Sphäre  des  großen 
plastischen  Aufbaus  mit  hineingezogen.  Himmelsraum  und  Erde  ruhen 
nicht  mehr  ohne  dynamische  Beziehung  zueinander.  Darauf  hat 
Fromentin  nachdrücklich  hingewiesen,  daß  im  Gegensatz  zu  anderen 
holländischen  Malern  —  er  nennt  Cuyp,  van  de  Velde,  Salomon 
Ruysdael,  Isaak  Ostade,  Goyen,  Wynants  —  wo  der  Himmel-  ein  Loch 
ins  Bild  macht«  •),  Ruisdael  den  Himmel  mit  der  Landschaft  zusammen- 
komponiert und  somit  eine  feste  Beziehung  zum  Rahmen  herstellt, 
und  Bode  fand  jene  Bemerkung  Fromentins,  nach  der  Ruisdael  jeden 
Gegenstand  in  der  Landschaft  zusammen  mit  dem  korrespondierenden 
Punkt  in   der    Atmosphäre  sieht«,  so^ wichtig,  daß  er  sie  in   seinem 


')  Fromentin  p.  250. 


288 


WILLY  DROST. 


Ruisdael- Aufsatz  wiederholte').  Der  objektive  uninteressierte  Raum  be- 
ginnt sachte  in  Bewegung  zu  geraten.  Er  bleibt  nicht  mehr  das  absolut 
Übergeordnete,  in  dessen  Schoß  die  Dinge  ruhen,  der  Künstler 
sucht  sich  vielmehr  seiner  zu  bemächtigen,  er  formt  den  Luftraum, 
wölbt  ihn,  durchströmt  ihn  mit  seiner  Kraft.  Dadurch  nimmt  er  ihm 
den  Charakter  des  gleichmäßig  und  unbeteiligt  sich  bis  ins  Unendliche 
Verlierens,  und  behandelt  ihn  mehr  wie  eine  wirkliche  Decke,  wie 
Fromentin  sich  ausdrückt 2).  Der  Raum  entzieht  sich  nicht  mehr  der 
ordnenden  Künstlerhand,  er  wird  dynamisch,  interessiert.  Das  räum- 
liche Um-sie-herum  tritt  in  eine  Gemeinschaft  mit  den  Dingen  ein. 
Eine  wohlerwogene  Komposition  rückt  und  schiebt  die  Dinge  nicht 
mehr  im  Räume  hin  und  her,  sondern  umfaßt  das  Bildganze.  Wie 
selbst  bei  den  in  verhältnismäßig  geringer  Zahl  vorhandenen  Flach- 
landschaften mit  hohem  Himmel  der  Drang  nach  subjektiver  BewäUigung 
der  ruhenden  Erde  und  des  ruhenden  Luftraums  sich  auswirkt,  dafür 
ist  die  Dresdner  Dünenlandschaft,  wo  sich  die  ganze  Erddecke  mit 
dem  Horizont  wie  unter  einem  inneren  Druck  windet  und  bäumt,  und 
die  Bewegung  auf  die  sich  türmenden  Wolken  übergeht,  ein  bezeichnen- 
des Merkmal.  Auch  die  naturgemäß  flachen  Seestücke  sind  stets  stür- 
misch bewegt. 

Das  bekundet  aber  eine  im  inneren  Wesen  andere  Stellung  zur 
Welt  wie  die  oben  gekennzeichnete  des  naiven  Gemüts,  das  gläubig 
die  Dinge  hinnimmt,  wie  sie  im  verschwiegenen  Sein  verharren.  Es 
ist  nicht  mehr  die  Einstellung  des  Realisten,  der  die  Einheh  der  Welt 
auf  seiner  Bildtafel  einem  Außen,  dem  Unendlichkeitsraum  überläßt 
und  nichts  an  den  Dingen  von  sich  aus  zugibt.  Zwar  bleibt  das 
Einzelne  hart  und  eckig,  wir  brauchen  nur  an  die  unnachahmlichen 
knorpeligen  und  eigenwilligen  Eichen  zu  denken,  und  in  dieser  Hinsicht 
muß  Ruisdael  um  so  mehr  als  Realist  bezeichnet  werden,  als  ja  das 
Weben  von  Luft  und  Licht  die  Gegenstände  nicht  auflöst,  sondern  sie 
härteren  körperlichen  Bestand  behalten.  Aber  wie  er  nun  den  relativ 
plastischen  Bestand  bezwingt,  ihn  sinnvoll  abwägt,  zusammenfaßt  und 
mit  dem  Luftraum  über  ihm  zu  einer  Einheit  gestaltet,  das  beweist, 
daß  dem  schöpferischen  Geiste  des  Menschen  wieder  eine  bedeutsamere 
Rolle  zukommt.  Trotz  des  Realismus  im  einzelnen  versucht  der  Künstler, 
das  Einzelding  und  den  allumfassenden  Raum  von  sich  aus  als  ein 
Ganzes  zu  sehen  und  zu  gestalten.  Der  Mensch  ist  nicht  ein  Teil- 
stück des  Unendlichen,  wie  er  es  in  der  behandelten  Malerei  instinktiv 
bekundet  hatte,  er  tritt  dem  All  bewußt  gegenüber.    Damit  erst  wird 


')  Bode,  Rembrandt  und  seine  Zeitgenossen  S.  136.    Fromentin  p.  252. 
^)  p.  251  y>comme  le  plafond  reeU. 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  289 


die  Schwermut  möglich,  die  Ruisdael  allezeit  in  seinen  Bildern  aus- 
gedrückt hat.  Die  einsamen  Wälder,  die  traurigen  Dünen  wüsten,  die 
weitabgelegenen  Gehöfte,  sie  beweisen,  daß  Ruisdael  die  Natur  nicht 
naiv  hinnahm  sondern  sie  als  Träumer  und  Dichter  betrachtete,  in 
ihr  einen  Ausdruck  für  die  Melancholie  fand,  die  sein  Inneres  beherrscht 
haben  muß.  In  diesen  Landschaften  ist  kein  Platz  für  das  regsame 
Leben  und  Treiben  der  Menschen,  sie  gehören  nicht  mehr  unmittelbar 
zu  der  Landschaft,  sie  werden  jetzt  erst  zur  Staffage').  Nur  etwa  der 
Angler,  Hirte,  Jäger  darf  hier  weilen,  ohne  für  das  sentimentale  Gemüt 
die  poetische  Illusion  zu  zerstören.  Der  Mensch  sieht  sich  nicht  als 
kleines  Naturwesen  stets  miteingeschlossen  in  die  Welt,  die  Welt  ist  vom 
Ich  getrennt  und  objektiv  geworden.  Der  Mensch  und  Maler  ist  ihr 
bewußt  gegenübergetreten,  und  somit  kann  jetzt  die  Staffage  auch  ganz 
fehlen.  Auch  die  Auswahl  der  Farben,  die  Asphalttöne,  das  graue 
Gelb,  kalte  Grün  und  verhaltene  Blau,  die  in  ihrer  Eintönigkeit  an  den 
einheitlichen  Farbton  der  früher  behandelten  Landschaften  erinnern 
könnten,  gewinnen  den  Ausdruck  einer  bestimmten  subjektiven  Melan- 
cholie. Am  stärksten  tritt  die  sentimentale  Grundeinstellung  in  den 
bekannten  Ruinenlandschaften  zutage.  Hier  wird  eine  Kraft  des 
menschlichen  Geistes  wirksam,  die  bei  der  spezifisch  holländischen 
Landschaftsmalerei  undenkbar  war:  die  Phantasie.  Gewannen  in  jener 
die  Dinge  unmittelbar  in  ihrem  sinnlichen  Eindruck,  dem  immateriellen 
Ton,  der  krausen  Form  für  uns  eine  beredte  Sprache  vom  Vergehen 
in  der  Zeit,  einen  Ausdruck,  den  aber  nur  der  bewußte  Beschauer 
aus  ihnen  erwecken  konnte,  werden  sie  jetzt  vom  Maler  bewußt  als 
Symbole  für  die  Idee  der  Vergänglichkeit  hingestellt;  ihre  Gestalt,  wie 
sie  unmittelbar  sinnlich  auf  uns  wirkt,  hat  indessen  vom  kosmischen 
Geiste  verloren,  sie  trägt  nicht  den  Stempel  des  auflösenden  Werde. 
Prozesses  an  sich,  sie  ist  härter,  fester  geworden  und  hat  mehr  greife 
bare  Realität.  Erst  die  poetische  Idee  des  Ganzen  nimmt  den  Dingen 
ihr  Materielles  und  macht  sie  künstlerisch  ausdrucksvoll.  Der  Ein- 
druck des  reflektierenden  sentimentalischen  Geistes  hat  wohl  zu  allen 
Zeiten  die  Wirkung  der  Bilder  Ruisdaels  auf  den  Betrachter  bestimmt. 
Goethe  faßt  ihn  ganz  als  Dichter,  Fromentin  bringt  die  Bemerkung, 
daß  »sein  Werk  den  Charakter  eines  elegischen  Gedichtes  in  einer 
Unzahl  von  Gesängen«*)  habe,  und  hebt  seine  stets  gegenwärtige 
Reflexion  hervor''),  Neumann  spricht  von  seinen  ergreifenden  Poesien^), 


')  Bezeichnend  ist,  daß  er  im  Oegensatz  zu  Ooyen  sich  die  vereinzelten  Figuren 
von  anderen  Künstlern  in  seine  Bilder  hineinmalen  ließ. 
=)  p.  256. 
')  p.  248. 
')  S.  147. 
Zeiuchr.  f.  AsUietik  u.  alle.  Kunstwiswnschalt.     XV.  19 


290  WILLY  DROST. 


Bode  beginnt  seinen  Aufsatz  mit  der  Charakterisierung  des  einsamen 
Sciiwärmers  und  Melancholikers*).  Es  ist  unzweifelhaft,  daß  hier  der 
Mensch  die  Natur  als  Ausdruck  seiner  Stimmung  ansieht  und  danach 
gestaltet.  Und  im  Momente  dieser  Bewußtheit,  also  der  Trennung 
von  Ich  und  Natur,  wird  auch  das  Bildganze  in  einheitlicher  Komposi- 
tion fester  zusammengeschlossen.  Himmel  und  Erde  fallen  nicht  mehr 
so  auseinander  wie  beim  naiven  Gemüt,  wo  sich  das  Einzelne  wohl 
als  Teilstück  des  Ganzen,  also  des  umgebenden  Freiraums  darstellte, 
aber  ohne  jede  dynamische  Beziehung  zu  ihm,  der  ein  ins  Unbegrenzte 
gehendes  Loch  war.  Indessen,  komponiert  jetzt  auch  der  Künstler 
Land-  und  Luftregion  einheitlicher  zusammen  und  zieht  somit  den  ob- 
jektiven Raum  in  seine  subjektive  Oestaltungssphäre,  so  wird  diese 
idealistische  Einstellung  durch  den  Realismus  im  einzelnen  bedeutsam 
eingeschränkt.  Obschon  der  Himmel  mit  mächtigen  bewegten  Wolken 
angefüllt  ist,  die  Dinge  bleiben  allzu  physisch,  fest  und  schwer,  als 
daß  eine  lebendige  Wechselwirkung  mit  dem  Freiräumlichen  zwischen 
und  über  ihnen  zustande  käme,  die  erst  vollständig  die  realistische 
Hinnahme  der  Dinge  im  Räume  aufheben  würde.  Es  bleibt  ein  Realis- 
mus, aber  zu  sentimentalen  Ideen  nutzbar  gemacht.  Damit  wird  ersicht- 
lich, daß  bei  dieser  geistigen  Haltung,  wo  der  Anteil  so  stark  auf  das 
schaffende  Subjekt  übergegangen  ist,  die  eben  ausgeführte  Art  der 
Landschaftsdarstellung  nicht  in  dem  Maße  als  wertvolles  Allgemeingut 
einer  großen  Masse  angesehen  werden  kann.  Sie  steigt  und  fällt  mit 
der  Persönlichkeit  des  Künstlers.  So  hat  ja  auch  Ruisdael  unter  den 
holländischen  Malern  stets  neben  Rembrandt  das  Interesse  der  Nach- 
welt in  Anspruch  genommen. 

Unter  dieser  Gattung  lassen  sich  sonst  etwa  Cornelis  Vroom, 
Guilliam  Dubois  und  vor  allem  Everdingen  begreifen,  der  dauernd 
in  Norwegen  malt,  wo  die  Szenerie  an  sich  schön  pathetischen 
Schwung  und  romantischen  Charakter  trägt,  ohne  daß  diese  Künstler 
in  so  ausgesprochener  Weise  »jene  Mischung  von  Naturwahrheit 
und  Phantasie«,  von  objektiver  Treue  des  Gegenstandes  und  subjek- 
tiver Komposition  zu  gefühlsmäßigen  und  ideellen  Zwecken  auf- 
weisen, die  nach  dem  Urteil  Hofstede  de  Groots*)  Ruisdael  zum 
größten  Landschaftsmaler  Hollands  gemacht  hat. 

Die  romantische  Landschaft.  Gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
wird  eine  Gattung  herrschend,  die  sich  ganz  vom  bodenwüchsigen 
Geiste  entfernt  und  ihr  Naturvorbild  im  fernen  Italien  hat.    Die  hol- 


')  S.  132. 

^)  Beschreib,  und  krit.  Verzeichnis  der  Werke  hoiiänd.  Maler  Bd.  IV.   Vorwort 
zu  Ruisdael.  t 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAPTSBILDERN.  2Q1 


ländische  Malerei  mündet  jetzt  ganz  in  jene  Unterströmung  ein,  welche 
schon  während  ihrer  Blütezeit  bestanden  hat,  die  italisierende  Richtung, 
mit  der  wir  die  Namen  Poelenburg,  Berchem,  Dujardin,  vor  allem  Jan 
Both  verbinden.  Der  grundlegende  Unterschied  zwischen  aller  bisher 
behandelten  und  dieser  Landschaft  liegt  in  der  Farbe.  Das  Braun  der 
kosmischen  Landschaft,  die  bleiernen  Töne  Ruisdaels  sind  strahlend 
schönen,  klaren  Farben  gewichen.  Heben  sie  sich  damit  schärfer  von- 
einander ab  und  isolieren  die  Einzeldinge  schärfer,  so  sind  sie  in  ihrer 
Reinheit  niemals  naturalistische  Lokaltöne,  sondern  zu  idealen  Farb- 
klängen verbunden.  Die  Orundtöne  sind  Goldgelb  und  ein  lichtdurch- 
strahltes Blau,  zu  denen  rötliche  Töne  die  Ergänzung  bilden.  Ein 
warmes  Grün  und  Braun  füllt  unauffälliger.  Wir  können  es  verfolgen, 
wie  in  der  immer  schärfer  sich  ausprägenden  Zusammenstellung  rosiger 
Töne  gegen  Blau  von  der  bodenständig  holländischen  Malerei  eine 
durchgehende  Linie  zur  italisierenden  Landschaft  führt.  In  Erscheinung 
tritt  das  Gelb  und  Blau  in  den  fernen  Hügeln  und  Bergketten,  wo  die 
Erde  vom  Licht  überstrahlt  zu  werden  beginnt  und  dem  Himmel,  der 
vom  abendlichen  Gelb  in  zartes  Blau  übergeht.  Die  tiefsten  Farben 
sammeln  sich  gewöhnlich  in  der  Staffage,  die  in  der  Mitte  des  Vorder- 
grundes zu  hoher  Wirksamkeit  gelangt.  Hier  geben  die  Gewänder 
Gelegenheit,  ein  sattes  Blau  und  Rot  gleichmäßig  hinzusetzen,  das  oft 
die  bestimmende  Note  für  das  ganze  Bild  abgibt.  Diese  Liebe  zu 
schöner  ungebrochener  Farbe  durchkreuzt  sich  ständig  mit  dem  Willen, 
alles  im  Glänze  des  Lichts  erstrahlen  zu  lassen.  So  kommt  es  zu 
zarten  Lichtreflexen,  kleinen  Spritzern,  die  besonders  an  den  Rändern 
einheitlicherer  Farbflächen  auftreten.  Indem  sich  die  anspruchslosen 
Farben  in  leuchtende  wandeln,  ruhen  die  Gegenstände  auch  nicht  mehr 
so  vollkommen  innerhalb  des  Raumes  in  sich  selbst.  In  leichter  Be- 
wegung neigen  sich  die  Bäume  ins  Bild  hinein,  die  Waldhänge  und 
fernen  Berge,  zu  mehr  oder  weniger  einheitlichen  Flächen  zusammen- 
gefaßt, zeichnen  fließende,  wellig  bewegte  Umrißlinien.  Es  spricht  dar- 
aus nicht  mehr  die  urholländische  Ehrfurcht  vor  dem  Sein  der  Dinge. 
Ein  flüchtiger  Schwung  in  der  Darstellung  stellt  ihre  Eigenexistenz  in 
Frage.  Gewiß  war  auch  in  den  holländischen  Bildern  der  Gegenstand 
aufgelöst;  er  ergab  das  weiche  Relief  von  mannigfaltigen  Abstufungen. 
Von  allen  Seiten  umgab  ihn  die  Luft  des  uninteressierten  Raumes. 
Jetzt  erhält  der  Gegenstand  durch  die  stärkere  Farbe  eine  stärkere  Ab- 
grenzung, aber  er  wird  flächenhaft  dunkel,  wenn  er  dem  entgegen- 
strahlenden Licht  Widerstand  leistet,  oder  die  Einzelheiten  gehen  in 
einem  einheitlichen  Lichttone,  gewöhnlich  einem  Goldbraun  unter. 
So  erhalten  die  großen  Bäume,  die  das  Bild  begrenzen  oder  in  ihm 
hochragen,  die  Waldhänge,  die  in  sanfter  Bewegung  hinabgleitenden 


292  WILLY  DROST. 


Höhenzüge  etwas  Kulissenhaftes.  Eine  dekorative  Flächenhaftigkeit 
verdrängt  das  Weben  der  Dinge  im  unendlichen  Freiraume.  Die 
Ferne,  die  hier  womöglich  noch  unentbehrlicher  ist,  gilt  nicht  als  Wahr- 
zeichen des  Kosmos,  sondern  stellt  die  subjektive  Sehnsucht  in  der 
Seele  des  Malers  dar.  Die  Dinge  haben  das  Insichgekehrte  und  die 
alltägliche  Farbe  verloren  und  nehmen  dafür  Tönungen  an,  mit  denen 
der  Mensch  ein  bestimmtes  Gefühl  verbindet.  Er  gibt  sich  nicht  mehr 
selbstlos  an  den  Gegenstand  hin,  weil  er  mit  ihm  etwas  ausdrücken 
will.  Anstatt  naiv  realistisch  verhält  er  sich  sentimentalisch  zur  Natur. 
Jetzt  will  er  die  Stimmung  im  Bilde  und  macht  sie  zur  Hauptsache. 
Der  Mensch  zieht  das  All  in  seine  Sphäre,  er  anthropomorphisiert  es; 
er  findet,  daß  bestimmte  Konstellationen  der  Natur,  Farbe  und  Licht, 
gewissen  Stimmungen  in  ihm  entsprechen  und  benutzt  die  Natur  nun, 
um  seinen  Gefühlen  Ausdruck  zu  verleihen.  Die  eigentlich  holländische 
Landschaft  ist  Monismus  in  der  Sprache  des  Alls  durch  das  naive 
Individuum.  Der  Maler  dieser  Landschaft  hat  sich  von  der  Natur  los- 
gelöst und  sieht  sie  bewußt.  Ohne  sie  aber  von  sich  aus  nun  voll- 
ständig zu  durchdringen,  spricht  hier  eine  Klage  über  den  verlorenen 
Zusammenhang  und  ein  Suchen  nach  Sympathiegefühlen  in  der  toten 
Natur.  Während  in  der  holländischen  Landschaft  das  Sein  als  Ganzes 
Seele  mit  einfaßte,  sucht  jetzt  das  Bewußtsein,  das  dem  Sein  gegen- 
übergetreten ist.  Seelisches  in  ihm.  Sprach  in  der  kosmischen  Malerei 
die  Idee  der  ewig  wandelnden  Zeit  ohne  Absicht  des  Künstlers  un- 
mittelbar sinnlich  aus  dem  Gegenstande,  machte  Ruisdael  den  Gegen- 
stand, obgleich  objektiver  in  der  Form,  zum  Symbol  für  die  poetische 
Idee  der  Vergänglichkeit,  so  hat  jetzt  die  bei  dem  Bildner  herrschende 
sentimentale  Grundeinstellung  auch  die  Farbe  und  Form  der  Gegen- 
stände danach  gewandelt,  und  in  der  Melodie  der  fernen  Bergkette, 
den  strahlenden  Farben  des  Abends,  fühlen  wir  einen  musikalisch 
romantischen  Geist  als  die  Grundnote  des  ganzen  Bildes.  In  der  italie- 
nischen Landschaft  des  Holländers  wird  er  sofort  fühlbar.  Es  ist  nicht 
dargestellt,  was  der  Gestaltende  ist,  was  unmittelbar  aus  ihm  hervor- 
gehen kann,  sondern  was  er  sein  möchte,  wonach  er  Verlangen  hat. 
So  schön  die  Gegenwart  erscheint,  die  er  erschafft,  die  Ferne  ist  alles. 
Sehnsucht  ist  das  Lied  dieser  Landschaft,  Sehnsucht  nach  Schönheit, 
Freude,  Licht.  Trunken  ist  das  Auge  vom  golden  herabsinkenden 
Abend,  in  dem  die  fernen  Berge  verblauen.  Die  immergrünen  Bäume 
stehen  in  der  unendlich  klaren  fremden  Luft  wie  gemeißelt  da;  hohe 
Felswände  streben  himmelan,  ihre  Gipfel  ruhen  im  warmen  Licht;  Wald- 
gründe verdämmern,  Büsche  und  Blätter  schwimmen  in  einem  warmen 
goldbraunen  Ton,  nur  einzelne  Zweige  und  Blätter  glühen  tief  auf  in 
den  letzten  Strahlen  der  Abendsonne.    Friedlich  ziehen  mit  der  Herde 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  2Q3 

Hirt  und  Hirtin  im  bunten,  lebensfrohen  Oewande  dahin,  beschattet 
von  den  Ruinen  alter  mächtiger  Bauwerl<e,  die  in  das  Herz  ahnungs- 
voll einen  Traum  von  Größe  und  Heldentum  senken. 

Die  Hütte  mit  ihrem  grauen  Wirrsal  versinkt.  Aus  der  Welt  des 
Alltags,  der  engen  krausen,  dem  Dämmer  der  verräucherten  lärm- 
erfüllten Schenke  ist  mächtig  und  feurig  die  Sehnsucht  nach  Klarheit 
und  Heiterkeit  aufgestiegen.  Italien,  das  Land  altvergangener  Herr- 
lichkeit mit  einer  wärmeren  Sonne  und  wohlgeformten  Menschen,  wird 
das  Ziel,  an  das  die  Sehnsucht  sich  klammert.  Aber  die  Maler  haben 
nicht  Italien,  sie  haben  nur  eine  Provinz  ihrer  nordischen  Seele  gemalt. 
Sie  können  nicht  mehr  in  dem  existenzhaften  naiven  Zustande  ihrer 
engen  Welt  verharren.  Sie  wollen  nicht  mehr  die  verhutzelten  Menschen 
mit  den  grotesken  Gesichtern  und  dem  naturhaften  Gebaren.  Die 
Kraft,  die  sie  zu  Propheten  eines  wahrhaft  kosmischen  Naturgefühls 
machte,  ist  erloschen.  Die  Dinge,  die  im  selbstverständlichen  Grau, 
umwoben  von  der  Weite  des  grauen  Himmels  zu  großartigen  Sym- 
bolen geworden  waren,  jetzt  noch  so  darzustellen,  erscheint  nüchtern 
und  ohne  Sinn.  Es  müssen  verwandte  Gefühle  in  ihrer  Seele  anklingen, 
deshalb  wählen  sie  mit  Vorliebe  den  frühen  Morgen  oder  den  Abend 
mit  ihren  eigenartigen  Farbstimmungen,  die  nur  für  Augenblicke  einen 
überirdischen  Glanz  über  dieses  Dasein  ausgießen.  Und  so  scheint 
bei  aller  Schönheit  auch  diese  Landschaftsmalerei  den  Todeskeim  in 
sich  zu  tragen.  Diese  Sehnsucht,  diese  Sentimentalität  führt  immer 
weiter  ab  von  dem  lebendigen  Erfassen  der  Natur.  Es  ist  ja  kein 
Abend,  kein  Morgen,den  sie  darstellt,  sondern  die  Freude  an  dem  Abend, 
an  dem  Morgen.  Und  die  Reflexion  schnürt  schließlich  alle  Quellen  der 
Natur  ab.  Wir  beobachteten  schon  Flächenhaftigkeit  und  Dekoration. 
Und  es  muß  notwendigerweise  so  sein.  Denn  eine  allzugroße  Treue 
und  Hingebung  an  den  Gegenstand  in  kosmischer  Gleichgültigkeit  im 
objektiven  Räume  würde  sich  nicht  mit  dem  romantisch  sehnsüchtigen 
Charakter  vereinigen  lassen.  Eine  allzunahe  Wirklichkeit  zerstörte  den 
Traum.  Nicht  Natur,  sondern  Spiegelungen  in  der  Seele  des  Menschen 
sollen  wir  erhalten. 

Bei  alledem  wollen  wir  nicht  außer  acht  lassen,  daß  auch  die  ita- 
lisierende  romantische  Richtung  sich  auf  dem  Unterbau  der  naiv  rea- 
listischen holländischen  Malerei  erhebt.  Diesen  Malern  allen  fehlt  doch 
der  hohe  Schwung  und  der  römische  Geist  eines  Claude  Lorrain,  der 
sich  formal  in  einem  gewaltigeren  architektonischen  Aufbau  im  ganzen 
Bilde,  einer  größeren  Verwendung  der  Architektur  selbst  mit  ihren  feier- 
lichen Geraden,  einer  größeren  Zusammenfassung  zu  einheitlichen,  sich 
genau  die  Wage  haltenden  Massen  zeigt.  Eine  Reihe  von  Bildern 
können  wir  geradezu  als  Zwischenstufen  zwischen  der  naiven  und  roman- 


294  WILLY  DROST. 


tischen  Einstellung  bezeichnen,  indem  nur  von  beiden  Seiten   her  ihr 
Geist  vollständig  zu  erfassen  ist. 

So  beginnt  sich  bei  Cuyp  —  um  hier  an  einzelnen  Beispielen  die 
Meinung  zu  erläutern  —  trotz  der  Landschaften  mit  riesigem  unbe- 
teiligten Luftraum  und  tonig-welliger  Auflösung  einer  ganz  flachen 
Dünenformation  (Berlin),  der  blonde  Luftton  so  zu  steigern,  daß  er 
ein  besonderes  Gefühl  auszudrücken  scheint.  Fromentin  kam  der 
»ewige  Goldtonc  verräterisch  vor,  »an  den  man  nicht  so  recht  glaubt 
an  der  Maas  oder  Zuidersee« ').  Ein  subjektiver  Schwung,  etwa  in 
dem  Bergabhang  des  »Morgensc  (Rotterdam),  der  kunstvoll  aufgefangen 
wird,  überhaupt  ein  freieres  Schalten  mit  der  Natur  gibt  auch  der 
Komposition  ein  verändertes  Gepräge.  Der  lineare  Zusammenhang 
wird  stärker,  die  Auswägung  der  Flächen  ausgeglichener,  dafür  büßen 
die  Gegenstände  an  Räumlichkeit  ein,  und  der  langsamen  Hineinführung 
in  den  Bildraum  wird  nicht  mehr  das  Hauptinteresse  zugewandt.  So 
prallt  der  Blick  in  manchen  Stadtansichten  (Ansicht  von  Dordrecht  in 
Amsterdam  und  Leipzig)  auf  eine  Häuserreihe  in  annähernd  einer  Bild- 
ebene und  der  Blick  in  die  Ferne  wird  versagt.  Wundervolle  Lichtver- 
anstaltungen nehmen  den  Dingen  ihre  kosmische  Selbstverständlichkeit; 
Städte  werden  von  Licht  überflutet,  sodaß  nur  einzelne  Bergkuppen 
und  Gebäude  aufblitzen  (Breslau);  die  Abendlandschaft  im  Buckingham 
Palace,  in  der  ein  welliges,  sonnig  überstrahltes  Gelände  sich  in  einen 
Waldgrund  mit  zarten  Reflexen  verliert,  ist  auch  in  der  Staffage  ganz 
italisierend  romantisch.  Einen  ähnlichen  Übergang  zeigt  für  die  syste- 
matische Einordnung  Adriaen  van  de  Velde.  Selbst  eine  kompositioneil 
so  echt  holländische  Landschaft  wie  das  Casseler  Strandbild  tut  sich 
in  zierlicher  Staffage  mit  einem  stark  sentimentalen  Fischer  im  Vorder- 
grunde und  heiteren  leuchtenden  Farben  vor  uns  auf.  So  steht  es  mit 
der  Farbe  auf  fast  allen  seinen  Bildern.  Bode  findet  mit  treffendem 
Ausdruck  etwas  Sonntägliches  in  ihnen,  während  die  spezifisch  hol- 
ländischen Landschaften  durchaus  den  Alltag  (dafür  in  unsagbarer  Ver- 
tiefung) malen.  Die  klare  Weidelandschaft  in  Leipzig,  die  Farm  in  Berlin 
und  viele  andere  haben  diesen  Ausdruck.  Daneben  drängt  sich  das 
Figürliche,  das  van  de  Velde  mit  Meisterschaft  beherrscht,  in  den 
Vordergrund  und  entwickelt  sich  bis  zur  Genreszene  (Schäferszene 
in  Leipzig).  So  malt  er  sich  selbst  als  Gutsherrn  mit  seiner  Familie 
in  die  Landschaft,  oder  setzt  sich  sehr  ostentativ  als  Zeichner  hinein, 
wodurch  dann  das  zeitlos  Kosmische  der  Landschaft  unmöglich  wird. 
Wir  sind  nicht  erstaunt,  bei  ihm  neben  der  holländischen  Flachland- 
schaft den  pompösen  Aufbau  römischer  Ruinen  zu  finden  (Dresden). 

')  Übersetzung  S.  195. 


OBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  295 


Noch  ein  dritter  Maler  läßt  sich  hier  anführen,  der  bezeichnenderweise 
ebenfalls  die  Staffagelandschaft  gepflegt  hat,  Philips  Wouverman. 
Er  nimmt  bewegtes  menschliches  Treiben,  Jagdepisoden,  Überfälle, 
Reitergefechte  zum  Thema  seiner  Bilder  und  spitzt  es  novellistisch 
zu.  Besonders  fesselt  ihn  die  vornehme  Gesellschaft,  die  er  im  Vor- 
beireisen an  dem  wüsten  Hause  des  Scharfrichters  (Dresden),  in  feind- 
lichem Zusammentreffen  mit  Räubern,  freundlichem  mit  Feldarbeitern, 
vor  der  Schmiede  und  Schenke  oft  zu  ärmlichen  mehr  naturhaften 
Verhältnissen  bewußt  in  Gegensatz  stelH.  Dieses  Interesse  für  den 
Menschen  wirkt  sofort  auf  die  Behandlung  der  Landschaft  zurück. 
Der  Horizont  geht,  soweit  er  überhaupt  zu  sehen  ist,  mit  flüchtig  be- 
wegten Höhen,  in  einen  von  Wolken  reich  belebten  Himmel  über,  ge- 
wöhnlich aber  steigt  eine  riesige  Wolke  über  dem  Horizonte  auf  und 
verwischt  in  ihrem  Zuge  den  Gegensatz  Himmel  und  ruhende  Erde 
vollständig.  Diese  Tatsache  ist  auch  bei  den  einfachen  ländlichen  Dar- 
stellungen das  Merkmal  eines  nicht  mehr  naiv  realistischen  Sinnes, 
ohne  daß  sich  indessen  mit  der  Art,  wie  Pferde  und  Menschen  hier 
gegen  den  düsteren  Himmel  gestellt,  schwanke  Stege  mit  einsamen 
Gestalten  über  dunkle  Gewässer  geführt  sind,  eine  weniger  tiefe  und 
geheimnisvolle  Wirkung  verbände.  Seine  Farben  sind  emailleartig  (sehr 
zart  z.  B.  in  der  Frühlingslandschaft  in  Kassel).  Zu  sprühenden  Druckern 
und  Spritzern  gibt  die  reiche  oder  kriegerische  Kleidung  reichlich  Ge- 
legenheit. Besonders  auch  stellt  ihn  die  Vereinigung  rosiger  und  blauer 
Töne  in  die  Mitte  zwischen  der  bodenständig  holländischen  und  ita- 
lisierenden  Malerei. 

Abschweifung.  Stellen  wir  überhaupt  einmal  der  von  uns  be- 
handelten Landschaft  die  Landschaft  des  18.  und  19.  Jahrhunderts 
gegenüber,  so  findet  sich  gerade  von  Wouverman  mit  seiner  novelli- 
stischen Vorführung  menschlich  geselliger  Verhältnisse  Gelegenheit  nach 
Frankreich  überzuspringen,  wo  die  Landschaft  des  18.  Jahrhunderts  ihre 
eigenste  Ausgestaltung  erhält.  Licht  und  Luft  bleiben,  aber  die  sub- 
jektive Note  setzt  in  einem  willkürlichen  Schalten  mit  dem  Gegenständ- 
lichen mit  allem  Nachdruck  ein.  Die  Bäume  erhalten  elegante  Kurven, 
schmiegen  sich  dem  Bildrande  an,  und  fassen  schmiegsam  mensch- 
liche Szenen  ein.  Gewiß  werden  sie  auch  hier  vom  Bildrande  durch- 
schnitten, aber  man  nimmt  sie  gar  nicht  mehr  ernsthaft  als  objektive 
Körper,  sondern  als  dunkle  Kulissen,  die  die  Menschen  des  Mittelgrundes 
gefälliger  und  abschließender  umrahmen  als  das  harte  Viereck  des 
Rahmens.  Bei  Watteau  sind  solche  Kulissen  zu  bloßen  Funktionen  inner- 
halb des  Helldunkelwechsels  geworden.  —  Der  Mensch  und  seine 
Welt  tritt  ganz  und  gar  in  den  Vordergrund,  und  von  der  Landschaft 
wird  die  dämmernde  Abendröte  oder  blaue  Ferne  nur  als  Ausdrucks- 


296  WILLY  DROST. 


mittel  seines  Gefühls  benutzt.  Wir  sind  ganz  in  den  Gefühlen,  die 
von  der  Reflexion  aus  in  den  konventionellen  Verhältnissen  des  Menschen 
unter  Menschen  entstehen,  Ironie,  Satire,  Sentiment,  Koketterie,  wir  be- 
finden uns  in  vornehmer  Gesellschaft  im  Park  oder  auf  dem  Lande, 
wo  die  Ähnlichkeit  der  höfisch  freien  Sitte  mit  der  naiven  Freiheit  des 
Schäfers  zu  den  reizendsten  sentimentalen  Szenen  Anlaß  gibt.  Die 
naive"  Ehrfurcht  vor  der  Natur  ist  jedoch  damit  verloren  gegangen. 
Die  zunehmende  Subjektivität  hat  wichtige  Folgen  für  die  Füllung  der 
Bildtafel.  Man  fühlt,  an  jeder  Stelle  soll  die  leichte  Hand  des  Künsters 
spürbar  bleiben.  Der  uninteressierte  Luftraum  mit  dem  Dualismus 
Körper  und  Raum,  Himmel  und  Erde  wird  möglichst  ausgetilgt,  die 
Horizontale  der  Ferne  ist  fast  vollständig  geschwunden.  Dunkle  oder 
in  einheitlichem  Halbton  gehaltene  Laubmassen  füllen,  wie  schon  an- 
gedeutet, die  Ränder  der  Bilder,  und  das  Dunkel  erhält  die  Aufgabe, 
die  auf  die  Mitte  konzentrierte  Hauptsache  der  Darstellung  sich  aus 
ihm  wirksam  herauslösen  zu  lassen.  So  kommt  ein  geschlossenes 
Ganzes  zustande.  Dasselbe  Bestreben  hat  auch  zum  vollständigen 
Fortlassen  der  unbeteiligten  Ecken,  zum  Oval  geführt. 

Um  die  Wende  zum  IQ.  Jahrhundert  entwickelt  sich  in  Deutsch- 
land eine  Landschaft,  die  manches  mit  der  von  uns  als  roman- 
tisch bezeichneten  Landschaft  gemeinsam  hat:  die  Sehnsucht  nach 
Italien,  das  Begehren  nach  tiefen,  goldenen  Farben  und  der  wehmuts- 
vollen, ahnungsreichen  blauen  Ferne.  Hier  erst  ist  zum  Nachteil  der 
Malerei  die  Reflexion,  die  Bewußtheit,  die  wir  dort  schon  hervorhoben, 
zur  Herrschaft  gelangt.  Die  unmittelbar  vorliegende  Natur  genügt 
nicht  mehr,  weil  man  nach  einem  inneren  Idealreich  sucht.  Die 
Mutter  dieser  Landschaft  ist  die  romantische  Literatur  (Tieck,  Novalis), 
sogar  Ästhetik  (Friedrich  Schlegel),  Philosophie  (Schelling)  und  Natur- 
wissenschaft scheinen  nicht  unbeteiligt  an  ihr.  Vergleichen  wir  aber 
einmal  zwei  Landschaften  ähnlichen  Gegenstandes  wie  das  Kloster 
von  Verboom  aus  dem  17.  Jahrhundert  mit  dem  bekannten  Kloster- 
garten Oliviers,  beide  in  Leipzig,  so  wird  uns  bei  aller  Ähnlich- 
keit der  Farbe  und  damit  wohl  des  ersten  Eindrucks  doch  bald  der 
Abstand  klar  werden.  Dort  besteht  eine  Verwandtschaft,  ein  Zusammen- 
hang aller  Teile,  der  die  Welt  auf  der  Bildtafel  zu  einem  abgeschlossenen 
geordneten  Ganzen  macht,  hier  aber  trägt  bei  aller  religiösen  Innigkeit 
das  Bild  doch  nur  den  Charakter  des  Ausschnitts,  und  die  Teile  ent- 
behren formal  des  organischen  Zusammenhangs.  Nicht  die  Befähigung 
beider  Meister,  sondern  die  anderthalb  Jahrhunderte,  die  zwischen  ihnen 
liegen,  bedingen  diesen  wesentlichen  Unterschied.  Einer  flüchtigen 
Beobachtung  könnte  es  scheinen,  als  stellte  überhaupt  das  19.  Jahr- 
hundert, soweit   es   nicht   Nachahmung   ist,   in   mancher  Beziehung 


I 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  297 

einen  Rückgang  auf  das  17.  dar.  Das  Bild  schneidet  wieder  aus 
der  Wirklichkeit  aus  und  die  Dinge  ruhen  im  Räume;  auch  die  Hori- 
zontale erscheint  wieder,  wir  haben  einen  Realismus.  Nun  aber  ist 
all  das  verflogen,  was  wir  mit  dem  Ausdruck  kosmisch  bezeichneten: 
die  gehaltene  Farbe,  die  jedes  Ding  in  tiefe  Beziehung  zu  dem  Ganzen 
des  unendlichen,  umgebenden  Raumes  brachte,  das  Abgewogene  der 
Komposition,  die  eine  kleine  Welt  auf  der  Tafel  ausbreitete.  Die  Dinge 
werden  sowohl  farblich  wie  auch  körperlich  isoliert,  der  Himmel  wird 
blau,  die  Wolken  weiß,  die  Bäume  grün,  die  Dächer  rot;  der  Ausschnitt 
zeigt  eine  Zufälligkeit,  die  eine  Harmonie  der  Teile  vermissen  läßt,  und 
beweist,  daß  es  dem  Menschen  nicht  mehr  gegeben  ist,  seine  Welt 
und  sich  darin  als  ein  geschlossenes  Ganzes  zu  empfinden. 

Die  Auflösung  des  Gegenständlichen  im  Bilde  während  des  letzten 
Drittels  des  Jahrhunderts,  dieser  Impressionismus  ist  von  dem  soge- 
nannten Impressionismus  der  Holländer  weit  entfernt.  Licht  und  Luft 
gibt  es  hier  genug,  aber  es  ist  gleichgültig,  ob  diese  an  einem  die 
Bildfläche  bedeckenden  plastischen  Gegenstand  oder  einer  weiten  Hori- 
zontallandschaft gezeigt  werden.  Nicht  der  Unendlichkeitsraum,  sondern 
das  subjektive  Bewußtsein  des  Malers  löst  die  Körperlichkeit  der  Dinge 
zu  ungebrochenen  Farbflecken  auf.  Das  Wesen  des  großen  Raumes, 
als  dessen  Ausgeburt  in  Holland  alles  einzelne  erschien,  ist  nicht  mehr 
gestaltet;  statt  des  kosmischen,  haben  wir  einen  materialistischen  Realis- 
mus. Der  Künstler  schafft  nicht  mehr  in  dem  tiefen  Glauben  an  das 
Sein   der  Welt,   sondern  bildet  seine  subjektiven  Sinneseindrücke  ab. 

Die  expressive  Landschaft.  Haben  wir  die  behandelten 
Landschaftsgattungen  als  Ausdruck  überpersönlicher  Ideen  genommen, 
von  denen  mit  Ausnahme  Ruisdaels  der  Künstler  nur  als  Träger  er- 
schien, der  uns  erst  in  zweiter  Linie  interessierte,  so  bedeutet  die  Form, 
die  wir  jetzt  den  übrigen  gegenüberstellen,  die  Kundgebung  einer  Persön- 
lichkeit, die  das,  was  aus  dem  Zeitgeiste  heraus  entstanden  ist,  weit 
hinter  sich  läßt.  Allein  einem  Rembrandt  war  es  möglich,  in  dem 
Holland  des  17.  Jahrhunderts  unter  den  leidenschaftsfremden  Land- 
schaften eine  Form  zu  finden,  in  der  sich  persönlich-seelisches  Leben 
ausdrücken  konnte.  Es  gibt  keine  Schule  der  expressiven  Landschaft. 
Nur  soweit  einige  Maler  wie  Aeart  de  Gelder  ganz  in  die  Fußtapfen 
des  großen  Meisters  getreten  sind,  haben  sie  Ähnliches  hervorgebracht. 
Niemals  war  die  Idee  der  Rembrandtschen  Landschaft  in  mehreren 
der  Zeit  wirksam. 

Wenn  indessen  auch  diese  Landschaft,  die  wir  unter  dem  Namen 
der  expressiven  Landschaft  zusammenfassen,  nur  durch  den  Namen 
Rembrandt  belegt  ist,  so  wollen  wir  sie  keinesfalls  mit  seiner  Land- 
schaftsmalerei gleichsetzen.    Rembrandt  war  echter  Holländer  und  so 


298 


WILLY  DROST. 


ist  auch  ein  gut  Stück  urholländischen  Geistes  in  seinem  Land- 
schaftswerk vorhanden.  Dies  zeigt  sich  vor  allem  in  seinen  Radie- 
rungen, dann  in  den  Handzeichnungen  und  zum  Teil  auch  in  einigen 
vorzugsweise  späten  Landschaftsgemäiden.  Aber  das  Wesentliche 
seiner  gemalten  Landschaft,  das  wir  hier  in  systematischer  Zuspitzung 
herausarbeiten  wollen,  ist  doch  ein  anderes.  Wir  haben  dabei  die 
Landschaft  mit  dem  barmherzigen  Samariter,  Krakau,  die  Landschaft 
mit  dem  Obelisken,  Boston,  die  Berglandschaft  mit  den  Ruinen,  Braun- 
schweig, die  Londoner  Landschaft,  Wallace-Collection,  die  Landschaft 
mit  der  Zugbrücke,  Madrid,  die  Landschaft  mit  der  Brücke,  Oldenburg, 
die  Landschaft  mit  der  Eiche,  Bedin  Sammlung  Kappel,  die  Mühle, 
Philadelphia,  vor  Augen.  Eine  begriffliche  Beschreibung  ist  schwer, 
und  es  ist  bezeichnend,  daß  fast  alle  Versuche  dazu  in  eine  dichterisch 
intuitive  Einfühlung  übergegangen  sind.  Die  Starrheit,  die  den  exakten 
Begriffen  einer  rein  sachlichen  Beschreibung  anhaftet,  verhindert  ein 
Verständlichmachen  dieser  Landschaft,  deren  Wesen  in  einer  im- 
materiellen Bewegtheit  besteht.  Das  Gegenständliche  hat  seine  Ob- 
jektivität zugunsten  einer  Helldunkelfunktion  aufgeben  müssen.  Große 
Schatten-  und  Lichtmassen  wechseln  miteinander,  formen  sich  hier  zu 
sturmbewegten  Bäumen,  hügeligen  Aufbauten,  phantastischen  Brücken 
und  Gebäuden  und  mächtigen  schweren  Wolkenmassen,  blitzen  dort 
zu  Menschen,  Baumkronen,  Architekturen  auf,  ebenso  flüchtig  geformt 
oder  als  Durchblicke  durch  die  Wolken.  Der  Horizont  wird  höher  ge- 
legt, aber  wir  können  gar  nicht  mehr  von  einem  Horizont  im  Sinne 
der  holländischen  Malerei  als  Wahrzeichen  der  ruhenden  Erde  unter 
dem  unendlichen  Luftraum  reden,  der  Horizont  entsteht  nur  als  Grenze 
zwischen  einer  wirksamen  Licht-  und  Schattenmasse.  Damit  ist  die 
Gestaltung  des  objektiven  Raumes,  des  freien  unendlichen  Außenraumes 
als  wesentliches  Ziel  aufgegeben.  Denn  der  Freiraum  ruht,  und  die 
Dinge  ruhen  in  ihm.  Hier  aber  bekommen  wir  den  Raum  nicht  mehr 
als  einen  festen,!  gewissermaßen  in  Außenansicht,  durch  Luft-  und 
Linearperspektive  vermittelt,  sondern  sind  in  einer  räumlichen  Dynamik 
mitten  drin  und  erieben  ihr  Hin-  und  Herweben.  Die  Hauptaufgabe 
Rembrandts  war  nicht  die  Steigerung  der  Tiefenwirkung  des  Freiraums 
zwischen  dem  Körperiicheni),  sondern  die  Verräumlichung  auch  des 
Körpedichen  zu  dynamischer  Wirkung.  Doch  soll  auf  das  Wort  Raum 
gar  kein  besonderer  Wert  gelegt  werden.  Worauf  es  ankommt,  ist  die 
Auflösung  der  ruhenden  Außenexistenz  in  Wechselbeziehung  und 
Kräftespiel.  Die  Luft,  die  wie  ein  Medium  die  Dinge  umspielte,  wird 
nun  auf  eine  mit  ihnen  gleichwertige  Stufe  erhoben.    Wie  anders  also. 


')  So  sagt  Riegl,  Das  Holland.  Oruppenporträt  Jahrb.  1902,  S.  205. 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  29Q 

als  bei  der  im  eigentlichen  Sinne  holländischen  Malerei,  wo  uns  die  Ein- 
heitlichkeit der  Substanz  des  Luftraums  und  des  Körperlichen  in  ihm 
aufstieß,  aber  im  Verhältnis  des  kleinen  Erzeugnisses  zum  großen  ge- 
bärenden All,  wo  der  Mensch  im  Bilde  wie  der  Maler  als  in  naiver 
Abhängigkeit  erschien!  Jetzt  ist  der  Unendlichkeitsraum  nicht  mehr  das 
allem  unbedingt  Übergeordnete.  Er  ist  gleichermaßen  abhängig  vom 
Schöpfergeist  des  Künstlers  wie  das  in  ihm  dargestellte  körperliche 
Wesen  und  wird  ein  gleichwertiges  Beziehungselement  zu  ihm. 
Vom  naiven  Realismus  kann  jetzt  keine  Rede  mehr  sein,  es  ist  ein 
vollkommenes,  schöpferisches  Durchdringen  der  Welt  vom  Subjekt  her: 
Idealismus. 

In  der  kosmischen  und  zugleich  naiv  realistischen  Landschafts- 
malerei zeigte  sich  der  Mensch  als  hineingestelh  in  einen  allumfassen- 
den Zusammenhang  der  Wirklichkeit,  in  dessen  Notwendigkeit  er  ganz 
aufging,  gegen  den  er  keine  selbständige  Eigenart  behaupten  konnte, 
sodaß  er  ganz  der  eigenen  individuellen  Wesenheit  verlustig  ging. 
Einzelseele  war  ein  kleines  Teilstück  der  Allnatur.  Ich  und  Welt  war 
eine  Einheit,  die  der  Maler  in  eigentümlicher  Weise  darstellte,  ohne 
isich  ihrer  bewußt  zu  sein;  noch  hatte  das  bewußte  Einzelich  sich  nicht 
vom  substantiellen  Urgrund  aller  Dinge  losgelöst.  Hier  bei  Rembrandt 
scheint  der  Gegensatz  zwischen  Ich  und  Welt  ebenfalls,  aber  in  ganz 
anderer  Weise  ausgelöscht  zu  sein.  Hier  ist  die  Welt  ganz  in  das 
ich  hineinversetzt  und  erscheint  nur  als  Ausstrahlung  der  schöpferischen 
Persönlichkeit.  In  der  Art  und  Weise,  wie  die  Dinge  in  bezug  auf 
Farbe  und  Form  souverän  behandelt  sind,  beweisen  die  Bilder  einen 
Idealismus,  der  genau  so  konsequent  ist  wie  der  philosophische,  den 
ein  bewußter  Geist  in  literarischer  Tätigkeit  zum  System  formt.  Es 
ist  nicht  anzunehmen,  daß  Rembrandt  eine  solche  Bewußtheit  besaß, 
die  die  begriffliche  Form  der  Worte  vom  Intellekt  verlangt.  Er  war 
Holländer  mit  der  fast  animalischen  tiefen  Naturverbundenheit,  aber 
die  Sprache  seines  Pinsels  verkündet  eine  alles  bezwingende  Schöpfer- 
herrlichkeit. Es  gibt  kein  in  sich  ruhendes  Sein  mehr  im  Bilde,  das 
treu  hingenommen  wird,  wie  der  Baum,  die  Hütte  unter  dem  ewigen 
Firmament.  In  flutender  Dynamik  wird  auch  das  Körperliche  als 
gegenüberstehendes  Sein  aufgelöst  zu  Ausstrahlungen  der  erregten 
Künstlerseelc.  Das  ist  jetzt  das  Ungeheure,  das  Neue,  das  die  gemalte 
Landschaft  Rembrandts  in  bezug  auf  die  Stellung  des  Menschen  zur 
Welt  als  absoluten  Gegenpol  zu  aller  anderen  holländischen  Land- 
schaftsmalerei des  17.  Jahrhunderts  erscheinen  läßt:  die  unabsehbare 
Ferne,  mit  Gebirgen,  Flüssen,  Bäumen  und  Gebäuden  steht  nicht 
mehr  für  sich  da,  sondern  wird  Ausdrucksform  für  die  Stimmung 
des  Künstlers.    Er  wählt,  um  einer  Erregung  in  seinem  Innern  Sprache 


300  WILLY  DROST. 


ZU  verleihen,  eine  Landschaft,  vielleicht  im  Anschluß  an  die  Natur, 
ruft  Phantasie  und  Erinnerung  zu  Hilfe,  komponiert  um,  baut  auf 
und  entkleidet  sie  ganz  ihrer  realen  Substantialität,  bis  allein  die  see- 
lische Bew^egung  in  ihr  schwingt.  Wohl  war  auch  die  Landschaft 
des  naiven  Holländers  ausdrucksvoll,  aber  sie  hatte  nur  einen  unsag- 
baren und  ganz  unpersönlichen  Ausdruck:  den  des  Kosmischen,  der 
dumpfen  Befangenheit  des  Einzelnen  im  Schöße  des  Unermeßlichen. 
Jetzt  glauben  wir  eine  ganze  Skala  von  tragischen  Gefühlen  und 
seelischen  Erlebnissen  Rembrandts  aus  seinen  Landschaften  herauszu- 
lesen •). 

Das  formale  Mittel  aber,  das  diese  polare  Umschaltung  erkennen 
läßt,  ist  die  Umwandlung  des  objektiven  uninteressierten  Tiefenraumes 
in  die  subjektive  dynamische  Raumfunktion.  Es  hat  den  Anschein, 
als  wenn  die  Schöpferkraft  des  Künstlers  es  nicht  ertrüge,  den  Tiefen- 
raum in  seiner  gleichmäßig  ruhenden  Form  darzustellen,  weil  er  dann 
in  dem  weit  über  den  Horizont  ins  Grenzenlose  sich  erstreckenden  Frei- 
raum eine  Wirklichkeit  anerkennen  müßte,  die  sich  seiner  alles  mit 
Ausdruck  durchdringenden  Hand  entzöge.  Er  hebt  deshalb  die  Wir- 
kung des  objektiven  Raumes  auf,  indem  er  durch  Hell  und  Dunkel 
jene  Wechselwirkung  von  Kräften  herstellt.  Jetzt  wird  in  den  sich  er- 
gebenden Beziehungen  jedes  Ding  des  objektiven  Seinscharakters  ent- 
kleidet; es  spricht  nicht  mehr  durch  sich,  es  hat  nicht  mehr  Bestand 
außerhalb  des  Bewußtseins  des  Menschen,  es  wird  zum  Mittel,  mit 
dem  sich  hier  der  Künstler  ausdrückt.  Die  Erlebnisse  seines  Ich  sind 
das  erste,  und  jedes  Ding  muß  es  sich  gefallen  lassen,  in  diesem  see- 
lischen Strom  mit  fortgerissen  zu  werden,  ebenso  wie  der  objektive  Raum 
nicht  mehr  als  reale  Wesenheit  anerkannt  werden  kann. 

In  dem  Bestreben,  diese  Bilder  wissenschaftlich  zu  analysieren, 
kommen  wir  zu  der  Einsicht,  daß  räumliche  Begriffe  nicht  genügen, 
obgleich  das  Bild  in  räumlich  simultanem  Bestände  vor  uns  steht. 
Das  Gegeneinanderwirken  von  Kräften,  das  Funktionelle  (im  Tätigkeits-, 
nicht  im  mathematischen  Sinne)  zwingt  dazu,  den  Zeitbegriff  einzu- 
führen. Wenn  wir  den  für  Rembrandt  gebräuchlichen  Ausdruck  des 
Helldunkels  daraufhin  ansehen,  so  wird  ersichtlich,  daß  mit  ihm  nicht 


')  Eisler  schließt  sein  Buch  über  »Rembrandt  als  Landschafter«  (München  1918) 
mit  den  zusammenfassenden  Sätzen:  »Ihm,  dem  Umfassenden,  ist  die  Natur  nicht 
alles,  und  er  kommt  vom  Menschen  zu  ihr:  beides  unterscheidet  ihn  von  allen 
übrigen  Landschaftern  seiner  Heimat.  Er  läßt  das  Menschliche,  die  Stimmung  der 
Figuren  und  das  Eigene  offen  ins  Naturbild  ein,  bis  die  Mischung  vollkommen  ist. 
Eine  reiche,  inwendige  und  unabhängige,  durchaus  persönliche  Welt  ist  da  und 
wählt  nach  ihrem  leidenschaftlichen  Ermessen  die  verschiedensten  Mittel  und  Gegen- 
stände, —  darunter  auch  die  Landschaft  —  um  sich  in  ihnen  ausdrucksvoll  darzu- 
stellen.« 


Ober  wesensdeutung  von  landschaftsbildern.  aoi' 

allein  das  Dunkel  gemeint  ist,  das  neben  einem  Hell  steht,  sondern 
die  Dynamik,  die  durch  das  hervorquellende  Licht  zu  den  zurück- 
strömenden Schattenmassen  erzeugt  wird.  Der  Sinn  des  Begriffs  liegt 
nicht  in  der  Bezeichnung  zweier  objektiver  Tatbestände,  sondern  der 
Funktion  zwischen  beiden.  Sowie  wir  aber  den  objektiven  Bestand 
in  zeitlichen  Verlauf,  dynamisches  Wirken  auflösen,  können  die  Be- 
griffe nicht  unmittelbar  auf  das  Objekt  gehen  sondern  auf  die  Ver- 
haltungsweise des  schaffenden  Künstlers  oder  das  Nacherleben  des 
Beschauers;  stets  bleiben  sie  im  Zusammenhang  mit  einem  leben- 
digen Sichauswirken  der  Menschenseele  und  verlieren  dafür  von  der 
Schärfe,  die  Objekte  in  allgemeingültiger  Weise  zu  fassen.  Diesen  Vor- 
teil und  Nachteil  hat  es,  wenn  wir  solche  Gestaltung  mit  rhythmisch 
bezeichnen.  Wohl  ist  damit  klargestellt,  daß  eine  subjektive  Bewältigung 
der  Welt  vorliegt,  daß  die  Dinge  nicht  ihr  Eigenleben  im  Räume  führen, 
sondern  in  einer  gesetzmäßigen  Abhängigkeit  vom  Künstlergeiste  stehen. 
Denn  das  Rhythmische,  also  durchaus  eine  innere  Beziehung  aller  Teile, 
könnte  nichts  Uninteressiertes  im  Bilde  dulden.  Aber  schwerlich  können 
in  dem  Verhältnis  dieses  dunklen  Baumes  zu  hellen  Wolken  dieses 
lichten  Erdstreifens  zur  dunklen  Bergwand  dynamisch  ausgeglichene, 
rhythmische  Beziehungen  objektiv  festgestellt  werden.  Sie  müssen  vom 
Beschauer  erlebt,  nachvollzogen  werden.  Und  niemand  kann  sich  vor 
einer  der  bezeichneten  Landschaften  Rembrandts  dem  Zwange  ent- 
ziehen, die  lichten  Stellen  als  flutend,  brausend,  die  dunklen  Schatten- 
massen im  Kampf  damit  zu  empfinden,  in  den  Halbschatten  ein  dauernd 
bewegtes,  lösendes  und  verbindendes  Leben  und  Weben  zu  spüren, 
und  die  Dinge,  an  denen  es  sich  auswirkt,  die  sturmbewegten  Bäume 
mit  den  kugelig  zusammengeballten  Kronen,  die  Brücken  und  Türme, 
das  wellige  Erdreich  und  die  schwärzlichen  Wolkenbildungen  erst  in 
zweiter  Linie  als  Träger  jener  Bewegtheit  von  rein  geistigem,  persön- 
lichen Ausdruck  anzuerkennen. 

Der  Raum-  und  Zeitbegriff,  mit  dem  wir  die  Grundformen 
unseres  sinnlichen  Aufnahmevermögens  bezeichnen,  er  ist  auf  die 
Bilder  Rembrandts  im  Gegensatz  zu  den  übrigen  holländischen 
Landschaften  so  grundverschieden  anzuwenden,  daß  wir  wohl  im 
Gegensatz  zu  jenem  naiven  Realismus  auf  einen  transzendentalen 
Idealismus  hinweisen  können.  Wurden  in  der  spezifisch  holländischen 
Malerei  die  Dinge  in  ihrem  Eindruck  für  uns  zu  Symbolen  des  zeit- 
lichen Prozesses,  der  Vergänglichkeit,  machte  sie  bei  Ruisdael  die  poe- 
tische Idee  der  Komposition  dazu,  so  ist  jetzt  die  Zeit  als  künstlerischer 
Faktor  unmittelbar  mit  der  Erschaffung  und  Aufnahme  des  Bildes  ver- 
woben. War  sie  erst  Gegenstand  der  Formung,  ist  sie  jetzt  selbst 
Mittel  der  Formung.    Ebenso  geschieht  es  mit  dem  Raum.    War  er 


302  WILLY  DROST. 


erst  als  objektiver  Raum  Gegenstand  der  Darstellung,  so  drückt  sich 
jetzt  der  Künstler  mit  räumlichen  Funktionen  aus,  in  deren  Dynamik 
wir  uns  mitten  hinein  versetzen  müssen.  So  nimmt  der  transzendentale 
Idealist  Raum  und  Zeit  nicht  ais  metaphysische  Realität,  als  feste  Formen, 
in  denen  alles  Leben  und  Sein  sich  abspielt,  sondern  faßt  sie  als  Funk- 
tionen, mittels  deren  der  Gegenstand  erst  entsteht.  Was  er  als  Gegen- 
stand wahrnimmt,  ist  ein  Erzeugnis  seiner  Tätigkeit,  die  ihn  durch  die 
inneren  Anschauungsformen  Raum  und  Zeit  aus  dem  Chaos  von 
Sinneseindrücken  herausgeformt  hat.  Damit  erhält  die  schöne  Welt, 
die  dem  naiven  Gemüt  so  sicher  und  fest  gegründet  dasteht,  ihren 
letzten  schöpferischen  Abhängigkeitspunkt  in  dem  Subjekt,  und  das 
Insichruhen  des  Gegenstandes  wird  zur  formalen  Einheit  des  Bewußt- 
seins. Bei  Rembrandt  ist  nun  wohl  diese  schöpferische  Durchdringung 
der  Welt  vorhanden,  indem  er  alles  in  Bewegung,  Funktion  aufgelöst, 
nicht  aber  hat  damit  eine  selbstherrliche  Loslösung  von  der  Natur 
stattgefunden.  Aus  jedem  dargestellten  Wesen,  obgleich  es  ganz  zum 
Gefühlszeichen  des  einen  Rembrandt  geworden  ist,  spricht  doch  eine 
Unergründlichkeit  und  tief  verankerte  Objektivität,  die  Rembrandts  echt 
holländische  Allverbundenheit  beweist.  Manchmal  weisen  auch  die 
Licht-  und  Schattenfahnen  in  starker  Bewegung  weit  aus  dem  Rahmen 
des  Bildes  hinaus.  Das  Holländische  in  Rembrandt  wandelt  den  persön- 
lichen Idealismus  zu  einer  Metaphysik,  die  keineswegs  vom  Bewußt- 
sein des  Individuums  auszugehen  scheint. 


Wir  haben  von  den  holländischen  Voiksmalern  der  Landschaft 
bis  zu  Rembrandt  den  Weg  vom  Objekt  zum  Subjekt  durchmessen, 
obwohl  wir  bei  ihnen  eine  gemeinsame  Grundnote  anerkennen  mußten 
und  können  danach  als  allgemeine  Sätze  aufstellen:  Je  größer  die 
Hingabe  an  die  Natur  ist,  desto  mehr  muß  das  Ich  des  Menschen 
und  sein  subjektives  Gefühlsleben,  das  die  Natur  nur  als  Ausdruck 
benutzt,  zurücktreten.  Je  mehr  der  dargestellte  Baum  nur  die  Eigen- 
heit des  Baumes  wiedergibt,  wie  er  fest  auf  dem  Boden  steht  und  in 
organischem  Wachstum  seine  Äste  in  die  Luft  streckt,  desto  weniger 
kann  er  etwas  aus  der  Seele  des  Künstlers  ausdrücken.  Er  befindet 
sich  da  in  dem  Lufträume,  der  die  Körper  gleichmäßig  umspieh,  und 
der  Künstler  ist  zur  Anerkennung  des  Tiefenraumes,  in  dem  er  die 
Objekte  von  sich  aus  neben-  und  hintereinander  sieht,  gezwungen.  Hier- 
für gebrauchten  wir  den  Ausdruck  des  objektiven  uninteressierten 
Raumes. 

Würden  in  solchem  Räume  von  Gefühlen  bewegte  Menschen  dar- 
gestellt, die  unser  Interesse  ernstlich  in  Anspruch  nehmen  sollen,  so 


ÜBER  WESENSDEUTUNG  VON  LANDSCHAFTSBILDERN.  303 

gäbe  es  den  Eindruck  der  Akteurs  auf  einer  Bühne.  Ein  eigentüm- 
licher Dualismus  entstünde,  denn  wir  wüßten  nicht,  sollen  wir  mit 
den  Menschen  mitfühlen  oder  in  der  ruhigen  Betrachtung  der  für  sich 
seienden  Natur  verbleiben.  Indem  der  Künstler  die  Landschaft  zur 
Folie  macht,  ihre  Mannigfaltigkeit  flächig  zusammenfaßt,  den  Umriß 
der  Dinge  zu  leicht  bewegten  Linien  zusammenzieht  und  die  einfache 
kühle  Farbe  zu  gefühlsmäßig  wirkenden  Farbklängen  steigert,  wird  die 
Harmonie  des  Kunstwerkes  wieder  hergestellt. 

Soll  aber  die  Landschaft  lediglich  als  Abbild  seelischer  Erregungen 
empfunden  werden,  so  darf  kein  Gegenstand  mehr  für  sich  wirken. 
Alles  muß  in  einer  gleichmäßigen  Abhängigkeit  vom  schaffenden  Künst- 
ler stehen.  Er  hebt  dazu  notwendig  den  objektiven,  ruhenden  Raum, 
in  dem  die  Dinge  ihr  stilles  Dasein  führen,  auf.  Nicht  mehr  die  Eigen- 
gestalt des  Baumes,  wie  er  im  Luftraum  dasteht,  ist  maßgebend,  sondern 
Baum-  und  Lufthintergrund  werden  zu  einem  lebendigen  Wechsel- 
verhältnis gleichwertiger  Teile  umgestaltet,  in  denen  der  Oefühlsstrom 
des  Schöpfers  weiterschwingt.  Wir  haben  dafür  die  Bezeichnung  der 
dynamischen  Raumfunktion  gewählt.  Die  Ferne  des  Freiraums  kann 
wohl  noch  dargestellt  werden,  aber  nur  noch  in  wirksamer  Beziehung 
zu  anderen  Teilen  des  Bildes.  Es  ergibt  sich  der  Satz:  Das  Expressive 
schließt  den  uninteressierten  Tiefenraum  aus.  Auf  diesem  Wege  kommt 
die  Bildtafel,  die  ja  durch  die  Darstellung  des  Freiraums  hinwegge- 
täuscht wird,  als  eine  positive  Fläche  zu  immer  größerer  Geltung. 
Denn  die  Verbundenheit  aller  Teile  in  einem  Kräftezusammenhang 
bringt  ein  einziges  Gewebe  hervor,  mag  es  sich  auch  noch  so  sehr 
in  verschiedenen  Kraftlinien  dehnen.  Gleichmäßig  bekundet  es  die  Ab- 
hängigkeit vom  Schöpfergeist  des  Künstlers,  der  nirgends  die  Fäden 
seiner  Hand  entgleiten  läßt. 

Mit  der  Gegenüberstellung  von  objektivem  Raum  und  dynamischer 
Raumfunktion  innerhalb  einer  Kunstperiode,  auf  dem  Wege  vom  Objekt 
zum  Subjekt,  befinden  wir  uns  zugleich  zwischen  den  Gegenpolen  der 
Weltanschauung,  die  wir  philosophisch  mit  den  Begriffen  des  Realis- 
mus  und   Idealismus  (Materialismus  und  Spiritualismus)   ausdrücken. 

Nur  einem  Realismus  wird  die  Landschaftsdarstellung,  die  dank- 
bare Aufgeschlossenheit  des  Menschen  der  Welt  gegenüber,  vollständig 
Genüge  leisten.  Wenn  Zeit  oder  Künstlerpersönlichkeit  von  dem  leb- 
haften Willen  durchdrungen  ist,  starken  inneren  Erlebnissen,  gesteigerten 
Affekten  künstlerischen  Ausdruck  zu  geben,  so  wird  die  Landschaft 
ein  ungeeignetes  Mittel  sein.  Denn  am  wenigsten  dürfte  der  Mensch 
unter  der  unendlichen  Weite  des  Himmels  geneigt  sein,  seinen  Ge- 
fühlen und  seiner  Tätigkeit  erhöhten  Wert  beizumessen.  Er  wird  vor- 
zugsweise nach  dem   Menschen  greifen  und   mit  ihm,  den  er  in  be- 


304  WILLY  DROST. 


wegten  Seelenzuständen  darstellt,  seine  Tafel  füllen,  so  daß  die  un- 
interessierte Tiefe  —  dieses  Wahrzeichen  des  Realismus  —  kaum  in 
Betracht  kommt  oder  in  festen  Zusammenhang  mit  der  wirksamen 
Gruppe  gerät.  Zieht  er  aber  doch  die  Landschaft  in  sein  Bereich  und 
zwingt  dem  unendlichen  Freiraum  mit  der  unermeßlichen  Fülle  des 
Lebens  in  ihm  allein  seinen  Willen  auf,  wie  man  es  oft  in  der  heutigen 
Landschaftsmalerei  sieht,  so  werden  wir  uns  kaum  eines  Gefühls  der 
Selbst-Überhebung  enthalten  können.  Bei  dem  Rembrandt  unserer  ex- 
pressiven Landschaft  war  der  tiefe  holländische  Realismus  mit  dem  per- 
sönlichen Ausdruckswillen  des  Künstlers  eine  Verbindung  eingegangen, 
die  uns  doch  noch  in  den  Gegenständen  eine  tiefgegründete  Objektivität 
fühlen  ließ.  Und  auch  er  kam  ja  von  der  Figur  zur  Landschaft,  und 
die  Landschaftsmalerei  spielte  nur  eine  untergeordnete  Rolle  in  seinem 
Schaffen. 


IX. 

Kontinuität  und  Diskontinuität. 
Grenzprobleme  der  Architektur  und  Plastik. 

Von 
Paul  Zucker. 

I. 

Der  allgemeine  Sprachgebrauch  kennt  zwar  die  Bezeichnungen 
»seni<recht«  und  »wagerecht«,  nicht  aber  eine  dementsprechende  für 
die  Richtung  längs  der  Tiefenachse  von  »vorn«  nach  »hinten«.  Schon 
dies  ist  ein  symptomatischer  sprachkritischer  Beleg  für  das  Zurück- 
treten der  dritten  Dimension  im  Bewußtsein  und  in  der  Bewußtheit 
des  normal  Apperzipierenden.  Wenn  die  Bewegung  längs  der  Tiefen- 
achse als  primär  festgelegt  wird '),  so  ist  dies  ein  denkökonomisches 
Prinzip,  das  vielleicht  für  die  Erkenntnis  des  Raumempfindens  frucht- 
bar ist,  keineswegs  aber  mit  dem  normalen  Bewußtsein  überein- 
stimmt. 

Die  im  Alltag  bemerkbare  Unklarheit  und  geringe  Intensität  der 
Tiefenwahrnehmung  folgt  aus  dem  bereits  hinreichend  oft  erörterten 
psychologisch  und  sinnesphysiologisch  vielfältig  verwickelten  Vor- 
gang der  binokularen  und  der  haptischen  Raumwahrnehmung  sowie 
des  Zusammenwirkens  beider.  Infolge  dieser  Unklarheit  und  aus 
allgemeinen    stilbildenden    Voraussetzungen    ist    auch    die    Funktion 


1 


')  So  noch  neuestens  bei  Spengler:  >Untergang  des  Abendlandes«,  München 
1918.  Dem  gegenüber  Schniarsows  Präponderanz  der  Vertikale,  vgl.  A.  Schmarsow, 
»Grundbegriffe  der  Kunstwissenschaft«.  Schärfer  noch  in:  .Raumgestaltung  als 
Wesen  architektonischer  Schöpfung«,  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  IX;  ferner  «Wert  der 
Dimension  im  menschlichen  Raumgebilde«  und  seine  Ausführungen  in  dieser 
Zeitschrift  Bd.  XIV,  Heft  2  und  Bd.  XV,  Heft  1.  Im  folgenden  wird  mehrfach  auf 
Schmarsow  auch  ohne  nochmalige  besondere  Zitierung  Bezug  genommen  —  aller- 
dings nur  insoweit,  als  seine  Ergebnisse  aus  der  psychologischen  in  das  Gebiet 
der  eigentlichen  ästhetischen  Erkenntnis  übernommen  werden  können.  Das  gilt 
ganz  besonders  —  außer  für  die  Frage  der  Dimensionalität  —  für  den  Begriff  der 
Zeit,  den  Schmarsow  auf  dem  Umweg  über  das  «Schreiten«  des  Betrachters, 
mit  der  bildenden  Kunst  in  Zusammenhang  bringt,  während  wir  diese  Zeit  als 
ästhetisch  unerheblich  betrachten  und  als  ästhetischen  Faktor  nur  die  Zeit  des 
eigentlichen  künstlerischen  Erlebnisses  anerkennen. 

Zcitochr.  f.  Ästhetik  u.  alle.  Kunstwissensciuft.    XV.  20 


306  PAUL  ZUCKER. 


der  dritten  Dimension  bei  der  Wiedergabe  der  räumlichen  und  körper- 
lichen Realität  in  der  Geschichte  der  bildenden  Kunst  keine  stetige, 
sondern  starken  Veränderungen  und  Entwicklungen,  die  keineswegs 
etwa  geradlinig  im  Sinne  eines  illusionistischen  »Fortschrittes«  ver- 
laufen, unterworfen.  Dieser  Wechsel  ist  für  das  Gebiet  der  Malerei 
bereits  oft  genug  Gegenstand  ausführlicher  Darlegungen  gewesen  ^). 
Ob  es  berechtigt  ist,  aus  der  Tatsache  der  rein  flächigen  zweidimen- 
sionalen Wiedergabe  beispielsweise  in  der  byzantinischen  und  mittel- 
alterlichen Malerei  eine  grundsätzlich  illusionsfeindliche  Absicht  des 
Künstlers  oder  des  allgemeinen  anonymen  »Kunstwollens«  zu  folgern, 
kann  füglich  bezweifelt  werden,  da  in  den  gleichen  unperspektivischen 
Gebilden  doch  wieder  unerhört  naturalistische  Einzelheiten  wieder- 
gegeben werden '). 

Wir  wollen  hier  nun  aber  den  ganzen  Kreis  dieser  für  die  Ge- 
schichte der  Malerei  so  wesentlichen  Probleme  beiseite  lassen  und 
vielmehr  auf  eine  Erscheinung  hinweisen,  die  unseres  Wissens  bisher 
stets  nur  beiläufig  und  auch  dann  nur  aus  einer  psychologistischen 
Einstellung  heraus  Gegenstand  ästhetischer  Erwägungen  war,  nämlich : 
Übereinstimmung  und  Verschiedenartigkeit  der  Tiefenentwick- 
lung im  plastischen  und  architektonischen  Kunstwerk. 

Die  nächstliegende  Unterscheidung  zwischen  plastischen  und 
architektonischen  Gebilden  ist  natürlich  gegeben  durch  den  Hinweis 
auf  die  Nachbildung  der  Wirklichkeit  in  der  Plastik  einerseits, 
auf  den  Zweck  in  der  Architektur  anderseits').  Die  Unzulänglich- 
keit dieser  anscheinend  so  einfachen  und  naheliegenden  Gegenüber- 
stellung ergibt  sich,  wenn  man  an  Bildungen  wie  Sphinx,  Karyatide, 
mittelalterliche  Gewändefiguren  und   andere  nachahmende  Bildungen 


')  Vgl.  hierzu  besonders  die  Hinweise  bei  A.  Riegi:  Spätrömische  Kunstindustrie, 
Wien  1901  und  die  ganze  daran  anschließende  Literatur.  Dann  auch  O.  WulK: 
Grundlinien  und  kritische  Erörterungen  zur  Prinzipienlehre  der  bildenden  Kunst, 
Stuttgart  1917.  Ferner  in  gründlicher  Mißkennung  des  Riegischen  Standpunktes: 
W.  Vti'orringer:  Altdeutsche  Buchillustration  1912,  —  auch  in  seiner  »Abstraktion  und 
Einfühlung«  recht  willküriiche  Thesen  hierzu.  Exakte  Forschungen  zu  dieser  Frage 
besonders  O.  L  Kern:  Anfänge  der  zentralperspektivischen  Konstruktion  in  der  italie- 
nischen Malerei.  Mitteilungen  des  kunsthistorischen  Instituts  zu  Florenz,  Berlin  1912 
und  entsprechend  O.  I.  Kern:  Orundzüge  der  linearperspektivischen  Darstellung  in 
der  Kunst  der  Gebrüder  van  Eyck,  Leipzig  1904. 

-)  Vgl.  hierzu  besonders  M.  Dvofäk:  Idealismus  und  Naturalismus  in  der 
gotischen  Skulptur  und  Malerei,  München  1918  und  die  ausgezeichnete  Besprechung 
Erich  Everths  hierzu  in  dieser  Zeitschrift  Bd.  XIV,  Heft  4. 

*)  Gegen  die  Überbewertung  des  Zweckbegriffs  für  das  architektonische  Kunst- 
werk und  seine  Fixierung  als  einzigen  entscheidenden  Faktor,  die  im  Anschluß  an 
Semper  immer  noch  von  den  meisten  Architektur-Ästhetiken  vorgenommen  wird, 
wendet  sich  besonders  H.  Sörgel:  Architektur-Ästhetik,  München  1918. 


I 


KONTINUITÄT  UND  DISKONTINUITÄT.  307 

von  doch  unzweifelhaft  architektonischem  Charakter  erinnert.  Die  Be- 
zeichnung »Architekturplastik«,  mit  der  diese  Schöpfungen  gewöhn- 
lich belegt  werden,  ist  schließlich  nichts  anderes  als  ein  Verlegen-' 
heitsprodukt.  Von  der  Plastik  unterschieden  durch  die  mangelnde 
Autonomie  des  Figürlichen,  von  der  Architektur  unterschieden 
durch  eine  zum  mindesten  teilweise  Nachbildung  der  Wirklichkeit, 
anderseits  aber  doch  wieder  in  eine  statisch  konstruktive  Bedingtheit 
eingestellt,  bedeuten  diese  Gebilde  eben  doch  anderes  und  mehr  als 
kunstgewerbliche  Bereicherung  oder  dekorative  Ausschmückung  einer 
zweckhaften  Architektur.  Es  bringen  uns  also  weder  der  Begriff  der 
Zweckhaftigkeif,  noch  der  der  illusionistischen  Nachahmung 
hier  in  der  Erkenntnis  weiter.  Vielmehr  ergeben  sich  bei  der  Ver- 
folgung dieses  Problems  ganz  andere  Ausgangspunkte  der  Begriffs- 
bildung, von  denen  aus  man  zu  allgemeinen  grundlegenden  Feststel- 
lungen über  Unterschiede  der  dreidimensionalen  Gestaltung 
in  der  Architektur  und  Plastik  überhaupt  gelangt. 

Zunächst  muß  jedoch  noch  kurz  einer  anderen  allgemein  ver- 
breiteten Definition  vom  architektonischen  Kunstwerk  widersprochen 
werden,  nämlich  dem  Schlagwort  von  der  Architektur  als  einer  »Raum- 
kunst«. Der  Unterschied  in  der  Dreidimensionalität  ist  nämlich  nicht 
etwa  dadurch  gegeben,  daß  die  Architektur  nur  räumliche,  die  Plastik 
hingegen  nur  körperliche  Gebilde  schüfe!  Es  genügt  als  Beispiele 
architektonisch-körperlicher  Gebilde  auf  Pyramide,  Brücke, 
Triumphtor,  Turm  usw.  hinzuweisen').  Also  kann  auch  die  Architektur 
ebenso  wie  die  Plastik  rein  körperliche  Gebilde  schaffen;  —  natür- 
lich nicht  umgekehrt  die  Plastik  auch  räumliche  Werke.  Es  genügt 
daher  die  Antithese:  »körperlich-räumlich«  nicht  zur  Disjunktion  der 
unterschiedlichen  Dreidimensionalität  beider  Kunstarten,  —  ebenso 
wenig  wie  die  auf  den  Zweck  oder  die  Realitätsnachbildung  hin  orien- 
tierten Begriffsbestimmungen  genügen. 

Vielmehr  liegt  das  unterscheidende  Moment  zwischen  Architek- 
tur und  Plastik  in  einer  Verschiedenheit  der  Verbindung  und  Zu- 
sammengehörigkeit der  einzelnen  Tiefenelemente  der  geformten  körper- 
lichen Masse,  aligemeiner  gefaßt:  Unterschied  im  Verhältnis  zwischen 
Raum  und  Zeit. 

Hierbei  bezeichnen  wir  als  Raum  selbstverständlich  nicht  nur 
das  Objekt  künstlerischer  Gestaltung,  sondern  ganz  allgemein  die 
Dreidimensionalität,  innerhalb  deren   Form  und  Körper  existent   und 


')  Vgl.  hierüber  P.  Frankls  Besprechung  von  Sörgels  Architektur-Ästhetik  im' 
Repertorium  für  Kunstwissenschaft  1919,  Heft  1/3  u.  P.  Zucker:  «Architektur-Ästhetikt ' 
in  Archiv  für  Geschichte  und  Ästhetik  der  Architektur  1920. 


308  PAUL  ZUCKER. 


erfaßbar  sind,  und  als  Zeit  jene  Spanne,  innerhalb  deren  das  künst- 
lerische Erlebnis  verläuft.  Das  künstlerische  Erlebnis  selbst, 
nicht  etwa  die  Apperzeption  des  Kunstwerkes  i)! 

Es  sei  also,  um  Mißverständnissen  vorzubeugen,  noch  einmal 
ausdrücklich  bemerkt,  daß  es  sich  nicht  um  eine  unmittelbar  oder 
mittelbar  psychologistische  Anschauung  handelt,  und  etwa  Unter- 
schiede im  Wahrnehmungsprozeß  zur  Unterscheidung  des  Kunst- 
werks selbst  herangezogen  werden  sollen.  Ganz  im  Gegenteil:  Wir 
setzen  voraus,  daß  sowohl  ein  architektonisch  gestalteter 
Raum  oder  Körper  wie  auch  eine  Plastik  erst  in  einem  Nachein- 
ander wahrgenommen  werden  können,  daß  erst  eine  Folge  von 
Sinneswahrnehmungen  uns  den  Eindruck  des  gesamten  Kunstwerkes 
vermittelt.  Das  ist  jedoch  für  das  Erlebnis  als  Gegenstand  ästhetischer 
Spekulation  unwesentlich.  Jenseits  des  zeitlichen  Ablaufes  der  Apper- 
zeption liegt  der  Unterschied  in  der  Wirkung  des  an  und  für  sich 
sinnesphysiologisch  bereits  erfaßten  Objektes.  Daß  aber,  auch  wenn 
wir  von  einer  psychologischen  Betrachtungsweise  durchaus  absehen, 
immer  der  Zeit  ein  mehr  subjektiver,  dem  Raum  ein  mehr  objektiver 
Charakter  anhaftet,  ist  selbstverständlich.  Für  die  Verknüpfung  beider 
als  Kategorien  eines  ästhetischen  Tatbestandes  ist  dies  jedoch  un- 
wesentlich. 

Wir  behaupten  nun,  daß  eine  Architektur  künstlerisch  wirken 
kann  nur  unter  der  Voraussetzung  des  fortlaufenden  räumlichen 
(nicht  körperlichen!)  Zusammenhanges  der  einzelnen  Teile,  die 
sich  lückenlos  aneinander  schließen  und  in  ihrer  Gesamtheit  jene 
bestimmten  Maßverhältnisse  und  Formbildungen  ergeben,  die  die 
künstlerische  Eigentümlichkeit  gerade  dieses  einzelnen  Architektur- 
werkes ausmachen.  Hierbei  werden  wir  nie  auf  ein  außerhalb 
liegendes  geführt,  alle  künstlerisch  wesentlichen  Momente  liegen 
schon  im  gestalteten  Gebilde  selbst.  Es  sind  für  das  architekto- 
nische Kunstwerk  nämlich  folgende  drei  Fälle  möglich:  Entweder, 
wir  befinden  uns  in  einem  architektonisch  gestalteten  Innenraum, 
dann  ist  die  Kontinuität  selbstverständlich  und  jede  Einwirkung 
eines  gestaltlosen  Außen  eo  ipso  ausgeschlossen.  Oder  der  zweite 
Fall:  Wir  befinden  uns  auf  einem  Platze,  in  einer  Straßenanlage, 
einem  architektonisch  organisierten  Parke  usw.  In  diesem  Falle 
wirken  mit  dem  architektonisch  gestalteten  Hauptbauwerk  zusammen 
andere  Körper  und  Flächen,  die  aber  entweder  auch  architektonisch 

')  Im  Gegensatz  zu  unserer  Anschauung,  außer  Schmarsow,  Lipps  und  anderen 
besonders  auch  P.  Klopfer:  »Das  räumliche  Sehen«,  in  dieser  Zeitschrift  1918,  der 
immer  wieder  für  ästhetische  Erkenntnisse  physiologisch -psychologische  Begrün- 
dungen bringt. 


KONTINUITÄT  UND  DISKONTINUITÄT.  309 

durchgebildet,  oder  jedenfalls  bei  der  Gestaltung  mit  berücksichtigt 
sind.  Selbst  dann,  wenn  nicht  alle  umgrenzenden  Wände  tatsächlich 
körperlich  gegeben  sind,  sondern  ebenso  wie  der  obere  Abschluß 
durch  das  Himmelsgewölbe  auch  einzelne  seitliche  Abgrenzungen 
(Platzwände)  nur  imaginär  sind,  so  wirkt  doch  bei  dem  Zustande- 
kommen des  künstlerischen  Eindruckes  kein  außerhalb  der  eigentlichen 
architektonischen  Gestaltung  liegendes  Moment  mit.  Denn  auch  diese 
imaginären  Grenzflächen  sind  vom  Willen  des  Künstlers  durch  ihre 
eigene  lineare  Abgrenzung  fixiert  und  in  den  körperlichen  Zusammen- 
hang der  Raumhülle  mit  einbezogen.  Das  Ganze,  das  sich  aus  einer 
Summe  geformter  Körper  und  modellierter  Flächen  (Platzwände)  zu- 
sammensetzt, ist  das  vollkommen  durchgestaltete  architektonische  Ge- 
bilde, wirkt  als  ein  architektonisch  disziplinierter  Raum.  Wir  können 
also  auch  hier  nicht  von  der  Einwirkung  eines  gestaltlosen  »Außen« 
sprechen.  Es  herrscht  auch  hier  die  Kontinuität.  Oder  endlich  der 
dritte  mögliche  Fall:  Ein  einzelner  architektonisch  geformter  Körper 
(Pyramide,  Turm)  steht  in  einer  nicht  architektonisch  gestalteten, 
amorphen  Umgebung.  Dann  ist  auch  das  künstlerische  Erlebnis  auf 
ihn  allein  beschränkt  und  wird  durch  das  ästhetisch  gleichgültige 
Außen  überhaupt  nicht  beeinflußt '). 

Aus  diesem,  in  allen  drei  Fällen  festgestellten  fortlaufenden  räum- 
lichen Zusammenhang  folgt  aber  auch,  daß  die  künstlerische  Wir- 
kung, das  eigentliche  Erlebnis,  des  schon  voll  apperzipierten 
Kunstwerkes  in  einer  kontinuierlich  fortlaufenden  Zeitspanne 
erfolgt,  einer  »ästhetisch  virulenten«  Zeit,  in  welcher  der  Betrachter 
stets  und  durchaus  nur  von  ästhetischen  im  Sinne  und  durch  den 
Willen  des  Künstlers  geformten  Objekten  in  Anspruch  genommen 
wird.  Es  ergibt  also  die  räumliche  Kontinuität,  die  den  Betrachlenden 
umschließt,  oder  die  körperliche  Kontinuität,  vor  der  er  im  Falle  der 
Pyramide,  Brücke  usw.  steht,  zugleich  auch  eine  zeitliche  Kontinuität 
der  künstlerischen  Wirkung  —  es  kommt  gleichsam  nichts  Architek- 
tonisch-Ungeformtes  an  den  Betrachter  heran. 

Diese  raumzeitliche  Kontinuität  des  ästhetisch  wirksamen  Tat- 
bestandes bleibt  bestehen  unabhängig  von  der  Verschiedenheit  der 


')  Bei  der  eingebauten  Kathedrale  des  Mittelalters,  dem  freiliegenden  Zentral- 
bau der  Renaissance  und  anderen  Bauten,  die  von  außen,  also  körperlich  wahrge- 
nommen werden,  spricht  selbstverständlich  die  »Umgebung«  auch  mit.  Doch  unter- 
steht eben  diese  Umgebung  dem  Willen  des  Künstlers,  ist  von  ihm  geformt,  oder 
wenn  schon  vorhanden  gewesen,  mindestens  berücksichtigt,  gehört  also  mit  zum 
architektonischen  Kunstwerk  selbst,  ist  ein  Teil  dieses  und  kein  ungestaltetes  frem- 
des Außen.  Vgl.  hierzu  A.  E.  Brinkmann:  Platz  und  Monument,  Berlin  1908  und 
A.  E.  Brinkmann:  Deutsche  Stadtbaukunst  der  Vergangenheit,  Frankfurt  1911. 


,310  :    PAUL  ZUCKER. 


realen  Funktion  des  Bauwerkes  und  auch  unabhängig  vom  Stil.  Sie 
gilt  in  gleicher  Weise  für  den  Zentralbau,  für  die  Jochfolge  der  mittel- 
alterlichen Kirche,  wie  für  einen  barocken  Schloßbau  oder  die  moderne 
Eisenkonstruktion  einer  Bahnhofshalle,  ja  selbst  für  den  architektonisch 
gestalteten  Park  und  Garten  des  18.  Jahrhunderts,  sie  ist  unab- 
hängig von  jeder  Einzelform. 

'I- 
Wenn  das  architektonische  Kunstwerk  kontinuierlich  in  sich  be- 
schlossen in  seiner  Wirkung  durch  nichts  im  architektonischen  Sinn 
Ungeformtes,  durch  kein  Außen  bestimmt  wird,  so  bedarf  im  Gegen- 
satz dazu  jede  Plastik  zur  künstlerischen  Wirkung  der  Einbeziehung 
irgend  eines  »Außen«,  der  steten  Abirrung  vom  Gestalteten  ins 
Amorphe  und  der  Zurückführung  vom  Amorphen  wieder  zum  Ge- 
stalteten hin.  Wir  müssen  hier  im  Gegensatz  zur  Architektur  von  einer 
notwendigen  Diskontinuität  sprechen.  Beim  Diskuswerfer  oder 
der  Laokoongruppe  ist  der  umgebende  amorphe  Raum  ebenso  not- 
wendig zur  ästhetischen  Wirkung  wie  die  geformte  Masse  selbst. 
Mit  anderen  Worten:  Die  Plastik  ist  deswegen  ihrem  Wesen  nach 
diskontinuierlich,  weil  sie  vom  gestalteten  Material  aus  stets 
irrgendwie  nach  Außen  weist,  und  sich  stets  auf  ein  gleichsam  zu- 
fälliges amorphes  umgebendes  Element  bezieht.  Wir  befinden  ■  uns 
der  Plastik  gegenüber  also  stets  in  einer  —  bildhaft  ausgedrückt  — 
^zeitlich  diffusen«  Situation.  —  Haben  wir  erst  einmal  die  Plastik  als 
Ganzes  apperzipiert,  und  sehen  wir  selbstverständlich  von  diesem 
Apperzeptionsakt  —  als  einem  Objekte  lediglich  psychologischen  Inter- 
esses außerhalb  der  Sphäre  ästhetischer  Bedeutung  liegend  —  ab,  so 
werden  wir  auch  innerhalb  des  eigentlichen  künstlerischen  Erlebnisses 
von  der  Plastik  immer  wieder  nach  Außen  gewiesen:  Das  Auge  des 
Dargestellten  blickt  in  die  Ferne,  die  Hand  holt  zum  Wurf  nach  einem 
in  der  Ferne  liegenden  Ziel  aus,  die  Figur  schreitet  selbst  einem  Außen- 
stehenden entgegen  usw.,  kurz  das  dargestellte  Objekt  bedarf  der  Er- 
gänzung von  außerhalb  her.  Diese  Ergänzung  selbst  ist  künstlerisch 
nicht  geformt,  d.h.  im  ästhetischen  Sinne  amorph.  Das  eigentliche 
Erlebnis  der  vom  Willen  des  Künstlers  gestalteten  Form  wird  also 
zwangsmäßig  auch  zeitlich  immer  wieder  unterbrochen  durch  den 
Hinweis,  das  Suchen  und  die  notwendige  Vorstellung  des  zu  er- 
gänzenden, das  uns  dann  wieder  auf  die  vorhandene  und  gestaltete 
körperliche  Form,  die  Plastik  selbst,  zurückführt.  So  wird  die  »ästhe- 
iisch  virulente«  Zeit,  innerhalb  deren  ein  wirklich  Gestaltetes  unserem 
künstlerischen  Erlebnis  zugrunde  liegt,  immer  wieder  unterbrochen, 
ist  diskontinuierlich. 


KONTINUITÄT  UND  DISKONTINUITÄT.  :311 

Man  könnte  hier  einen  naheliegenden  Einwand  erheben:  Auch  in 
der  Malerei,  etwa  bei  einem  Rembrandt  ^)  fänden  wir  nicht  den  ge- 
samten Inhalt  der  künstlerischen  Vorstellung  klar  dargestellt  und  fixiert, 
auch  dort  müßten  wir  viel  ergänzen  usw.  Also  wäre  unsere  Defi- 
nition nicht  auf  die  Plastik  allein  beschränkt  und  darum  kein  ästhe- 
tisch bestimmender  Begriff.  Dieser  Einwand  übersähe  aber  das 
wichtigste:  Daß  nämlich  das  im  Gemälde  nicht  dargestellte,  nicht 
erkennbare  doch  lokal  festgelegt,  und  so  unserer  Vorstellungskraft 
eindeutig  und  formal  begrenzt  der  Weg  gewiesen  wird.  Im  Ge- 
mälde ist  der  Gegensatz  nicht  wie  in  der  Plastik:  Künstlerisch  ge- 
formter —  amorpher  ästhetisch  indifferenter  Raum,  sondern:  Darge- 
stellt—Nicht-mehr-dargestellt,  aber  doch  im  Sinne  des  schon 
Gegebenen  weiter  zu  ergänzen.  So  bleibt  dem  Betrachter  des  Ge- 
mäldes auch  jener  zeitliche  Dualismus  erspart:  Er  schaut,  vertieft 
sich  in  das  Bild,  erkennt  und  arbeitet  in  der  Vorstellung  weiter, 
wo  er  nichts  Erkennbares  mehr  wahrnimmt.  Er  braucht  aber  nicht 
mehr  in  die  Realität  »zurück«,  die  Zelt  des  künstlerischen  Erleb- 
nisses ist  eben  ganz  kontinuierlich  im  Gegensatz  zum  Erlebnis  einer 
Plastik  2). 

Selbstverständlich  sind  die  verschiedenen  stilistischen  Entwick- 
lungsepochen gegeneinander  unterschieden  in  der  Intensität  der 
Beziehung  des  Plastischen  zum  umgebenden  oder  besser  gesagt  zum 
»ergänzenden«  Räume  und  gerade  diese  Unterschiedlichkeit  ist  sympto- 
matisch bezeichnend  für  den  Stilcharakter.  Die  geschlossene  Masse 
einer  ägyptischen  Königsstatue  dürfte  das  geringste  Maß  dieser  Be- 
ziehung aufweisen  (der  nicht  fixierende  Blick  der  Augen,  die  ge^ 
schlossene  ballende  Bewegung  der  Hände,  rechtwinklige  wandartige 
Umschließung  eines  Raumkubus),  ein  Höchstmaß  dagegen  zeigt  etwa 
eine  reich  bewegte  barocke  Gruppenkomposition.  In  dieser  sprechen 
gleichsam  die  »Löcher»  stärker  mit,  als  der  dichte  und  schwere  Stein 
selbst,  das  ästhetisch  wirksame  Moment  besteht  in  einer  Reihe  von 
räumlichen  Wechselbeziehungen,  für  welche  die  geformten  Extremi- 
täten und  gebogenen  Körper  nur  die  notwendigsten  Stützpunkte  und 
Fixierungen  geben,  —  Fixierungen,  die  uns  gleichsam  in  einer  gewissen 


')  Dieser  Einwand  bliebe  übrigens  wohl  im  wesentlichen  auf  die  Malerei  des 
Barock  und  den  Impressionismus  beschränkt.  Besondere  Hinweise  in  dieser  Richtung 
bei  R.  Hamann:  Rembrandts  Radierungen,  Berlin  1906,  der  ähnlich  formuliert.  Von 
anderer  Betrachtungsweise  her  kommt  auch  O.  Simmel:  Rembrandt,  Leipzig  1916, 
7u  ähnlichen  Feststellungen. 

')  Das  dürfte  auch  letzten  Endes  der  Grund  dafür  sein,  daß  die  Kunstwerke 
<ler  Plastik  nur  zu  einer  verhältnismäßig  so  geringen  Zahl  von  Menschen  sprechen, 
jiedenfalls  einer  viel  geringeren,  als  die  der  Malerei  und  auch  der  Architektur. 


312  PAUL  ZUCKER. 


energetischen  Spannung  durch  den   ungestalteten  Raum  ins  Unend- 
h'che,  nach  »Außen«  führen. 

III. 

Mit  der  Formulierung  dieser  Diskontinuität  der  Plastik  ist  gleich- 
zeitig auch  eine  Art  kategorialen  Maßstabes  für  eine  große  Anzahl 
plastischer  Probleme  gegeben.  So  klärt  sich  beispielsweise  das  Pro- 
blem der  Gruppenbildung  aus  freistehenden  Einzelfiguren.  Der 
amorphe  Raum  zwischen  diesen  einzelnen  Figuren  wird  künstlerisch 
wirksam  nur  in  dem  Falle,  daß  die  Diskontinuität  nicht  zur  end- 
gültigen Unterbrechung  der  ästhetischen  Wirkung  der  einzelnen  Ele- 
mente führt.  Mit  anderen  Worten:  So  lange  der  amorphe  Raum  ein- 
geschaltet bleibt  in  ein  System  formaler  Beziehungen,  die  wieder  zur 
körperlich  gestaheten  Bildung  zurückführen.  Deswegen  sind  die 
»Bürger  von  Calais«  (Rodin)  eine  künstlerisch  mögliche  Lösung  des 
Problems  der  freien  Gruppe,  dagegen  die  meisten  Rekonstruktions- 
versuche der  Niobiden  eine  in  ihrer  Totalität  ästhetisch  unwirksame 
Zusammenstellung  von  an  und  für  sich  ästhetisch  wirksamen  Einzel- 
figuren. 

Diesem  Problem  der  plastischen  Oruppenbildung  verwandt  ist 
eine  Frage  der  Nachbildung  eines  anorganischen  Gegenstandes 
in  der  Plastik,  z.  B.  einer  Waffe,  einer  Brille  bei  der  Porträtbüste,  eines 
Netzes  oder  Musikinstrumentes.  Die  Lösung  dieser  Frage  ist  iden- 
tisch mit  der  Begründung,  warum  das  Stoffgebiet  der  Plastik  auf  die 
menschliche  oder  tierische  Figur  allein  beschränkt  ist  und  erklärt 
gleichzeitig  die  Unmöglichkeit,  Landschaft  und  Stilleben  zum  Objekte 
plastischer  Gestaltung  zu  machen.  Jeder  wird  sich  aus  seiner  künstle- 
rischen Erfahrung  des  unangenehmen  Eindruckes  erinnern,  den  diese 
in  das  plastische  Kunstwerk  verflochtenen  »Beigaben«  oft,  aber  nicht 
immer  machen.  Wo  ist  hier  die  Grenze  des  künstlerisch  Zulässigen? 
Wirkt  doch  selbst  ein  steif  abstehendes  Gewand,  das  mit  der  orga- 
nischen Körperbildung  nichts  zu  tun  hat,  nie  in  diesem  unangenehmen 
Sinne  anorganisch.  Die  panoptikumhafte  Wirkung,  die  allzu  auf- 
dringliche, scheinbar  »unübersefzte«  Realität  einer  Nachbildung  ver- 
spüren wir  nun  überall  dort,  wo  die  körperliche  Erfüllung  des  Raumes 
durch  eine  Form  derart  geschieht,  daß  diese  selbständig  als  Nach- 
ahmung des  darzustellenden  Gegenstandes  gegeben  wirkt,  nicht  aber 
im  Zusammenhang  mit  der  Plastik,  den  gleichen  gesetzlichen  Be- 
ziehungen und  Bindungen  untergeordnet,  die  den  dargestellten  Körper 
eben  von  einer  Panoptikumsfigur  unterscheiden.  Oder,  um  von  den 
oben  präzisierten  Begriffen  auszugehen:  Das  Drahtgestell  einer  solchen 
Brille  durchbricht  die  jeder  Plastik  immanente  Diskontinuität  raumzeit- 


KONTINUITÄT  UND  DISKONTINUITÄT.  313 


iicher  Erscheinungsform.  Das  künstlerische  Erlebnis  der  Plastik,  dessen 
Eigenart  eben  jenes  oben  definierte  »Oszillieren i  zwischen  der  Be- 
trachtung des  sinnlich  erfaßbaren  Körperlichen  und  der  subjektiven 
Ergänzung,  oder  besser  Einspannung  und  Fixierung  dessen  im 
amorphen  Räumlichen  ist,  —  wird  insofern  gehemmt,  als  in  diese 
Wechselbeziehung  plötzlich  die  rohe  unmittelbare  Realität  eingeschaltet 
wird.  Diese  schon  gegebene  Form,  die  eben  nicht  plastisch  über- 
setzt und  gebildet,  sondern  nur  aus  der  Realität  ohne  weiteres 
übernommen  ist,  gibt  aber  nicht  wie  der  plastisch  durchgeformte 
Körper  selbst  die  Möglichkeit,  subjektive  Ergänzungen  —  im  plasti- 
schen Sinne  —  vorzunehmen,  weil  diese  Form  gar  nicht  in  dem  künstle- 
risch durch  diese  Plastik  disziplinierbaren  Raum  steht,  sondern  gleich- 
sam in  einer  anderen  (ästhetisch  indifferenten)  Dimensionalität.  So 
wird  durch  diesen  »Fremdkörper«  die  Einheit  des  plastischen  Raumes 
zerstört,  und  —  so  paradox  diese  Formulierung  auch  klingen  mag  — 
die  »Diskontinuität«  in  ihrem  besonderen  räumlichen  und  zeitlichen 
Rhythmus  »unterbrochen«.  Die  Unmöglichkeit  über  diesen  »Fremd- 
körpercharakter« hinwegzukommen  erklärt  nun  auch  den  Widersinn 
des  plastischen  Stillebens  oder  der  plastischen  Landschaft.  Auch  hier 
werden  wir,  wie  bei  den  »Beigaben«  zum  Figürlichen  immer  aus  den 
oben  angeführten  Gründen  den  Eindruck  einer  nur  verkleinerten 
Realität  haben,  die  in  einer  durchaus  realen,  zur  Umwelt  konti- 
nuierlichen Dimensionalität  steht. 

Selbstverständlich  spricht  auch  die  Wahl  des  Materials  bei  dieser 
Frage  mit.  Hierfür  ist  die  Erklärung  natürlich  nicht  in  dem  rationa- 
listischen Semperschen  Begriff  von  der  »Materialgerechtheit«  zu  suchen, 
sondern  ergibt  sich  ohne  weiteres  ebenfalls  aus  der  vorhandenen  oder 
fehlenden  Kontinuität  des  gebildeten  Körperlichen.  Eine  Kontinuität 
des  dargestellten  Körperlichen  ist  vorhanden,  falls  im  gleichen  Material, 
nämlich  dem  der  nachgebildeten  menschlichen  Figur  weitergedacht 
wird,  sie  wird  unterbrochen  —  wenigstens  in  den  meisten  Fällen  — 
falls  ein  anderes  Material  verwandt  wird.  Es  wird  dann  nämlich  die 
reale  Form  nicht  nur  nicht  in  das  Material  der  figürlichen  Plastik 
selbst  übersetzt,  sondern  fast  automatisch  von  einer  Übersetzung 
ganz  abgesehen,  und  einfach  die  maßstäblich  verkleinerte  Realität  an 
deren  Stelle  gesetzt.  Am  erträglichsten  ist  noch  die  Verbindung  einer 
bronzenen  Figur  mit  einem  derartigen  Ergänzungskörper,  da  immerhin 
eine  Übersetzung  einer  Brille,  einer  Waffe,  eines  Netzes,  einer  Frucht 
in  Bronze  denkbar  ist.  Besonders  für  das  Netz  kennen  wir  Beispiele 
echter  plastischer  Durchformung  und  darum  erreichter  plastischer  Ein- 
heitlichkeit (Fischer  von  Brütt).  In  diesem  Falle  sind  aber  die  ein- 
zelnen Maschen  des  Netzes  nicht  als  Löcher  behandelt,  sondern 


,314  PAUL  ZUCKER. 


das  ganze  Netz  im  Sinn  eines  zusammenhängenden  leichten  Tuches, 
aus  dem  dann  die  einzelnen  Netzfäden  reliefartig  hervorstehen.  Das 
ganze  Netz  wird  als  einheitliche  Masse  gerafft,  gezogen,  und  steht  in 
unmittelbarem  Zusammenhang  mit  der  menschlichen  Figur.  In  jenen 
Fällen  aber,  in  denen  das  Netz  aus  starrem  Draht  nachgebildet  ist, 
der  seine  eigenen  Spannungen  hat,  ist  die  plastische  Einheit  selbst- 
verständlich wieder  zerstört.  Bei  Marmor-  und  Steinplastiken  über- 
haupt geschieht  eine  Übersetzung  des  Realgegenstandes  in  das  Material 
sehr  selten.  Wo  dies  der  Fall  ist,  wie  z.  B.  bei  den  Instrumenten 
musizierender  Engel  der  Renaissance  i),  der  Keule  des  Herkules  im 
römischen  Barock  usw.,  wird  dem  Charakter  des  Steins  entsprechend 
jede  Einzelheit  unterdrückt  und  das  ganze  Instrument  nur  sehr  unge- 
fähr konturiert.  Im  Gegensatz  zu  dieser  wirklich  plastischen 
Lösung  wird  sehr  oft  mit  der  Steinfigur  ein  metallenes  Instrument  ver- 
bunden —  und  damit  wieder  die  erforderliche  Kontinuität  des  Körper- 
lichen zerstört.  (Zahlreiche  Beispiele  übelster  Entartung  in  moderner 
italienischer  Orabmalplastik.) 

Auch  die  eigenartige  Beziehung  des  Reliefs  zur  Rundplastik, 
eine  Beziehung,  zu  der  sich  in  keiner  Kunstgattung  außerhalb  der  Plastik 
eine  Analogie  findet,  —  erfährt  durch  die  Aufstellung  unserer  Grund- 
begriffe der  Plastik  eine  gewisse  Klärung.  Die  Anschauungen  Hilde- 
brands legen  diese  Beziehungen  doch  wohl  etwas  willkürlich  fest. 
Denkt  man  nämlich  seine  Theoreme  in  den  von  uns  aufgestellten  Be- 
griffen nach,  so  stellen  sie  sich  ganz  einfach  dar  als  der  Versuch,  das 
Problem  der  Plastik  dadurch  zu  vereinfachen,  daß  dem  rund- 
plastischen Kunstwerk  ganz  allgemein  durch  die  Festlegung  und  Ein- 
grenzung in  seine  beiden  Idealebenen  eine  Kontinuität  unterschoben 
wird,  die  es  zum  körperlich-architektonischen  stereotomen  Gebilde 
machte,  —  wenn  sich  die  Aufstellung  dieser  Ebenen  bei  einer  wirk- 
lichen Rundplastik  eben  überhaupt  irgendwie  durchführen  ließe-).  Auch 
für  das  Relief  selbst  gewinnen  wir  aus  der  Aufstellung  dieser  ideellen 
vorderen  und  hinteren  Schichtbegrenzung  keine  künstlerisch  fruchtbaren 


')  Ähnliche  Gedankengänge  bei  W.  Vöge:  Raphael  und  Donatelio,  Straßburg 
18Q6  und  auch  gelegentlich  in  der  sonstigen  Donatello-Literatur. 

-)  Vgl.  hierüber  auch  Leopold  Ziegler:  Florentinische  Introduktion,  Leipzig 
1912.  In  beschränktem  Maße  zutreffend  bleiben  die  Ansichten  Hildebrands  (vgl. 
H.  Cornelius:  Elementargesetze  der  bildenden  Kunst,  Leipzig  1908)  lediglich  für  einen 
engen  Ausschnitt  des  plastischen  Schaffens,  der  durch  die  Antike  des  4.  und  5.  Jahr- 
hunderts und  durch  die  klassizistische  Epoche  begrenzt  wird,  jene  Zeit,  in  der  die 
Freiplastik  zusammenfiel  mit  einem  im  wesentlichen  auf  Silhouettenwirkung  hin  ge- 
arbeiteten, vom  Hintergrund  gelösten  Relief.  Aber  auch  hier  bleiben  trotz  mancher 
»richtiger«  Einzelergebnisse  die  Einwendungen  gegen  eine  zu  stark  psychologistisch 
gefärbte  Betrachtungsweise  bestehen. 


KONTINUITÄT  UND  DISKONTINUITÄT.  315 

Erkenntnisse.  Denn  die  Definitionen  Hildebrands  und  Cornelius'  gehen 
lediglich  vom  Vorgang  des  Sehens  als  solchem  aus,  und  diese  Über- 
schätzung der  rein  physio-psychologischen  Apperzeption  läßt  das  eigent- 
liche künstlerische  Erlebnis  durchaus  zurücktreten.  Alle  seine 
Unterscheidungen  zwischen  »Fernbild«  und  »Nahbild«,  zwischen  »Da- 
seinsform« und  »Wirkungsform«  usw.  resultieren  aus  einer  rein  natur- 
wissenschaftlichen Begriffsbildung*)  und  sind  für  die  ästhetische  Er- 
kenntnis letzten  Endes  unfruchtbar. 

Vergleichen  wir  nämlich  ganz  allgemein  und  unbefangen  das  Relief 
mit  einer  Vollplastik,  so  müssen  wir  zunächst  selbstverständlich  fest- 
stellen, daß  die  Beziehung  zwischen  Freiraum  und  Körper  eine  andere, 
prinzipiell  verschiedene  ist-).  Die  »Diskontinuität«  ist  keine  vollkommene 
und  stetige,  vielmehr  sind  die  einzelnen  plastisch  geformten  Massen  mit- 
einander, statt  durch  Freiraum  getrennt,  teilweise  ebenfalls  durch  Masse 
verbunden.  Diese  Masse,  die  Hintergrundstafel,  ist  aber  an  und  für 
sich  selbst  nicht  plastisch  durchgeformt,  sondern  amorph.  Sie  erfüllt 
z.  T.  die  Funktionen,  die  bei  der  Rundplastik  der  ebenfalls  amorphe 
Freiraum  zu  erfüllen  hatte,  sie  übernimmt  die  Verbindung  und  Er- 
gänzung der  einzelnen  formal  artikulierten  Glieder.  Die  Beziehung 
des  Plastischen  zu  einem  »Außen«  wird  also  durch  den  Hintergrund 
wenigstens  in  einer  Richtung  beschränkt,  betrifft  nicht  mehr  den  ganzen 
Raum,  sondern  nur  die  Erstreckung  nach  vorn,  zum  Beschauer  hin. 
Anderseits  ist  die  Rückfläche  aber  wieder  nicht,  wie  in  der  Archi- 
tektur, Raumabgrenzung,  sondern  der  Raum  wird  gerade  über  sie 
hinaus  und  durch  sie  nach  hinten  verlängert  gedacht,  so  daß  wir, 
immer  wieder  im  Gegensatz  zur  Architektur,  keine  durch  die  Materie 
gegebene  Raumscheidung  erhalten.  So  nimmt  das  Relief  keineswegs, 
wie  vielfach  behauptet  wird,  eine  Zwischenstellung  zwischen  Architektur 
und  Plastik  ein.  Es  ist  von  der  Architektur  grundsätzlich  unterschieden 
durch  eine  absolut  verschiedene  Funktion  der  Masse  zum 
Raum.  Es  bleibt  vielmehr  mit  der  Rundplastik  verbunden  nicht  nur 
durch  die  imitative  Absicht,  sondern  vor  allem  durch  die  Diskonti- 
nuität zwischen  Figürlichem  und  vorderem  Freiraum.  Dagegen 
steht  die  Unendlichkeit  des  hinteren  Raumes,  der  nicht  frei,  sondern 


I 


')  Vgl.  H.  Rickert:  Die  Grenzen  der  naturwissenschaftlichen  Begriffsbildung, 
Tübingen  1913. 

*)  Vgl.  auch  A.  Schmarsow :  Plastik,  Malerei  und  Relief kunst,  Beiträge  zur 
Ästhetik  der  bildenden  Künste,  Leipzig  1899.  Übereinstimmung  und  Abweichungen 
unserer  Anschauungen  (letzteres  namentlich  über  die  Beziehung  des  echten  nicht 
ghibertesken  Reliefs  zur  Malerei  —  keine  >Sehgemeinschaft  auf  tastbarer  Grund- 
lage«, die  wir  vollkommen  negieren  — )  ergeben  sich  auch  ohne  nähere  Ausfüh- 
rungen von  selbst  aus  dem  folgenden. 


3J6  PAUL  ZUCKER. 


von  amorpher  Masse  erfüllt  ist.    Aus  ihr  müssen  wir  ja  erst  gleichsam 
die  darin  steckenden  Figuren  oder  Figurenteile  herauslösen '). 

Diese  Anschauungsweise  erweist  sich  zur  Erklärung  einiger  histo- 
rischer Stilphänomene  als  äußerst  fruchtbar.  Zunächst  ist  danach  das 
ägyptische  Relief  überhaupt  aus  dem  Gebiet  der  Plastik  auszu- 
scheiden und  lediglich  als  eine  durch  leichte  Schatten  modellierte 
Zeichnung  oder  als  ornamentale  Dekoration  der  Fläche,  als  Element 
architektonischer  Gestaltung  aufzufassen.  —  Eine  Anschauung,  die  dem 
Wesen  der  ägyptischen  Kunst  im  allgemeinen  vollkommen  entspricht  — 
und  vor  allem  das  Fehlen  jeglicher  Übergangserscheinung  zwischen  der 
so  überaus  räumlich  empfundenen  Sakralplastik  und  dem  ganz  flachen 
geritzten  oder  gar  versenkten  Relief  erklärt.  —  Ferner  können  wir  nun 
ein  anderes  immer  wiederkehrendes  Stilphänomen  verstehen:  Die  Er- 
scheinung, daß  der  Übergang  aus  klassischer  in  barocke  Periode  sich 
im  Relief  nicht  nur,  was  selbstverständlich  ist,  in  einer  allgemeinen 
Auflockerung  der  Form  und  Auflösung  der  Geschlossenheit  der  vorderen 
»Grenzfläche«  äußert,  sondern  daß  dieser  Entwicklung  eine  immer 
stärkere  Herauslösung  der  Figur  aus  der  Hintergrundsplatte  bis  zum 
'/s  Relief  parallel  läuft.  Die  Veränderung  des  Raumgefühls  im  Barock*) 
äußert  sich  also  einmal  in  der  Auflockerung  der  geschlossenen  Körper- 
form, die  in  der  Freiplastik  mit  allen  denkbaren  Mitteln  vom  Körper 
weg  ins  Unendliche,  Grenzenlose  nach  allen  Richtungen  des  Raumes 
hinweist  (Entwicklung  vom  »Kauernden«  Michelangelos  bis  zur  Pla- 
stik Berninis)  und  in  gleicher  Art  auch  auf  das  Figürliche  des  Reliefs 
übertragen  wird.  Darüber  hinaus  aber  wird  auch  das  Verhältnis  zwischen 
freiem  und  gebundenem  Körper  in  bezug  auf  die  Hintergrundstafel 
verschoben:  Der  »hintere  immanente  Raum«  soll  möglichst  »greifbar« 
in  Erscheinung  treten,  aus  der  potentiellen  Dreidimensionalität  wird 
eine  illusionistisch  wiedergegebene,  der  Charakter  der  Hintergrunds- 
masse als  solcher  wird  möglichst  negiert,  die  Tafel  wird  zum  wirk- 
lichen »Hintergrund«,  der  Zusammenhang  mit  der  eigentlichen  imitativen 
Körperlichkeit  möglichst  aufgelöst.  Typisch  dafür  die  starke  Verwer- 
tung der  Überschneidung^)  in  barocken  Reliefs.  Diese  Erscheinung 
bleibt  nicht  auf  den  renaissancistischen  Barock  beschränkt,  sondern 


')  Es  wäre  Spitzfindigkeit,  diesen  »hinteren  ausgefüllten«  Raum  nun  noch 
unterteilen  zu  wollen,  in  einen  potentiell  figurerfüllten  und  einen  potentiell 
amorphen. 

=)  Vgl.  A.  E.  Brinkmann:  Barockskulptur,  Berlin  1917. 

ä)  Vorahnungen  dieser  Entwicklung  wie  viele  andere  barocke  Elemente  bereits 
in  Donatellos  Vorliebe  für  Überschneidungen  im  Relief  bemerkbar.  Vgl.  hierzu 
auch  P.  Zucker:  Raumdarstellung  und  Bildarchitektur  bei  Donatello,  Monatshefte 
für  Kunstwissenschaft  1913. 


KONTINUITÄT  UND  DISKONTINUITÄT.  317 

zeigt  sich  natürlich  auch  entsprechend  in  der  Antike.    (Vergleich  des 
Pergamonaltars  und  des  Parthenongiebels.) 

Wie  bei  den  Problemen  des  Reliefs,  der  plastischen  Gruppe,  der 
Feststellung  der  Grenzen  realistischer  Wirkungsmöglichkeit  usw.  die 
Begriffe  der  raumzeitlichen  Kontinuität  und  Diskontinuität  zu  bestimmten 
und  klar  überschaubaren  Ergebnissen  führen,  so  auch  angewandt  auf 
historische  Entwicklungsprobleme.  Aus  der  Geschichte  der  Plastik 
wurden  oben  einige  Beispiele  solcher  historischer  Klarlegungen  als 
Stichproben  herangezogen  —  Parallelen  für  die  Geschichte  der  Architektur 
aufzustellen  ist  ein  leichtes').  Doch  ist  hier  nicht  der  Ort  zu  ausführ- 
lichen historischen  Darlegungen.  Uns  kam  es  vor  allem  darauf  an, 
diese  disjunktiven  Begriffe  klar  herauszuarbeiten  und  inbesondere  zu 
betonen,  daß  die  Einbeziehung  des  Zeitlichen  kein  Apperzeptions- 
Psychologismus  ist,  sondern  sich  lediglich  auf  das  ästhetische  Er- 
lebnis als  solches  bezieht,  —  und  daß  gerade  die  Berücksichtigung  des 
Zeitmomentes  in  der  bildenden  Kunst,  also  die  Verknüpfung  eines 
subjektivierenden  Faktors  mit  der  objektiven  Raum-Körper-Kategorie 
neue  und  wesentliche  Aufschlüsse  sowohl  in  ästhetischer  wie  auch 
besonders  in  stilkritischer  Hinsicht  geben  kann. 


•)  Z.  B.  ist  stilkritisch  für  das  18.  Jahrhundert,  den  Ausgang  des  Barock,  ty- 
pisch die  Auflösung  der  Kontinuität  in  der  Architektur  in  der  »künstlichen 
Ruine«,  der  einzigen  uns  bekannten  Form  eines  diskontinuierlichen  stereotomen 
Gebildes,  das  vielleicht  auch  schon  nicht  mehr  ganz  der  Architektur  zuzurechnen  Ist. 
Von  ganz  anderen  Gesichtspunkten  ausgehend  kommt  auch  G.  Simmel:  »Die  Ruine< 
in  »Philosophische  Kultur«,  Leipzig  1913,  auf  die  interessante  Zwischenstellung  der 
Ruine  in  zeitlicher  Hinsicht,  die  sich  für  ihn  als  zwischen  Kunstwerk  und  Natur 
stehend  darstellt. 


Bemerkungen. 


Ziele  und  Wege  der  Literaturwissenschaft. 

Von 

Heinrich  Meyer-Benfey. 

Literaturwissenschaft  —  schon  der  Name  birgt  ein  Programm.  Denn 
die  gewöhnliche  Bezeichnung  des  Faches  im  Kreise  der  akademischen  Wissenschaften 
heißt:  Literaturgeschichte.  Aber  von  der  Wissenschaft,  die  hier  umrissen  wer- 
den soll,  ist  die  Literaturgeschichte  nur  ein  Teil,  und  nicht  einmal  der  erste,  der 
Zeit  wie  dem  Range  nach. 

Man  pflegt  das  Gesamtgebiet  der  Geisteswissenschaften,  von  den  philosophischen 
Disziplinen  abgesehen,  in  Philologie  und  Geschichte  zu  zerlegen.  Aber  auch 
die  Philologie  hat  sich  mehr  und  mehr  zu^|geschichtlicher  Betrachtungsweise  ent- 
wickelt: Geschichte  der  Sprache,  Geschichte  der  Literatur,  Geschichte  der  Kunst, 
Geschichte  der  nationalen  Kultur  überhaupt.  Auf  der  anderen  Seite  hat  die  Ge- 
schichte über  ihr  ursprüngliches  und  eigenstes  Gebiet,  die  Darstellung  des  staat- 
lichen Lebens  und  der  friedlichen  und  kriegerischen  Beziehungen  zwischen  den 
Völkern,  hinausgegriffen  und  in  der  kulturgeschichtlichen  Richtung  die  Gesamtheit 
des  geistigen  Lebens,  Literatur  und  Kunst  eingeschlossen,  in  ihren  Kreis  gezogen. 
So  ist  die  Grenze  zwischen  beiden  fließend  geworden,  weder  im  Gegenstande  noch 
in  der  Behandlungsart  ist  ein  durchgreifender  Unterschied,  und  man  könnte  fragen, 
ob  jene  alte  Einteilung  überhaupt  noch  Sinn  und  Recht  hat.  Ist  nicht  alle  Geistes-' 
Wissenschaft  im  Grunde  Geschichtswissenschaft?  —  Ohne  Zweifel  enthält  diese 
Auffassung  einen  richtigen  und  wichtigen  Kern.  Aber  sie  ist  doch  nur  eine  halbe 
Wahrheit.  Denn  sie  übersieht  den  durchaus  grundsätzlichen  Unterschied,  der  in 
der  Tat  zwischen  der  Erforschung  des  politischen  Lebens  und  der  Betrachtung  der 
Literatur  und  Kunst  besteht.  Auf  politischem,  wie  überhaupt  auf  praktischem  Ge- 
biete ist  die  einzelne  Tat  nur  innerhalb  der  geschichtlichen  Zusammenhänge  ver- 
ständlich. Eine  Staatsgründung,  ein  Sieg,  ein  Gesetzgebungsakt,  die  Gründung  einer 
Gesellschaft  oder  eines  Unternehmens,  eine  Erfindung,  alles  das  ist  nichts  an  sich 
und  erhält  seinen  Sinn  erst,  wenn  wir  es  in  Beziehung  zu  Vergangenheit,  Gegen- 
wart und  Zukunft  setzen.  Die  Betrachtung  dessen,  was  vorausliegt,  ergibt  die  zu 
lösende  Aufgabe,  die  der  gleichzeitigen  Situation  die  Bedingungen,  Möglichkeiten 
und  Schwierigkeiten  der  Durchführung,  die  der  Nachwirkung  und  der  Folgezeit  über- 
haupt gibt  der  Leistung  ihre  Bedeutung.  Hier  ist  die  geschichtliche  Betrachtungs- 
weise durchaus  die  wesentliche  und  primäre.  Ganz  anders  bei  den  Werken  der 
Literatur  und  der  Kunst.  Gewiß  fallen  auch  sie  unter  den  geschichtlichen 
Gesichtspunkt,  aber  dieser  kommt  erst  in  zweiter  Linie.  Denn  die  Gebilde  der 
Kunst  haben  das  besondere  Vorrecht,  daß  sie  unmittelbar  zu  uns  sprechen  und  uns 
ihren  Sinn  erschließen;  eine  Sprache  von  Seele  zu  Seele,  die  keiner  Vermittlung 
durch  ein  Wissen  oder  Denken  bedarf.  In  der  reinen  Anschauung  wird  uns  ein 
seelischer  Gehalt  mitgeteilt  —  das  ist  die  grundlegende  Tatsache  in  allem  ästheti- 


BEMERKUNGEN:  319 


sehen  Erleben.  Wir  treten  vor  ein  Bild  hin  und  schauen  es  an;  wir  brauchen  nichts 
zu  wissen,  wir  vergessen  alles,  was  wir  sonst  wissen,  und  sammeln  unsere  ganze 
Seele  im  Auge,  bis  das  Bild  in  uns  lebendig  und  aus  unserer  Seele  wiedergeboren 
wird.  Und  ebenso  brauchen  wir  uns  nur  willig  mit  reinem  und  bereitem  Sinn  dem 
Eindruck  einer  Dichtung  hinzugeben,  damit  wir  alles,  was  der  Dichter  aus  seiner 
Seele  hineingelegt  hat  und  was  ihren  Wert  als  Dichtung  ausmacht,  nacherlebend 
uns  zu  eigen  machen  und  mit  dem  Gefühl  verstehen.  Diese  Selbstgenügsamkeit, 
dies  Insichruhen  und  Insichbeschlossensein  ist  das  auszeichnende  Merkmal  der 
ästhetischen  Welt.  »Das  Schöne  aber,  selig  ist  es  in  sich  selbst.«  Damit  ist  auch 
die  Aufgabe  der  Wissenschaft  bestimmt.  Will  sie  das  Wesen  eines  Kunstwerkes, 
einer  Dichtung  erfassen,  so  muB  sie  sich  zunächst  ihm  ganz  hingeben,  ganz  im  An- 
schauen und  fühlenden  Erleben  aufgehen,  sie  muß  es  für  sich  nehmen,  als  die 
einzelne,  in  sich  vollendete  Erscheinung,  die  es  ist,  außerhalb  aller  Zusammenhänge 
und  geschichtlichen  Bedingtheiten,  die  bei  ihm  stets  das  Unwesentliche  und  Sekun- 
däre sind.  Kunstwissenschaft  ist  zuerst  und  vor  allem  Wissenschaft  vom 
einzelnen  Kunstwerk,  und  diese  muß  das  Wesentliche  aus  dem  einzelnen  Kunstwerk 
selbst  entnehmen.  Und  diese  grundlegende  und  wichtigste  Aufgabe,  das  wissen- 
schaftliche Verständnis  der  einzelnen  Kunstwerke,  der  einzelnen  Dichtungen  aus 
ihnen  selbst  muß  im  Prinzip  gelöst  sein,  ehe  sich  übergreifende  und  zusammen- 
fassende Betrachtungsweisen,  ehe  sich  Kunst-  oder  Literaturgeschichte  darauf  auf- 
bauen können. 

Was  hier  aus  dem  Begriff  des  Kunstwerkes  abgeleitet  ist,  wird  durch  die  all- 
gemeine Erfahrung  bestätigt.  Uns  sind  Dichtungen  aus  ferner  Vorzeit  überliefert, 
bei  denen  uns  alle  geschichtlichen  Umstände  unbekannt  sind.  Ich  erinnere  z.  B.  an 
jene  altindischen  Dichtungen,  die  uns  als  Bestandteile  des  Riesenepos  Mahabharata 
erhalten  sind:  das  Lied  von  Nala  und  Damajanti,  von  Savitri  und  andere.  Keine 
Überlieferung  sagt  uns,  in  welchem  Jahrhundert,  in  welcher  Landschaft  sie  ent- 
standen sind  und  wer  ihr  Dichter  war,  und  schwerlich  wird  die  Forschung  jemals 
Genaueres  darüber  ermitteln,  aber  unser  Genießen  und  Verstehen  leidet  darunter 
nicht  im  mindesten.  Ähnlich  voraussetzungslos  wie  jenen  alten  Dichtungen  stehen 
wir  wiederum  den  ganz  neuen,  eben  erst  ans  Licht  tretenden  gegenüber;  auch  da 
haben  wir  in  der  Regel  nur  den  bloßen  Text,  und  der  genügt  uns  zum  Verständnis 
der  Dichtung.  Daraus  ist  klar,  daß  jenes  reiche  Gewebe  von  historisch-philologischen 
Untersuchungen,  Entstehungsgeschichte,  Quellenuntersuchungen,  biographische  Be- 
ziehungen usw.,  das  sich  in  anderen  Regionen  der  Literaturgeschichte  um  die  einzel- 
nen Dichtungen  legt,  so  interessant  und  aufschlußreich  es  sein  mag,  doch  nur  um- 
rahmendes Beiwerk  ist.  Die  wesentliche  Aufgabe  des  Kunstverständnisses  ist  davon 
unabhängig  und  ist  bei  einem  altindischen  Epos  und  einem  modernen  Roman,  bei 
einem  Drama  von  Sophokles,  von  Goethe  oder  Gerhart  Hauptmann  genau  die  gleiche. 

Angesichts  einer  so  verstandenen  Literaturwissenschaft  erhebt  sich  nun  eine 
doppelte  Frage.  Wir  fragen  einmal:  ist  eine  solche  Wissenschaft  überhaupt  nötig? 
Wenn  uns  ein  Kunstwerk  in  der  reinen  Anschauung  und  unbefangenen  Aufnahme 
seinen  Sinn  erschließt,  wenn  wir  unmittelbar  mit  dem  Gefühl  sein  Wesen  erfassen, 
ohne  die  Vermittlung  des  Wissens  oder  Denkens,  wozu  brauchen  wir  dann  noch 
Wissenschaft?  Was  kann  die  Wissenschaft  uns  geben,  das  wir  nicht  schon  im  un- 
mittelbaren Nacherleben  hätten?  Die  Antwort  darauf  gibt  eine  Antinomie,  die  allem 
ästhetischen  Erleben  immanent  und  wesentlich  ist.  Richter  im  Reiche  des  Schönen 
ist  der  Geschmack.  Nun  aber  hat  nach  dem  bekannten  Sprichwort  jeder  seinen 
Geschmack,  und  niemand  läßt  sich  davon  abbringen.  Andererseits  jedoch  macht 
das  ästhetische  Urteil  den  Anspruch,   mehr  als   eine  rein   private  Aussage  zu  sein. 


320  BEMERKUNGEN. 


Schon  die  objektive  Form  des  Urteils  drückt  dies  aus.  Wenn  ich  etwas  für  schön 
erkläre,  so  meine  ich  damit,  daß  es  nicht  nur  für  mich,  sondern  für  alle  schön  ist; 
ich  erhebe  den  Anspruch,  daß  es  allen  gefallen  soll,  und  keine  Erfahrung  des 
Gegenteils  kann  diesen  Anspruch  widerlegen,  wenn  ich  meines  Gefühls  sicher  bin. 
Und  doch  bin  ich  außerstande,  ihn  mit  Gründen  durchzufechten,  denn  das  ästhetische 
Urteil  ruht  nicht  auf  Gründen,  und  über  Geschmacksfragen  läßt  sich  bekanntlich 
nicht  streiten.  Wie  ist  dieser  Widerstreit  aufzulösen?  Das  hat  uns  Kant  gelehrt. 
Das  ästhetische  Urteil  überhaupt  ist  nur  möglich  unter  der  Voraussetzung  eines 
Gemeinsinnes.  Es  ist  seinem  Wesen  nach  subjektiv,  denn  es  fließt  aus  dem  Gefühl, 
nicht  aus  Erkenntnis.  Aber  in  ihm  spricht  nicht  die  Stimme  des  zufälligen,  einzelnen 
Subjekts,  sondern  sozusagen  die  Subjektivität  der  Menschheit,  ein  Gefühl,  das  zum 
Wesen  des  Menschen  gehört  und  wenigstens  als  Anlage  und  Möglichkeit  in  jedem 
Menschen  vorausgesetzt  werden  muß.  Freilich  ertönt  diese  Stimme  im  Einzelnen 
nur  gebrochen,  beschränkt  und  getrübt  durch  die  Schranken  und  Schlacken  seiner 
Individualität.  Darum  sind  die  ästhetischen  Urteile  der  Menschen  über  denselben 
Gegenstand  so  unendlich  verschieden,  darum  ist  jedes  einzelne  nur  bedingt  gültig 
und  kann  nur  aus  dem  Zusammenklang  aller  Stimmen  die  Wahrheit  als  Grund- 
akkord sich  ergeben,  nicht  durch  Mehrheitsentscheide,  sondern  indem  die  richtige 
Empfindung  durch  ihre  innere  Sieghaftigkeit  und  Überzeugungskraft  immer  mehr 
Seelen  überwindet.  Auch  hier  dient  uns  die  Erfahrung  zur  Bestätigung  dessen, 
was  wir  aus  prinzipiellen  Gründen  fordern.  Denn  immer  und  überall  sehen  wir  aus 
anfänglicher  Meinungsverschiedenheit  sich  allmählich  eine  gewisse  Übereinstimmung, 
einen  consensus  gentium  bilden.  Wenn  ein  Kunstwerk  neu  vor  die  Welt  tritt,  er- 
fährt es  gewöhnlich  die  denkbar  verschiedenste  Beurteilung;  ist  es  erst  hundert 
Jahre  alt,  so  hat  sich  in  den  meisten  Fällen  der  Streit  beruhigt  und  ein  allgemein 
anerkanntes  Urteil  festgestellt.  Freilich  ist  diese  Übereinstimmung  immer  nur  relativ 
und  nie  endgültig;  sie  kann  stets  von  neuem  in  Frage  gestellt  und  umgestoßen 
werden.  Anderthalb  Jahrtausende  haben  in  Vergil  den  größten  epischen  Dichter 
gesehen  und  Homer  hinter  ihn  zurücktreten  lassen,  bis  sich  das  Verhältnis  umge- 
kehrt hat.  Oder  denken  wir  an  den  Umschwung  in  der  Schätzung  Shakespeares  im 
18.  Jahrhundert!  Das  unbedingt  gültige  ästhetische  Urteil  ist  eben  eine  Aufgabe,  die 
nie  ganz  zu  vollenden  ist,  die  nur  annäherungsweise  gelöst  werden  kann.  Aber 
solche  Annäherung  liegt  deutlich  vor  Augen,  und  in  vielen  Fällen  ist  ein  hoher 
Grad  von  Übereinstimmung  tatsächlich  erreicht.  Daß  Homer  und  Sophokles  zu  den 
großen  Erscheinungen  der  Menschheitskunst  gehören,  ist  wohl  nie  von  einem 
Menschen  von  Geschmack  bestritten  worden  und  hat  auch  von  der  Zukunft  kaum 
Anzweiflung  zu  fürchten.  Was  wir  ästhetische  Bildung  nennen,  ist  ja  nichts  anderes 
als  die  Gesamtheit  der  ästhetischen  Urteile,  über  die,  mindestens  innerhalb  einer 
Kultursphäre,  Übereinstimmung  besteht.  Nun  handelt  es  sich  jedoch  bei  einem 
Kunstwerk  nicht  nur  um  ästhetische  Bewertung,  sondern  noch  mehr  um 
Wesens erfassung.  Was  ist  ein  Kunstwerk ?  Was  stellt  es  dar,  was  drückt  es  aus? 
Was  ist  sein  Sinn,  sein  Gehalt?  Und  da  erleben  wir  ganz  das  gleiche  Schauspiel. 
Die  größte  Mannigfaltigkeit  der  Auffassungen,  die  sich  allmählich  klärt  und  verein- 
heitlicht. Freilich  pflegt  hier  die  Übereinstimmung  noch  eingeschränkter  und  vor- 
läufiger zu  sein.  Denn  immer  wieder  treten  neue  Auffassungen  auf  den  Plan,  und 
im  Grunde  wird  jedes  echte  Kunstwerk  von  jedem  ursprünglich  ästhetisch  empfin- 
denden Menschen  auf  neue  und  eigene  Weise  erlebt  und  gesehen.  Diese  Überein- 
stimmung herauszuarbeiten,  aus  der  Fülle  der  verschiedenen  Auffassungen  und 
Wertungen  die  eine  richtige  zu  destillieren,  —  denn  die  ganze  Wahrheit  kann  doch 
nur  eine  sein,   wenn  auch  in  jeder  Auffassung  ein  Teil  der  Wahrheit  enthalten  ist. 


BEMERKUNGEN.  32| 


—  und  so  die  Allgemeingültigkeit  des  ästhetischen  Urteils  im  weitesten  Sinne  zu 
verwirl<lichen,  das  ist  offenbar  die  eigentliche  Aufgabe  der  Wissenschaft.  Allerdings 
müssen  wir  zugeben,  daß  das  meiste,  was  bisher  in  dieser  Richtung  erreicht  ist, 
nicht  das  Weric  bewußter,  planvoller  wissenschaftlicher  Arbeit  war,  sondern  sich 
durch  den  Widerstreit  der  JMeinungen  und  die  fortschreitende  Entwicklung  des  Ge- 
schmackes von  selbst  ergeben  hat.  Aber  doch  durch  JVleinungsstreit,  durch  Ver- 
suche, iVleinungen  mit  Gründen  zu  verteidigen  und  zu  bekämpfen,  durch  Versuche 
das  Gefühl  zu  rationalisieren.  Versuche,  die  also  die  Tendenz  auf  Wissenschaft 
haben.  Jedenfalls,  wenn  es  eine  Wissenschaft  von  der  Kunst  und  Literatur  geben 
soll,  —  und  wie  könnte  die  Wissenschaft  auf  diesen  Gegenstand  verzichten?  —  so 
kann  nur  dies  und  nichts  anderes  ihre  Aufgabe  sein. 

Aber,  so  fragen  wir  weiter,  ist  denn  eine  solche  Wissenschaft  überhaupt  mög- 
lich? Wir  erfassen  eine  Dichtung  mit  dem  Gefühl,  also  dem  schlechthin  Subjek- 
tiven in  uns.  Das  ästhetische  Urteil  ruht  auf  dem  Qefühlseindruck,  nicht  auf  Argu- 
menten ;  es  wird  von  dem  subjektiven  Geschmack,  nicht  vom  Verstände  gebildet. 
Überall  bleiben  wir  in  der  Sphäre  des  Subjektiven.  Wie  ist  da  zu  der  Objektivität 
zu  kommen,  die  doch  das  Wesen  aller  Wissenschaft  ausmacht?  —  Nun,  darüber 
müssen  wir  uns  allerdings  klar  sein:  eine  Objektivität  im  Sinne  der  Naturwissen- 
schaft oder  JUathematik  ist  hier  nicht  zu  erreichen.  Die  gibt  es  innerhalb  der 
Geisteswissenschaft  überhaupt  nicht,  und  hier  noch  weniger  als  anderswo.  Auf  der 
anderen  Seite  jedoch  ist  dies  zu  beachten.  Bestände  die  Kunst  nur  in  Gefühls- 
eindrücken, so  wäre  allerdings  alle  Möglichkeit  der  Objektivierung  ausgeschlossen. 
Aber  das  ästhetische  Gefühl  ist  ja  auf  geheimnisvolle  Weise  an  einen  Gegenstand 
gebunden,  ein  Gebilde  in  Zeit  und  Raum,  ein  Objekt  der  Anschauung  oder  des 
Gehörs,  ein  Etwas,  das  als  Ding  unter  Dingen  vor  uns  dasteht.  Dingartig,  natur- 
ähnlich, und  doch  grundverschieden  von  allen  Naturgegenständen.  Denn  obgleich 
es  ganz  aus  sinnlichem  Stoff,  aus  äußerer  iV\aterie  oder  aus  Gehörseindrücken  be- 
steht, ist  es  doch  nicht  direkt  aus  der  JVlaterie  hervorgegangen,  sondern  aus  der 
Seele  des  Künstlers  heraus  geboren:  aller  Stoff  ist  in  das  Gefühl  des  Künstlers 
eingeschmolzen  und  aus  ihm  wieder  herauskristallisiert  und  hat  dabei  das  empfangen, 
was  den  ästhetischen  Gegenstand  konstituiert:  Form.  Form  ist  auch  hier  »der 
Grund  der  Einheit  im  iVlannigfaltigen«;  sie  ist  das  Gesetz  der  Kristallisation,  oder 
besser,  des  organischen  Werdens;  das  Gesetz,  nach  dem  das  Werk  aus  der  Seele 
seines  Schöpfers  herausgewachsen  und  zugleich  zu  ihrem  Abdruck  geworden  ist, 
kraft  dessen  es  nun  wiederum  zu  unserer  Seele  spricht  und  sie  mit  der  Seele  des 
Künstlers  in  mystischen  Kontakt  setzt.  Diese  Form,  dies  Gesetz  der  Bildung  nun, 
wenn  es  auch  in  der  geheimen  Brunnenstube  alles  Organischen,  die  tief  unter  der 
Schwelle  des  Bewußtseins  liegt,  entspringt  und  wirkt,  es  ist  als  Gesetz,  als  not- 
wendiger Zusammenhang,  dem  Erkennen  zugänglich,  es  kann  aufgewiesen,  sichtbar 
gemacht  werden;  in  ihm  liegt  das  rationalisierbare  Element,  durch  das  die  JVlög- 
lichkeit  wissenschaftlicher  Erforschung  bedingt  ist.  Freilich,  das  wahre  Kunstwerk  ist 
nicht  das  äußere  Ding  im  Räume,  der  äußere  Vorgang  in  der  Zeit,  sondern  das 
dadurch  hervorgerufene  Oefühlserlebnis,  und  so  besteht  die  eigentliche  Form  auch 
nicht  in  den  äußeren  Verhältnissen  am  Dinge,  sondern  in  der  Ordnung  der  seelischen 
Eindrücke.  Diese  selbst  werden  dabei  stets  als  die  ursprünglichen  Gegebenheiten 
vorausgesetzt.  Ohne  sie  ist  überhaupt  keine  Betrachtung  eines  Kunstwerkes  mög- 
lich, ist  das  Kunstwerk  in  Wahrheit  gar  nicht  vorhanden.  Daher  kann  es  nie  ge- 
lingen, ein  Kunstwerk  vollständig  zu  rationalisieren,  es  restlos  aufzulösen  wie  eine 
algebraische  Gleichung.  Daher  kann  eine  Wissenschaft  vom  Kunstwerk  nur  durch 
das  Zusammenwirken  von  Gefühl  und  Verstand  geschaffen  werden:  Qe- 

Zeitfchr.  f.  AsIheUk  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XV.  21 


322  BEMERKUNÖEN. 


fühl,  das  die  einzelnen  Eiiidrücke,  die  ästhetischen  Urbestandteile  rein  und  scharf 
auffaßt,  und  Verstand,  der  zwischen  ihnen  die  gesetzmäßigen  Formzusammenhängc 
aufdecl<t.  Nur  wo  eine  reine,  gesunde,  feinfühlige  ästhetische  Empfängiichiceit  mit 
der  Fähigl<eit  wissenschaftlichen  Denicens  sich  vereinigt,  icann  sie  entstehen.  Wo 
das  Gefühl  versagt,  findet  überhaupt  kein  ästhetisches  Erleben,  kein  Erfassen  eines 
Kunstwerkes  statt  und  fehlt  der  wissenschaftlichen  Betrachtung  alles  Material.  Und 
nur  das  Denken  kann  Wissenschaft  gestalten.  Aber  wenn  das  Denken  so  vom 
Gefühl  abhängig  ist,  es  wirkt  wiederum  darauf  zurück.  Es  kann  zwar  das  ästhetische 
Gefühl  weder  hervorrufen  noch  widerlegen;  aber  es  kann  es  kontrollieren  und  be- 
richtigen, entwickeln  und  läutern.  Daß  das  ästhetische  Gefühl  nicht  unwandelbar 
starr,  sondern  entwicklungsfähig  ist,  darauf  beruht  alle  Geschmacksbildung,  alle 
ästhetische  Kultur.  Und  an  dieser  Entwicklung  hat  der  Verstand  einen  bedeutenden 
Anteil.  Die  ästhetischen  Einzelheiten,  die  das  Gefühl  ergreift,  haben  darin  ihre 
Kontrolle,  daß  sie  Teile  eines  Ganzen,  Glieder  eines  Zusammenhangs  sind;  wie  sie 
sich  in  diesen  fügen,  darin  liegt  ein  Prüfstein  ihrer  richtigen  Erfassung.  Und  in 
dieser  Wechselbeziehung  zwischen  dem  Ganzen  und  seinen  Teilen 
ist  im  Grunde  alle  Möglichkeit  einer  Wissenschaft  von  der  Kunst  beschlossen.  Das 
Ganze  und  das  Einzelne  —  beides  kontrolliert  sich  gegenseitig.  Ob  das  Einzelne 
richtig  aufgefaßt  ist,  wird  daran  geprüft,  wie  es  sich  in  das  Ganze  einfügt;  ob  die 
Einheit  des  Ganzen  richtig  bestimmt  ist,  entscheidet  sich  dadurch,  ob  aus  ihm  die 
Einzelheiten  ungezwungen  und  überzeugend  abzuleiten  sind.  Ungezwungen  und 
überzeugend  —  damit  wird  die  Frage  doch  wieder  vor  den  Richterstuhl  des  Gefühls 
verwiesen,  das  die  Untersuchung  in  jedem  Stadium  und  auf  jedem  Punkte  begleiten 
und  überwachen  muß.  Sonst  ist  sie  in  Gefahr,  in  ein  bloßes  Verstandesspiel  aus- 
zuarten und  anstatt  der  lebendigen  Wirklichkeit  des  Kunstwerkes  selbstgeschaffene 
Hirngespinste  ans  Licht  zu  bringen.  Überhaupt  unterliegt  dieses  im  Prinzip  'so  ein- 
fache Verfahren  in  der  praktischen  Anwendung  mannigfachen  Schwierigkeiten  und 
Komplikationen,  auf  die  einzugehen  hier  der  Raum  fehlt. 

Wenn  es  sich  also  um  das  wissenschaftliche  Verständnis  einer  Dichtung,  bei- 
spielsweise eines  Dramas  handelt,  so  wird  es  vor  allem  darauf  ankommen,  die 
innere  Einheit  zu  finden,  den  Punkt,  von  dem  aus  das  Ganze  sich  als  Einheit 
überschauen  läßt,  den  Kern,  aus  dem  das  entwickelte  Gebilde  erwachsen  ist,  die  ur- 
sprüngliche Konzeption,  ästhetische  Idee  oder  wie  wir  es  nennen  wollen.  Wenn  wir 
dann  diesen  Kern  in  seiner  stufenweisen  Entfaltung  bis  in  alle  Einzelheiten  hinein  ver- 
folgen, so  ist  die  wesentliche  Arbeit  getan.  Für  die  synthetische  Darstellung  steht  also 
diese  Einheit  am  Anfange;  aus  ihr  werden  die  Teile  entwickelt.  Für  die  Untersuchung 
hingegen  steht  sie  als  Ziel  und  Ende.  Diese  wird  zunächst  die  Einzelheiten  genau  zu 
erfassen  suchen,  dann  ihren  Zusammenhängen  nachgehen,  sie  in  einheitliche  Gruppen 
zusammenfassen,  um  zuletzt  zur  Einheit  des  Ganzen  aufzusteigen.  Hier  ist  zu  be- 
merken, daß  im  Kunstwerk  zweierlei  Einheit  stattfindet,  neben  der  gleichsam 
materiellen,  substantiellen  und  architektonischen  eine  qualitative,  die  sich  nicht  in 
der  Zusammengehörigkeit,  sondern  in  der  Gleichartigkeit  der  Teile  ausprägt.  Wir 
können  jene  als  Komposition  im  weitesten  Sinne,  diese  als  Stil  bezeichnen. 
Beide  zusammen  machen  die  Form  einer  Dichtung  aus.  Diese  Form  ist  also  nichts, 
was  vom  Inhalt  unabhängig  wäre,  sie  besteht  nicht  in  den  schematischen  Verhält- 
nissen, die  sich  für  sich  behandeln  und  klassifizieren  lassen,  sie  ist  vielmehr  die 
Verwirklichung  des  besonderen  Organisationsprinzips,  des  Bildungsgesetzes,  das 
einem  jeden  Kunstwerk  eigentümlich  ist  und  sein  eigentliches  Wesen  ausmacht. 
Wenn  wir  in  einem  Drama  das  ganze  Flechtwerk  der  »Handlung«  in  seinem  not- 
wendigen Zusammenhange  uns  klar  machen,  wie  es  sich  aus  einem  einfachen  Kerne 


^ 


BEMERKUNGEN.  323 


organisch  entwickelt,  so  haben  wir  damit  zugleich  die  Form  und  den  Gehalt 
der  Dichtung.  Es  hat  allerdings  seinen  Reiz  und  seinen  Wert,  wenn  die  Analyse 
der  »Handlung«  eines  Dramas  vollendet  ist,  denn  von  dem  Inhalt,  dem  Materialen 
der  Dichtung  abzusehen  und  uns  die  formalen  Bestimmungen  abgelöst  zu  vergegen- 
wärtigen, wie  wenn  wir  etwa  die  Umrisse  der  Pflanze  nur  als  mathematische  Figur 
betrachten.  Und  durch  eine  andere  Art  Abstraktion  können  wir  aus  dem  Inhalt 
einer  Dichtung  den  »Gehalt«  ausscheiden.  Jedes  Kunstwerk  bietet  uns  ja  in  Ge- 
stalt eines  Einzeldinges,  einer  individuellen  Anschauung  einen  allgemein  menschlichen 
Gehalt,  etwas,  das  jeder  Mensch  nacherleben  kann;  dieser  aber  ist  wiederum  der 
Niederschlag  des  persönlichen  Erlebens  des  Schöpfers,  der  Abdruck  seiner  seelischen 
Arlung,  seiner  Welt-  und  Lebensanschauung,  seiner  besonderen  Gefühl  weise  und 
inneren  Haltung  dem  Leben  gegenüber.  Diese  Betrachtungsweisen  erschließen  uns 
weitere  Perspektiven.  Wie  uns  die  isolierte  Untersuchung  der  Form  in  die  allge- 
meine und  systematische  Übersicht  der  Kunstwerke  führt,  die  die  Aufgabe  der  Poetik 
und  Ästhetik  ist,  so  diese  Herausstellung  des  Gehaltes  oder  der  »Idee-  einerseits 
in  die  biographische,  andererseits  in  die  zeit-  und  kuUurgeschichtliche  Einreihung 
einer  Dichtung. 

Wie  nennen  wir  nun  solche  Analyse  von  Literaturwerken,  wenn  wir  ihr  einen 
besonderen  Namen  geben  wollen?  Wir  mögen  sie  ästhetisch  nennen,  aber  nur  in 
dem  Sinne,  wie  alle  Betrachtung  von  Kunst  ästhetisch  ist,  nicht  als  eine  Betrachtungs- 
weise neben  anderen.  Jedenfalls  aber  darf  uns  die  Bezeichnung  in  Verbindung  mit 
der  Gewohnheit,  die  Ästhetik  unter  die  philosophischen  Disziplinen  einzureihen, 
nicht  zu  der  Meinung  verführen,  als  handle  es  sich  hier  um  etwas  Philosophisches. 
Die  hier  angedeutete  Literaturwissenschaft  hat  mit  Philosophie  schlechterdings  nichts 
zu  tun.  Sie  ist  eine  rein  empirische  Einzelwissenschaft  und  ist  nicht  philosophischer 
als  die  wissenschaftliche  Erforschung  der  Pflanzen  oder  Tiere,  ja  sie  ist  noch 
weniger  philosophisch,  denn  sie  hat  es  zunächst  und  in  der  Hauptsache  nicht  mit 
Gattungen  und  Arten,  sondern  mit  Individuen  zu  tun.  Allerdings  ist  anzuerkennen, 
daß  von  Philosophen  in  dieser  Richtung  vieles  und  sehr  Wertvolles  geleistet  ist;  es 
genügt,  aus  älterer  Zeit  an  die  beiden  Namensgenossen,  Friedr.  Vischer  und  Kuno 
Fischer,  zu  erinnern,  aber  auch  in  der  Gegenwart  sind  wir  Philosophen  für  wichtige 
Unterstützung  zu  Dank  verpflichtet.  Das  ändert  nichts  daran,  daß  solche  Arbeit  an 
sich  nicht  philosophischer,  sondern  literaturwissenschaftlicher  Art  ist.  Am  besten 
behalten  wir  den  Namen  Ästhetik  der  systematischen  Disziplin  vor,  von  der  sogleich 
die  Rede  sein  wird,  und  bleiben  hierbei  dem  alten  ehrwürdigen  Namen  Philologie. 
Es  soll  uns  nicht  stören,  daß  dieser  jetzt  nicht  ohne  Grund  in  Verruf  gekommen 
ist  und  im  landläufigen  Sprachgebrauch  auf  eine  Anzahl  äußerer,  vorbereitender 
Tätigkeiten  eingeschränkt  wird,  die  sich  zur  Literaturwissenschaft  in  unserem  Sinne 
verhalten  wie  die  historischen  Hilfswissenschaften,  Paläographie,  Diplomatik  usw., 
zur  wirklichen  Geschichte.  Denn  die  Feststellung  des  Wortlauts  einer  Dichtung, 
die  Untersuchung  der  äußeren  Entstehungsgeschichte,  der  Verfasserfragen,  der 
Quellen  und  Einflüsse  usw.,  das  alles  sind  für  die  wahre  Literaturwissenschaft,  für 
das  wissenschaftliche  Verständnis  der  Dichtung,  doch  nur  Vor-  und  Hiifsarbeiten, 
aber  nicht  sie  selbst,  Präliminarien,  die  in  gewissem  Grade  erledigt  sein  müssen, 
wenn  die  eigentliche  Forschungsarbeit  beginnen  soll.  Wenn  aber  der  Begriff  der 
Philologie  irgend  dem  deutlichen  Wortsinn  gerecht  werden  will,  so  kann  er  nur 
der  hier  entwickelte  sein ;  denn  Philologie  heifit  die  Wissenschaft,  die  den  Kof  o^ 
sucht,  und  der  XofOi  einer  Dichtung  ist  eben  ihr  Formgesetz,  dessen  Erkenntnis  die 
Aufgabe  unserer  Wissenschaft  ist.  Wenn  gerade  seit  dem  Aufkommen  und  der 
Herrschaft  der  sogenannten  philologischen  Richtung  hierfür  so   wenig  geleistet  ist. 


324  BEMERKUNGEN, 


wenn  sie  fast  ganz  in  jenen  Hilfsarbeiten  stecken  geblieben  ist,  ja  teilweise  die 
höheren  Aufgaben  der  Forschung  mit  unverständigem  Hochmut  als  ästhetisch  ab- 
gelehnt oder  als  unwissenschaftlich  herabgesetzt  hat,  so  ist  das  ein  Maßstab  für  die 
Verirrung  und  den  Tiefstand  der  Wissenschaft,  —  ein  Tiefstand,  der  doch  auch  von 
den  »Philologen«  selbst  empfunden  und  beklagt  ist.  Diese  Alleinherrschaft  des 
Philologismus  ist  heute  überwunden,  und  die  Einsicht,  daß  die  Wissenschaft  sich 
darin  nicht  erschöpft,  daß  sie  noch  andere  und  höhere  Aufgaben  hat,  wächst  zu- 
sehends. Im  ganzen  steht  doch  die  Begründung  dieser  besseren  Philologie  noch  als 
Zukunftsaufgabe  vor  uns.  Ich  darf  erwähnen,  daß  alle  meine  größeren  Arbeiten 
bescheidene  Beiträge  zu  ihrer  Lösung  sind.  Sie  werden  zu  diesen  dürftigen  An- 
deutungen die  beste  Erläuterung  abgeben. 

Auf  dieser  Erforschung  der  einzelnen  Literaturwerke  als  ihrer  Grundlage  erheben 
sich  dann  umfassende  und  überschauende  Arten  der  wissenschaftlichen  Arbeit.  Sie 
können  allerdings  nicht  warten,  bis  jene  ihr  Werk  getan  hat;  sonst  würden  sie  nie 
beginnen  können.  Ist  doch  schon  das  Verständnis  einer  einzelnen  Dichtung  eine 
nie  ganz  zu  vollendende  Aufgabe.  Aber  im  Prinzip  wird  die  weiterführende  Forschung 
dies  Verständnis  als  gegeben  voraussetzen  müssen,  und  ihr  wissenschaftliches  Niveau 
wird  wesentlich  dadurch  bestimmt  sein,  wieweit  diese  Voraussetzung  erfüllt  ist  und 
in  welchem  Maße  der  einzelne  Forscher  selbst  daran  beteiligt  ist. 

Solche  Weiterführung  gibt  es  in  zwiefacher  Richtung.  Es  handelt  sich  auf  der 
einen  Seite  um  Zusammenstellung  der  einzelnen  Kunstwerke  nach  Ähnlichkeifen 
und  generellen  Verwandtschaften,  Zusammenfassung  zu  Arten  und  Gattungen  und 
Untersuchung  der  gemeinsamen  Eigentümlichkeiten  dieser,  bis  die  Betrachtung 
schließlich  zum  Charakter  der  einzelnen  Künste  und  der  Kunst  überhaupt  aufsteigt. 
Also  um  die  allgemeine  und  systematische  Kunstwissenschaft,  für  die  sich  seit  dem 
18.  Jahrhundert  die  Bezeichnung  Ästhetik  eingebürgert  hat.  Diese  Ästhetik  wird 
nun  in  der  Regel  als  ein  Teil  der  Philosophie  angesehen  und  von  Philosophen  be- 
arbeitet. Indessen,  sowenig  die  Erforschung  des  einzelnen  Kunstwerkes  eine  philo- 
sophische Aufgabe  sein  kann,  so  wenig  ist  es  diese  Wissenschaft  von  der  Kunst 
überhaupt;  sie  ist  eine  Einzelwissenschaft  und  Erfahrungswissenschaft,  wie  es  etwa 
die  systematische  Botanik  ist.  Denn  ihre  Erkenntnisse  stammen  nicht  aus  Prinzipien 
a  priori,  sondern  aus  der  Erfahrung  und  werden  beständig  durch  fortschreitende 
Erfahrung  berichtigt  und  erweitert.  Alles,  was  ich  vom  einzelnen  Drama  erkennen 
kann,  fließt  aus  meiner  Anschauung  dieses  Dramas  und  dem  dadurch  ausgelösten 
Gefühlserlebnis.  Alles,  was  ich  vom  Drama  überhaupt  weiß,  ist  abgeleitet  aus 
meiner  Erkenntnis  der  einzelnen  Dramen,  die  ich  als  mustergültig  empfinde,  und 
gilt  nur  solange,  bis  durch  neue  Dramen  meine  Vorstellung  vom  Drama  bereichert 
und  geändert  wird.  Unter  die  philosophische  Betrachtung  fällt  nur  die  ganz  allge- 
meine Tatsache  des  ästhetischen  Verhaltens,  allenfalls  die  des  ästhetischen  Schaffens, 
also  der  Kunst  überhaupt;  aber  schon  die  einzelnen  Künste  sind  empirische  Tat- 
sachen. Daß  es  so  etwas  wie  ein  Drama  oder  eine  Symphonie,  ja  wie  Malerei  und 
Dichtkunst  gibt,  läßt  sich  nicht  a  priori  konstruieren,  das  wissen  wir  allein  aus  der 
Erfahrung. 

Auf  der  anderen  Seite  ordnen  sich  die  Kunstwerke  in  geschichtliche  Zu- 
sammenhänge, und  so  ergibt  sich  die  Aufgabe  der  Kunst-,  der  Literatur- 
geschichte. Aus  diesen  Zusammenhängen  ist  vor  allen  einer  herauszugreifen,  der 
allein  unmittelbar  in  der  Sache  selbst  gegründet  und  wesentlich  ist:  der  bio- 
graphische. Allerdings  ist  das  Kunstwerk  seinem  Wesen  nach  ein  losgelöstes, 
für  sich  bestehendes  Gebilde.  Aber,  daß  es  aus  der  Seele  des  Künstlers  geboren, 
ein  Abdruck  seiner  seelischen  Art  ist,   das  ist  doch  eine  Bestimmung,   die  mit  zu 


BEMERKUNGEN.  325 


seinem  Wesen  gehört,  und  wir  haben  es  erst  ganz  verstanden,  wenn  wir  es  zugleich 
als  ein  Zeugnis  von  seinem  Schöpfer  aufnehmen.  Damit  rückt  es  in  den  Zusammenhang 
seiner  seelischen  Entwicldung,  seiner  Lebensgeschichte.  Die  Biographie  des  schaffenden 
Künstlers  ist  die  erste,  wichtigste  und  wesentlichste  Aufgabe  der  Kunstgeschichte. 
Diese  Biographie  ist  aber  keineswegs  identisch  mit  der  Feststellung  der  äußeren  Lebens- 
daten und  Lebensumstände.  Diese  sind  ihr  höchstens  Vor-  und  Hilfsarbeit.  Ihr  Werk 
hebt  erst  an,  wenn  dies  in  gewissem  Grade  erledigt  ist,  kann  aber  in  weitem  Um- 
fange darauf  verzichten.  Denn  die  schöpferische  Persönlichkeit,  mit  der  sie  es  zu 
tun  hat,  ist  nach  Simmeis  Wort  »nicht  der  reale  historische  Mensch,  sondern  ein 
ideelles  Gebilde,  das  nur  in  der  Leistung  selbst  lebt,  als  Ausdruck  oder  Symbol  für 
den  inneren  Zusammenhang  ihrer  Teile«.  In  seinem  Werk  offenbart  sich  das  Wesen 
eines  Künstlers  am  tiefsten  und  wahrsten;  die  Geschichte  seines  Schaffens  ist  seine 
eigentliche  Lebensgeschichte.  Freilich  steht  diese  mit  seinem  äußeren  Lebenslaufe 
in  mannigfacher,  mehr  oder  weniger  enger  Verbindung;  und  auch  er  ist  durch  die 
Persönlichkeit  des  Menschen  bestimmt.  Aber  diese  ist  hier  nur  die  eine  Kompo- 
nente, die  anderen  bilden  die  zufälligen  äußeren  Umstände,  und  daher  ist  sein 
Zeugnis  über  den  Menschen  getrübt  und  weniger  zuverlässig  als  das  des  Werkes. 
Darüber  hinaus  geht  dann  die  weitgespannte  Überschau  der  eigentlichen 
Literaturgeschichte.  Wenn  die  einzelne  Dichtung  auch  als  Kunstwerk  in  sich 
abgeschlossen  ist,  sie  steht  doch  in  historischen  Zusammenhängen  mit  Vorgängern 
und  Zeitgenossen ;  sie  ist  zugleich  ein  Dokument  des  geistigen  Lebens,  ein  Zeugnis 
nicht  nur  für  ihren  Verfasser,  sondern  auch  für  die  Zeit,  das  Volk,  innerhalb  deren 
sie  entstanden  ist.  Und  selbst  wenn  die  einzelne  Dichtung  solcher  Einreihung 
entbehren  kann,  wenn  es  möglich  ist,  sie  ganz  zu  verstehen,  ohne  über  sie  hinaus- 
zublicken —  was  doch  nur  möglich  ist,  wenn  es  sich  um  eine  ganz  vollendete 
Dichtung  handelt  — ,  die  Oeistesgeschichte  kann  für  ihre  Zwecke  nicht  auf  die  F!c- 
trachtung  der  Dichtung  verzichten.  Diese  Zusammenhänge  sind  nun  höchst  mannig- 
facher Art.  Sie  sind  solche  des  Nach-  und  Nebeneinander:  denn  jedes  Literatur- 
werk ist  Glied  von  Entwicklungsreihen  wie  Moment  einer  geschichtlichen  Situation. 
Dabei  kann  der  Rahmen  weiter  und  enger  gespannt  werden.  Die  Literaturgeschichte 
kann  die  Betrachtung  auf  die  Literatur  eines  Volkes,  einer  Landschaft,  einer  Stadt 
beschränken,  aber  auch  darüber  hinausgreifend  auf  eine  internationale  Kulturgemein- 
schaft ausdehnen.  Sie  kann  die  größere  Breite  im  Nebeneinander  durch  Beschränkung 
der  zeitlichen  Spanne  ausgleichen  und  sich  so  dem  Literaturbilde  einer  bestimmten 
Epoche  nähern.  Sie  kann  auch  in  anderer  Hinsicht  den  Kreis  der  Betrachtung 
enger  und  weiter  ziehen:  sie  kann  Literatur  in  dem  engen  Sinne  der  Dichtung,  der 
Kunst  im  Material  der  Sprache  nehmen,  wie  es  hier  vorausgesetzt  ist,  oder  in  dem 
weiteren  der  sprachlichen  Urkunden  des  geistigen  Lebens  überhaupt,  sie  kann  ihn 
auch  auf  einzelne  Teile  und  Gattungen  der  Dichtung  einschränken,  denn  auch 
Drama  und  Roman,  Idylle  und  Satire,  Schäferdichtung,  geistliches  Lied  usw.  haben 
ihre  besondere  Tradition,  ihre  eigene  Geschichte.  Von  all  diesen  Möglichkeiten  ge- 
schichtlicher Gliederung  und  Begrenzung  ist  hauptsächlich  eine  gepflegt:  die  der 
Nationalliteratur.  Literaturgeschichte  wird  ganz  überwiegend  betrieben  als 
deutsche,  englische,  griechische  Literaturgeschichte  usw.  Gewiß  hat  diese  Einteilung 
ihren  guten  Grund  und  ihr  sachliches  Recht.  Die  Sprachgemeinschaft  ist  auch  für 
die  Dichtung  eine  Gemeinde  der  Aufnahme  und  des  Verständnisses.  Ihr  erstes 
Publikum,  ihr  ursprüngliches  Wirkungsgebiet  reicht,  soweit  ihre  Sprache  verstanden 
wird.  Damit  verbindet  sich  dann  in  den  meisten  Fällen  die  politische  Lebens- 
gemeinschaft, die  auch  ihre  wichtige  Bedeutung  hat.  Trotzdem  haben  diese  Mo- 
mente nur  relative  Geltung.    Dichtungen  von  überragendem  Range,  die  doch  auch 


326  BEMERKUNGEN. 


für  die  Nationalliteratur  an  erster  Stelle  stehen,  haben  immer  die  Sprachgrenzen 
überschritten  und  internationale  Gemeinden  gebildet.  Die  Einteilung  nach  Sprachen 
und  Nationalitäten  ist  für  die  Literaturgeschichte  doch  nur  eine  Möglichkeit  unter 
anderen,  nicht  die  eine  selbstverständliche  und  notwendige.  Die  Literatur  einer 
Zeit  bildet  ebenso  sehr  eine  Einheit  wie  die  eines  Volkes.  Eine  absolute  Einheit 
ist  nur  die  Oesamtliteratur  der  Menschheit;  alle  Einteilungen  innerhalb  dieses  Uni- 
versums haben  nur  relative  und  mehr  oder  weniger  willkürliche  Bedeutung.  Zudem 
ist  die  Einheit  der  Nationalliteratur  in  manchen  Fällen  eine  Fiktion  von  sehr  zweifel- 
hafter Berechtigung.  Gerade  die  deutsche  Literatur  ist  so  wenig  einheitlich  wie 
vielleicht  nur  noch  die  englische.  Alt-,  Mittel-  und  Neuhochdeutsch  sind  in  Wahr- 
heit verschiedene  Sprachen.  Bei  den  Denkmälern  jener  älteren  Stufen  findet  ein 
unmittelbares  Verständnis  ebensowenig  statt  wie  bei  Niederländisch  oder  Dänisch; 
sie  bedürfen  durchaus  gelehrter  Vermittlung.  Und  noch  weniger  ist  die  Literatur 
dieser  Epochen  ein  geschichtliches  Kontinuum.  Vielmehr  ist  der  Zusammenhang 
mehrmals  vollständig  abgebrochen:  durch  das  Eindringen  des  Christentums,  durch 
die  große  Pause,  die  den  mittelhochdeutschen  Zeitraum  vom  althochdeutschen  trennt, 
durch  den  Humanismus,  durch  Opitz.  Ein  lebendiger  Zusammenhang  reicht  für  das 
heutige  Bewußtsein  höchstens  bis  zu  Klopstock  zurück;  darüber  hinaus  sind  allen- 
falls noch  einige  isolierte  Erscheinungen  lebendig  und  wirkend.  Was  vor  Luther 
liegt,  ist  fremdsprachliches  Out,  das  vom  Volke  nur  in  Übersetzungen  aufgenommen 
wird.  Wollen  wir  Goethe  nach  seinen  geschichtlichen  Beziehungen  und  Bedingt- 
heiten studieren,  —  und  an  welchem  anderen  Beispiele  könnten  wir  uns  die 
historische  Lagerung  der  deutschen  Literatur  besser  klar  machen?  —  so  brauchen 
wir  von  der  ganzen  deutschen  Literatur  vor  Luther  nichts  zu  kennen;  wohl  aber 
bedürfen  wir  einer  umfassenden  Kenntnis  der  französischen,  der  englischen,  der 
italienischen,  vor  allem  natürlich  der  griechischen  und  lateinischen,  weiterhin  der 
hebräischen,  der  arabischen,  der  persischen  Literatur;  ja  selbst  die  indische,  die 
serbische,  die  chinesische  Literatur  sind  immer  noch  wichtiger  als  die  altdeutsche. 
Schon  dies  eine  Beispiel  zeigt,  daß  die  übliche  Gliederung  der  Literaturgeschichte 
in  Nationalliteraturen  unzulänglich  ist  und  der  Ergänzung  durch  anders  gerichtete 
Forschung  bedarf.  Fast  alle  größeren  Erscheinungen  der  Literatur,  seitdem  im 
Mittelalter  ein  einheitliches  Europa  entstand :  Minnesang,  Ritterdichtung,  didaktische 
Allegorie,  Humanismus,  Reformationsliteratur,  Schäferdichtung,  Renaissancedrama, 
Romantik,  Naturalismus  usw.  sind  international  und  können  im  Rahmen  der  einzel- 
nen Nationalliteratur  nur  unvollkommen  zu  ihrem  Rechte  kommen. 

Was  für  praktische  Forderungen  ergeben  sich  daraus?  Sollen  wir  die  ganze 
Gliederung  der  Philologie  nach  Sprachen  aufgeben  und  durch  eine  andere  ersetzen? 
Das  hätte  wenig  Aussicht  auf  Verwirklichung;  Gründe  äußerer  Zweckmäßigkeit 
sprechen  zu  laut  dagegen.  Wir  werden  sowohl  diese  Einteilung  beibehalten  müssen, 
wie  auch  die  damit  zusammenhängende  Verbindung  von  Sprach-  und  Literatur- 
wissenschaft, obwohl  beide  ganz  verschiedene  Begabungen  verlangen,  die  sich  nur 
ausnahmsweise  in  demselben  Menschen  zusammenfinden.  Nur  das  ist  zu  fordern, 
daß  auf  unseren  Universitäten  neben  den  Vertretern  der  deutschen,  englischen, 
romanischen  Philologie  usw.,  wie  ein  Lehrstuhl  für  vergleichende  Sprachwissen- 
schaft, so  auch  einer  für  allgemeine  Literaturwissenschaft  eingerichtet 
werde.  (Den  Ausdruck  »vergleichende  Literaturwissenschaft«  möchte  ich  vermeiden, 
denn  um  Vergleichung  handelt  es  sich  hier  in  keiner  Weise.  Vergleichende  Literatur- 
wissenschaft in  dem  Sinne,  wie  wir  von  vergleichender  Sprachwissenschaft  reden, 
nämlich  so,  daß  die  Vergleichung  heute  vorhandener  oder  geschichtlich  aufbewahrter 
Erscheinungen  das  Mittel  ist,  um  daraus  verlorene  Urformen  zu  erschließen,  wäre 


BEMERKUNGEN.  327 


elwas  ganz  anderes.  Sie  ist  auf  einem  beschränkten  Gebiete  in  der  Tat  möglich, 
nämlich  bei  der  Voil<siiteratur,  namentlich  bei  der  Märchen-  und  Sagenforschung.) 
—  Diese  weltbürgerliche  Auffassung  und  Behandlung  der  Literaturgeschichte  ist 
gerade  für  uns  Deutsche  eine  Ehrenpflicht,  die  uns  durch  unsere  große  klassische 
Tradition  und  durch  den  Ursprung  unserer  Wissenschaft  auferlegt  ist.  »Weltliteratur 
in  deutscher  Sprache«,  das  war  die  große  Idee,  für  die  Herder  und  Goethe  un- 
ermüdlich geworben  und  durch  ihr  eigenes  Wirken  die  Bahn  gebrochen  haben. 
Und  durchaus  kosmopolitisch  ist  die  Erfassung  der  Aufgabe  bei  den  Brüdern 
Schlegel,  den  eigentlichen  Vätern  der  Literaturgeschichte.  Im  Laufe  des  19.  Jahr- 
hunderts sind  dann  einige  Werke  von  großem  Wurf,  wenn  auch  zunächst  unvollen- 
det, hervorgetreten,  Werke  wie  Hettners  Literaturgeschichte  des  18.  Jahrhunderts, 
Kleins  Geschichte  des  Dramas,  Eberts  zu  früh  abgebrochener  Ansatz  zu  einer  All- 
gemeinen Geschichte  der  Literatur  des  Mittelalters  im  Abendlande.  Aber  gerade 
im  letzten  Halbjahrhundert,  gerade  seit  der  Konstituierung  der  Literaturgeschichte 
als  Sonderfach  des  akademischen  Betriebes,  sind  diese  größten  und  schönsten  Auf- 
gaben unserer  Wissenschaft  in  auffälliger  Weise  vernachlässigt,  in  Deutschland  noch 
gründlicher  als  außerhalb  der  Reichsgrenzen.  Offenbar  aus  dem  Grunde,  weil  nie- 
mand da  ist,  dem  diese  Forschungsrichtung  von  Berufs  wegen  obliegt.  Hier  kann 
nur  die  Einrichtung  besonderer  Lehrstühle  helfen,  und  sie  ist  ein  dringendstes  Be- 
dürfnis der  Wissenschaft. 

Sie  werden  aus  meinen  Ausführungen  den  Eindruck  haben,  als  ob  die  Literatur- 
wissenschaft für  mich  im  wesentlichen  ein  Zukunffsprogramm  ist;  ein  Komplex  von 
Aufgaben,  deren  Lösung  noch  in  den  Anfängen  steht.  Aber  ist  das  zu  verwundern? 
Die  Literaturwissenschaft  ist  noch  eine  junge  Wissenschaft.  Es  ist  nicht  viel  über 
100  Jahre  her,  daß  ihre  ersten  Keime  in  Deutschland  gepflanzt  wurden.  Lange  war 
sie  auf  die  freiwilligen  Leistungen  Einzelner  angewiesen  Erst  seit  wenigen  Jahr- 
zehnten ist  sie  dem  regelrechten  akademischen  Wissenschaftsbetrieb  eingereiht,  und 
zwar  in  der  Hauptsache  durch  eine  Schule,  die  die  größte  Genauigkeit  und  Voll- 
kommenheit in  den  Außenwerken  und  Präliminarien  damit  bezahlte,  daß  sie  für  die 
höheren  Aufgaben  der  Wissenschaft  blind  war  und  hier  versagte.  Noch  immer 
suchen  wir  tastend  die  Wege  zu  den  wahren  Zielen.  Aber  es  vermindert  gewiß 
nicht  den  Reiz,  den  eine  Wissenschaft  ausübt,  wenn  sie  noch  jung  ist  und  wenn 
ihr  Reich  in  der  Zukunft  liegt.  Möge  sie  denn  kräftig  weiter  waclisen  und  besonders 
die  Jugend  begeistern,  damit  sie  immer  mehr  in  ihre  Aufgaben  hineinwachse  und 
den  großen  Verpflichtungen,  die  ihr  der  Geist  ihrer  Ursprungszeit  auferlegt,  immer 
besser  gerecht  werde! 


326  BEMERKUNGEN. 


Psychoanalyse  und  Kunstphilosophie  0. 

Von 

Otto  Ernst  Hesse. 

Da  durch  den  Aktivismus  das  Verhältnis  des  Künstlers  zur  Kultur  und  allge- 
meiner das  Verhältnis  von  Kunst  und  Kultur  in  eine  neue  Erörterung  gerückt  ist, 
darf  man  dieser  Frage  einmal  gründlicher,  als  es  in  der  Tagesliteratur  möglich  ist, 
nachgehen.  Zeiten  des  18.  Jahrhunderts  scheinen  zurückzukehren,  und  manche 
dieser  Verhandlungen  über  den  Kulturwert  der  Kunst  erinnern  an  die  Jahrzehnte, 
in  denen  die  Ästhetik  A.  O.  Baumgartens  aus  den  Leibniz-Wol  ff  sehen  psycholo- 
gischen Anschauungen  heraus  jene  Frage  brennend  machte.  Die  Aufklärung  be- 
trachtete die  Kunst  als  einen  Weg  zur  Erkenntnis,  faßte  sie  also  als  Mittel  zum 
Zwecke  auf.  Noch  Schiller  entgleiste  sein  großes  Lehrgedicht  »Der  Künstlerc,  das 
ursprünglich  ein  Ruhmeslied  der  Kunst  werden  sollte,  in  diese  Auffassung:  »Nur 
durch  das  Morgentor  des  Schönen  dringst  du  in  der  Erkenntnis  Land«,  und  auch 
seine  Briefe  »Über  die  ästhetische  Erziehung  des  Menschen«  vermochten  den  Zwie- 
spalt zwischen  der  Selbstzwecklichkeit  der  Kunst  und  ihrer  Mittelzwecklichkeit  nicht 
aus  dem  Wege  zu  räumen.  In  Hegels  Rationalismus  wurde  dann  die  Kunst  wieder 
ganz  Magd  der  Philosophie,  bis  der  Künstler  Hebbel  ihr  ihren  Selbstzweck  zurück- 
gab, nicht  nur  in  seinen  polemischen  Aufsätzen,  sondern  viel  mehr  noch  in  den  knappen 
Aufzeichnungen  seiner  Tagebücher.  Hier  wird  das  Problem  auch  zum  ersten  Male, 
man  möchte  sagen  biogenetisch  erkannt,  und  manche  dieser  Bemerkungen  sind  un- 
mittelbare Vorerkenntnisse  der  Psychoanalyse,  die  diese  Frage  neu  angeschnitten  und, 
wenn  auch  bei  weitem  nicht  gelöst,  so  doch  zum  mindesten  geklärt  hat. 

Ohne  eine  Würdigung  der  Vorstöße,  die  diese  jüngste  Wissenschaft,  die  noch 
einen  Kampf  um  ihre  Existenz  führen  muß,  auf  das  Gebiet  der  Kunstpsychologie 
gemacht  hat,  läßt  sich  die  Frage  nach  den  Kulturfunktionen  des  Künstlers  und 
insonderheit  des  Wortkünstlers  nicht  mehr  beantworten.  Keimhaft  findet  sich  diese 
geisteswissenschaftliche  Anwendung  der  psychoanalytischen  Erkenntnisse  in  zwei 
kleinen  Büchern,  in  Otto  Ranks  »Der  Künstler«  (Wien-Leipzig,  1918)  und  Wilhelm 
Stekels  »Dichtung  und  Neurose«  (Wiesbaden,  1909).  Rank,  erhaben  über  jede  Stoff- 
benutzung, leitet  seine  Ansicht  so  von  oben  her  ab,  daß  man  oft  einen  Ärger  unter- 
drücken muß,  um  diesen  z.  T.  gewiß  in  die  richtigen  Tiefen  führenden  Seiten 
gegenüber  vorurteilslos  bleiben  zu  können.  Stekel,  der,  etwas  selbständiger,  von 
Freud  abrückt  und  sehr  geschickt  ein  bedeutsames  Material  aus  Grillparzer  ver- 
wendet, schließt  seine  wohlbegründete  Arbeit  mit  guter  Skepsis.  Beide  von  der- 
selben Seite  kommenden  Forscher  widersprechen  sich  gegensätzlich  in  den  letzten 
Schlußfolgerungen,  die  schließlich  mit  veränderter  Ausdrucksweise  wieder  den  alten 
Zwiespalt  aussagen,  den  Schiller  schon  nicht  hinwegdiskutieren  konnte. 

Infolge  der  biologischen  Entwicklung  des  Menschen  —  so  etwa  stellt  sich  die 
Grundlage  der  Psychoanalyse  dar  —  entstand  aus  der  Urenergie  der  Organismen, 
der  Libido,  im  Menschen  das,  was  wir  Bewußts  in  nennen,  zunächst  als  Schutz- 
waffe gegen  eine  Fülle  von  Trieben,  die  im  Laufe  dieser  Entwicklung  aus  Rücksicht 
auf  die  Umwelt  nicht  mehr  zur  Auswirkung  gelangen  konnten,  Unlust  erregten  und 
auf   einem    Umweg   zu   Lust   umgeformt    werden   mußten.     Denn   der   psychische 


')  Dieser  Aufsatz  ist  entnommen  einer  umfangreichen  druckfertigen  Handschrift, 
die  den  Titel  führt:  »Der  Dichter.   Beiträge  zu  einer  Technik  des  Erlebens.« 


BEMERKUNGEN.  3J0 


Apparat  verdankt,  wie  Rank  ausführt,  »seJne  Ausgestaltung,  die  sich  mit  unbewußter 
Notwendigkeit  vollzog,  lediglich  dem  Streben  nach  Gewinn  von  Lust  und  Verhütung 
von  Unlust,  nach  Abwendung  von  Not,  die  an  den  Menschen  mit  der  höheren 
Kultur,  die  selbst  wieder  einer  Abwehr  unserer  Not  entspringt,  immer  drängender 
herantrat«.  Die  unterdrückten  Triebe  bilden  das  »Unbewußte«  im  Menschen,  sie 
sind  der  Quell,  aus  dem  sich  seine  Vitalität  überhaupt  speist  und  aus  dem  letzten 
Endes  alle  geistige  Höherentwicklung  fließt.  Während  in  vorgeschichtlicher  Zeit  die 
»perversen«  Triebe  —  ursprünglich,  solange  der  Mensch  noch  tierhaft  war,  ganz 
normale  Naturtriebe  —  der  Verdrängung  anheimfielen,  vollzieht  sich  in  der  geschicht- 
lichen Zeit  infolge  der  sozialen  Entwicklungen  die  allmähliche  Verdrängung  oder 
zum  mindesten  Einschränkung  des  Sexualtriebes.  Jene  bilden  hauptsächlich  den 
Verdrängungskomplex,  der  phylogenetisch  in  jedem  Menschen  wirksam  ist;  dieser 
hauptsächlich  den  Komplex,  der  —  ontogenetisch  —  von  jedem  Individuum  in  ver- 
schiedenem Ausmaße,  je  nach  dem  Stärkegrade  seiner  Vitalität,  zu  bewältigen  Ist. 

Die  >Enge  der  Wirklichkeit«,  wie  sie  die  historische  Qesellschaftsentwicklung 
mit  sich  gebracht  hat  —  die  Frage,  ob  als  Ursache  oder  als  Wirkung  der  Ver- 
drängung, die  letzte  Frage,  die  gestellt  werden  könnte,  ist  hier  nicht  zu  beant- 
worten — ,  steht  gegen  die  »Maßlosigkeiten  der  Wunschphantasien«  des  Menschen, 
wie  Stekel  sagt.  Diese  psychoanalytische  Theorie  ist  letzten  Endes  nur  eine  bio- 
genetische Fassung  etwa  der  Fichteschen  Ethik,  wie  sie  in  der  »Sittenlehre«  nieder- 
gelegt ist.  Drei  Wege  nun  sucht  sich  die  Psyche,  um  einen  Ausgleich  herbei- 
zuführen, wenn  man  von  dem  der  direkten  Perversion  absieht.  »Durch  die  Sperr- 
schiffe der  Hemmungen  werden  die  brausenden  Affekte  zurückgehalten.  Sie  bahnen 
sich  falsche  Wege,  das  heißt,  sie  zeitigen  neurotische  Symptome.  Oder  sie  trachten 
auf  dem  Wege  der  künstlerischen  Sublimierung  die  Hemmungen  zu  überwinden«, 
sagt  Stekel ,  indem  er  die  zwei  anormaleren  Umsetzungsmöglichkeiten  namhaft 
macht,  die  dritte,  die  normale,  den  Traum,  nicht  nennt.  Sowohl  Stekel  wie  Rank 
scheiden  den  reinen  Neurotiker  scharf  vom  Künstler,  wenn  sie  auch  die  Ausdrucks- 
weise der  Neurotik  auf  den  Künstler  anwenden.  Jeder  Mensch  besitzt  einen  solchen 
Schatz  verdrängten  Materials,  aber  der  normalere  Mensch  wird  mit  diesem  Material, 
das  sich  stets  als  Wunsch,  als  »Egoismus«,  um  mit  Fichte  zu  reden,  äußert,  durch 
die  Abreaktion  des  Traumes  fertig.  Zwischen  dem  Traum,  der  nur  bei  völligem 
Ausschalten  des  Bewußtseins  zustande  kommt,  und  der  Neurose  liegt  der  Zustand 
des  künstlerischen  Schaffens,  in  dem  infolge  einer  besonderen,  auch  von  der  Psycho- 
analyse noch  nicht  bestimmten  aktiven  Fähigkeit  die  kulturfeindlichen  Triebe  »sub- 
limiert«  werden.  Rank  stellt  diese  drei  Möglichkeiten,  durch  die  das  »Peinliche« 
ausgelöst  werden  kann,  in  einem  Bilde  so  dar:  »Der  Neurotiker  will  gleichsam  das 
Peinliche  verdauen,  der  Künstler  speit  es  aus,  der  Träumer  schwitzt  es  aus«  — 
wobei  er  unbewußt  sehr  gut  die  von  ihm  unerklärt  gebliebene  Aktivität  der  künst- 
lerischen Subliniierungsarbeit  betont.  Während  Rank  nun  die  perversen  Triebe  im 
allgemeinen  unter  Zuschuß  des  verdrängten  sexuellen  Qrundiriebes  als  Ursache  der 
künstlerischen  Bewältigung  ansetzt,  macht  Stekel  vor  allem  einen  besonderen  perversen 
Trieb,  den  zum  Exhibitionieren,  als  grundlegend  geltend.  Nach  ihm  ist  »Dichtung 
psychischer  Exhibitionismus«. 

Auf  diesem  Fundament  versuchen  die  beiden  Psychoanalytiker  nun  weltanschau- 
lich-kulturelle Folgen  aufzubauen.  Wenn  eine  triebmäßige,  sexuell  gestärkte  Über- 
betonung der  Grund  zur  Sublimierung  ist,  so  wird  der  Zweck  der  Sublimierung 
mithin  der,  den  Sublimierenden  von  dieser  Überbetonung  zu  befreien.  Das  künst- 
lerische Schaffen  ist  also,  wie  Stekel  sagt,  »Befreiung  von  überschüssigen  Energien, 
ist  Entlastung  von  drückenden  Hemmungen«,  oder  noch  schärfer  an  anderer  Stelle : 


330 


BEMERKUNGEN. 


»Dichten  ist  eigentlich  ein  Heilungsprozeß  durch  Autoanalyse^.  Die  Befriedigung, 
die  dem  unterdrücicten  Triebleben  von  der  Wirklichkeit  versagt  wurde,  verschafft 
sich  der  Dichter  in  der  »Phantasie«:  »Die  Art  der  Erfüllung«,  führt  Rank  aus,  »hat 
den  gleichen  Effekt  wie  die  ursprüngliche  Befriedigung  der  ungeschwächten  Triebe 
an  den  Objekten,  denn  die  Triebe,  deren  Libidoprämie  herabgesetzt  worden  war, 
hatten  sich  gleichzeitig  den  kulturellen  Widerständen  angepaßt  und  sich  an  ihnen 
zu  ,Wünschen'  abgeschwächt,  so  daß  ihnen  nun  auch  phantasierte  Befriedigungen 
genügten.«  Und  wie  beim  Schaffenden  die  Produktion,  so  bewirkt  beim  Empfangen- 
den und  Genießenden  die  Aufnahme  des  Kunstwerks  diese  Entladung.  »Das  Kunst- 
werk«, sagt  Rank,  die  alte  Katharststheorie  verallgemeinernd,  »bietet  dem  .Un- 
produktiven' die  Möglichkeit,  ohne  bedeutenden  Aufwand  überschüssige  Erregungs- 
summen abzuführen;  denn  die  zur  Aufhebung  der  inneren  Hemmungen  erforderiiche 
psychische  Arbeit  mußte  der  Künstler  für  sich  und  die  Empfangenden  leisten.  Der 
Genießende  imaginiert  sich  dann,  von  der  Form  verlockt,  an  die  Stelle  des  Künstlers 
(Mitschaffen),  was  ihm  leicht  gelingt,  denn  der  Empfänger  liebt  nur  das  Kunstwerk, 
das  die  Erfüllung  seiner  eigenen  Wünsche  widerspiegelt,  das  er  beinahe  selbst 
gemacht  haben  könnte.  Der  Aufwand,  den  er  nun  dazu  macht,  wird  überflüssig 
und  irgendwie  (Lob,  Beifall,  Bewunderung,  Begeisterung)  abgeführt.  Auf  diesem 
mühelosen  Abreagieren  der  ,Affekte'  beruht  der  größte  Teil  der  Lustwirkung  des 
Kunstwerkes,  und  auch  die  Verehrung  für  den  Künstler  stammt  aus  dieser  Quelle.« 
Der  Kunstgenuß  hat  also  ebenso  wie  das  Kunstschaffen  eine  »psychotherapeutische 
Wirkung«,  und  der  Kunst  und  mit  ihr  dem  Künstler  ist  so  eine  ganz  außerordent- 
liche hygienische  Kulturfunktion  zuerkannt. 

Diese  kulturfunktionelle  Ausdeutung  der  Kunst  wächst  sich  bei  beiden  Denkern 
nun  zu  einer  entwicklungsmäßigen  Kulturphilosophie  aus.  Sie  baut  sich  auf  der 
Annahme  auf,  daß,  in  biologischem  Betracht,  der  ganze  Kulturprozeß  als-  eine  zu- 
nehmende Schwächung  des  Individuums  aufgefaßt  werden  muß.  Das  Bewußtsein 
ist  eine  Krankheitserscheinung  des  rein  Körperlichen,  und  je  mehr  Energie  das  Be- 
wußtsein —  die  »Seele«  —  verbraucht,  desto  mehr  Kräfte  werden  dem  Organischen 
entzogen.  Max  Dessoir  hat  schon  lange  vor  der  Psychoanalyse  auf  dieses  Rezi- 
prozitätsverhältnis von  Bewußtsein  und  Körper  hingewiesen  und  gegen  die  Forderung 
der  »Gesundheit«  polemisiert.  »Der  Geist  ist  ein  Schmarotzer  des  Leibes«,  schreibt 
er  in  seiner  »Ästhetik  und  allgemeinen  Kunstwissenschaft«.  »Man  darf  biologisch 
das  Bewußtsein  auffassen  als  eine  allmählich  entstandene  Schädigung  des  belebten 
Körpers,  als  eine  zum  Tode  führende  Krankheit,  von  der  das  reine  Leben  frei  ist, 
und  man  darf  vermuten,  daß  dem  Regenwurm  bereits  der  Hund  als  Gehirn- 
neurastheniker  erscheint.  Ja,  es  muß  ausgesprochen  werden,  daß  wir  nicht  nach 
gleichmäßig  entwickelter  Körper-Oeist-Einheitlichkeit  streben  sollen.  Lediglich  auf 
die  höhere  Entfaltung  des  Geistes  kommt  es  an,  und  diese  ist  mit  körperiichen 
Mehrleistungen  unvereinbar.«  Wir  wissen  heute  sicherer  als  damals,  daß  alles 
geistige  Schaffen  gleichsam  einen  Raub  an  Lebenskraft,  beziehungsweise  einen 
notwendigen  Abfluß  vitaler  Energie  darstellt;  daß  Kultur  ohne  diesen  »Krankheits- 
prozeß« undenkbar  ist,  ja  daß  Kultur  überhaupt  in  diesem  Krankheitsprozeß  besteht. 
»Alle  Dichter  sind  Neurotiker«,  schreibt  Stekel,  »und  die  Neurose,  an  der  sie  kranken, 
ist  immer  wieder  die  Hysterie,  dieses  uralte,  rätselhafte  Leiden,  ohne  das  die 
Menschheit  nicht  die  Höhe  jener  Kultur  erreicht  hätte,  die  uns  heute  selbstverständ- 
lich erscheint,  und  die  doch  das  größte  aller  Wunder  darstellt.«;  Und  an  anderer 
Stelle:  »Es  ist  höchste  Zeit,  daß  das  kindische  Gerede  von  der  ,Entartung'  und 
,Belastung'  einmal  ein  Ende  nimmt!  Die  Dichter  sind  nicht  entartet.  Sie  sind 
neurotisch,   und  die  Neurose  ist  nur  die  Folge  eines  höheren  Kulturiebens.    Die 


BEMERKUNGEN.  331 


I 


Neurose  ist  die  Grundlage  alles  Fortschritts.  Sie  drängt  den  Philosophen  zum 
Grübeln,  den  Erfinder  zur  Lösung  wichtiger  Probleme,  den  Dichter  zur  höchsten 
Leistung.  Die  Neurose  in  diesem  Sinne  ist  eigentlich  die  Blüte  am  Baume  der 
Menschheit.    Ohne  die  Neurotiker  stünden   wir  heute  im  A-B-C  der  Entwicklung.« 

Der  »Hysteriker«  also  ist  der  produktive  geistige  Mensch.  Die  ausgeprägteste 
Form  dieses  produkliven  Menschen  stellt  der  Dichter  dar.  Es  ist  praktisch,  seinen 
Zusammenhang  mit  den  übrigen  Typen  des  produktiven  Menschen  in  einem  Sammel- 
namen zu  betonen.  Max  Dessoir  hat  einen  Terminus  geprägt,  der  zugleich  weit 
und  eng  genug  ist,  das  Gemeinsame,  das  alle  produktiven  Menschen  verbindet, 
festzuhalten.  Er  spricht  vom  »Leistungsmenschen«  im  Gegensatz  zu  einem  »Zeugungs- 
menschen«. »Dieser  Gegensatz«,  führt  er  aus,  »besteht  noch  heute  zu  Recht.  Er 
ist  nicht  notwendigerweise  quantitativ,  so  daß  auf  der  einen  Seite  die  Masse,  auf 
der  anderen  Seite  eine  kleine  Anzahl  sich  befindet,  sondern  vornehmlich  qualitativ. 
Menschen  kommen  auf  die  Welt,  um  sich  und  ihre  Gattung  zu  erhalten;  andere 
werden  geboren,  um  eine  Leistung  zu  vollbringen.  Jene  urteilen  von  diesen,  sie 
seien  närrisch;  diese  meinen  von  jenen,  sie  seien  minderwertig.  Man  mag  beide 
Stellungen  des  Lebens  für  gleichberechtigt  halten,  wenn  man  nur  ihre  gründliche 
Verschiedenheit  zugibt.  Es  ist  eine  Verschiedenheit  im  Sinne  des  konträren  Gegen- 
satzes, d.  h.  es  finden  sich  unzählige  Übergänge  und  Vermischungen.  Aber  bleibt 
nicht  Weiß  und  Schwarz  entgegengesetzt,  obgleich  sie  in  Grau  sich  verschmelzen? 
So  wie  Schwarz  und  Weiß  stehen  sich  Zeugungsmensch  und  Leistungsmensch 
gegenüber;  die  durchhaltende  Richtung  ihres  Lebens,  Ziel  und  Aufgabe  ihres  Da- 
seins weichen  unverkennbar  auseinander.« 

Beide  Typen,  dies  hat  die  Psychoanalyse  erwiesen,  leben  von  derselben  Energie, 
der  Libido,  der  Vitalität.  Nur  nimmt  sie  beim  Leistungsmenschen  Umwege,  ehe  sie 
zur  Leistung  kommt  —  solche  Umwege,  daß  es  Jahrhunderte  gedauert  hat,  bis  die 
Kongruenz  geistiger  und  sexueller  Leistung  erkannt  wurde.  Ein  geradezu  schlagen- 
des Beispiel  bieten  die  Tagebücher  und  Briefe  von  Flaubert,  der  einmal  seine  ganze 
liierarische  Tätigkeit  in  unschamhaftester  Selbsterkenntnis  Onanie  nennt.  Rank 
führt  Aufsätze  von  Wilhelm  von  Humboldt  an,  in  denen  dieser  immer  neue 
Philosoph  das  geistige  Schaffen  mit  der  sexuellen  Kraft  in  Verbmdung  bringt.  »Hier 
ist  der  Ansatz  einer  Kulturpsychologie  großen  Stiles  gegeben«,  schreibt  Giese,  der 
Herausgeber  dieser  psychologischen  Aufsätze  Humboldts,  »und  daß  diese  Kultur- 
psychologie gerade  am  Erotischen  zu  beginnen  scheint,  daß  sich  anderseits  psycho- 
logische Teilbeobachlungen,  wie  die  des  Geschlechtsunterschiedes,  zu  solch  allge- 
meinen Gesellschaftsfaktoren  im  Geiste  Humboldts  ausarbeiteten,  ist  auch  heute 
noch  eine  Anregung,  ja  eine  unerfüllte  Aufgabe.« 

Derartige  teleologische  Überbauten  auf  dem  biogenetischen  Qrundbau  versuchen 
nun  sowohl  Stekel  wie  Rank  aufzuführen.  Ihre  Versuche  widersprechen  sich  polar; 
teleologisch  läßt  sich  eben  nicht  philosophieren,  ohne  ein  endgühiges  Wertsystem 
anzuwenden,  und  bei  einer  Umformung  von  naturgesetzlichen  Erkenntnissen  in 
geistige  Postulate  werden  die  schwachen  Stellen  der  naturwissenschaftlichen  Theorie 
nur  zu  gut  sichtbar.  In  der  Annahme,  daß  die  fortschreitende  Sexualverdrängung 
im  Entwicklungsprozesse  des  Menschengeschlechts  immer  dringender  die  Beherr- 
schung, d.  h.  das  Bewußtwerden  des  Unbewußten  im  Menschen  erfordere,  fordert 
Rank  eine  Überwindung  des  Künstlers,  vor  allem  des  Dichters;  denn  die  Kunst 
dient  nicht  diesem  kuhurellen  Endziel  des  absoluten  Bewußtseins,  »da  sie  selbst 
nur  unbewußt  entsteht  und  auch  nur  unbewußt  wirken,  d.  h.  dem  Volke  den  Fort- 
schritt des  Bewußtseins  nur  indirekt  vermitteln  kann  . . .  Das  Kunstwerk  wird  zwar 
immer  mit  vollerem  Bewußtsein  produziert,  aber  gerade  aus  dem  Grunde  muß  es 


333  BEMERKUNGEN. 


schHeßUch  auf  diesem  Wege  in  Wissenschaft  umschlagen,  die  hinter  die  Triebkräfte 
der  Kunst  selbst  kommen,  die  alles  bewußt  machen  will:  denn  das  richtige  Be- 
wußtsein ist  Wissen  von  unserem  Unbewußtsein.«  Das  ähnelt  bedenklich  der 
Leibniz-Wolffschen  Erkenntnislehre.  Nur  tritt  bei  Rank  an  Stelle  des  Philosophen 
der  Arzt,  der  nun  die  Überwindung  des  Künstlers  darstellt.  An  die  Stelle  des  Ver- 
hältnisses von  Schaffendem  und  Empfangendem  wird  nach  Rank  das  Verhältnis 
von  Arzt  und  Neurotiker  treten  müssen ;  denn  der  Künstler  kann  auf  die  Dauer  für 
die  Gesamtheit  die  Bewußtmachungsarbeit  nicht  leisten.  »Es  muß  jeder  selbst  ein- 
mal seine  psychische  Arbeit  leisten,  wenn  er  wirklich  wissend  werden  will.«  Mit 
Hilfe  des  ärztlichen  Wissens  wird  die  Menschheit  von  ihrer  Oesamthysterie  geheilt. 
>Ist  aber  die  vollkommene  Umwertung  des  Psychischen  geglückt,  das  unzweckmäßig 
verdrängte  Unbewußte  bewußt  geworden,  dann  wird  der  unkünstlerische  Über- 
mensch leicht  und  stark  wie  ein  ,Gott',  mitten  im  Spiel  des  Lebens  stehen  und 
seine  .Triebe'  mit  sicherer  Hand  lenken  und  beherrschen.« 

Es  wäre  leicht,  diese  Utopie  mit  Ironie  zu  zerblättern.  Nichts  liegt  uns  ferner. 
Wir  führten  sie  an,  um  zu  zeigen,  welche  kulturelle  Übergangsfunktion  hier  dem 
Künstler  untergeschoben  wird.  Ganz  anderer  Meinung  ist  Stekel  in  diesen  letzten 
Wertfragen.  Er  nimmt  an,  daß  der  Abgrund,  der  sich  zwischen  den  ethischen,  also 
gesellschaftlichen  Forderungen  und  den  körperlichen  Grundlagen  des  Menschen  im 
Laufe  der  Menschheitsentwicklung  aufgetan  hat,  immer  tiefer  wird.  Damit  aber 
wird  der  Antrieb  zur  künstlerischen  Sublimierung  der  verdrängten  Energien  immer 
stärker  werden.  >Wenn  die  Brücke  auch  geschlagen  werden  sollte,  wenn  die  Wünsche 
nicht  das  Filter  des  Gewissens  passieren  müssen,  ehe  sie  zur  Erfüllung  werden, 
dann  wird  der  letzte  Dichter  gewesen  sein.  Ob  diese  Zeit  je  kommen  wird?  Ich 
glaube  es  nicht.  Eher  wird  sich  die  Kluft  noch  dehnen,  die  den  ethischen  Kultur- 
menschen von  dem  wilden  Urtier  trennt.«  Hier  erhält  die  Kunst  eine  Dauerfunktion; 
sie  wird  gleichsam  zur  Schleuse,  die  diese  sich  immer  mehr  voneinander  entfernenden 
Niveaus  der  Herkunft  des  Menschen  und  der  Zukunft  des  Menschen  zu  steter 
Einheit  reguliert. 

Der  Psychoanalyse  ist  es  ebenso  wenig  wie  allen  früheren  Psychologien  ge- 
lungen, zu  erklären,  warum  dieser  bestimmte  Mensch,  hängend  zwischen  dem 
»Normalen«,  d.  h.  also  zwischen  dem,  der  die  nicht  in  Handlung  und  Muskeltätig- 
keit umgesetzte  Triebenergie  nur  im  Traum  abreagiert,  und  dem  wirklich  patho- 
logischen Neurotiker,  der  nicht  zur  kulturellen  Sublimierung  kommt,  gerade  »Künstler« 
wird.  Ranks  Vorstöße,  das  Rätsel  der  Produktivität  zu  lösen,  sind  nicht  gelungen; 
sie  lösen  das  Problem  der  »produktiven  Phantasie«  nicht,  sondern  schieben  es  nur 
unter  Anwendung  einer  neuen  Ausdrucksweise  weiter  hinaus.  Stekel  gibt  ganz  ein- 
fach zu,  daß  auch  die  Psychoanalyse  da  noch  vor  einem  Geheimnis  steht.  Der 
Arzt,  sagt  er,  merke  bei  seiner  analytischen  Arbeit,  »daß  eigentlich  jeder  Neurotiker 
ein  Dichter  ist,  daß  er  aber  nicht  imstande  ist,  den  Weg  aus  der  Dichtung  ins 
Leben  zurückzufinden.  Und  Dichter  gibt  es  darunter,  die  nie  eine  Zeile  geschrieben 
und  der  Welt  übergeben  haben  und  doch  die  wunderbarsten  Dinge  erzählen  könnten. 
Aber  es  fehlt  ihnen  offenbar  die  Gabe,  all  das,  was  sie  bedrängt,  in  Worte  zu 
fassen  und  sich  wie  ein  Vulkan  durch  Eruption  von  einer  glühenden  Lavamasse  zu 
befreien.  Hier  liegt  das  Rätsel  des  Dichters  verborgen.  Woher  stammt  jene  dunkle 
Kraft,  die  dem  einen  die  Zun^je  löst  und  ihm  ermöglicht,  aus  seinem  Schmerze 
Kunstwerke  zu  schaffen?  Welche  Mischung  von  Verdrängung  und  Selbsterkenntnis, 
von  Erotik  und  Keuschheit,  von  Religion  und  Atheismus,  von  Gehorsam  und  Em- 
pörung muß  vorhanden  sein;  daß  aus  dem  bildenden  ein  schaffender  Mensch 
wird?  Noch  ist  uns  die  tiefste  Erkenntnis  über  diesen  Zusammenhang  verschlossen. 


BEMERKUNGEN.  333 


Uns  dämmern  bloß  einige  Wahrheiten  .  . .«  Wie  Stekel,  so  gesteht  auch  Rank  dem 
Künstler  eine  »gewisse  Aktivität«  zu;  womit  natürlich  nichts  erklärt  ist.  Dasselbe 
gilt,  wenn  Rank  zusammenfassend  sagt:  »Der  Künstler  kann  sich  also  von  den 
peinlifhen  Empfindungen  befreien,  wenn  sie  ihn  bedrängen,  zum  Unterschiede 
vom  Neurotiker,  der  es  nicht  kann,  aber  will,  und  vom  Träumer,  der  es  geschehen 
läßt.  Den  Künstler  unterscheidet  also  nur  ein  eigenartig  abgestimmtes  Verhältnis 
der  psychischen  Kräfte  gegeneinander,  eine  Art  Willenskraft,  vom  Träumer  und  vom 
Neurotiker.«  Daß  solche  Begriffe  wie  »gewisse  Aktivität«  und  »eine  Art  Willens- 
kraft« Ausflüchte  sind,  ist  augenscheinlich.  Sie  zeigen  deutlich,  wo  die  Grenze  liegt, 
bis  zu  der  uns  die  psychoanalytische  Kunsttheorie  etwas  zu  sagen  hat,  und  hinter 
der  ein  anderer  Bezirk  beginnt,  der  von  der  Psychoanalyse  zwar  übersehen  wird, 
der  aber  ebenso  wie  der  biogenetische  seine  eigenen  Gesetze  hat:  der  Bezirk  des 
Teleologischen. 

Das  Dasein  eines  Künstlers  spielt  sich  in  einer  Sphäre  ab,  die  —  mag  sie  noch 
so  sehr  als  prima  causa  den  Trieb  haben  —  doch   im  Laufe  der  kulturellen  Ent- 
wicklung eine  Eigengesetzlichkeit  erhalten  hat.  Schon  das  Gesetz  von  der  Heterogonie 
der  Zwecke   erklärt,    daß   sich   ohne   ursprüngliche   teleologische    Einstellung   ein 
Resultat  ergeben  kann,  auf  das  nicht  gezielt  war.    Rank  scheint  gerade  dem  Fehler 
verfallen  zu  sein,   gegen  den  er  selbst  kämpft:   er  berücksichtigt  nicht,  daß  in  der 
Erklärung  der  psychischen  Vorgänge,  die  wir  künstlerisches  Schaffen  nennen,  wie 
in  aller  psychologischen  Erklärung  eine  Entwicklung   zu  größerer  Bewußtwerdung 
vorliegt,  die  in  Betracht  gezogen  werden  muß.  Der  Künstler  hat  gelernt,  sich  selbst 
zu  beobachten,   er  kennt  die  Beobachtungen  anderer,   und  seine  Selbstanalyse  läßt 
ihn   seine  Aufgabe   und   seine  Arbeit  von  einer  erhöhten  Warte  aus  sehen.    Ein 
moderner  Dichter  schafft  eben  nicht  mehr  nur,  um  seine  überschüssigen  Energien 
zu  sublimieren,   wenn  er  auch,   wie  das  Beispiel  Flaubert  beweist,  eine  Ökonomie 
und  Technik  seiner  Kräfte  sich  ausbildet ;  er  schafft  auch  aus  einer  ethisch-sozialen 
Einstellung  heraus.    Irgendwie  äußert  sich  diese  Einstellung  seit  Lessing  bei  jedem 
Künstler.     Er   fühlt   sich  als  Mitglied  einer  Gemeinschaft,  je   nach  Ausmaß   seines 
Lebensbewußtseins  als  Mitglied  seiner  Gemeinde,  seiner  Klasse,  seiner  Rasse,  seiner 
Nation  oder  der  Humanitas,  fühlt  die  Atmosphäre  der  objektiver  Geist  gewordenen 
Energie  des  Lebens  und  pflegt  seine  Verantwortung  diesem  Objektiven  gegenüber, 
dieser  Welt  der  Werte  gegenüber,  die,  früher  gewiß  einmal  auch  nur  Sublimierung 
subjektiver  Vitalität   (andere  Vitalität   als   die   von   Individuen  gibt  es  nicht),   als 
Historie  und  Menschheitsidee  ein  nun  eigenes  Gesetz  lebt.    Er  betrachtet  sich  als 
Mittel  zu  diesem  überpersönlichen  Zweck,  getreu  jenem  Worte  Flauberts:  *Vhomme 
n'est  rien,  l'oeuvre  est  toiiU,    und    fühlt    die    subjektive    Befreiung,    die    ihm    das 
Werk  gewährt,  als  etwas  Untergeordnetes.    Er  weiß,  daß  das  Wort  für  seine  Leser 
Ersatz  des  Lebens  ist;  er  weiß  aber  auch,  daß  er  mit  seinem  Werke  eine  Wirkungs- 
ursache setzt,  die  nicht  wieder  auszulöschen  ist,  eine  prima  causa,  die  in  die  Jahr- 
hunderte, ja  Jahrtausende  hinein  fortwirkt  und  fortzeugt,  menschlich-ewige  Tat,  aus 
der  sich  Segen,  Fluch,  Kampf,  Mord,   Freude,   Friede  —  aus  der  sich  Chaos  oder 
Kosmos   der  Welt  gebären  kann.     Diese   Besinnung  hat  den   Aktivismus   auf  die 
Beine  gebracht.    Er  ist  nichts  anderes  als  die  Mahnung :  durch  Wortwerke  zu  nichts 
Unmenschlichem  in  der  Welt  den  Anstoß  zu  geben.    Diese  Aktivisten  spüren  in 
sich,  was  Christian  Morgenstern  einmal  so  formuliert  hat:   »Wenn  ein  Schriftsteller 
sich  jederzeit  der  Macht  bewußt  wäre,  die  in  seine  Hand  gegeben  ist,  würde  ein 
ungeheures  Verantwortlichkeitsgefühl   ihn  eher  lähmen    als   beflügeln.     Auch  das 
Bescheidenste,  was  er  veröffentlicht,  ist  Same,  den  er  streut,  und  der  in  anderen 
Seelen  aufgeht,  je  nach  seiner  Art.« 


334  BEMERKUNGEN. 

Es  ist  nicht  nur  eine  sozusagen  organische  Feinheit,  die  den  Künstler  vom 
Neurotiiter  scheidet,  sondern  es  ist  diese  Geistigkeit,  diese  Weite  seines  Kultur- 
bewußtseins, die  ihm  ermöglicht,  seine  überschüssigen  Energien  in  Werke  umzu« 
setzen  —  was  selbstverständlich  ebensowenig  eine  »Erklärung«  der  künstlerischen 
Veranlagung  ist  wie  die  Theorie  der  Psychoanalytiker.  Der  Dichter  fügt  sich  dem 
gewaltigen  Verbewußtheitungsprozeß,  den  wir  Kultur  nennen,  freiwillig  ein.  Er 
wächst  über  den  subjektiven  Genuß  an  der  Entspannung  seiner  Energien  hinaus 
zur  Erkenntnis  seiner  objektiven  Funktion,  im  letzten  und  erhabensten  Falle  des 
Genies  zur  Erkenntnis  seiner  menschlichen  und  menschheitlichen  Mission.  Er 
schwebt  zwischen  seiner  biogenetischen  Bedingtheit  und  dieser  teleologischen  Frei- 
heit, die  kein  Spiel  erlaubt.  Ein  besonders  glückhaffes,  begnadetes  Verhältnis  von 
Vitalitätsüberladung  und  dieser  teleologischen  Einordnung,  geheimnisvoll,  rätselhaft 
in  der  Fruchtbarkeit  seiner  Polarität:  das  macht  den  Dichter.  Nur  ganz  selten  wird 
diese  glückhafte  Balance  des  Genies  erreicht,  und  auch  dem  Genie  ist  nur  in  ganz 
seltenen  Stunden  diese  Sicherheit,  aus  der  die  ganz  großen  Werke  der  Kunst  hervor- 
gehen, die  gleicherweise  beiden  Sphären  angehören,  beschieden.  Das  macht  ja 
letzten  Endes  auch  alle  »Tendenzwerke«  unkünstlerisch,  d.  h.  nimmt  ihnen  die 
Suggestivkraft  zur  Abreaktion  beim  Aufnehmenden,  daß  diese  Balance  fehlt,  daß  in 
ihnen  Ethiker,  also  Antikünstler,  aus  dem  Verstände  heraus  die  Technik  des  Sub- 
limierungsvorganges  benutzen,  ohne  daß  sie  biologisch,  d.  h.  von  dem  Überschusse 
ihrer  Vitalität  zu  ihrem  Werke  gezwungen  waren.  Die  vitale  Zwangslage  ist  ebenso 
wichtig  wie  das  kulturelle  Zweckwollen;  aber  auch:  das  kulturelle  Zweckwollen  ist 
ebenso  wichtig  wie  der  vitale  Zwang  zum  Schaffen. 

Es  liegt  an  der  relativ  niedrigen  Stufe  des  Bewußtseins,  die  wir  erst  von  den 
Vorgängen  beim  künstlerischen  Schaffen  haben,  daß  die  Künstler  selbst  noch  wenig 
von  der  subjektiven  Entladungsfunktion  der  Kunst  zu  sagen  wissen.  Immerhin  fällt 
es  leicht,  von  Künstlern,  die  die  Selbstanalyse  liebten,  schlagende  Worte  anzuführen. 
Goethe  kommt  in  Betracht,  ebenso  Hebbel,  an  dessen  Satz  über  Shakespeare  er- 
innert sei.  Hier  seien  einige  weniger  bekannte  Zitate  angeführt.  In  aller  Kraßheit 
schreibt  Flaubert:  »Bewahre  deinen  Peniskrampf  für  den  Stil.«  Ebenso  scharf 
formuliert  Nietzsche:  »Keuschheit  ist  bloß  die  Ökonomie  eines  Künstlers.  Es  ist  ein 
und  dieselbe  Kraft,  die  man  in  der  Kunstkonzeption  uud  die  man  im  geschlecht- 
lichen Aktus  ausgibt«  (Fragment  zur  Physiologie  der  Kunst).  Beide  haben  für  ihr 
Leben  die  Konsequenz  aus  diesen  Erkenntnissen  erzogen;  wie  sich  solche  Erkennt- 
nisse überhaupt  bereits  zu  einer  Art  Technik  des  Erlebens  umzuformen  beginnen. 

In  viel  größerem  Maße  und  mit  bedeutend  größerer  Sicherheit  haben  die 
Dichter  die  objektive  Funktion  des  Künstlers  festgestellt.  Allerdings  ist  da  kaum 
eine  Einheit  der  Meinungen  vorhanden,  und  man  muß  wieder  zum  Schema  der 
Polarität  greifen,  um  das  Einheitliche  der  beiden  auseinandergehenden  Ansichten 
zu  umfassen.  Wir  glauben  nicht  fehl  zu  gehen,  wenn  wir  zwei  Hauptmeinungen 
ansetzen  und  zwei  Haupttypen  der  kulturellen  Einstellung  des  Dichters  annehmen. 
Wir  nennen  sie  die  Typen  des  statifizierenden  und  des  dynamisierenden 
Dichters. 

Zweierlei  Kulturarbeit  leistet  der  Dichter  mit  seinem  Werke :  eine  Bewahrungs- 
arbeit und  eine  Kulturpionierarbeit.  Der  dauernde  gereizte  Kampf,  der  zwischen 
den  Anhängern  der  beiden  Leistungsformen  geführt  wird ,  nimmt  meistens  die 
Wendung,  daß  bald  die  eine,  bald  die  andere  als  die  »einzig  wahre«  Form  der 
Kunst  ausgeschrien  wird.  In  Wirklichkeit  haben  beide  Formen  ihren  Wert  und 
sind  unlöslich  miteinander  verbunden,  ja  die  einzelnen  Persönlichkeilen,  von  denen 
gewiß  einige  mehr  zu  der  einen,  andere  mehr  zu  der  andern  Form  neigen,  machen 


BEMERKUNGEN.  335 


fast  sämtlich  in  der  Entwicklung  ihrer  Individualität  eine  Entwicklung  von  der  einen 
Form  zur  anderen  durch.  »Wie  in  der  Menschheit«,  sagt  Wilhelm  Bode  gelegentlich 
Goethe,  »so  liegt  auch  in  jedem  einzelnen  Menschen  beides:  die  Anerkennung  des 
Wirklichen  und  die  Sehnsucht  nach  der  vorgestellten  höheren  Welt  .  .  .  Wir  alle 
denken  uns  aus,  wie  Menschen  und  Dinge  eigentlich  sein  sollten ;  der  Künstler  aber 
steht  beständig  vor  der  Frage,  ob  er  das  Wirkliche  nachbilden  soll  oder  dessen 
Erhöhung.«  Setzt  man  für  »Erhöhung«  etwa  den  Begriff  Problematisierung,  so  wird 
noch  klarer,  worauf  wir  hinauswollen. 

>Es  ist  die  Aufgabe  der  Kunst,«  definiert  Leo  Tolstoi,  »die  höchsten  und 
wertvollsten  Gefühle  der  Menschenseele  zu  überliefern.«  Der  Dichter  ist  also  der 
Historiker  der  Menschheit;  der  wirkliche  Historiker,  der  nicht  die  Historie  von  un- 
sinnigen Mordtaten  und  Wirtschaftsverschiebungen ,  sondern  die  Geschichte  der 
Menschenseele  niederschreibt.  Für  die  Lyrik  hat  Hebbel  einmal  die  gleiche  historische 
Aufgabe  gestellt:  »Die  lyrische  Poesie  soll  das  Menschenherz  seiner  schönsten, 
edelsten  und  erhabensten  Gefühle  teilhaftig  machen.«  Die  Lyrik  ist  also  zugleich 
auch,  paradox  gesagt,  Epik.  Alle  Kunst  ist  Epos:  das  Epos  der  Menschheitsent- 
wicklung, das  sich  gleichsam  automalisch  schreibt.  Doch  geht  diese  Entwicklung 
in  einem  Schema  vor  sich,  die  den  Einzelnen  immer  gegen  das  beharrende  Ganze 
stellt.  Und  so  tritt  auch  die  große  lyrische  Persönlichkeit  mit  ihrem  feineren  und 
differenzierteren  Fühlen  immer  zunächst  gegen  das  Allgemeingefühl  auf,  bis  sich 
schließlich  ihr  neues  Erlebnis  zum  Allgemeinerlebnis  erweitert.  Sie  ist  so  Entdecker, 
Pfadfinder  im  weiten  Land  der  Seele;  sie  stellt  immer  wieder  an  den  Leser  oder 
Hörer  die  Frage:  hast  du  das  auch  schon  erlebt?  und  steigert,  vertieft,  erweitert 
und  verfeinert  die  Erlebnisfähigkeit.  Geibel  hat  beide  Funktionen  sehr  gut  in  einem 
Doppeldistichon  zusammengefaßt: 

»Das  ist  des  Lyrikers  Kunst,  aussprechen,  was  allen  gemein  ist, 
wie  er's  im  tiefsten  Gemüt  neu  und  besonders  erschuf; 

oder  dem  Eigensten  auch  solch  allverständlich  Gepräge 
leihn,  daß  jeglicher  drin  staunend  sich  selber  erkennt.« 
Der  Problematiker  Hebbel  hat  der  »Poesie«  im  allgemeinen  eine  dynamisierende 
Funktion  zuerkannt.  »Das  Problematische  ist  der  Lebensodem  der  Poesie  und  ihre 
einzige  Quelle;  alles  Abgemachte,  Fertige,  still  in  sich  Ruhende  ist  für  sie  nicht 
vorhanden  .  . .  Nur  wo  das  Leben  sich  bricht,  wo  die  inneren  Verhältnisse  sich 
verwirren,  hat  die  Poesie  eine  Aufgabe,«  und  an  anderer  Stelle:  »Steigerung  ist  die 
Lebensform  der  Kunst.«  Egon  Friedell  hat  sich  mit  beiden  Funktionen  in  seinem 
hochbedeuisamen  Buche  'Ecce  poetw^  auseinandergesetzt.  »Der  Dichter  ist  dazu 
da,«  schreibt  er,  »das  Problem  des  Daseins  in  allen  seinen  Teilen  komplizierter, 
widerspruchsvoller  und  unlöslicher  zu  gestalten.«  Doch  an  anderer  Stelle:  »Bisher 
war  der  Dichter  ein  Mensch,  der  die  Wirklichkeit  so  lange  zurechtbiegt,  zurechtlügt, 
bis  sie  ästhetisch  wirkt.  Er  hielt  es  für  seine  Aufgabe,  die  , Defekte'  der  Realität 
zu  korrigieren.  Aber  der  Defekt  war  im  Betrachter.  Die  ganze  bisherige  Ästhetik 
ist  ein  Irrtum,«  und,  für  den  objektiven  Epiker  im  Sinne  Flauberts  kämpfend:  »Der 
Dichter  ist  seiner  Zeit  wertvoll  als  Photogramm,  für  ihr  gegenwärtiges  und  zu- 
künftiges Leben  . . .  Der  richtige  Epiker  ist  identisch  mit  der  Natur,  die  ebenfalls 
ohne  Pathos  vernichtet.  Er  ist  eine  geheimnisvolle  Kraft,  die  fremd  über  dem  Leben 
thront,  es  kalt  schildert:  ein  klarer,  glatter,  glänzender  Spiegel,  der  die  Dinge  auf- 
fängt; während  andere  Dichter  an  ihren  Geschöpfen  aufs  tiefste  leiden.  Sein  Herz 
bleibt  unbewegt,  ergreift  niemals  Partei:  das  eben  macht  sein  Genie  aus.«  Dieser 
objektive  Epiker  ist  ein  Ideal,  zu  dem  sich  Flaubert  zu  züchten  suchte.  Vor  ihm 
hat  wohl  nur  Shakespeare,  scheinbar,  diese  Objektivität  erreicht  —  diese  Objektivität, 


336  BEMERKUNGEN. 

die  den  Haß  derer  beschwört,  die  dem  Dichter  durchaus  nur  die  dynamisierende 
Funktion  zueri<ennen  wollen.  Etwa  den  Haß  des  Aktivisten  Hiller,  der  über  Shake- 
speares Objektivität  schrieb:  »Unser  großer  Unmöglicher,  Ungeist  (mit  Oeistein- 
sprengsein),  theaterzaubernder  Quietist,  Prototyp  des  Tendenzlosen:  Shakespeare. 
Er  beschrieb  mit  michelangelesker  Wucht,  das  ist  wahr,  aber ...  er  beschrieb.  Ein 
Ungeheuer  an  Kraft,  ein  gewaltiger  Schöpfersmann,  hieb  er  die  Welt  hin,  schuf  sie 
noch  einmal  —  aber  schuf  sie  nicht  neu.  Tolstoi  hatte  recht,  ihn  unsittlich  zu 
nennen.  Denn  Wiederholen  ist  unnütz,  kindisch,  im  titanischen  Fall  ruchlos;  es 
kommt  auf  Ändern  an.«  Abgesehen  davon,  daß  Hiller  Shakespeare  wohl  zu  wenig 
kennt,  da  er  nicht  zu  wissen  scheint,  daß  dieser  »Quietist«  in  »theaterzaubernden 
Stücken«  wie  »Maß  für  Maß«  und  anderen  recht  sehr  auf  eine  Änderung  der  Welt 
hinaus  ist  (wenn  auch  nicht  mit  suggestionsloser  Tendenz),  so  ist  es  interessant, 
diese  Meinung  von  1918  —  Meinung  einer  ganzen  Generation!  —  noch  einer  anderen 
Stelle  aus  Fridells  »Ecce  poeto"  gegenüberzustellen,  um  die  polaren  Einstellungen 
zweier,  nur  durch  wenige  Jahre  getrennten  Generationen  herauszuarbeiten.  Es  heißt 
da:  »Der  äußerste  Gegensatz  der  Genialität  ist  die  Subjektivität.  Je  subjektiver  ein 
Mensch  in  die  Welt  blickt,  desto  weniger  kann  er  Genie,  das  heißt  Weltauge  sein. 
Je  unpersönlicher  er  ist,  je  mehr  er  sich  in  allem  und  jedem  zu  objektivieren  vermag, 
je  mehr  er  allen  Dingen  und  Ereignissen  gegenüber  nichts  zu  sein  strebt  als  photo- 
graphische Platte,  desto  genialer  ist  er,  desto  mehr  ist  er  Künstler.«  In  aller  Kraß- 
heit stehen  sich  in  den  beiden  Zitaten  die  Extreme  gegenüber,  die  Extreme  von 
Idealismus  und  Realismus,  von  Expressionismus  und  Impressionismus,  von  Aktivis- 
mus und  Objektivismus  oder,  wie  wir  allgemeiner,  um  alle  diese  Polaritäten  in  eine 
formal  weit  genug  gefaßte  Antithese  zu  bringen,  sagten:  Die  Extreme  der  dynami- 
sierenden und  der  statifizierenden  Funktion  der  Kunst. 

Probleme  zu  Ende  denken,  heißt  immer  wieder,  Antinomien  feststellen  und  von 
ihnen,  vor  denen  die  Begriffe  von  »richtig«  und  »falsch«  sinnlos  werden,  halt  zu 
machen.  Nur  Flachköpfigkeit  glaubt,  Probleme  »lösen«  zu  können.  Dieses  Problem 
der  Kulturfunktion  der  Kunst,  das  sich  bis  zum  Entweder-oder  zuspitzen  kann: 
Kunst  oder  Kultur?  ist  viel  zu  kompliziert,  als  daß  man  mehr  erreichen  könnte,  als 
es  zu  umschreiben.  Das  Genie  wird  immer  wissen,  wo  seine  Kraft  liegt.  Es  wird 
diese  Frage:  Kunst  oder  Kultur?  zu  beantworten  wissen;  denn  in  ihm  fallen  beide 
zusammen,  fällt  der  vitale  Zwang  mit  dem  teleologischen  Wirkungswillen  zusammen. 
Subjektive  und  objektive  Kulturfunktion  sind  in  seinem  Schaffen  eine  Einheit;  und 
deshalb  vermag  es  auch  die  anderen  zu  erlösen. 


Besprechungen. 


Natur  und  Oeisteswelt.    Verlag  von  B.  O.  Teubner  in  Leipzig. 

Leser  dieser  Zeitsciirift,  die  nicht  Facliphiiosophen  sind,  fragen  mich  öfter  nach 
kurzen  Darstellungen  wichtiger  philosophischer  Gebiete,  da  sie  gerade  im  Zusanimen- 
hang  mit  ästhetischen  Arbeiten  das  Bedürfnis  empfinden,  sich  über  Philosophie  be- 
lehren zu  lassen.  Ich  empfehle  dann  gern,  außer  Meiners  »Philosophischer  Biblio- 
thek«, die  Bändchen,  die  bei  Göschen,  Quelle  und  Meyer  und  Teubner  erschienen 
sind.  Vielleicht  ist  es  auch  anderen  Lesern  erwünscht,  zunächst  einmal  über  die 
von  Teubner  veröffentlichten  kleinen  Bücher  etwas  zu  erfahren. 

Eine  allgemeine  Auseinandersetzung  über  Wesen  und  Grundfragen  der  Philo- 
sophie enthält  Bd.  186,  verfaßt  von  Hans  Richert,  ehemals  Oberrealschuldirektor 
in  Posen.  Hierin  findet  sich  auch  ein  Abschnitt  über  Ästhetik.  Er  zeigt  dieselben 
Merkmale  wie  das  Ganze:  er  bringt  nichts  geradezu  Falsches,  aber  auch  nirgends 
wirkliche  Aufklärung,  er  ruht  weder  auf  einer  zureichenden  Kenntnis  des  gegen- 
wärtigen Standes  unserer  Wissenschaft  noch  auf  einer  selbständigen  Anschauung 
von  den  Problemen.  Ich  finde  das  Buch  unbedeutend.  —  Eine  beträchtliche  Höhe 
dagegen  erreicht  Edvard  Lehmanns  Beitrag  zur  Sammlung  Teubner:  Mystik 
im  Heidentum  und  Christentum«  (Bd.  217).  Da  Lehmann  höchst  lebendig,  manch- 
mal fast  burschikos  schreibt,  so  wird  man  von  seiner  Darstellung  ebenso  wie  vom 
Stoff  gefesselt,  und  dabei  steht  er  zu  seinem  Gegenstand  nicht  eben  freundschaft- 
lich. Er  rühmt  als  der  Mystik  Tat  nur  dies,  daß  sie  das  Kommen  eines  Tages  an- 
kündigt, und  warnt  vor  ihr,  weil  sie  gar  leicht  ein  Abenddunkel  werden  kann,  das 
sich  als  undurchdringliches  Zwielicht  um  die  Seelen  legt«.  Gestalten  der  primitiven, 
der  indischen,  der  persischen  Mystik  ziehen  an  unseren  Augen  vorüber.  Dann  be- 
schäftigen wir  uns  mit  Plato  (der  die  Mystik  der  Persönlichkeit  an  Stelle  der  Natur- 
niystik  gesetzt  habe)  und  mit  Christus  (der  nicht  Askese,  Ekstase,  Intuition  gefor- 
dert, nicht  Vereinigung,  sondern  Gemeinschaft  mit  Gott  gelehrt  habe).  Gut  wird 
nun  gezeigt,  wie  Plato  bei  Philo  und  Clemens  und  namentlich  beim  Areopagiten 
nachwirkt.  Scharfe  Worte  fallen  gegen  Meister  Eckhart  und  gegen  den  mittelalter- 
lichen Realismus.  Von  Luther  ab  wird  die  Schilderung  kürzer  und  hört  im  Grunde 
schon  mit  den  Quietisten  auf.  —  Gehen  wir  zu  allgemeineren  philosophiegeschicht- 
lichen Versuchen  über,  so  stoßen  wir  auf  eine  schon  in  vierzigtausend  Stücken  ver- 
breitete Schrift  von  Ludwig  Busse:  »Die  Weltanschauungen  der  großen  Philo- 
sophen der  Neuzeit«  (Bd.  56).  Weshalb  sie  so  beliebt  ist?  Weil  sie  auf  dem  Grunde 
herkömmlicher  Voraussetzungen  die  klassisch  gewordenen  Systeme  faßlich  und 
nüchtern  darstellt.  Ein  Schulbuch,  allen  Prüflingen  wohl  zu  empfehlen.  —  Selb- 
ständiger und  lebensvoller  ist  die  geschichtliche  Einleitung  in  die  Philosophie  von 
Jonas  Cohn,  betitelt  »Führende  Denker«  (Bd.  176).  Vor  allen  Dingen  besitzt 
der  Verfasser  die  Gabe,  sich  in  die  Stimmung  des  noch  nicht  unterrichteten,  aber 
geistig  reifen  Lesers  hineinzufühlen,  und  er  hat  den  Mut  zur  Unvollständigkeit 
(der  sich  gelegentlich  auch  in  einen  Mut  zur  Unrichtigkeit  verwandeh);  außerdem 
steht  er  — -  naturgemäß  —  dem  philosophischen  Fühlen  der  Gegenwart   näher  als 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  Mg  Kunstwissenschaft.    XV.  22 


338  BESPRECHUNGEN. 


der  bereits  1907  verstorbene  Busse.  Somit  wäre  es  erwünscht,  wenn  das  Büchlein 
Ton  der  jetzt  erreichten  dritten  Auflage  bald  zu  der  sechsten  gelangte,  die  der  Busse- 
schen Schrift  vergönnt  gewesen  ist.  —  Weiterhin  nenne  ich  zwei  tüchtige  Arbeiten 
jüngerer  Gelehrter.  JohannesM.  Verwe'yen  hat  eine  »Naturphilosophie«  (Bd.  491) 
geschrieben,  in  der  Probleme  und  Bestrebungen  neuerer  (allerdings  nicht  neuester) 
Forschung  übersichtlich  behandelt  werden.  Von  Kurt  Joachim  Grau  stammt 
ein  »Grundriß  der  Logik«  (Bd.  637),  der  bei  dem  Mangel  an  kurzen  Lehrbüchern  der 
Logik  des  Erfolges  sicher,  aber  auch  an  sich  betrachtet  des  Erfolges  würdig  ist. 
Leider  fehlen  die  Ergebnisse  der  Untersuchungen  von  Brentano  und  Lask  sowie  die 
der  symbolischen  Logik;  wenn  es  zu  schwer  war,  sie  hineinzuarbeiten  —  obwohl 
es  möglich  gewesen  wäre  — ,  so  hätten  sie  wenigstens  in  einem  besonderen  Ab- 
schnitt über  die  Reform  der  schulmäßigen  Logik  mitgeteilt  werden  sollen.  —  Oft  und 
meist  gut  ist  die  Psychologie  in  der  Schriftenreihe  vertreten.  Ernst  von  Aster 
gibt  eine  philosophisch  unterlegte,  unparteiische,  sachkundige  »Einführung  in  die 
Psychologie«  (Bd.  492),  während  Braunshausen  (Bd.  484)  sich  auf  die  experi- 
mentelle Psychologie  beschränkt,  hierbei  jedoch  viel  zu  sehr  auf  willkürlich  heraus- 
gegriffene Einzelheiten  eingeht.  Kreibigs  nicht  üble  Abhandlung  über  die  Sinne 
des  Menschens  (Bd.  27)  bedarf  mehrfach  einer  Überprüfung,  Verworns  »Mechanik 
des  Geisteslebens«  (Bd.  200)  ist  im  Grunde  eine  Physiologie  des  Zentralnerven- 
systems, dargeboten  unter  voller  Beherrschung  des  Tatsachenstoffs  (weshalb  aber 
fehlen  die  Vogtschen  Forschungen?)  und  in  klarer  Anordnung.  Ein  Doppelband 
(213/714)  ist  der  Psychologie  des  Kindes  gewidmet.  Der  Verfasser,  Robert  Gaupp, 
hat  sich  den  auf  diesem  Gebiet  führenden  Männern  —  auch  in  bezug  auf  Phantasie, 
Spiel  und  Kunst  des  Kindes  —  angeschlossen  und  aus  Eigenem  allerhand  Nützliches 
beigesteuert.  Zum  Schluß  erwähne  ich  das  brauchbare  Heft  Trömners  über 
Hypnotismus  und  Suggestion  (Bd.  199)  und  die  rühmenswerte  Bemühung  Baer- 
walds  (Bd.  560),  Licht  zu  tragen  in  das  dunkle  Gebiet  des  Okkultismus,  des  Spiri- 
tismus und  der  unterbewußten  Seelenzustände.  —  Im  ganzen  also  kann  ich  unseren 
Lesern  raten,  für  philosophische  und  psychologische  Belehrung  sich  der  Teubner- 
schen  Sammlung  anzuvertrauen. 

Berlin.  Max  Dessoir. 

Walter  Gurt  Behrendt,  Der  Kampf  um  den  Stil  im  Kunstgewerbe 
und  in  der  Architektur.  Deutsche  Verlagsanstalt,  Stuttgart  und  Berlin 
1920.    Mit  29  Abbildungen.    276  S. 

Die  von  Lamprecht  und  Helmolt  begründete  Sammlung  »Das  Weltbild  der 
Gegenwart«  hat  uns  bereits  »die  bildende  Kunst  der  Gegenwart«  von  Wilhelm 
Hausenstein  beschert  und  die  »Weltliteratur  im  20.  Jahrhundert«  von  R.  M.  Meyer. 
Nun  folgt  nach  längerer  Pause  das  Buch  von  Behrendt.  Zu  dem  etwas  plakat- 
mäßig aufgedonnerten  Titel  steht  in  wohltuendem  Gegensatz  der  vortreffliche  In- 
halt. Nüchterne  Klarheit  und  phrasenlose  Sachlichkeit  zeichnen  alle  Ausführungen 
Behrendts  aus;  in  den  Werturteilen  bewähren  sich  ruhige  Besonnenheit  und  kennt- 
nisreiche Umsicht.  Man  merkt  die  strenge  und  straffe  Schulung  Karl  Schefflers,  zu 
dessen  Hauptmitarbeitern  an  »Kunst  und  Künstler«  Behrendt  zählt.  Nur  erreicht 
er  nicht  die  unerschrockene  Gedankenkühnheit  und  damit  Originalität  Schefflers, 
sowie  den  lebensvollen  Adel  seiner  Sprache.  Dafür  ist  er  auch  vor  Entgleisungen 
geschützt,  bewahrt  stets  anständiges  Niveau:  niemals  letzte  Tiefen  aufspürend,  bis- 
weilen geschickt  eklektisch,  an  keiner  Stelle  platt  und  trivial. 

Behrendt  geht  von  der  Überzeugung  aus,  daß  die  Voraussetzungen  für  die  Ent- 
stehung eines  Kunststils  erst  erfüllt   sind,  wenn   sich   im  Schöße  einer  gefestigten 


I 


BESPRECHUNGEN.  339 

Gesellschaft  ein  herrschender  Lebensstil  herausgebildet  hat.  Mehr  noch  als  Malerei 
und  Plastik,  die  der  persönlichen  Freiheit  des  Künstlers  weitere  Grenzen  gewähren, 
ist  die  Baukunst,  deren  Schicksal  zur  Hälfte  immer  eine  Bauherrnfrage  ist,  und  das 
ihr  dienstbare  Kunstgewerbe,  dessen  Meisterschaft  zum  guten  Teile  auf  handwerk- 
lichen Traditionen  beruht,  von  der  Wirksamkeit  solcher  sozialen  Bedingungen  ab- 
hängig. Die  moderne  kunstgewerbliche  Bewegung  ist  durchaus  nicht  rein  künstle- 
rischen Ursprungs.  Der  Wille  zum  Stil  ist  auch  hier  nicht  einem  starken,  ursprüng- 
lich schöpferischen  Formentrieb  entsprungen,  der  nach  Betätigung  und  Entfaltung 
drängte.  Tiefgründige  pädagogische  und  moralische  Überlegungen  wirkten  mit. 
Die  Bewegung  entstand  auf  intellektuellem  Wege,  gefördert  durch  eine  energische 
Tat  menschlichen  Willens.  Aufs  engste  verknüpft  mit  den  geistigen  Tendenzen 
ihrer  Zeit,  stellt  sie  eine  neue  Phase  jener  angestrengten  Versuche  dar,  die  das 
IQ.  Jahrhundert  um  die  Gewinnung  einer  künstlerischen  Oesamtkultur  unternommen 
hat.  In  den  auf  die  Überwindung  des  Impressionismus  gerichteten  Kunstströmungen 
hat  man  die  Quelle  der  modernen  kunstgewerblichen  Bewegung  zu  suchen.  Zu 
derselben  Zeit  etwa,  als  sich  in  der  Malerei  die  natürliche  Reaktion  auf  den  Im- 
pressionismus bemerkbar  machte,  als  man  in  der  Differenzierung  und  Auflösung 
der  Form  die  letzte  Stufe  erreicht  hatte  und  sich  aufs  neue  nach  rhythmisch-orna- 
mentaler Gebundenheit  zurücksehnte,  begann  auf  dem  Kontinent  das  moderne  eng- 
lische Kunstgewerbe  bekannt  zu  werden. 

In  zwei  Teilen  baut  Behrendt  sein  Buch  auf.  Der  erste  behandelt  das  Kunst- 
gewerbe, der  zweite  ist  der  Architektur  gewidmet.  Die  Einleitung  bespricht  die 
allgemeine  geistige  und  wirtschaftliche  Konstellation.  Der  kunstgewerbliche  Ab- 
schnitt skizziert  zuerst  den  Entwicklungsgang  der  Kunst  im  19.  Jahrhundert;  be- 
ginnend mit  dem  Schönheitsbegriff  des  Klassizismus  und  ausklingend  in  den  Be- 
mühungen um  einen  neuen  Stil.  Das  zweite  Kapitel  dieses  Teiles  sucht  die  »neue 
Gesinnung«  aufzuweisen  und  verweilt  besonders  eingehend  beim  »Beispiel«  Eng- 
lands und  Belgiens.  Der  neuen  Form  gilt  das  dritte  Kapitel.  Das  vierte  schildert 
die  Reaktion  durch  Rückkehr  zum  Klassizismus  und  Biedermeier,  durch  Zurück- 
drängung des  bildenden  von  dem  dekorativen  Formprinzip.  ^Das  Kunstgewerbe 
als  Ware«  nennt  sich  das  nächste  Kapitel,  das  sehr  interessant  den  Werkbund- 
gedanken erörtert,  das  Qualitätsideal,  den  Massenabsatz  usw.  Abschließend  werden 
die  einzelnen  Leistungen  gewürdigt:  Buchkunst,  Plakat,  Gewebe,  Keramik,  Porzellan, 
Glas,  Schmuck,  Möbel.  Der  Architekturteil  nimmt  seinen  Ausgangspunkt  von  der 
Alleinherrschaft  des  Renaissanceideals  in  der  modernen  Baukunst  und  erblickt  in  der 
Abkehr  von  ihm  die  Grundbedingung  für  einen  neuen  Baustil.  Der  Reihe  nach  werden 
uns  dann  die  Probleme  der  bürgerlichen  und  öffentlichen  Baukunst  vorgeführt,  die 
Bauten  des  Welthandels  und  des  Weltverkehrs,  sowie  die  städtischen  Bauaufgaben. 

VermilU   habe   ich   tiefer  dringende   Einzelanalysen    besonders  ausgezeichneter 

Werke;  der  Verfasser  bleibt  zu  sehr  im  allgemeinen;  aber  in  der  Kunst  entscheidet 

letztlich   das  Individuelle.     Und   diese   Höhepunkte  fehlen   seiner  Arbeit.    Es   wäre 

sehr  dankenswert,  wenn  eine  zweite  .\uflage  diese  Lücke  beheben  würde. 

Rostock. 

Emil  Utitz. 

Otto  Qrautoff,   Fornizertrünimerung  und  Formaufbau   in  der  bilden- 
den Kunst.    Berlin,  E.  Wasmuth,  1919.    86  S.  u.  32  Abb. 
Der  Verfasser  nennt  seine  Arbeit  selber  einen  Versuch.   Dort,  wo  es  sich  darum 
handelt,  die   bunte  Vielheit  des  in   einem   besonderen  Grad   an   die  Persönlichkeit 
gebundenen   künstlerischen   Lebens,   wie  der  Lauf  der  Jahrhunderte   sie   vor  dem 


340  BESPRECHUNGEN. 


Beschauer  ausbreitet,  auf  Gesetzmäßigkeiten  und  deren  Typen  zurücl<zuführen,  da 
wird  es  kaum  zu  vermeiden  sein,  daß  das  Resultat  hinter  der  Idee  zurückbleibt. 
Wenn  man  von  den  etwaigen  Mängeln  einer  ersten  Zusammenfassung  zunächst 
ganz  absieht,  wird  man  gegen  jede  versuchte  Reduktion  leicht  Bedenken  geltend 
machen  können.  Entweder  wird  beanstandet,  daß  sie  nicht  weit  genug  geführt  ist, 
oder  man  findet,  daß  sie  zu  weit  getrieben  wurüe.  Im  ersteren  Falle  durchdringt 
sie  dann  nicht  das  ganze  Material,  so  daß  ihr  vielleicht  gerade  der  letzte  mögliche 
Grad  der  Einfachheit  fehlt.  Im  anderen  Falle  vergewaltigt  und  verengt  sie  die 
Fülle  des  Stoffes,  so  daß  das  Ergebnis  leer  und  leblos  wird.  Reichströmendes 
Leben  mit  seinem  Reiz  der  Unmittelbarkeit  und  Gesetzmäßigkeit  mit  ihrer  Kraft 
Entwicklungszusammenhänge  erkennen  zu  lassen  sind  ein  Doppelideal,  das  in  die 
Kunstwissenschaft  den  Gegensatz  von  historischer  und  naturwissenschaftlicher  Be- 
griffsbildung und  ihrer  Methodik  hineinträgt.  Er  kommt  hier  umso  energischer  zur 
Geltung,  als  es  sich  um  ein  und  dasselbe  Wissenschaftsganze  handelt. 

Grautoff  sucht  Formaufbau  und  Formzertrümmerung  als  tieferliegende  Gesetz- 
mäßigkeiten in  der  Entwicklung  der  bildenden  Kunst  zu  erkennen:  angefangen  bei 
der  ägyptischen  und  der  frühgriechischen  Kunst  —  erstere  freilich  nur  genannt 
(S.  13)  —  bis  zur  Kunstbewegung,  die  gegen  Ende  des  abgelaufenen  Jahrhunderts 
einsetzte.  Es  ist  das  zweifellos  ein  fruchtbarer  Gedanke  und  wäre  es  auch  nur  im 
Sinne  einer  heuristischen  Idee,  die  das  ungeheure  Material  gliedert  und  überschau- 
bar macht.  Dazu  kommt  noch ,  daß  Grautoff  den  formalen  Gesichtspunkt  mit  dem 
kulturgeschichtlichen  in  einem  Nachklang  der  Hegeischen  Denkweise  zu  vereinen 
sucht. 

Noch  eines  möchte  besonders  hervorzuheben  sein:  Grautoff  sucht  »die  inneren 
Bedingungen  für  den  Stil  in  den  bildenden  Künsten«  (S.  6)  zu  erkennen.  Er  be- 
tont: »Es  gibt  kaum  ein  Thema  der  äußeren  Bedingungen,  das  im  vorigen  Jahr- 
hundert nicht  ausführlich  behandelt  worden  ist,  so  daß  jeder  jüngere  Forscher  in 
dieser  Beziehung  nur  weiter  zu  bauen  braucht.  Die  inneren  Bedingungen  .  .  .  sind 
bisher  weder  in  der  gleichen  Vielfältigkeit  noch  in  derselben  Weite  behandelt 
worden«  (S.  6).  Also  auch  hier  eine  der  sich  mehrenden  Stimmen,  die  der  Kunst- 
forschung eine  Fühlungnahme  mit  der  Psychologie  anraten.  Die  »Grundlage  für 
die  inneren  Bedingungen  des  Künstlers  sieht  Grautoff  im  Willen  und  Gefühl 
(S.  7).  Er  betont  selbst  den  Zusammenhang  mit  Alois  Riegl.  Nur  merkt  er  an, 
daß  er  die  Begriffe  weiter  fasse  als  Riegl  und  sie  anders  in  den  Prozeß  der  Stil- 
entwicklung einsetze  und  dementsprechend  sie  anders  gliedere  (S.  7). 

Den  Willen  faßt  Grautoff  im  kantischen  Sinn  (S.  7)  und  gewinnt  dadurch  einen 
tragfähigen  Unterbau  für  den  Begriff  der  künstlerischen  Abstraktion  in  seinem  Sinn. 
»Der  Willensregungen  gehorchende  Künstler  hebt  einen  Erkenntnisinhalt  heraus 
und  überträgt  ihn  in  die  Kunstform  .  .  .  das  Wesentliche  ist  ihm,  seinen  Begriff  von 
der  Welt,  von  Menschen  und  Bäumen,  seine  Erkenntnis  von  Regeln  und  Gesetzen 
im  Kunstwerk  zur  Anschauung  zu  bringen  ...  Er  sucht  das  Typische,  das  von  ihm 
als  allgemeingültig  Erkannte  .  .  .«  (S.  10).  Dieser  Mentalität  des  Künstlers  entspricht 
seine  Sehweise:  sie  ist  plastisch  (S.  10,  15),  und  aus  beidem  leitet  sich  —  wenn 
auch  nicht  gerade  ausschließlich  —  der  Charakter  der  von  ihm  geschaffenen  Kunst 
her:  »Ein  abstraktes  Kunstwerk  wird  ...  in  einer  klaren  und  übersichtlichen  Formen- 
sprache vorgetragen  sein.  Es  wird  Rhythmus  und  Symmetrie  zeigen«  (S.  10). 
Gerade  »die  Skandierung  der  Farben  und  Formen  im  Bilde  entspringt  ebenfalls  dem 
Drange,  Ordnung  in  das  Scheinhafte  und  Zufällige  der  Welt  zu  bringen,  eine  Idee 
der  Gesetzmäßigkeil  dem  Beschauer  zu  vermitteln,  —  also  einem  Willen  zur  Ab- 
straktion« (S.  40).    Mit   begrifflicher  Schärfe  definiert  Grautoff:  »Eine   solche  Kunst 


BESPRECHUNGEN. 


341 


ist  abstrakt,  weil  sie  die  Sinneseindrüci<e  der  Außenwelt  nur  insofern  gelten  läßt, 
als  sie  sich  mit  dem  begrifflich  Erkaimten  und  Vorgestellten  decken«  (S.  8). 

Seinen  liegriff  vom  Gefühl  legt  Orautoff  in  keiner  bestimmten  Fassung  vor. 
Er  setzt  sofort  ein:  -Der  vom  Gefühl  ausgehende  Künstler  erlebt  durch  die  Inten- 
sität seiner  Sinne  das  Ineinanderverwachsensein  aller  Dinge.  Er  stellt  nicht  a  priori 
Erkanntes  dar,  .  .  .  sondern  will  das  Erlebnis  seiner  Sinne  oder  seiner  Seele,  das 
Kosmische  im  Ich  und  d.is  Ich  im  Kosmos  und  damit  das  Relative,  konkretisieren 
...  da  er  erfahren  hat,  daß  in  der  Welt  kein  Ding  für  sich  bestellt,  sondern  alles 
untereinander  in  Beziehung  steht,  so  hebt  er  nicht  einzelne  Teile  heraus,  sondern 
will  die  Inlialtsfülle  der  Erscheinungs-  oder  Gefühlswelt  als  Ganzes  widerspiegeln. 
Er  sieht  nicht  die  Gegensätze,  sondern  die  Verbundenheit  von  Massen  in  Hell  und 
Dunkelt  (S.  10  f.).  Die  Formensprache  leitet  Grautoff  von  der  Eigenart  des  mensch- 
lichen Gefühls  ab,  die  sich  ausspricht  in  der  Tendenz  zur  »Selbstaufgabe  in  der 
Geliebten,  in  der  Natur*  usw.:  »Linien,  Formen,  Flächen  und  Farben  bleiben  niemals 
isoliert,  sondern  gehen  ineinander  über«  (S.  11).  Es  stehen  sich  also  die  beiden 
Stilarten  gegenüber  wie  die  Gestaltung  von  begrifflich  Erkanntem  (S.  12,  13,  17) 
und  Willeiismäliigem  (S.  16,  26  f.,  40)  und  die  Gestaltung  von  gefühlsmäßig  Er- 
lebtem (S.  12,  26,  28)  und  von  Formaufbau  und  Formzertrümmerung.  Grautoff  ruft 
für  letzteres  auch  die  Kunstgeschichte  auf:  der  Verlauf  jeder  Kunstepoche  lehrt  ihn, 
»daß  formauflösende  Tendenzen  nur  innerhalb  einer  reinen  Qefühlskunst  zum  Durch- 
bruch kommen  können«  (S.  40). 

Die  Frage,  ob  die  Zuordnung  von  Willenskunst  und  Formaufbau  einerseits  und 
von  Qefühlskunst  und  Formzertrümmerung  anderseits  wenigstens  als  möglich  oder 
•«l5  Äalieliegend,  wenn  auch  nicht  als  einzig  möglich  und  notwendig  angesprochen 
werden  kann,  üst  vielleicht  gar  nicht  eindeutig  zu  beantworten.  Wenigstens  nicht 
von  der  Psychologie  aus.  Vor  allem  wird  man  geltend  machen  können,  daß  die 
Psychologie  als  Typus  des  Denkens  nicht  nur  den  »auf  das  Typische  und  Absolute^ 
(S.  10)  gerichteten  kennt,  sondern  ebenso  ein  Denken,  das  das  »Relative»,  das 
Funktionelle,  die  übergreifenden  Zusanimeishänge  sucht.  Historisch  gesprochen: 
neben  der  cleatischen  Denkweise  mit  dem  starren  Sinn  steht  die  heraklitische  mit 
der  durchgehenden  Umbildung  oder  neben  dem  platonischen  Denken,  das  im  wahr- 
haft Seienden  sein  eigentliches  Objekt  sieht,  steht  das  Hegelsclie  Denken,  für  das 
selbst  das  Gesetz  der  Idenlität  aufgehoben  ist.  »Daß  in  der  Welt  kein  Ding  für 
sich  besieht,  sondern  alles  untereinander  in  Beziehung  steht»;  (S.  10),  kann  nicht 
allein  die  »Intensität  der  Sinne«  (S.  10)  lehren,  sondern  auch  das  Denken.  Und 
das  Gefühl:  es  mag  wie  im  Wehschrei  oder  im  Jauchzen  der  Lust  nach  außen  sich 
ergießen  und,  ins  Bildnerische  gewendet,  gleichsam  die  l?ahnen  des  Lineainents  im 
Umriß  durchbrechen  und  zerbrechen.  Oder  es  mag  sich  nach  innen  einwühlen  und 
wie  ein  verzehrendes  Feuer  im  Innern  die  gesamte  lineare  Struktur  zerstören,  .^bcr: 
ebenso  kann  das  mit  zuckendem  Gefühl  geladene  Erlebais  gleich  dem  Blitz  in 
Linien  niedcrfahren.  Ebenso  gut  wie  das  Gefühl  mit  sublimer  Zartheit  die  Grenzen 
der  Form  und  ihre  Fläche  schonen,  ja  geradezu  über  ihre  Unversehrtheit  wachen 
kann.  Das  ist  freilich  nicht  mehr  reine  Psychologie  des  Bewußtseins.  Hier  spricht 
schon  die  Anschauung  mit,  wie  sie  durch  das  kunsthistorische  Material  vermittelt 
wird.  Man  mag  für  diese  beiden  Fälle  der  Fornierhaltung  etwa  denken  ( —  in  um- 
gekehrter Reihenfolge  — )  an  die  Heimsuchung«  vom  Meister  des  Marienlebens 
oder  an  weibliche  Akte  von  Ingres.  Und  dann  an  die  »Verkündigung«  des  Sienesen 
Lippo  Memini  (Florenz  Uffizien)  oder  an  die  von  Botticelli  (Florenz  Uffizien). 
Überall  ist  das  Gefühl  der  Saft,  der  durch  die  Linie  zieht.  Daß  endlich  der  Wille 
unter  Umständen  auch    nicht  die  von  Linien  umschlossene  Form   schont,   das  sagt 


342  BESPRECHUNGEN. 


z.  B.  der  reif  donatelleske  »Johannes  der  Täufer«.  Hier  muß  freilich  darauf  ge- 
achtet werden,  daß  Orautoff  den  Willen  stark  intellektualisiert  (S.  7  f.,  56  »aus  dem 
Verstand  und  damit  aus  dem  Willen  .  .  .  abgeleitet«,  vgl.  S.  9,  17).  Dieser  Wille 
geht  über  Kant  noch  weiter  zu  Spinoza  zurück.  Er  hat  mit  (mathematischer)  Form- 
gesetzlichkeit mehr  inneren  Zusammenhang  als  der  vom  Lebensdrang  erfüllte  Wille 
Schopenhauers-Nietzsches.  Auch  das  will  berücksichtigt  sein,  daß  Grautoff  Gefühl 
und  Wille  nicht  schlechthin  antinomisch  entgegensetzt:  »Ich  unterscheide«,  schreibt 
er,  »einen  Stil,  dessen  Ausdrucksformen  der  Wille  prägt,  und  einen  Stil,  der  durch 
das  Gefühl  seine  Form  erhält,  dazwischen  einen  Stil,  in  dem  Ausdrucksformen  des 
Willens  und  des  Gefühls  nebeneinander  auftreten,  und  über  den  beiden  Grundstilen 
einen  vierten,  in  dem  Wille  und  Gefühl  zu  einer  Synthese  ineinanderwachsen« 
(S.  7).  Solche  Synthesen  sieht  Grautoff  in  der  Antike,  in  der  Renaissance  und  auch 
in  der  Gotik  (S.  22).  Von  letzterer  meint  er  sogar,  daraus,  daß  Wille  und  Gefühl 
»auf  ihrem  Höhepunkte  gleich  stark  beteiligt  waren«  (doch  S.  13),  indem  »die  ab- 
strakten Forderungen  von  konkretem  Leben  ganz  erfüllt^  waren,  daraus  lasse  sich 
erkennen,  daß  die  Gotik  in  keinem  prinzipiellen  Gegensatz  zu  einer  der  andern 
Perioden  stehe. 

Ob  nicht  gerade  von  diesem  Punkte  aus  sich  Bedenken  erheben  gegen  die  Ab- 
leitung der  Stilentwicklung  aus  den  inneren  Faktoren  »Wille  und  Gefühl«?  Man 
möchte  fragen,  wo  ist  dann  das  »Individuationsprinzip«  für  die  einzelnen  Formen 
der  Synthese  zu  suchen?  Grautoff  unterscheidet  das  eine  Element  wohl  in  das 
seelisch-transzendente  Gefühl  der  Gotik  und  in  das  sinnliche  Gefühl  der  Renais- 
sance (S.  24  f.,  z.V.  16).  Gewiß  keine  dialektische  Begriffsspaltung,  wenn  auch  die 
allgemeine  Psychologie  diese  Differenzierung  nicht  kennt.  Aber  die  Synthese  läßt 
ihn  doch  auch  sie  wieder  vereinen  (S.  24). 

Dieser,  vielleicht  darf  man  sagen,  nivellierenden  Angleichung  der  Grundelemente 
in  der  Synthese  steht  aber  doch  die  Hauptthese  gegenüber,  daß  formauflösende 
Tendenzen  nur  innerhalb  einer  reinen  Gefühlskunst  zum  Durchbruch  kommen 
können  (S.  40).  Das  lehrt  der  Verlauf  jeder  Kunstepoche.  In  diesem  großen  Zug 
und  in  dieser  Weite  wird  man  der  These  mehr  Bedeutung  zusprechen  können  als 
der  Beschreibung  der  Gefühlskunst  (auf  S.  10  f.),  die  sie  begrifflich  unterbauen  soll. 

Der  Dualismus  von  Wille  und  Gefühl  im  Sinne  der  inneren  Bedingungen  für 
die  Stilformen  des  Formbaues  und  der  Formzertrümmerung  ist  trotz  der  Aufstellung 
der  synthetischen  Stilform  das.  was  den  Verfasser  —  wenigstens  in  dieser  Schrift  — 
hauptsächlich  interessiert.  Und  dabei  wendet  sich  seine  Aufmerksamkeit  der  Form- 
zertrümmerung noch  ganz  besonders  zu.  Unter  diesem  Gesichtswinkel  sieht  Grau- 
toff die  spätrömische  Kunst:  »Die  Geschichte  der  spätrömischen  Kunst  zeigt  die 
Entwicklung  der  Formenzertrümmerung  innerhalb  der  antiken  Tradition«  (S.  37). 
Und  fortschreitende  Formauflösung  ist  für  Grautoff  auch  die  Signatur  der  modernen 
Kunst  vom  16.  und  17.  Jahrhundert  an  (ebenda).  Wenn  auch  Schichten  wie  das 
Ideal  der  Akademien  des  17.  Jahrhunderts,  der  Klassizismus  vom  Ende  des  18.  Jahr- 
hunderts und  der  Akademismus  des  19.  Jahrhunderts  sich  quer  zwischen  die  Phasen 
der  Entwicklung  schieben,  schließlich  siegt  doch  der  Impressionismus  mit  der  Auf- 
lösung der  Einzelform  (S.  37—48),  dessen  Werk  der  Expressionismus  zu  Ende  führt 
mit  der  Zertrümmerung  der  Bildform  (S.  49—56).  Es  steckt  gewiß  ein  guter  Kern 
in  der  Behauptung:  »Unter  dem  Gesichtspunkt  der  Zersetzung  jeglicher  Stabilität 
ist  der  Expressionismus  keine  Gegenbewegung  des  Impressionismus,  sondern  .seine 
logische  Fortführung,  in  deren  Verlauf  die  Formauflösung  bis  zu  ihren  letzten 
Konsequenzen  getrieben  wird  (S.  49;  z.  v.  S.  47).  Nur  geht  Grautoff  nach  unserem 
Urteil  doch  zu  weit,   wenn  er  schließlich  meint:  »Sowohl  der  dingbefreite  als  auch 


BESPRECHUNGEN. 


343 


der  am  Gegenständlichen  haftende  Expressionismus  hat  den  Sinn  der  bildenden 
Kunst  überspannt,  indem  die  Künstler  versuchten,  durch  das  Sprengen  und  Zer- 
schlagen der  letzten  Reste  optisch  faßbarer  Formen,  die  die  Impressionisten  von 
sinnlicher  Erscheinung  noch  übriggelassen  hatten,  das  Wesen  der  Dinge  bloßzu- 
legen« (S.  52  f.).  Man  wird  statt  von  einem  Zerschlagen  der  letzten  Reste  optisch 
faßbarer  Formen  schlechthin  besser  von  einem  Zerschlagen  naturalistischer  Formen 
sprechen.  Und  man  kann  eine  Korrektur  in  diesem  Sinne  bei  Orautoff  selbst  finden, 
wenn  er  von  den  stärkeren  Potenzen  der  Cezanne-Nachfolge  schreibt:  »Ihr  Suchen 
nach  dem  Sein  der  Dinge,  ihr  Drang  nach  Vereinfachung  und  Klärung  führt  sie 
dazu,  von  der  konkreten  Erscheinung  so  weit  zu  abstrahieren,  wie  es  ihre  Ver- 
anlagung bedingt.  Ihre  Werke  gewinnen  dadurch  an  kompositioneller  Organisation, 
an  Tiefe  der  absoluten  Deutung  der  Erscheinungen  und  an  Kraft  des  Ausdrucks 
Die  Richtung  ihrer  Kunst  geht  auf  eine  neue  Klassik  zu«  (S.  79).  Die  Stelle  legt 
in  anspruchsloser  Form  bedeutsame  Tendenzen  in  der  modernen  Kunst  klar.  Nur 
scheint  es,  daß  Orautoff  diese  »Richtung«,  in  der  er  die  Zukunft  sieht,  von  Futuris- 
mus, Kubismus  und  Expressionismus  scheiden  will  (S.  76).  Das  dürfte  nur  im 
Sinn  der  Heraushebung  zulässig  sein.  Was  Orautoff  sonst  noch  über  die  jüngste 
Kunstbewegung  sagt,  sowohl  in  formaler  Hinsicht  als  auch  in  kulturpsychologischem 
Betracht,  ist  als  Charakteristik  wie  als  Kritik  mehr  als  einmal  so,  daß  es  die  Sache 
klärt.  So  z.  B.:  »Der  Expressionismus  der  Deutschen  bedeutet  das  Freiwerden  der 
seelischen  Energien  aus  den  Forderungen  der  griechisch-römisch-französischen  Welt 
nach  Klarheit,  Maß  und  Harmonie«  (S.  75).  Oder:  ». .  .  Diese  Umprägung  künstle- 
rischer Werte  hat  eine  Bedeutung,  die  dem  Werden  . .  .  eines  neuen  Stiles  nur  von 
Nutzen  sein  kann,  indem  sie  ...  ein  neues  Verhältnis  zu  Linien,  Formen  und  Farben 
ermöglicht  >  (S.  72  f,).  Wenig  glücklich  will  uns  wenigstens  die  Bezugnahme  auf 
die  staatlichpolilischen  Ereignisse  dünken.  Nicht  als  ob  ihre  Gestalt  überhaupt 
für  die  Kunst  irrevelant  wäre.  Aber  wir  meinen,  sie  können  nur  bei  historischem 
Abstand  in  die  Betrachtung  eingezogen  werden;  denn  dann  werden  erst  die  tiefer 
liegenden  Faktoren  und  die  Zusammenhänge  faßbar.  Einstweilen  ist  aus  dem  Zeit- 
charakter der  Kunst  noch  wenig  davon  abzulesen,  welches  die  »geistigen  Werte« 
sind,  die  »im  Bolschewismus  liegen«  (S.  86).  Auch  das  Kapitel:  Der  Bildersturm 
der  neuen  Jugend  scheint  uns  für  das  Hauptproblem  der  Schrift  wenig  ergiebig  zu 
sein,  ja  das  Niveau  der  Schrift  herabzudrücken.  Was  darin  positiv  ist,  ist  viel  zu 
unbestimmt.  So,  wenn  es  heißt:  »Vom  Barock  an  begann  eine  langsame  Zersetzung 
der  Formen  im  Bilde.  Die  Impressionisten  und  Futuristen  lösten  die  Einzelformen 
in  duftigen  Schein  auf.  Die  Expressionisten  zerschlugen  die  Bildform.  Die  Akti- 
visten räumen  das  Trümmerfeld  ab,  damit  der  tätige  Geist  der  neuen  Jugend  Raum 
gewinnt  für  eine  neue  vita  adiva  (S.  64). 

Noch  ein  paar  Einzelheiten,  die  mit  dem  Aufbau  des  Ganzen  in  Zusammen- 
hang stehen.  Orautoff  ist  ein  Kenner  der  aus  der  französischen  Kultur,  zuletzt  aus 
dem  Pariser  Boden,  herausgewachsenen  Kunst.  Er  schreibt  von  ihr:  Die  Fran- 
zosen dürfen  ...  als  die  Erben  Griechenlands  gelten.  Vo:ti  17.  Jahrhundert  an  war 
ihr  ehernstes  Kunstgesetz:  Eurhythmie  (S.  41).  Als  Beweis  nennt  er  Poussin  und 
Claude  Lorrain,  Watteau  und  Boucher,  Ingres  und  Puvis  de  Chavannes.  Aber 
auch  in  Mauet,  Monet,  Pissaro  und  Sisley  sieht  er  die  klassische,  griechisch-roma- 
nische Tradition  lebendig.  Bei  Scurat  und  Signac  spricht  auch  Orautoff  nicht  mehr 
von  Eurhythmie  (S.  44).  Dagegen  ist  ihm  beim  deutschen  Impressionismus  der 
Verzicht  auf  »Rhythmisierung  der  Formen  und  Farben«  die  Regel  (S.  42).  Er  sieht 
einen  Rassengegensatz:  ^Der  musikalische  Zusammenklang  aller  Formelemente  .  .  . 
bedeutet  für  den  Franzosen  die  höchste  Vollendung;  der  formalen  Harmonie  wird 


344  BESPRECHUNGEN. 


das  Subjektive  untergeordnet.  Dem  Deutschen  gilt  als  höchste  Aufgabe,  sein  sub- 
jektives Schauen  oder  Erleben  in  denkbarster  Unmittelbarkeit  .  .  .  zum  Ausdruck  zu 
bringen.  Eine  Ein-  oder  Unterordnung  seines  subjektiven  Wollens  und  Formens 
unter  irgendeine  Gesetzmäßigkeit  erscheint  dem  Deutschen  eine  .  .  .  Trübung  der 
Wahrheit«  (S.  44).  Obwohl  Rassengegensätze  bestehen,  sind  sie  doch  schwer  faß- 
bar. In  dem  Fall  des  deutschen  Impressionismus  denkt  man  antithetisch  an  einen 
Namen  von  der  Bedeutung  W.  Trübners.  Er  darf  auch  in  diesem  Sinne  sehr  hoch 
angeschlagen  werden:  wieviel  Formgesetzlichkeit  z.B.  in  seinen  Landschaften,  ob 
vor  Ende  1876,  ob  von  1896  ab,  ob  um  1912.  Und  selbst  M.  Liebermann  spricht 
von  einer  verborgenen  Komposition  in  seinen  eigenen  Werken.  Literarisch  führte 
er  sie  als  »Phantasie«  vor.  Auch  in  dem  Bilde  von  W.  Rößler  (Schlafendes  Mäd- 
chen), auf  das  Orautoff  sich  bezieht,  läßt  sich  unschwer  eine  mit  den  Zäsuren  am 
Körper  in  Zusammenhang  stehende  Rhythmisierung  der  Linien  der  Baumstämme 
und  der  Lichtflecken  im  Hintergrund  nachweisen.  Es  zeigt  sich,  wie  schwer  es  ist, 
eine  selbst  durch  Abstraktion,  nicht  durch  Deduktion,  gewonnene  durchgreifende 
Gesetzlichkeit  einwandfrei  aufzustellen. 

In  einem  andern  Fall  (S  29  f.)  will  Grautoff  von  Einzelwerken  eine  typische 
Gestaltungsweise  ablesen,  nämlich  die  sinnlich-funktionelle  von  Rubens'  Kreuz- 
abnahme (Antwerpen)  und  die  seelische  von  Rembrandts  gleichnamigem  Werk 
(München).  Ob  aber  nicht  auch  in  dem  (Früh-)Werk  Rembrandts  noch  viel  von 
mechanischer  Funktion  steckt?  Vor  allem  dürfte  in  der  Figur  des  Johannes  nicht 
ein  wunderbar  seelisches  Motiv  zu  sehen  sein.  Die  Mundöffnung  ist  so  auffallend 
groß,  daß  man  eher  an  ein  Zurufen  als  an  Ergriffenheit  denkt.  Und  die  Blick- 
richtung ist  eigentümlich  wenig  fest  fixiert,  soweit  die  Stellung  des  Augapfels  in 
Frage  kommt.  Dazu  die  nur  mechanisch  aufgefaßte  Figur  im  Rücken  des  Johannes 
und  ganz  besonders  die  weitere  auf  der  Leiter.  Von  hier  aus  geht  doch  ein  kalter 
Strom  durch  das  Bild,  dem  für  jeden  Fall  Johannes  nicht  entschieden  genug  ent- 
zogen ist.  Bei  all  dem  hat  freilich  Rembrandts  Bild  immer  noch  so  viel  Stille  als 
Rnbens'  Darstellung  lautes  Pathos. 

München.  Georg  Schwaiger. 

MaxTheuer,  Der  griechisch-dorische  Peri  pteral  tem  pel.    Ein  Beitrag 
zur  antiken   Proportionslehre    (herausgegeben    mit    Unterstützung  des   Mini- 
steriums für  Kultus   und  Unterricht  in  Wien).    Berlin  bei  E.  Wasmuth  1918. 
4».  66  S.  43Taf. 
Im  altgriechischen  Megaronhaus   war  nur  eine  der  Schmalseiten  des  sich  über 
einem  rechteckigen  Grundriß  erhebenden  Baues  zur  Schauseite  entwickelt.    Die  drei 
übrigen  so  entstehenden  leeren  Mauerflächen  befähigten  den  ganzen  Baublock  wohl, 
Seite  an  Seite  mit  anderen  gleichartigen  Häusern   eine  Gebäudegruppe   zu   bilden 
(Troja  II)   oder  als  vermöge   seiner   Fassade   beherrschendes   Glied    einen    ganzen 
Komplex  von  Baulichkeiten  um  sich  zu  scharen  (Tiryns).    In  dieser  letzten  Funktion 
blieb  das  Megaronhaus  stets  der  Kern   der  griechischen  Hausanlage   und   hat  sich 
in  vereinzelten  Exemplaren   selbst   bis  in   die  Architektur  der  römischen  Kaiserzeit 
gehalten   (Swoboda,   Römische   und   romanische   Paläste  S.  32  f.).     In   völliger  An- 
lehnung an  dieses  älteste  und  innerste  Bauglied,   das  Megaron,  ist  das  templum  in 
antis  entstanden,   aus   dem  Männerhaus  das  Gotteshaus.     Auch  dieses  enthüllt  das 
Geheimnis  seines  Aufbaues   lediglich  in  der  (östlichen)  Schmalfront.    Während  das 
Gesamtgebäude  nur  die  Wirkung  eines  regelmäßigen  Körpers  auszulösen  brauchte, 
hinter  dem  ein  ebenso  gestalteter  Innenrauni  vermutet  werden  darf,  zeigt  die  Front- 
seite in  aller  Deutlichkeit  das  bleibende  Streben  der  griechischen  Architektur,  durch 


I 


BESPRECHUNGEN.  345 

möglichste  Verlebendigung  ihrer  funktionellen  Bedeutung  die  den  Raum  begrenzen- 
den körperlichen  Bauglieder  zu  ästhetischem  Eindruck  zu  steigern,  als  deren 
Folge  dann  erst  der  Innenraum  entsteht,  notwendig  in  seinem  absoluten  Vorhanden- 
sein,.  scheinbar  zufällig  in  seiner  einzigartigen  Gestaltung,  tis  sind  recht  eigentlich 
die  zwischen  den  beiden  vorspringenden  Anten  stehenden  Säulen  mit  der  darüber- 
liegenden  Ordnung,  vor  allem  aber  der  Knotenpunkt  des  Kapitells  an  dem  Ort  des 
Zusammenstoßes  beider,  die  dazu  ausersehen  sind,  die  beiden  Grundbedingungen 
des  Bauens,  das  Tragen  und  das  Lasten,  zugleich  in  ihrer  Entfaltung  und  in  ihrer 
Stabilisierung  zu  versinnlichen.  Die  drei  übrigen  Seiten  blieben  leere  Eläche,  wenn 
es  auch  im  Einzelfalle  nicht  an  Versuchen  gefehlt  hat,  sie  durch  Herumführen  des 
Frieses  mit  der  Fassade  in  Verbindung  zu  setzen,  durch  Vorblendung  flacher  Pilaster 
zu  gliedern  oder  durch  eine  vorgelegte  Balustrade  teilweise  dem  Auge  zu  verdecken. 
Die  völlige  Isolierung  des  Tempels  und  seine  Allsichtigkeit  im  Vergleich  zu 
dem  meist  eingebauten  Megaronsaal  der  l'rofanarchitektur  hat  aber  schon  früh- 
zeitig zu  einer  ganz  anderen  Lösung  dieser  Schwierigkeit  geführt,  die  freilich  einen 
weit  größeren  Aufwand  an  Baumittein  vcriangie.  Alle  vier  Seiten  erhielten  nun 
eine  Fassade  vorgelegt,  und  zwar  so,  daß  der  wichtigste  Teil  der  Stirnseite,  die 
beiden  Säulen  samt  dem  darübcriiegenden  Gebälkjoch  aus  seinem  baulichen  Zu- 
sammenhang gelöst  wurde  und  unter  fortdauernder  Multiplikation  als  äußerer  Ab- 
schluß eines  umlaufenden  Pterons  den  eigentlichen  Naos  umzog.  Jede  der  vier 
Seiten  hatte  nun  unabhängig  von  ihrem  Zusammenhang  mit  den  übrigen  ihren 
Eigenwert  als  Schauseite.  Und  hierdurch  wurde  das  ästhetische  Interesse  von  dem 
ursprünglichen  Tempelhaus,  von  dem  rauniumschließenden  Baublock,  gleichsam  von 
dem  Kern  auf  die  Schale  abgelenkt,  die  nun  wie  ein  tcktonisches  Ornament  von 
gewaltiger  Eindruckskraft  plastisch  die  Cella  umgab.  Gewissermaßen  die  Urzelle 
dieses  Qebild.s  ist  aber  das  von  zwei  Säulen  getragene  Einzeljoch.  Da  diese  beiden 
Teile  nur  in  vertikaler  Richtung  gebunden  sind,  ist  dieses  Grundelement  des  Säulen- 
umganges einer  an  sich  unbeschränkten  horizontalen  Reihung  fähig.  Säulenhallen 
und  -Straßen  meist  schon  hellenistischer  Zeit  geben  davon  Kunde.  Die  Giebelseite 
des  Peripteraltenipels  unterlag  jedoch  bestimmten  Beschränkungen,  die  sich  aus 
der  Dachkonstruktion  ergaben.  Die  Säulenzahl  mußte  infolge  der  Beziehung  des 
vorgelegten  Pterons  zu  den  Saiden  des  Pronaos  und  der  Türöffnung  der  Cella 
vernünftigerweise  eine  gerade  sein  und  war  es  auch  (6  oder  8)  mit  verschwindender 
Ausnahme  (sogenannte  Basilika  zu  Paesium.  Beiläufig:  die  Erkl.irung,  die  Theuer 
S.  19  ff.  für  die  die  Joche  der  Schmalseiten  an  Länge  übertreffenden  Joche  der 
Langseiten  an  diesem  Tempel  gibt,  ist  unverständlich.  Die  Proporlionierung  des 
Tempels  ist  die  normale  für  ein  Pcripteron  von  8  17  Säuleu.  Nur  die  mittlere 
Säulenstellung  in  der  Achse  der  Cella  und  die  drei  Säulen  des  Pronaos  machten 
eine  Erhöhung  der  Säulenzahl  an  den  Oiebelfronten  auf  9  notwendig.  Es  ist  also 
nicht  eine  Erweiterung  der  Jochweiten  an  den  Langseiten,  sondern  umgekehrt  ihre 
Verkürzung  an  den  Kurzseiten  zu  erklären:  und  die  >Basilikas  kennzeichnet  sich 
hierdurch  deutlich  als  Einzelfall  und  Ausnahme).  Anders  die  Langseiten.  Da  sie 
isoliert  für  sich  gesehen  werden  wollen,  so  kann  von  einer  Einschränkung  ihrer 
seitlichen  Ausdehnungsfähigkeit  nur  insofern  die  Rede  sein,  als  die  einzelnen  Glieder 
des  Pterons,  je  weiter  sie  sich  bei  gleichbleibender  Höhe  von  der  Mittelachse  des 
Tempels  entfernten,  natürlich  an  Wirkung  verlieren  mußten,  d.  h.  eine  übermäßige 
horizontale  Entwicklung  des  Pterons  den  Standpunkt  des  Beschauers  so  sehr  in  die 
Ferne  rücken  nmßte,  daß  die  auf  eine  gewisse  Nahsicht  berechnete  Durchbildung 
des  architektonischen  Details  (auf  dem  überhaupt  der  Grundgedanke  dieser  Fassaden- 
bildung fußte)  ihren  Zweck  verfehlt  hätte.     In  der  Tat  verläuft  auch  die  historische 


346  BESPRECHUNGEN. 

Entwicklung  so,  daß  man  die  anfänglich  sehr  langgestreckten  Seitenfluchten,  wo  es 
angängig  erschien,  zugunsten  einer  konzentrierteren  Wirkung  zusammenzog,  also 
ihre  Länge  in  bezug  auf  die  Höhe  der  Ordnung  um  einiges  kürzte.  Diese  letztere 
war  aber  gegeben  durch  ihr  notwendig  rationales  Verhältnis  zur  Breitenausdehnung 
der  Stirnseite.  So  ergab  sich  das  Bedürfnis,  Breite  und  Länge  des  Peripterons  in 
ein  bestimmtes  Verhältnis  zueinander  zu  setzen,  ohne  daß  dazu  eine  perspektivische 
Ansicht  des  Tempels,  welche  die  beiden  Seiten  verbindet,  oder  die  Rücksicht  auf 
den  Innenraum  der  Celia,  der  oft  eine  ganz  andere  Proportionierung  zeigt,  notwendig 
den  Anlaß  gegeben  haben  müßte. 

Obgleich  der  ursprünglichen  Konzeption  des  architektonischen  Bildes  auf  diese 
Weise  ziemlich  enge  Grenzen  gesetzt  waren,  blieben  doch  noch  unzählige  Variations- 
möglichkeiten. Die  Erschaffer  des  Peripteraltempels  müßten  aber  nicht  Griechen 
gewesen  sein,  wenn  ihre  Schöpfungen  nicht  überall  das  Bestreben  kündeten,  auch 
diese  geringen  noch  möglichen  Verschiebungen  der  Dimensionen  und  der  Ponderie- 
rung  (es  handelt  sich  ja  hier  nur  um  verfeinernde  Nacharbeit,  nachdem  die  Oesamt- 
form  durch  die  Arbeit  von  Generationen  schon  kanonisch  festgelegt  war)  nicht  dem 
Zufall  oder  der  gefühlsmäßigen  Eingebung  zu  überlassen,  sondern  gerade  durch  sie 
in  jedem  einzelnen  Bauwerk  eine'  übergeordnete  Gesetzlichkeit  zu  proklamieren. 
Weltordner  ist  die  Zahl,  das  Zeichen  ihres  Wirkens  das  klare,  auf  einfache  Grund- 
zahlen zurückzuführende  Verhältnis  der  Teile  untereinander  und  zum  Ganzen.  Es 
ist  wohl  von  einiger  Bedeutung,  daß  wir  in  der  ältesten  eigentlich  griechischen 
Schöpfung,  dem  geometrischen  Stil,  zu  Anfang  des  I.  Jahrtausends  vor  Christi  die 
gleichen  rechnerisch  festzustellenden  Tatsachen  antreffen  (Mitteil.  d.  d.  archäol.  In- 
stituts, Athenische  Abt.  XXXXIll,  1918,  S.  81  ff.). 

Hier  setzen  nun  die  'Beiträge«  iVlax  Theuers  ein,  der  in  größtenteils  einwand- 
f  reier  Weise  noch  einmal  die  Proportionierung  von  27  dorischen  Peripteraltempeln 
untersucht  hat  und  nun  das  Resultat  in  leicht  nachzuprüfenden  Berechnungen  vor- 
legt. Die  historischen  und  kritischen  Grundlagen ,  auf  denen  seine  Forschung 
beruht,  sind  freilich  in  einzelnem  recht  anfechtbar,  sehr  zweifelhaft  sogar  seine  ge- 
legentlichen Versuche  vom  Besonderen  zu  allgemeinen  historischen  Zusammenhängen 
vorzudringen ;  das  vorliegende  Material  dürfte  zu  solchen  Schlüssen  auch  noch  nicht 
genügen.  Diese  Mängel  zu  behandeln  ist  hier  nicht  der  Ort.  Es  sollen  daher  in 
folgendem  nur  einzelne  bedeutsame  Erscheinungen,  die  aufzuzeigen  Theuer  ge- 
lungen ist,  angeführt  werden. 

Zunächst  die  Grundrißgestaltung.  Es  entspricht  völlig  der  oben  gegebenen 
Skizze  für  die  Entstehung  des  Peripteraltempels,  daß  das  einfache  Grundverhältnis 
zwischen  Länge  und  Breite  (L  x  B)  nicht  etwa  im  eigentlichen  Naos,  sondern  in 
der  Peristase  und  zwar  entweder  im  Stj'lobat  oder  im  Stereobat  enthalten  ist.  Solche 
Verhältnisse  sind :  2  x  5,  3  x  7,  3  ;<  8,  4  <  9,  5  x  Il,5>r  12,  7  x  15,  9  ;<  19,  12  25. 
Stets  übertrifft  die  Länge  die  doppelte  Breite  um  ein  bis  zwei  Einheiten.  Theuer 
bringt  diese  beiden  Fälle  auf  die  Formeln  n  :<  (2  n  +  1)  und  n  x  2  (n  -f  1)  und 
stellt  fest,  daß  die  Länge  aus  der  Summe  zweier  aufeinanderfolgender  Zahlen  ent- 
weder der  Reihe  l-f2-f3-f4-|-5 oder  der  Reihe  l-|-3-f5-f7  +  9 

gebildet  ist  (S.  59).  Es  scheint  jedoch  nicht  überflüssig,  auf  eine  Beziehung  hinzu- 
weisen, die  dem  griechischen  Denken  mindestens  ebenso  nahe  lag  wie  diese 
Zahlenreihen:  die  Beziehung  der  Innenwinkel  gleichseitiger  Vielecke  untereinander. 
Denn  der  Innenwinkel  eines  gleichseitigen  Dreiecks  verhält  sich  zu  der  Summe  eines 
(gleichseitigen)  Dreiecks-  und  eines  Viereckswinkels  wie  2x5,  der  letztere  zu  der 
Summe  eines  Vierecks-  und  (gleichseitigen)  Fünfeckswinkels  wie  5x11  und  zu  der 
Summe  eines  Vierecks-  und  eines  (gleichseitigen)   Sechseckswinkels  wie  3  x  7  und 


BESPRECHUNGEN.  347 


^m  so  fort.  Die  Statuierung  des  grundlegenden  Verhältnisses  in  der  Peristase  hindert 
natürlich  nicht,  daß  öfters  die  lichte  Weite  des  eigentlichen  Cellaraumes  ebenfalls 
nach    dem    Qrundverhältnis    proportioniert   ist,   z.  B.  bei   den    sogenannten  Tavole 

I-  Paladine  bei  Metapont,  beim  sogenannten  Heraklestempel  von  Akragas,  beim 
Tempel  E  in  Syrakus,  bei  den  Zeustempeln  in  Olympia  und  Nemea  und  beim 
Parthenon.  Auch  für  die  Innenteilung  im  einzelnen  bleibt  oft  dasselbe  Verhältnis 
maßgebend,  das  die  Hauptdimensionen  regelt.  So  verhalten  sich  beim  Heraion  von 
Olympia  (B  x  L  -  3  ;<  8)  Stylobatbreite  zur  Pieronbreite  wie  3  (1  +2) :  8,  während 

Ifür  die  Breite  der  drei  Schiffe  der  Cella  die  Zahl  8  in  die  Summanden  3  und  5 
aufgelöst  wurde,  so  daß  sich  nun  von  einer  inneren  Stylobatkante  bis  zur  andern 
Abschnitte  von  je  5,  3,  5,  3,  5  Teilen  folgen  (S.  35  f.).  Im  allgemeinen  haben  Ge- 
bäudeteile, die  im  Aufbau  eine  ähnliche  Funktion  besitzen,  auch  die  Neigung,  ihre 
Orößenverhältnisse  aufeinander  abzustimmen:  der  Toichobat  der  Cella  tritt  gerne  mit 
dem  Stereobat,  die  äußere  Cellaweite  mit  dem  Stylobat  in  Beziehung  (sogenannter 
Tempel  der  Hera  Lakinia  in  Akragas,  Konkordiatempel  in  Akragas).  Selbst  Größen 
zweiter  Ordnung  wie  die  Ausladung  des  Stereobates,  die  Breite  der  Stylobatplatten 
und,  bezeichnend  für  das  plastisch-körperliche  Empfinden  der  griechischen  Archi- 
tekten, die  Dicke  der  Mauern  waren  durch  bestimmte  Verhältnisse  geregelt  (S.  31, 
28,  32,  40,  46).  Der  untere  Säulendurchmesser  steht  bei  vollendet  durchproportio- 
nierten  Exemplaren  zur  Jochweite  im  Grundverhältnis  (Apollotempel  Ai  Phigalia, 
^k  Parthenon)  oder  einem  sekundär  bei  der  Innenteilung  verwendetem  (Aphaiatempel 
^B    auf  Aigina). 

^m  Der  Aufriß  des  Tempels  ist   durchaus  abhängig  von  der  Breite  der  Stirnseite 

^B  beziehungsweise  deren  Unterteilung.  Die  Gesamthöhe  der  Ordnung  beträgt  bei 
^B  den  Tempeln  C  und  D  in  Selinus,  beim  Konkordiatempel  zu  Akragas  und  beim 
^H  Apollotempel  zu  Phigalia  die  Hälfte  der  unteren  Breite  im  Stereobat  beziehungsweise 
^B  Stylobat  (S.  6  f.,  32,  44),  beim  Parthenon  V»  (Qrundverhältnis)  der  Stylobatbreite. 
^V  Häufiger  tritt  jedoch  die  Säule  selbst  in  ein  bestimmtes  Verhältnis  zur  Fundament- 
breite, worauf  die  Höhe  des  Gebälks  gewöhnlich  sich  zur  Säulenhöhe  verhält  wie 
B  X  L.  Im  westlichen  Großgriechenland  ist  es  vornehmlich  die  Breitenerstreckung 
der  Euthynteria  selbst,  die  in  bestimmter  Teilung  die  Säulenhöhe  bedingt.  Bei  den 
Tempeln  C  und  D  in  Selinus  und  beim  Poseidontempel  zu  Paestum  beträgt  diese 
letztere  '|»  B  (B  x  L  =  3  X  8  beziehungsweise  3x7;  vergleiche  S.  7  f.  und  23), 
beim  sogenannten  Heraklestempel  von  Akragas  und  beim  Tempel  von  Segesta  '/s  B 
(Grundverhältnis;  vergleiche  S.  17  und  34),  beim  Cerestempel  von  Paestum  '/"  B, 
beim  Heraiempel  E  in  Selinus  und  beim  Tempel  der  Konkordia  zu  Akragas  '/n  B 
(Verhältnis  der  Strecke  von  der  Stylobatkante  bis  zur  zweiten  Säulenachse  zur  Aus- 
dehnung der  drei  Mitteljoche;  vergleiche  S.  20,  28  und  32).  Seltener,  dagegen 
im  östlichen  Griechenland  fast  durchweg,  ist  die  Säulenhöhe  von  der  Breite  eines 
Normaljoches,  einmal  (bei  der  sogenannten  Basilika  zu  Paestum,  S.  19)  auch  vom 
Interkolunmiuni,  abhängig.    Sie  beträgt  zwei  Normaljoche  beim  Tempel  in  F  Selinus, 

Ibeim  Zeustempel  von  Olympia  und  beim  Aphaiatempel  aut  Aigina  (S.  10,  38,  41), 
entsprechend  dem  Grundverhältnis  "'j  beziehungsweise  "/»  Joche  beim  Apollo- 
tempel G  in  Selinus  und  dem  Tempel  der  Nemesis  zu  Rhamnus  (S.  12  und  55). 
Singular  ist  das  Verhalten  des  sehr  jungen  Tempels  der  Athena  auf  Sunion,  der 
zur  Bestimmung  der  Säulenhöhe  die  Breite  zwischen  den  Achsen  der  Frontecksäulen 
halbiert.  Auch  die  Kapitellhöhe  steht  gelegentlich  in  einem  einfachen,  aber  im 
übrigen  nicht  wiederkehrenden  Verhältnis  zum  Schaft.  Dagegen  läßt  sich  das  Ver- 
hältnis der  Triglyphen-  zur  Metopeiibreite ,  gewöhnlich  2  >.  3  (Konkordiatempel  zu 
Akragas,  Tempel  von  Segesta,  .Appollotempel  zu  Phigalia,   Parthenon,  sogenanntes 


348 


BESPRECHUNGEN. 


Theseion ;  vergleiche  S.  33  f.,  45,  50  und  53) ,  einmal  5x8  (Aphaiatempel  auf 
Aigina;  vergleiche  S.  41),  stets  aus  dem  Orundverhältnis  ableiten.  Die  Kontraktion 
der  Eckjoche  hängt  nicht  nur  mit  der  Austeilung  der  Triglyphen  zusammen,  sondern 
auch  mit  den  Beziehungen  der  drei  Mitteljoche  der  Stirnseite  zu  Anten  und  Säulen 
des  Pronaos  (S.  17). 

Die  Prinzipien,  unter  denen  die  Austeilung  des  Qrund-  und  des  Aulrisses  im 
Detail  erfolgte,  erfordern  noch  eine  kurze  Betrachtung.  Man  verfuhr  offenbar  so, 
daß  man,  wo  eine  einfache  Übertragung  des  Orundverhältnisses  nicht  möglich  war, 
aus  diesem  selbst  heraus  andere  Verhältnisse  entwickelte.  Die  eine  der  beiden 
sich  hier  ergebenden  Möglichkeiten,  das  Zerlegen  der  beiden  Faktoren  des  Grund- 
verhältnisses in  die  gerade  passenden  Summanden  haben  wir  schon  berührt.  Waren 
jene  ferner  Quadratzahlen,  so  stellten  ihre  Wurzeln  ein  ganz  andersartiges  Verhält- 
nis her:  die  Triglyphen  des  Parthenon  und  des  sogenannten  Theseions  stehen  zu 
den  Metopen  im  Verhältnis  von  2  :<  3,  ihre  B  zur  L  wie  2-  ,3^  H  x  B  <  L  des 
Parthenon  wie  4-  :  6- .<  9-.  Lehrreich  sind  die  Maße  des  nur  teilweise  freigelegten 
Apollotempels  auf  Ortygia,  dessen  Dimensionen  Theuer  jedoch,  wie  jeder  eigene 
Rekonslruktionsversuch  zeigen  kann,  einwandfrei  ermittelt  hat.  Zugleich  war  es 
möglich,  eine  Bauelle  von  0,4966  m  festzustellen.  Nun  betragen:  die  Stylobatbreite 
und  der  untere  Säulendurchniesser  4  (=2-)  Ellen,  das  Mitteljoch  der  Schmalseiten 
9  =  3^  die  Säulenhöhe  16  =  4-,  die  Breite  des  Pterons  bis  zum  Toichobat  25  =::  5-, 
die  Breite  des  Tempels  im  Stereobat  49  -  7- Ellen  (S.  13).  Vielleicht  traute  man 
diesen  Zahlen,  die  die  einfachste  Beziehung  zwischen  Linie  und  Fläche  oder  in 
Grund-  und  Aufriß  zu  einem  vorgestellten  Kubus  von  vollendeter  Form  repräsen- 
tierten, wenn  sie  in  Dimensionen  verwandelt  würden,  eine  besonders  günstige  Ein- 
wirkung auf  den  umschlossenen  Raum  zu.  Auf  neutralem  Felde  treffen  sich  so 
künstlerische  Konzeption  und  wissenschaftliche  Erkenntnis,  um  uns  zwei  Strebungen 
der  werdenden  und  vollendeten  großen  Zeit  der  Griechen  kennen  zu  lehren:  ihre 
Schöpfungen  von  einem  Hauch  des  Naturgesetzlichen  berühren  zu  lassen  und 
das  Erkannte  sinnlich-lebendig  zu  erfassen  und  darzustellen,  selbst  wo  es  uns  tote 
Mathematik  erscheint.  Darüber  hinaus  aber  sind  die  Theuerschen  Tabellen,  soweit 
sie  einfache  Klärungen  der  zahlenmäßig  festzustellenden  Beziehungen  sind,  als 
Rekonstruktion  des  mathematischen  Kalküls,  der  dem  dorischen  Peripteros  die  letzte 
Olättung  gab,  wichtige  zeitgenössische  Zeugnisse  für  die  Baugedanken,  deren  Aus- 
druck die  dorischen  Tempel  des  VI.  und  V.  Jahrhunderts  vor  Christo  sind.  Sie  zeigen 
mit  Gewißheit,  daß  der  subjektive  Eindruck,  den  der  heutige  Betrachter  vor  diesen 
Bauwerken  empfängt,  richtigen  Aufschluß  über  die  architektonische  Absicht  gibt: 
der  Konstruktion  unterliegt  eigentlich  nur  der  Aufriß  der  Außenfassade,  der  Grund- 
riß hat  an  ihr  teil,  insofern  er  durch  die  Gestaltung  des  Aufrisses  mitbestimmt  ist. 
Der  Innenraum  der  Cella  fügt  sich  jedoch  nicht  mit  der  gleichen  Notwendigkeit  der 
Gesamtkonstruktion  ein,  weder  in  seiner  Tiefenerstreckung  noch  in  seinen  Höhen- 
maßen ist  eine  unmittelbare  Affinität  zum  Eintretenden  bezweckt,  seine  Dimensionen 
wiederholen  das  Grundverhältnis  des  Tempels  oft  unrein,  er  ist  in  der  ursprüng- 
lichen Konzeption  nur  vorhanden  als  hinter  dem  Aufriß  und  über  dem  Grundriß 
mitzudenkender  idealer  Raumkörper.  Besonderheiten  in  der  Wahl  der  Verhältnis- 
zahlen schienen  uns  sogar  von  einer  gewissen  Unsicherheit  zu  zeugen,  dem  Innen- 
raum von  sich  aus  klare  und  in  ihrer  befriedigenden  Wirkung  notwendige  Verhält- 
nisse zu  geben,  eine  endgültige  Fixierung,  die  man  dann  durch  eine  gewissermaßen 
magische  Einwirkung  der  planimetrisch  durchkonstruierten  Grenzflächen  auf  den 
dahinterliegenden  Raum  zu  erreichen  suchte.  Je  weniger  den  Griechen  der  beginnen- 
den Klassizität  eine  natürliche  Anlage  zu    einer  nach  Tiefe  und  Weite   extensiven, 


BESPRECHUNGEN.  340 


gleichsam  malerischen  Raumerfassung  geworden  war,  »desto  mehr  sahen  sie  sich 
nach  Gesetzen  und  Regeln  um»,  um  ein  Qoethesches  Bekenntnis  zu  paraphrasieren. 

Theuer  findet  als  Geschichte  der  Proporlionierung  eine  allmähliche  Entwicklung 
zu  einem  kanonischen  Gebrauch,  der  sich  dann  lockert.  Glaublich  genug,  wenn 
nicht  so  manche  Einzelfälle  dieser  wohl  noch  verfrühten  Statuierung  widerstrebten! 
In  den  Vordergrund  seiner  Ergebnisse  stellt  er  jedoch  zwei  Beobachtungen  anderer 
Art:  bei  männlichen  Gottheiten  liegt  das  Orundverhältnis  im  Stereobat,  bei  weib- 
lichen im  Stylobat,  bestimmte  Orundverhältnisse  sind  bestimmten  Gottheiten  eigen, 
z.  B.  2x5  dem  Apollo,  5x11  dem  Zeus,  3x8  der  Hera.  Die  Zahl  der  Beispiele 
genügt,  um  das  erste  Resultat  zu  sichern,  wenn  auch  der  kultische  Grund  für  eine 
solche  Unterscheidung  schwer  zu  finden  sein  wird.  Anhalte  und  Übereinstimmungen, 
die  Theuer  zu  seiner  zweiten  Feststellung  führten,  können  Zufall  sein.  Es  ist 
wenigstens  auffallend,  daß  sich  keine  historische  Entwicklung  bis  zu  einer  solchen 
Zueignung  bestimmter  Zahlenverhältnisse  an  Gottheiten  zeigen  will.  Denn  auch 
griechische  Götter  werden  nicht  mit  Zahlen  geboren.  Verschwiegen  darf  jedoch 
nicht  werden,  was  Theuer  entgangen  ist,  daß  unter  den  Pythagoräern  hauptsäch- 
lich Philolaos  ein/x'lne  Gottheiten  mit  den  Innenwinkeln  bestimmter  Vielecke  identi- 
fizierte (Diels,  Vorsokratiker  '■'  1  305),  wobei  an  die  oben  festgestellten  Beziehungen 
dieser  Innenwinkel  zu  den  Grundverhältnissen  dorischer  Peripteraltempel  zu  erinnern 
ist.  Wie  auch  die  Zukunft  entscheiden  mag,  es  handelt  sich  hier  um  so  geringe 
Differenzen,  daß  die  Anwendung  verschiedener  Grundverhältnisse  in  Slereobat  oder 
Stylobat  für  den  ästhetischen  Eindruck  irrelevant  bleibt,  höchstens  eine  etwas  ver- 
schiedene Formulierung  des  Vorslellungsbildes  verlangt,  im  übrigen  aber  individuellen 
und  zeitgeschichtlichen  Neigungen  freien  Spielraum  läßt.  Es  handelt  sich  mehr 
nur  um  eine  Gepflogenheit  auf  einem  Gebiet,  das  der  rein  künstlerischen  Betätigung 
schon  oder  noch  ganz  fern  liegt. 

Heidelberg.  Bernhard  Schweitzer. 


Hans  Lorenz  Stoltenberg,  Reine  Farbkunst  in  Raum  und  Zeit  und 
ihr  Verhältnis  zur  Tonkunst.  Leipzig,  Verlag  Unesma,  1920.  8".  36  5. 
Eine  reine  Farbkunst  möchte  man  uns  heule  schaffen,  wie  es  eine  reine  Ton- 
kunst gibt.  Die  expressionistische  Kunstbewegung,  und  innerhalb  dieser  breiten, 
historisch  verankerten  Bewegung,  hauptsächlich  die  futuristische  und  kubistische 
Strömung,  haben  uns  zu  einer  Eigenbewertung  der  Farbe  in  der  Kunst  hingeführt, 
wie  wir  sie  früher  nicht  kannten.  Diese  Fähigkeit,  die  Mächtigkeit  der  Farbe  als 
einen  unerhört  starken  Anreger  von  ganz  selbständiger  Bedeutung  zu  empfinden, 
ihn  auf  allen  Gebieten  des  künstlerischen  und  praktischen  Lebens  zu  entschiedener, 
von  irgendwelcher  dinglichen  Beziehung  losgelösten  Mitwirkung  gelangen  zu  lassen, 
war  in  uns  vorbereitet  worden  schon  durch  die  Kunst  des  Impressionismus.  So  ist 
es  wohl  eine  natürliche  Folge  dieser  langanhaltenden  Übung  und  Verfeinerung 
unseres  Farbensinns  und  unseres  Farbensehens,  daß  wir  der  Farbe  an  sich  dieselbe 
Oeistigkeit  zuerkennen  möchten  wie  dem  Ton  an  sich,  daß  wir  Farbensymphonien 
möchten  lernen  zu  erleben  mit  der  geistigen  Tiefe  und  Beziehung,  mit  der  wir 
Tonsymphonien  erleben. 

Die  kleine  Schrift  von  Hans  Lorenz  Stoltenberg:  >Reine  Farbkunst  in  Raum 
und  Zeit  und  ihr  Verhältnis  zur  Tonkunst«  sucht  das  Recht  einer  reinen  Farbkunst 
zu  begründen  aus  der  Verwandtschaft  des  reinen  (d.  h.  von  jeder  dinglichen  Be- 
ziehung losgelösten)  Tonempfindens  mit  dem  reinen  Farbenenipfinden,  sowohl  ihrer 
Entstehung  als  ihrer  Beschaffenheit  nach,  und  hier  kommt  es  ihm  vor  allem  darauf 


350  BESPRECHUNGEN. 


an  zu  zeigen,  daß  beide  Empfindungen  gleicherweise  der  Formung  durch  Raum 
und  Zeit  unterstehen.  Auf  dieser  Gleichartigkeit  baut  er  die  Mögh'chkeit  auf,  ebenso 
reichhaltige  und  vielseitige  Oefüge  durch  Farben  schaffen  zu  können  wie  durch  Töne, 
wenn  auch  gewisse  Unterschiede  des  räumlichen  Seins  zwischen  Farben  und  Tönen 
bestehen  bleiben.  —  Die  Ganzheit  der  Farbenerscheinungen  läßt  sich  durch  das  körper- 
hafte Gebilde  des  Farbkegels  darstellen,  die  Grundlage  der  Töne  bildet  die  Reihe. 

Der  Verfasser  macht  uns  bekannt  mit  unzulänglichen  Versuchen  früherer  Zeiten, 
Farbspielzeuge  zu  bauen,  und  stellt  sich,  als  Erfinder  »einer  Art,  zeitliche  Farbvor- 
stellungen auch  anderen  vorzuführen«,  in  die  Reihe  derjenigen,  die  heute  auf  diesem 
Gebiete  praktisch  arbeiten. 

Die  hier  berührte  Frage  ist  fesselnd,  man  könnte  mit  ihr  zugleich  die  Frage 
lösen,  ob  der  kleine  Ausschnitt  ernsthaft  zu  nehmender  Darbietungen  der  dadaisti- 
schen Kunst,  die  Farbenerlebnisse  von  Bedeutung  erregen  will,  mit  welchen  Mitteln 
immer  es  sei,  seinen  Zweck  erreichen  kann.  Auf  dem  Grunde  des  ganzen  Pro- 
blems liegt  die  Frage:  Ist  tatsächlich  die  Farbe  geistig  so  vom  Körper,  oder  sagen 
wir  besser  vom  Dinge,  zu  lösen,  wie  der  Ton  es  ist;  denn  auf  der  Vollkommenheit 
dieser  Loslösung,  auf  der  Abstraktionsbefähigung  ruht  die  Möglichkeit,  die  Farbe 
wie  den  Ton  zum  Träger  selbständiger  Kunstwerke  zu  machen.  —  Wir  möchten 
die  Frage  verneinen. 

Wenn  auch  unsere  Auffassungsweise  der  Töne,  wie  der  Farben,  im  Grunde 
genommen  eine  ganz  gleiche  sein  sollte,  bedingt  durch  die  Raum-Zeitlichkeit  aller 
unserer  Empfindungen,  so  muß  es  doch  einen  Grund  haben,  warum  von  Ursprung 
an  der  Ton,  losgelöst  von  den  Dingen,  durch  die  er  erklang,  Grundlage  eines 
immer  reicher  und  großartiger  sich  entwickelnden  Baus  reiner  Kunst  wurde,  wäh- 
rend die  Farbe  in  der  reinen  Augenkunst,  bis  in  die  allerjüngste  Zeit  hinein,  immer 
auf  dinglichem  Hintergrunde  erschien.  Da,  wo  sie  die  höchsten  Triumphe  ihres 
Eigenwerts  feiert,  im  Kunstgewerbe,  und  hier  besonders  in  der  orientalischen 
Teppichkunst,  auch  da  ist  sie  doch  immer  gebunden  an  den  Gegenstand;  über  den 
Gegenstand  schritt  sie  bisher  noch  nicht  hinaus. 

Sollte  dieser  verschiedene  Entwicklungsgang  von  Ton  und  Farbe  daran  liegen, 
daß  beide  eben  doch  Ausdruck  und  Symbol  von  etwas  an  sich  Wesensverschiede- 
nem sind,  und  sollte  diese  Wesensverschiedenheit  nicht  eben  die  Grenzen  zwischen 
beiden  Gebieten  letzten  Endes  festlegen? 

Wir  glauben  nicht  daran,  daß  der  musikalische  Ton  seinen  selbständigen  Wert 
erlangt  hat  durch  Abstraktion  von  den  Geschöpfen  und  Dingen  der  Außenwelt, 
durch  die  und  an  denen  Klänge  unser  Ohr  berührten,  wie  Stoltenberg  annimmt, 
sondern  wir  glauben,  daß  der  musikalische  Ton,  ebenso  wie  der  Tanz,  hervorging 
aus  dem  Drang,  den  Regungen  der  Seele  Ausdruck  zu  verleihen,  dieselben  in  rhyth- 
mischer Formung  zu  gestalten  und  zu  meistern.  Daher  war  die  Musik  von  jeher 
zwar  gebunden  an  das  Werkzeug  zur  Hervorbringung  des  Tons,  aber  Ausdruck 
von  etwas  ganz  und  gar  Undinglichem. 

Die  Farbe  hat  uns  niemals  zu  Gebote  gestanden  zum  willkürlichen,  unmittel- 
baren Ausdruck  dessen,  was  unser  letztes  Eigenes  ist,  unseres  seelischen  Lebens. 
Sie  hat  eine  ganz  andere  große  Bedeutung.  Sie  erhebt  die  Dingwelt  für  uns  zum 
Leben;  das  Geistige  der  Farbe  besteht  darin,  nicht  daß  sie  Ausdruck  unseres 
eigenen  seelischen  Lebens  ist,  sondern  daß  sie  uns  die  Seele  der  Körperwelt  ent- 
hüllt. Weil  sie  nichts  an  sich  ist,  sondern  weil  sie  entsteht  aus  dem  Aufeinander- 
treffen von  Lichtstrahlen  und  körperlichem  Stoff,  und  weil  sie  beständig  sich  wan- 
delt, entsteht  oder  vergeht  mit  der  Beweglichkeit,  dem  Aufgehen  oder  Verlöschen 
des  Lichts,  darum   zeigt  sie  uns  die  Dinge   niemals  wie   sie   sind,   sondern  immer 


MSPRECHUNGm  ^^  351 


k 


durchglüht  von  der  Bedeutung,  die  sie  greifbar  besitzen  in  dem  Zeitaugenblick, 
den  wir  mit  ihnen  erleben.  Das  ist  der  metaphysische  Wert  der  Farbe,  der  nicht 
vermindert  wird  durch  die  Tatsache,  daß  wir  im  allgemeinen,  unwissenschaftlichen 
Denken  den  Dingen  eine  ständige  f^j'genfarbe  zuschreiben. 

Der  Sinn  der  Farbe  liegt  darin,  daß  sie,  wo  sie  an  Dingen  erscheint,  unseren 
Geist  vom  Sinnlichen  zum  Unsinnlichen  und  zum  Übersinnlichen  fortleitet,  und 
hierauf  beruht  der  selbständige  Formwert,  den  die  Farbe  im  Gebiet  der  Kunst  be- 
sitzt. Immer  aber  vermittelt  sie  uns  in  der  Kunst  durch  ihre  Formung  die  Idee, 
die  in  der  Welt  außer  uns  liegt. 

Dem  Spielen  reiner,  ganz  beziehungslos  dargebotener  Farben,  ebenso  wie 
einem  Gemälde,  das  nur  eine  bestimmte  Farbenstimmung  vermittelt,  fehlt  es  daher 
an  der  Idee,  die  dem  Gefüge  von  Tönen,  die  ja  selbständiger  Ausdruck  von  Seeli- 
schem sind,  unvermittelt  innewohnt.  Die  Empfindungen,  die  reine  Farbspiele  un- 
mittelbar erref;en,  können  daher  nur  im  Gebiete  des  Angenehmen  liegen;  das 
geistige  Erlebnis,  das  ein  Kunstwerk  auslöst,  ruht  auf  anderer  Grundlage. 

Die  Töne  bedürfen  also  keiner  Abstraktion,  sie  sind  unvermittelt  Ausdruck 
von  Seelischem,  und  daher,  ohne  weiteres,  brauchbare  Elemente  von  Kunstgefügen; 
die  Farben  erhalten  erst  allmählich  ihre  Loslösung  von  den  Dingen,  und  erst  ver- 
mittelt ihr  seelisch-geistiges  Gesicht '),  darauf  beruht  es,  nach  unserer  Meinung,  daß 
es  eine  reine  Farbkunst,  im  höheren  Sinne  der  Kunst,  nicht  geben  kann. 
Berlin. 

Margarete  Calinich. 


Hans  Joachim  Moser,  Geschichte  der  deutschen  Musik  in  zwei  Bänden. 
1.  Bd.  Von  den  Anfängen  bis  zum  Beginn  des  Dreißigjährigen  Krieges.  Stutt- 
gart 1920,  J.  G.  Cotta'sche  Buchhandlung.  XVI,  519  S.  gr.  8°. 
Mosers  inhaltsreiches  Werk  gehört  zu  den  wenigen,  die  empfohlen  werden 
können,  wenn  —  wie  so  oft  —  der  Fachmann  nach  einer  wissenschaftlichen  und 
doch  lesbaren  und  für  weitere  Kreise  anregenden  Musikgeschichte  gefragt  wird. 
Ich  denke  dabei  hauptsächlich  an  die  frischen  und  reizvollen  Schilderungen  des 
musikalischen  Lebens  in  Kloster,  Schloß  uud  Burg,  in  Dorf,  Stadt,  Kirche,  Schule 
und  Haus.  In  den  rein  musikalischen  Abschnitten  hat  sich  der  Verfasser  mit  dem 
schwierigen  Problem  herumschlagen  müssen,  lebendige  Vorstellungen  von  Kunst- 
werken zu  geben,  die  der  Leser  nicht  kennt  und  nicht  kennen  lernt.  Der  Literar- 
historiker tischt  Versproben  auf,  der  Kunsthistoriker  wartet  mit  photographischen 
Abbildungen  auf,  —  der  Musikhistoriker  kann  günstigenfalls  ein  paar  Notenbeispiele 
bringen,  die  dem  Musiker  nur  selten  einen  Begriff  geben,  dem  Laien  aber  niemals. 
Wir  werden  deswegen  mit  volkstümlichen  Darstellungen,  die  über  das  Biographische 
hinausstreben,  immer  im  Hintertreffen  bleiben.  Muß  hier  der  Leser  Mosers  Aus- 
führungen in  allem  nur  auf  Treu  und  Glauben  hinnehmen,  so  wird  er  auf  jeden 
Fall  das  deutliche  Bild  einer  Entwicklung  davontragen,  die  sich  ebenbürtig  neben 
die  von  Kunst  und  Dichtung  stellt.  Die  nationale  Abgrenzung  des  Themas  tut  der 
Darstellung   keinen  Abbruch.     Im  Gegenteil:  das  Gemälde   wird   wesentlich  klarer, 


')  Ich  möchte,  zur  Verdeutlichung  dessen,  was  hier  über  den  seelischen  Wert 
der  Farben  gesagt  ist,  und  über  die  Idee  im  Kunstwerk,  hinweisen  auf  zwei  früher 
von  mir  veröffentlichte  Arbeiten: 

1.  Versuch   einer  Analyse  des  Stimmungswerts   der  Farbenerlebnisse.    Archiv 

f.  d.  ges.  Psychol.  Bd.  XIX,  Heft  1/2. 

2.  Über  das  Anekdotische  in  der  Malerei.    Diese  Zeitschrift  Bd.  XI. 


352  BESPRECHUNGEN. 


als  wenn  der  Leser  dauernd  in  Europa  herumgeführt  würde;  die  geschichtliche 
Folge,  das  Nacheinander  kommt  durch  die  Beschränkung  des  Nebeneinander  schärfer 
heraus,  zumal  bei  der  wechselseitigen  Durchdringung  aller  Länder  —  und  Deutsch- 
land voran  —  auch  an  den  Schicksalen  fremder  AAusikstile  den  regsten  Anteil  haben. 
Daß  Moser  bei  dieser  Abgrenzung  nicht  das  weise  Maß  nationalen  Stolzes  über- 
schritten hat,  sei  ihm  hoch  angerechnet;  sein  ganzes  Buch  wird  von  warmer  Liebe 
zu  deutscher  Art  und  Kunst  getragen,  ohne  daß  Nichtdeutsches  kleinlich  und  eng- 
herzig herabgesetzt  würde.  Das  Grundsätzliche  über  die  Eigenart  der  deutschen 
Tonkunst  gibt  der  Verfasser  in  seinem  \.  Abschnitt,  und  hier  freilich  möchte  ich 
ein  paar  Punkte  beanstanden,  die  im  Interessengebiet  der  Leser  dieser  Zeitschrift 
liegen.  Ich  will  nicht  darüber  klagen,  daß  der  abgegriffene  Begriff  —  si(  venia 
verbo  —  »Indogermaneu',  der  rein  sprachwissenschaftlich  ist,  und  gegen  dessen 
anthropologischen  Mißbrauch  sein  Schöpfer  Bopp  selbst  energisch  Verwahrung  ein- 
gelegt hat,  wieder  das  Leitmotiv  abgegeben  hat.  Aber  die  ganze  Musik  in  indo- 
germanische und  naiurvolkliche  zu  teilen,  das  geht  denn  doch  nicht,  und  angesichts 
der  Ergebnisse  der  vergleichenden  Musikwissenschaft  wird  Moser  auch  der  »indo- 
germanischen Natur«  das  Monopol  auf  »die  seelische  Fähigkeit,  in  einer  Art  von 
souveränem  Raumgefühl  die  Tondimensionen  sprungweise  zu  durchmessen,  sowie 
nach  der  Höhe  und  Tiefe  zu  erweitern«;  nebst  anderen  Alleinansprüchen  in  einer 
2.  Auflage  wieder  nehmen  müssen.  Wenn  ich  noch  um  eine  Revision  ansuchen 
darf,  so  wäre  es  um  die  des  Ausfalles  gegen  Busoni,  der  als  ungermanischer  Musik- 
ästhet deutsches  Musikwesen  nicht  verstehe.  Ich  glaube  schon,  die  Bachausgaben 
allein  überheben  den  Verfasser  der  Sorge,  Busoni  als  einen,  der  »nur  in  der  Welt 
der  Flächenausdehnung  lebt«,  über  die  dritte  Dimension,  über  deutsche  Tiefe  auf- 
zuklären. Wenn  nicht  einmal  die  ausgezeichnetsten  Musiker  —  und  hier  ist  das 
Grundsätzliche  der  Sache!  —  anderer  Völker  Musik  zu  verstehen  und  zu  schätzen 
vermöchten,  dann  hätte  Moser  kein  Kapitel  über  »Die  Herrschaft  der  Niederländer 
in  Deutschland«  zu  schreiben  Gelegenheit  gehabt,  und  sein  2.  Band  würde  keines 
über  die  Herrschaft  der  Italiener  enthalten.  Diese  Anmerkungen  seien  gemacht, 
weil  Mosers  Buch  recht  viele  weitere  Auflagen  verdient  und  zweifellos  auch  erzielen 
wird.  So  wächst  mit  dem  Erfolg  des  Buches  auch  die  Verantwortlichkeit  seines 
Verfassers. 

Berlin.  Gurt  Sachs. 


Zwei  Darstellungsprobleme  der  bildenden  Kunst. 

I  Psychologische  Untersuchungen. 

Von 
Georg  Marzynski. 
■■ 
Ich  muß  die  Auseinandersetzung  mit  einer  Art  Entschuldigung 
einleiten,  einer  Entschuldigung  dafür,  daß  ich  den  Leser  in  eine  Wissen- 
schaftssphäre hineinführe,  die  dem  künstlerisch  Interessierten  meist 
völlig  fremd  Ist.  Was  uns  hier  beschäftigen  wird,  sind  Überlegungen 
und  Beobachtungen,  die  dem  Gedankenkreise  der  experimentellen 
Psychologie  angehören,  und  zwar  zum  großen  Teil  der  Sinnespsycho- 
logie. Doch  wird  schließlich  niemand  Maler  sein  können,  der  nicht 
an  den  Farben  und  dem  Licht  schon  als  bloßer  sinnlicher  Erschei- 
nung ein  lebhaftes  Interesse  nimmt.  Und  in  der  Tat  sind  Lionardo 
da  Vinci  und  Goethe  die  Ahnherren  der  heutigen  psychologischen 
Optik.  Ähnlich  aber  wie  bei  den  Malern  wird  es  bei  den  Kunst- 
wissenschaftlern stehen.  Auch  für  sie  wird  alles,  was  die  sinnlichen 
Elemente  der  sichtbaren  Welt  betrifft,  wichtig  und  wissenswert  sein. 
Und  ich  hoffe  zu  zeigen,  daß  Beobachtungen  an  ganz  primitiven 
Phänomenen  wertvolle  Ergebnisse  für  die  Kunstwissenschaft  liefern. 
Dabei  werden  wir  beständig  von  einer  bestimmten  Annahme  aus- 
gehen, die  gleich  am  Eingang  als  Fiktion  nachdrücklich  gekennzeichnet 
werden  soll:  Von  der  Annahme  nämlich,  daß  es  dem  Künstler  einfach 
darauf  ankomme,  ein  Stück  der  Wirklichkeit  wiederzugeben,  oder 
wenigstens  ein  Phantasiegebilde  so  zu  malen,  daß  es  die  Illusion  er- 
zeugt, es  handle  sich  um  eine  Wiedergabe  wirklicher  Dinge.  Ich  weiß 
sehr  wohl,  daß  selbst  ein  naturalistischer  Künstler,  eben  weil  er 
Künstler  ist,  mehr  will  als  eine  bloße  Wiederholung  der  Wirklichkeit. 
Trotzdem  ist  es  nützlich,  diese  Fiktion  festzuhalten,  denn  sie  ver- 
einfacht die  Fragestellung.  Sie  scheidet  alle  diejenigen  Darstellungs- 
probleme aus,  welche  ihren  Grund  in  den  künstlerischen  Absichten 
haben,  und  läßt  alle  diejenigen  klar  erkennen,  welche  schon  bei  der 
bloßen  Wiedergabe  eines  Weltausschnittes  auftreten.  Und  wir 
werden  sehen,  daß   in  dieser  niedersten  Sphäre  des   Kunstschaffens 

Zeilschr.  f.  Ästhetik  u.  allit.  Kunstwissenschaft.    XV.  23 


354  GEORG  MARZYNSKI. 


Gegensätze  wirksam  sind,  deren  Ursprung  man  sonst  in  einer  weit 
höheren  sucht. 

Es  ist  eine  Binsenwahrheit,  daß  zwei  Künstler  aus  demselben 
Vorwurf  zwei  verschiedene  Bilder  machen.  Wir  sind  gewohnt,  dies 
ohne  weiteres  hinzunehmen;  denn  selbstverständlich  muß  sich  der 
Unterschied  der  beiden  Individualitäten  in  ihren  künstlerischen  Äuße- 
rungen zeigen.  Eine  Individualität  ist  aber  etwas  so  Komplexes,  daß 
es  kein  aussichtsreiches  Unternehmen  wäre,  hier  noch  weiter  vorzu- 
dringen. Versucht  man  aber  doch,  die  Fragestellung  über  das  Niveau 
der  vagen  Allgemeinheiten  hinauszuheben,  dann  ergibt  sich,  soweit 
ich  sehen  kann,  etwa  folgendes  Schema:  Zuerst  wird  ein  Eindruck 
gewonnen.  Dieser  Eindruck  ist  bei  allen  Menschen  ungefähr  derselbe. 
Er  kann  vom  Künstler  aber  nicht  objektiv  wiedergegeben  werden, 
sondern  die  Eigenart  seines  Temperamentes  zwingt  ihn,  die  Motive 
umzuformen  und  auszugestalten.  Die  so  entstandenen  Verschieden- 
heiten werden  noch  vergrößert  durch  die  gleichfalls  individuelle 
Darstellungstechnik;  die  Strichführung  kann  frei  und  fließend,  oder 
stockend  und  kleinlich  sein  usw.  Mit  anderen  Worten:  In  einem 
ersten,  niedrigsten  Stadium  reagiert  der  Mensch  wie  ein  photographi- 
scher Apparat.  Er  nimmt  schlicht  auf.  Das  gewonnene  Bild  erleidet 
erst  dann  die  beschriebenen  Umformungen.  Schon  die  ersten  »photo- 
graphischen« Eindrücke  sind  nicht  bei  allen  Menschen  ganz  gleich. 
Aber  die  auftretenden  Unterschiede  sind  solche,  wie  sie  eben  durch 
Unterschiede  des  »photographischen  Apparates«  erklärt  werden  können. 
Die  eine  Aufnahme  ist  besser  als  die  andere,  doch  in  allen  erscheint 
dasselbe  Objekt  im  wesentlichen  in  derselben  Art. 

2. 

Ich  werde  zu  zeigen  versuchen,  daß  dies  ein  Vorurteil  sei.  Und 
zwar  kann  man  es  zweckmäßig  das  Vorurteil  von  der  ursprüng- 
lichen Eindeutigkeit  der  Wahrnehmungswelt  nennen.  Sein 
Ursprungsort  ist  ja  leicht  zu  bezeichnen.  Der  Physiker  kennt  nur  eine 
einzige  Welt,  in  der  jedes  Ding  sich  selbst  gleich  ist.  Und  diese  ein- 
deutige Welt  liefert  auch  eindeutige  Wahrnehmungsbilder  —  so  sagt 
das  Vorurteil.  Alle  dennoch  auftretenden  Verschiedenheiten  werden 
hervorgerufen  durch  psychische  Vorgänge,  welche  jenseits  oder  ober- 
halb der  bloßen  Wahrnehmung  stattfinden.  Die  Wahrnehmung  selbst 
ist  objektiv  und  eindeutig,  wie  die  Welt,  welche  ihr  zugrunde  liegt. 

Eine  erste  Vieldeutigkeit  ergibt  sich  aus  der  Funktionsweise  der 
Aufmerksamkeit.  Diese  hat  nämlich  einen  nur  beschränkten  Umfang. 
Man  spricht  von  der  spezifischen  »Enge  des  Bewußtseins«.  Wir 
sind  gezwungen,  die  große  Mehrzahl  der  sich  darbietenden  Eindrücke 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.  355 

ziemlich  undifferenziert  im  Bewußtseinshintergrund  zu  lassen,  um 
die  Möglichkeit  zu  haben,  diejenigen  Elemente,  denen  sich  unser 
Interesse  zuwendet,  klar  zu  erhalten.  Der  auf  das  praktische  Leben 
gerichtete  Mensch,  welcher  an  den  Dingen  als  solchen  Anteil  nimmt, 
hat  daher  im  Bewußtseinsvordergrund  eine  Anzahl  deutlich  erkannter 
Dinge  und  im  Bewußtseinshintergrund  eine  große  Menge  nicht  oder 
schlecht  erkannter.  Dieses  Zentralfeld  des  Bewußtseins  deckt  sich 
gewöhnlich  mit  dem  optischen  Sehzentrum.  Denn  unser  Blickfeld 
hat  eine  ähnliche  Struktur  wie  unser  Bewußtseinsfeld:  Ein  enges 
Zentrum  der  Klarheit  und  Deutlichkeit  und  ringsherum  ein  Hof  zu- 
nehmender Verschwommenheit.  Dies  kann  man  freilich  nur  dann 
beobachten,  wenn  man  die  Augenbewegungen  unterdrückt.  Denn 
wir  helfen  uns  über  die  Enge  des  zentralen  Blickfeldes  dadurch  hin- 
weg, daß  wir  die  Blicklinie  wandern  lassen  und  damit  immer  neue 
Teile  unserer  Umgebung  in  den  Bereich  größter  Klarheit  bringen.  So 
baut  sich  unser  Erkennen  der  Wirklichkeit  aus  lauter  einzelnen  Seh- 
akten auf,  die  sich  meist  kontinuierlich  aneinander  reihen.  Den  Hof 
von  Verschwommenheit  bemerken  wir  gar  nicht,  denn  er  befindet  sich 
in  zweifacher  Beziehung  unter  ungünstigen  Bedingungen:  Einmal  ist 
er  optisch  verschwommen  und  schon  dadurch  schlecht  erkennbar; 
und  zum  zweiten  steht  er  auch  noch  gewöhnlich  im  Hintergrund  der 
Aufmerksamkeit.  Das  erste  können  wir  willkürlich  nicht  ändern,  es 
sei  denn,  daß  wir  die  Blickrichtung  änderten,  wodurch  aber  nur  ein 
neues  Zentrum  der  Deutlichkeit  entstünde,  während  das  frühere  jetzt 
in  den  Hof  der  Verschwommenheit  fiele.  Aber  auch  bei  festgehaltener 
Blickrichtung  ist  es  uns  möglich,  die  Aufmerksamkeit  von  dem 
Sehzentrum  abzulösen  und  sie  dem  Umfeld  zuzuwenden,  welches 
dadurch  zwar  an  optischer  Klarheit  nichts  gewinnt,  wohl  aber  an  Be- 
wußtseinsklarheit. 

Schon  hier  taucht  eine  kunstwissenschaftliche  Frage  auf.  Wie 
machen  es  die  Maler?  Lassen  sie  die  Blick-  und  Aufmerksamkeits- 
linie über  den  Ausschnitt  der  Wirklichkeit  wandern,  welche  sie  gerade 
wiedergeben  wollen?  Setzt  sich  das  Bild  aus  lauter  Zentren  der  Deut- 
lichkeit zusammen,  so  wie  es  bei  unserem  praktischen  Sehen,  das  auf 
die  Erkenntnis  der  Gegenstände  gerichtet  ist,  geschieht?  Oder  haben 
sie  ein  anderes  Verfahren?  Im  Verlauf  der  Kunstentwicklung  sind 
mehrere  Möglichkeiten  wirklich  geworden.  Die  ältere  Malerei  verfuhr 
im  allgemeinen  ebenso  wie  das  praktische  Sehen.  Es  gibt  in  ihren 
Bildern  kein  Deutlichkeitszentrum.  Deutlichkeitsunterschiede  gibt  es 
nur  von  vorne  nach  hinten.  Starke  Verschwommenheit  der  gegen- 
ständlichen Form  deckt  sich  bei  ihr  mit  größerer  Entfernung  vom  Be- 
schauer.   Von  rechts  nach  links  aber  sind  die  Dinge  alle  gleich  deut- 


356  GEORG  MARZYNSKI. 


lieh,  vorausgesetzt,  daß  sie  dargestellt  sind  als  in  der  gleichen  Ent- 
fernung stehend.  Anders  in  gewissen  modernen  Bildern,  die  von 
einem  bestimmten  Blickzentrum  aus  gesehen  sind.  Aber  hier  ist  es 
nicht  so,  daß  Aufmerksamkeits-  und  Sehzentrum  zusammenfallen;  denn 
bei  diesem  Verhalten  würden  die  peripheren  Teile  fast  gar  nicht  zum 
Bewußtsein  kommen.  Vielmehr  ist  die  Aufmerksamkeit  in  stärkerem 
Maße  den  seitlichen  Teilen  des  Blickfeldes  zugekehrt.  Auf  diese  Weise 
erhalten  die  seitlichen  Teile  noch  eine  gewisse  Bewußtseinshöhe;  das 
Zentrum  hingegen  erhält  nicht  optimale,  sondern  nur  relative  Klarheit. 
Man  sieht,  daß  hiermit  sofort  eine  bestimmte  Kompositionsform  ge- 
geben ist  und  zwar  der  Typus  der  zentralen  Komposition.  Und  nun 
braucht  man  sich  nicht  darauf  zu  versteifen,  daß  dieses  Verfahren 
ganz  folgerichtig  durchgeführt  werden  müsse.  In  Wirklichkeit  kommen 
viele  Übergänge  vor. 

Aber  erst  noch  eine  Bemerkung  über  die  Besonderheit  des  künst- 
lerischen Sehens.  In  der  praktischen  Einstellung  ist  das  Interesse 
ganz  den  Gegenständen  als  solchen  zugewandt,  in  der  künstlerischen 
hingegen  meist  den  formalen  Motiven.  Was  hier  also  im  Mittelpunkte 
der  Aufmerksamkeit  steht,  ist  nicht  ein  erkannter  Gegenstand,  sondern 
eine  empfundene  Form.  Und  diese  formale  Einstellung  kann  sich  mit 
der  gegenständlichen  kreuzen,  ja,  sie  tut  es  sogar  häufig.  Nur  ganz 
selten  wird  der  formale  Mittelpunkt  zugleich  Mittelpunkt  des  Blickfeldes 
sein  (wie  etwa  in  Liebermanns  »Gartenbank«  der  Berliner  National- 
galerie). Ein  Bild  kann  durchaus  mit  wandernder  Blicklinie  gemalt 
und  dennoch,  nämlich  formal,  zentriert  sein,  indem  ein  einziges 
formales  Motiv  den  Mittelpunkt  der  Komposition  bildet.  Die  übrigen 
Bildteile  haben  dann  zwar  nicht  gegenständliche,  aber  sozusagen 
formale  Verschwommenheit.  Dabei  braucht  das  Zentrum  nicht  unbe- 
dingt in  der  Mitte  des  Bildes  zu  liegen.  Und  schließlich  macht  es 
auch  gar  nichts  aus,  ob  es  sich  um  ein  »naturalistisches«  Bild  handelt, 
oder  um  ein  »idealistisches«,  oder  »stilisiertes«. 

Anderseits  gibt  es  Bilder,  bei  denen  nicht  nur  die  Gegenstände  für 
den  wandernden  Blick,  sondern  auch  die  formalen  Elemente  als  Motiv- 
kette für  die  wandernde  Aufmerksamkeit  gemalt  sind.  Oder  auch  als 
ein  einziges  Motiv,  das  aber  erst  im  Fortgang  der  Wahrnehmung  sich 
vollendet,  ähnlich  wie  ein  musikalisches  Thema,  das  ja  auch  solch 
eine  sukzessive  Einheit  ist.  Und  selbstverständlicher  Weise  gibt  es 
auch  Übergangsformen.  Dürers  »Tod  der  Maria«  (1508:10)  hat  ein 
klares  Zentrum  im  Bett  der  Maria,  trotzdem  aber  bewegen  sich  von 
beiden  Seiten  her  solche  Ketten  auf  das  Zentrum  zu.  Dieses  wird 
hier  sozusagen  durch  die  Wanderung  erst  erreicht. 

Die  Kategorien    »zentriert«,   »sukzessiv«  beruhen  auf  bestimmten 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.  357 

psychologischen  Gesetzmäßigkeiten.  Sie  verlangen  ein  bestimmtes 
psychologisches  Verhalten  des  Beschauers.  Stilgegensätze  lassen  sich 
hier  zurückführen  auf  den  Gegensatz  der  wandernden  und  der  ge- 
sammelten Aufmerksamkeit.  Diese  Zurückführung  ist  aber  nicht  so 
gemeint,  daß  die  Stilgegensätze  sich  durch  den  psychologischen  Typus 
des  Künstlers  restlos  erklären  ließen.  Als  müsse  er  etwa  stets  zentral 
komponieren,  weil  seine  Aufmerksamkeit  nun  einmal  eine  bestimmte 
Funktionsweise  habe.  Möglich,  daß  der  Aufmerksamkeitstypus  für 
den  Stil  des  Künstlers  eine  gewisse  Rolle  spielt.  Aber  es  wäre 
kritiklos,  daraus  allein  alles  erklären  zu  wollen.  Denn  man  wird  sich 
mit  gutem  Recht  dagegen  wehren,  die  Bildgestaltung  für  einen  zwangs- 
mäßigen Ausfluß  der  psychologischen  Struktur  zu  halten.  Man  wird 
der  Wahrheit  näher  kommen,  wenn  man  sagt:  Die  künstlerische  Ge- 
staltung sei  abhängig  von  der  Gesamtheit  der  geistigen  und  emotio- 
nalen Reaktionen  auf  ein  Stück  der  Wirklichkeit;  und  diese  Reaktionen 
bestimmen  ihrerseits  das  Verhalten  der  Aufmerksamkeit.  Diese  psy- 
chischen Funktionsweisen,  die  ich  schilderte,  bestehen  aber  wahrschein- 
lich nicht  als  individuell  fest  verankerte  Strukturen,  sondern  als  wech- 
selnde Verhaltungsweisen.  Der  Sinn  unserer  These  war:  Gewisse 
Kompositionsformen  haben  ein  Korrelat  in  gewissen  Formen  der  Auf- 
merksamkeit. Dies  wird  auf  die  Bildgestaltung  sicherlich  einen 
gewissen  Einfluß  haben,  aber  es  wäre  roh  und  wahrhaft  kunstfremd 
gedacht,  wenn  man  die  Kompositionsformen  einfach  aus  den  Auf- 
merksamkeitsformen »erklären«  wollte.  Die  Kunstwissenschaft  ist  ja 
im  Grunde  viel  mehr  an  der  einfachen  Feststellung  interessiert,  daß 
es  solche  Kompositionsformen  gibt,  als  an  der  Frage,  wie  solche 
Formen  entstehen  können.  Und  auch  wenn  man  dieser  Frage  nach- 
geht, wird  man  sich  hüten  müssen,  den  Prozeß  der  Bildformung  für 
so  primitiv  zu  halten,  daß  er  sich  aus  bloßen  Verschiedenheilen  der 
Aufmerksamkeit  erklären  ließe.  Hingegen  ist  es  von  Interesse,  darauf 
hinzuweisen,  daß  der  Beschauer  von  Bildern  dieser  beiden  Komposi- 
tionsformen seine  Aufmerksamkeit  jedesmal  auf  eine  andere  Weise 
einstellen  müsse,  in  dem  einen  Falle  wird  er  das  Bild  »ablesen« 
müssen,  in  dem  anderen  es  in  einem  einzigen  Wahrnehmungsakt  um- 
spannen können. 

Man  kann  fragen,  wie  sich  die  von  Wölfflin  aufgestellten  Kategorien 
zu  den  hier  besprochenen  verhalten.  In  Betracht  kommen  die  drei 
Oegensatzpaare:  Geschlossene-offene  Form,  Einheit- Vielheit  und  Klar- 
heit-Unklarheit. Wölfflin  sieht  in  ihnen  Entwicklungsphasen;  sie  sind 
für  ihn  Elemente  der  Begriffskomplexe:  Klassik  und  Barock.  Der 
Gegensatz  zentriert-sukzessiv  läßt  sich  nicht  in  dieser  Weise  historisch 
einordnen.     Aber  man   darf  vielleicht  sagen,   daß   er  die  funktionale 


358  GEORG  MARZYNSKI. 


Grundlage  der  genannten  darstellt.  Nur  weil  er  vorhanden  ist,  konnten 
die  anderen  sich  ausbilden.  Die  klassische  Kunst  komponiert  zentral 
in  ihrer  Formgeschlossenheit,  hingegen  sukzessiv  in  ihrem  Streben 
nach  Vielheit  der  Bildakzente  und  gegenständlicher  Klarheit  des  ein- 
zelnen. Umgekehrt  das  Barock.  In  beiden  geschichtlichen  Stilarten  ist 
sowohl  das  Bestreben  nach  Zentrierung  wie  nach  Sukzession  vor- 
handen, nur  betätigt  es  sich  beide  Male  nach  verschiedenen  Rich- 
tungen. 

3. 

Es  zeigt  sich  also,  daß  bestimmte  Stilformen  gekoppelt  sind  mit 
bestimmten  psychischen  Vorgängen.  Immerhin  handelt  es  sich  um 
Aufmerksamkeitsverteilung,  also  um  Vorgänge  verhältnismäßig  kom- 
plexer Natur,  die  sich  in  einer  ziemlich  »hohen«  Schicht  der  Psyche 
abspielen.  Wir  werden  jetzt  sehen,  wie  Unterschiede  in  viel  primi- 
tiveren Funktionsweisen  einen  wichtigen  künstlerischen  Einfluß  haben 
können. 

Wir  wollen  uns  einmal  vorstellen,  ein  Maler  wolle  die  Wirklich- 
keit mit  unbedingter  Objektivität  wiedergeben.  Die  vorhin  erörterten 
psychischen  Verhältnisse  machen  das  ja  in  der  Tat  unmöglich,  aber 
wenigstens  an  einem  sehr  kleinen  Ausschnitt  müßte  das  doch  möglich 
sein,  vorausgesetzt,  daß  er  nicht  wieder  aus  sehr  geringer  Entfernung 
gesehen  wäre,  wodurch  sich  die  Menge  der  Einzelheiten  sofort  wieder 
ins  Unwiedergebbare  vermehrte.  Und  selbst  wenn  es  jetzt  noch 
Schwierigkeiten  gäbe,  so  doch  sicher  nicht  mehr  bei  irgend  einem 
einzelnen  Element.  Dieses  Blau  hier  vor  mir  ist  doch  eben  dieses 
bestimmte  Blau.  Wenn  man  es  abmalt,  so  kann  es  noch  Unterschiede 
des  Pinselstrichs  geben,  aber  aufgefaßt  wird  es  doch  stets  und  von 
allen  in  der  gleichen  Art;  irgend  etwas,  wie  eine  verschiedene  Auf- 
fassung ist  eigentlich  unmöglich,  vorausgesetzt,  daß  die  äußeren  Ver- 
hältnisse immer  dieselben  bleiben.  Hier  ließe  sich  doch  dann  sagen: 
Der  eine  hat  es  richtig  wiedergegeben,  der  andere  falsch.  Und  ebenso 
bei  einer  bestimmten  Form:  Dieser  Würfel  hier  vor  mir  muß  stets  in 
der  gleichen  Art  gesehen  werden,  solange  man  den  Standpunkt  nicht 
wechselt.  Kurz:  Das  Vorurteil  von  der  Eindeutigkeit  der  erlebten  Welt 
zieht  sich  auf  die  sinnlichen  Elemente  zurück.  Wenn  auch  die  Kom- 
plexe vieldeutig  sind,  sollen  wenigstens  die  Elemente  eindeutig  sein. 

Für  das  Beispiel  von  dem  Blau  wird  man  einen  naheliegenden 
Einwand  machen  können.  Unsere  Netzhaut  ist  nicht  in  allen  ihren 
Teilen  gleich  farbenempfindlich,  sondern  in  der  Mitte  viel  stärker  als 
an  den  Seiten.  Wenn  ich  das  Blau  peripher  betrachte,  so  sieht  es 
schon  gar  nicht  mehr  blau  aus,  sondern  grau.  Doch  das  wird  man 
abweisen  und  zwar  mit  Recht,  da  ja  die  äußeren  Bedingungen  des 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.         359 

Sehens  verändert  worden  sind.  Vielleicht  sind  sinnliche  Elemente 
dieser  Art  wirklich  eindeutig.  Die  Eindeutigkeit  verschwindet  aber 
sofort  wieder,  sowie  wir  uns  anderen  Elementen  zuwenden,  die  auch 
noch  als  durchaus  primitiv  gelten:  Ich  spreche  von  den  Schatten. 

Nehmen  wir  einen  ganz  einfachen  Fall.    Irgend  eine  glatte  weiße 
Scheibe  ist  in  die  dunkle  Ecke  eines  Zimmers  gestellt.    Wie  sieht  sie 
jetzt  eigentlich  aus?    Doch   wir  wollen  die  Verhältnisse  noch   mehr 
vereinfachen.      Die    meisten    »natürlichen«    Schatten    haben    ziemlich 
starke,  buntfarbige  Beimischungen.    Von  diesen  soll  vollkommen  ab- 
gesehen werden,  und  in  der  Tat  besitzen  wir  die  Möglichkeit,  mit 
Hilfe  des  sogenannten  Episkotisters  »künstliche«  Schatten  zu  erzeugen, 
die  völlig  frei  von  solchen  buntfarbigen  Beimischungen  sind.    Nehmen 
wir  also  an,  die  Scheibe  in  der  dunklen  Ecke  habe  keinerlei  farbige 
Beimischungen.    Wenn  jetzt  ein  Beobachter  beschreiben  sollte,  wie 
diese  Scheibe  aussieht,  so  wäre  er  vor  eine  nicht  ganz  einfache  Aufgabe 
gestellt.    Er  würde  zuerst  vermutlich   sagen,   die  Scheibe  sehe  grau 
aus.    Wenn  man  ihm  dann  ein  graues  Papier  gäbe  und  fragte,  ob  sie 
diesem  gleichsehe,  so  würde  er  das  zweifelsohne  verneinen  müssen. 
Denn  das  Grau  des  grauen  Papiers  haftet  fest  an  der  Papieroberfläche, 
das  Schattengrau  hingegen  liegt  locker  auf  der  Scheibe.    Doch  damit 
nicht  genug.     Das  graue  Papier  ist  einfach   und  eindeutig  grau;  die 
Scheibe  hingegen  keineswegs.    Man  sieht  ohne  weiteres,  daß  sie  in 
Wirklichkeit  weiß  ist.    Und  dieses  »Sehen«  ist  nicht  bloß  ein  Wissen 
darum,  sondern  man  sieht  wirklich  das  Weiß  durch  den  Schatten  hin- 
durch.   Dieser  ist  wie  ein  durchsichtiger  Schleier,  hinter  dem  die  wirk- 
liche Farbe  der  Scheibe  herauskommt.    Aber  auch  das  ist  noch  un- 
genau.   Denn  das  Weiß  leuchtet  nicht  in  seiner  ganzen  Ausdehnung 
durch  den  Schatten    hindurch,   sondern   die  Erscheinung   hat   etwas 
Unsicheres,  Schwimmendes.     Das  Weiß  kommt  für  Augenblicke  und 
stückweise  durch  den  Schatten   hindurch,  um  dann  an  dieser  Stelle 
wieder  in  ihm  unterzugehen  und  an  einer  anderen  dafür  hervorzutreten. 

Es  klingt  zuerst  vielleicht  etwas  phantastisch,  daß  an  einer  ein- 
fachen weißen  Scheibe,  die  irgendwo  im  Schatten  einer  dunklen  Ecke 
steht,  all  das  zu  beobachten  sein  soll.  Aber  in  Wahrheit  ist  es  ganz 
sicher  so,  wie  eine  Anzahl  von  Versuchen  im  psychologischen  Labo- 
ratorium, wo  man  die  äußeren  Bedingungen  gut  herstellen  kann,  über- 
zeugend bewiesen  hat.  Und  zwar  braucht  man  nicht  einmal  im  Be- 
obachten besonders  geübt  zu  sein,  sondern  diese  Phänomene  sieht 
jeder,  der  im  stände  ist,  sich  Rechenschaft  über  seine  Erlebnisse  zu 
geben.  Doch  die  besten  Beobachter  sind  ja  schließlich  die  Künstler. 
Und  man  braucht  nicht  lange  zu  suchen,  wenn  man  Belege  finden 
will.    Rembrandt  gibt  dem  Schatten  seiner  dunklen  Ecken  immer  den 


360  GEORG  MARZYNSKI. 


Charakter  des  Unfesten,  Schwimmenden,  und  er  läßt  auch  die  Farbe 
der  beschatteten  Gegenstände  stückweise  durch  den  Schatten  hindurch- 
kommen. Nun  wird  auch  klar,  weshalb  viele  Künstler  den  Schatten 
schraffieren.  Technisch  wäre  es  oft  durchaus  möglich,  die  Schatten 
auch  als  gleichmäßige  dunkle  Flächen  zu  geben,  statt  sie  aus  einzelnen 
Strichen  zusammenzusetzen.  Aber  tatsächlich  hat  das  Verfahren  der 
Schraffierung  seinen  guten  Grund.  Nach  einem  bekannten  sinnespsycho- 
logischen Gesetz  verschwimmen  die  einzelnen  Striche  zu  einem  unge- 
fähr gleichmäßigen  Grau,  dessen  Dunkelheit  etwa  ebenso  groß  ist,  als 
wenn  man  die  Summe  der  Dunkelheit  der  einzelnen  Striche  über  die 
gesamte  Fläche  gleichmäßig  ausgebreitet  hätte.  Hätte  man  die  Fläche 
aber  gleichmäßig  grau  gemacht,  so  würde  dieses  Grau  an  der  Fläche 
haften,  ähnlich  wie  bei  einem  grauen  Papier.  Die  schraffierte  Fläche 
sieht  zwar  auch  ungefähr  gleichmäßig  grau  aus,  aber  die  Auflösung 
der  dunklen  Striche  zu  einem  über  die  ganze  Fläche  gleichmäßig  ver- 
teilten Grau  findet  erst  im  Sehzenlrum  selbst  statt,  und  das  so  ent- 
standene Grau  haftet  nicht  mehr  fest  an  der  Fläche,  sondern  es 
hat  gleichfalls  etwas  Unsicheres,  Lockeres,  Schwimmendes,  wie  der 
Schatten  selbst.  Im  übrigen  wird  die  Schraffierung  meist  derart  ge- 
führt, daß  es  gar  nicht  zu  einer  vollständigen  Verschmelzung  der 
Striche  kommen  kann.  Diese  sind  immer  noch  als  einzelne  sichtbar 
und  erfüllen  durch  ihre  Richtung,  ihre  Parallelität  usw.  bestimmte  dar- 
stellerische und  ästhetische  Funktionen.  Eine  wenigstens  teilweise 
Verschmelzung  findet  aber  stets  statt  und  gibt  den  schraffierten 
Schatten  ihre  besondere  Erscheinungsweise. 

Doch  lassen  wir  einmal  all  diese  feineren  Einzelheiten  in  der 
Gesamterscheinung  des  Schattens.  Bleiben  wir  dabei,  die  Scheibe  im 
Schatten  sehe  jetzt  grau  aus.  So  fragt  sich  noch,  welche  Nuance  dieses 
Grau  habe.  Wohlverstanden:  Es  kommt  hier  nicht  auf  die  Beimischung 
farbiger  Töne  zum  Schattengrau  an.  Diese  kann  man,  wie  vorhin 
angedeutet  wurde,  vermeiden.  Sondern  zur  Frage  steht  nur:  Ist  die 
weiße  Scheibe  jetzt,  wenn  der  Schatten  über  ihr  liegt,  hellgrau  oder 
dunkelgrau,  oder  gar  schwarz?  Unsere  Bezeichnungen  für  die  ein- 
zelnen Graustufen  sind  sehr  grob.  Jede  von  ihnen  umschließt  eine 
große  Menge  verschiedener  Abstufungen.  Infolgedessen  wenden  wir 
eine  andere  Methode  an.  Es  gibt  Reihen  von  Graupapieren,  die  ganz 
stätig  in  kleinen,  gleichmäßigen  Abstufungen  vom  klaren  Weiß  bis 
zum  tiefen  Schwarz  führen.  Zwischen  Schwarz  und  Weiß  liegen  etwa 
sechzig  einzelne  Stufen.  Mit  Hilfe  einer  solchen  Serie  kann  man  die 
Graunuance  der  beschatteten  Scheibe  sehr  viel  schärfer  bestimmen  als 
durch  bloße  Benennung.  Es  gilt  also  jetzt,  aus  der  Reihe  ein  Papier 
herauszusuchen,  das  ebenso  grau  ist  wie  die  beschattete  Scheibe. 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST. 


361 


Man  muß  sich  den  Sinn  dieser  Aufgabe  ein  wenig  genauer  über- 
legen. Was  soll  das  heißen:  Ein  Papier,  das  ebenso  grau  ist  wie 
die  beschattete  weiße  Scheibe?  Man  erkennt  ohne  weiteres,  daß  dies 
bedeutet:  Ein  Papier  zu  finden,  das  außerhalb  des  Schattens  das- 
selbe Grau  zeigt,  wie  es  die  an  sich  weiße  Scheibe  erhalten  hat 
dadurch,  daß  der  Schatten  sich  über  sie  legte.  Ich  darf  das  gewählte 
Papier  nicht  etwa  gleichfalls  unter  dem  Schatten  mit  der  Scheibe  ver- 
gleichen, denn  dann  müßte  ich  selbstverständlich  ein  weißes  Papier 
wählen.  Hier  gilt  es  hingegen  festzustellen,  in  welchem  Grade  der 
Schatten  die  weiße  Scheibe  grau  gefärbt  hat.  Daher  muß  das  richtige 
Papier  ohne  Schatten  ebenso  grau  sein,  wie  das  weiße  mit  Schatten. 

Man  kann  den  Versuch  etwa  in  der  Weise  machen,  daß  man 
außerhalb  des  Schattens  an  einem  Rahmen  die  Papiere  einer  solchen 
Oraureihe  nacheinander  anbringt  und  jedesmal  mit  der  beschatteten 
Scheibe  vergleichen  läßt,  bis  der  Beobachter  den  Eindruck  hat,  jetzt 
sei  es  recht.  (Ich  erwähne  noch  einmal,  daß  eine  solche  Vergleichung 
nicht  ganz  leicht  ist,  da  die  beschattete  Scheibe  ja  nicht  nur  einfach 
grau  aussieht,  wie  ein  graues  Papier;  sondern  dieses  Grau  hat  die 
eigentümliche  Erscheinungsweise,  welche  vorher  beschrieben  wurde. 
Trotzdem  ist  der  Vergleich  ganz  gut  ausführbar.)  Der  Beobachter 
schwankt  manchmal,  welche  von  zwei  benachbarten  Nummern  der 
Reihe  er  für  passend  halten  soll,  gewöhnlich  kann  er  sich  aber  ganz 
scharf  entscheiden.  Und  wenn  man  die  Versuche  an  verschiedenen 
Tagen  wiederholt,  so  wählt  er  auch  ungefähr  dasselbe  Papier  wieder. 
Dabei  muß  man  bedenken,  daß  die  Unterschiede  zwischen  zwei  be- 
nachbarten Papieren  sehr  gering  sind,  so  daß  also  kleine  Schwankungen 
ohne  weiteres  verständlich  werden. 

Offenbar  sind  Versuche  dieser  Art  für  die  Probleme  der  Schatten- 
wiedergabe zu  verwenden.  Denn  auch  der  Zeichner  legt  ja  den 
Schatten  als  eine  graue  Fläche  an.  Daß  er  die  Schatten  häufig 
schraffiert  und  sie  nicht  als  eine  zusammenhängende  graue  Fläche 
darstellt,  ist  nicht  sehr  erheblich;  denn  wenigstens  teilweise  ver- 
schwimmen ja  die  einzelnen  Striche  bei  der  Betrachtung  zu  einem 
feinen  Grau,  wie  wir  vorher  sahen.  Statt  die  beschattete  Scheibe  zu 
zeichnen,  wird  im  Versuch  ein  entsprechendes  graues  Papier  gewählt, 
was  für  die  praktische  Ausführung  der  Versuche  sehr  viel  einfacher 
ist.    Psychologisch  handelt  es  sich  aber  um  den  gleichen  Vorgang. 

Vergleicht  man  solch  ein  gewähltes  Papier  mit  der  beschatteten 
Scheibe,  so  findet  man,  daß  beide  in  der  Tat  etwa  dieselbe  Graunuance 
besitzen.  Trotzdem  sind  sie  aber  noch  sehr  verschieden.  Und  zwar 
nicht  nur,  weil  der  Schatten  den  Charakter  des  Unsicheren,  Verschwim- 
menden hat,  der  früher  beschrieben  wurde.    Von  diesen  Verschieden- 


362  GEORG  MARZYNSKI. 


heiten  feinerer  Art  kann  man  als  unerheblich  ruhig  absehen.  Die 
Unterschiede,  die  sich  jetzt  noch  darbieten,  sind  gröber  und  auf- 
fälliger. Die  graue  Scheibe  außerhalb  des  Schattens  macht  nämlich 
einen  sehr  viel  kräftigeren  Eindruck  als  die  beschattete  weiße.  Diese 
ist  ziemlich  matt,  während  jene  den  Betrachter  in  weit  höherem 
Maße  affiziert.  In  der  gebräuchlichen  Terminologie:  es  bestehen  noch 
Unterschiede  der  Eindringlichkeit.  Das  graue  Papier  hat  zwar 
dieselbe  Graunuance  wie  die  beschattete  Scheibe,  trotzdem  aber  eine 
sehr  viel  größere  Eindringlichkeit.  Und  zwar  liegt  dies  ganz  sicher 
nicht  daran,  daß  sich  die  eine  besser  vom  Hintergrunde  abhebt  als 
die  andere.  Denn  man  kann  den  Hintergrund  für  beide  vollkommen 
gleich  machen,  und  trotzdem  bleibt  der  Eindringlichkeitsunterschied. 

Man  kann  nun  dem  Beobachter  die  Aufgabe  stellen,  er  solle  ver- 
suchen, ein  graues  Papier  zu  finden,  welches  dieselbe  Eindringlich- 
keit hat,  wie  die  beschattete  Scheibe.  Dies  gelingt  auch  in  der  Tat, 
vorausgesetzt  daß  der  Schatten  nicht  allzutief  ist^).  Er  wählt  jetzt 
ein  viel  dunkleres  Papier  als  vorher.  Dieses  hat  zwar  dann  die 
gleiche  Eindringlichkeit  wie  die  beschattete  Scheibe,  aber  nicht  ent- 
fernt mehr  die  gleiche  Oraunuance  ä).  Es  ist  vielmehr  ganz  beträcht- 
lich dunkler. 

Der  Leser  wird  sich  beim  ersten  Hören  unter  der  Eindringlichkeit 
eines  grauen  Papiers  nichts  Rechtes  vorstellen  können  und  wird  ge- 
neigt sein,  diese  für  ein  sehr  labiles  Phänomen  zu  halten,  welches 
keinen  rechten  objektiven  Wert  hat.  Die  Helligkeit  eines  Grau  —  dies 
ist  doch  ein  Moment  an  der  Farbe  selbst;  aber  die  Eindringlichkeit  — 
was  soll  denn  das  nun  noch  sein?  Höchstens  etwas  ganz  Subjektives, 
auf  das  man  weiter  nichts  zu  geben  braucht.  Es  ist  sehr  leicht,  diese 
Meinung  ad  absurdum  zu  führen.  Man  kann  nämlich  mit  Hilfe  des 
Photometers  die  Lichtmenge  messen,  welche  von  einer  Fläche  aus  in 
das  Auge  gelangt.  Nimmt  man  diese  Messung  vor  in  dem  ersten  Fall, 
wo  man  ein  Papier  bestimmt  hatte,  welches  die  gleiche  Graunuance 
zeigte  wie  die  beschattete  Scheibe,  so  findet  man,  daß  die  Scheibe 
sehr  viel  weniger  Licht  aussendet  als  das  Papier.  Und  in  diesem 
Fall  erschien  sie  auch  matter,  weniger  eindringlich.  Mißt  man  hin- 
gegen bei  einem  Grau  gleicher  Eindringlichkeit  mit  der  Scheibe,  so 


')  Der  Grund  dieser  Einschränkung  wird  gleicli  angegeben  werden. 

2)  Die  Graunuance  zwischen  Schwarz  und  Weiß  nennt  man  in  der  Sinnes- 
psychologie Helligkeitsstufen  des  Graus.  Dies  stimmt  nicht  ganz  mit  dem  gewöhn- 
lichen Sprachgebrauch  überein,  welcher  unter  Helligkeitsunterschieden  vorwiegend 
Unterschiede  in  der  Beleuchtung  versteht.  Immerhin  spricht  man  auch  hier  von 
einem  »helleren  Grau«,  wenn  man  ein  solches  meint,  das  dem  Weiß  näher  steht. 
Wir  werden  Ausdruck  .Helligkeit«  stets  in  diesem  Sinn  verwenden. 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.  363 

zeigt  es  sich,  daß  beide  die  gleiche  Lichtmenge  aussenden,  trotz- 
dem das  graue  Papier  viel  dunkler  ist  als  die  Scheibe. 

Aber  sind  denn  die  Unterschiede,  um  die  es  sich  hier  handelt, 
wirklich  so  bedeutend?  Sollte  auch  der  beschatteten  Scheibe  je  nach 
der  Auffassungsweise  ein  etwas  mehr  oder  weniger  dunkles  Papier 
zuzuordnen  sein,  —  das  kann  doch  kaum  künstlerisch  etwas  ausmachen, 
wenn  die  Unterschiede  nicht  sehr  groß  sind.  Ich  will  daher  ein  Beispiel 
anführen:  Ich  stellte  eine  weiße  Scheibe  in  einen  Schatten,  der  so 
tief  war,  daß  die  Scheibe  nur  noch  den  neunzigsten  Teil  derjenigen 
Lichtmenge  in  das  Auge  sandte,  welche  sie  außerhalb  des  Schattens 
ins  Auge  gesandt  hatte.  Eine  solche  Scheibe  sieht  hellgrau  aus. 
Sucht  man  ihr  ein  Papier  zuzuordnen,  welches  die  gleiche  Eindring- 
lichkeit hat,  so  findet  man  jedoch  überhaupt  kein  passendes*).  Welches 
man  auch  wählt  —  jedes  ist  viel  eindringlicher.  Auch  die  dunkelsten 
Papiere  haben  noch  immer  etwas  Leuchtendes,  Starkes  an  sich,  gegen- 
über der  Mattheit  der  beschatteten  Scheibe.  Und  das  wird  verständ- 
lich, wenn  man  bedenkt,  daß  selbst  das  tiefste  Schwarz  noch  immer 
den  sechzigsten  Teil  der  Lichtmenge  von  Weiß  reflektiert,  die  be- 
schattete Scheibe  hingegen  nur  den  neunzigsten  Teil.  —  Jetzt  stelle 
man  neben  der  beschatteten  Scheibe,  aber  außerhalb  des  Schattens, 
noch  eine  weiße  Scheibe  auf.  Versucht  man,  die  beiden  Scheiben  zu 
zeichnen,  so  muß  man,  je  nach  der  Auffassungsweise,  zu  ganz  ver- 
schiedenen Ergebnissen  kommen.  Will  man  die  Unterschiede  der 
beiden  Helligkeitsnuancen  wiedergeben,  so  muß  man  die  eine  Scheibe 
weiß  lassen  und  die  andere  hellgrau  machen.  Soll  der  Ein  dring- 
lich keitsunterschied  dargestellt  werden,  so  muß  hingegen  die  be- 
schattete Scheibe  so  dunkel  gemacht  werden,  wie  es  überhaupt  nur 
irgend  geht,  und  trotzdem  wird  man  die  ganze  Kraft  des  natürlichen 
Eindringlichkeitsunterschieds  noch  nicht  erreicht  haben.  Man  sieht, 
daß  es  beim  Zeichnen  nach  der  Eindringlichkeit  zu  sehr  viel  schrofferen 
und  wirkungskräftigeren  Gegensätzen  kommen  wird,  als  beim  Zeichnen 
nach  der  Helligkeit  des  Schattengraus. 

Ein  Schatten  der  oben  beschriebenen  Art  ist  nun  schon  recht  tief, 
aber  durchaus  nicht  ungewöhnlich.  Er  wird  ungefähr  so  tief  sein,  wie 
der  Schatten  in  Rembrandtschen  Gewölbeecken,  und  es  gibt  in  Wirk- 
lichkeit noch  tiefere,  besonders  natürlich  dann,  wenn  in  einem  Teil 
des  Raumes,  oder  der  Landschaft,  sehr  helles  Licht  ist.  Bei  schwächeren 
Schatten  ist  die  Spannung  zwischen  Schattenhelligkeit  und  -eindring- 
lichkeit  weniger  groß,  sie  bleibt  aber  bei  allen  halbwegs  tiefen  Schatten 
recht  bedeutend. 


')  Siehe  Anmerkung  1  der  vorigen  Seite. 


364  GEORG  MARZYNSKI. 


Freilich  mit  einer  Einschränkung:  das  alles  gilt  nicht  für  Schlag- 
schatten. Diese  erscheinen  in  der  Tat  ungefähr  so  dunkel,  wie  es 
ihrer  Eindringlichkeit  entspricht.  Bei  ihnen  trifft  ja  auch  die  früher 
gegebene  Beschreibung  nicht  zu,  nach  welcher  die  Oegenstandsfarbe 
durch  den  Schatten  hindurchkommt.  Sie  sehen  viel  eher  aus  wie  ein 
dunkler  Fleck,  der  auf  dem  Gegenstand  liegt  und  dessen  Eigenfarbe 
fast  völlig  verdeckt.  Sie  sind  nicht  in  dem  Sinne  durchsichtig,  wie 
die  Schatten  dunkler  Ecken  oder  die  Binnenschatten  der  Gegenstände. 
Man  darf  sich  aber  nicht  vorstellen,  daß  es  hier  zwei  Klassen  von  Er- 
scheinungen gäbe,  die  wie  durch  eine  Kluft  voneinander  geschieden  sind. 
Von  dem  schärfsten  Schlagschatten,  den  man  vielleicht  von  einem 
dunklen  Farbfleck  kaum  unterscheiden  kann,  bis  zu  den  lockeren,  durch- 
sichtigen Schatten  führt  eine  Reihe  von  Zwischenstufen.  Je  schroffer 
die  Übergänge  von  Licht  und  Schatten  sind,  desto  weniger  kommt  die 
eigentümliche  Schattennatur  heraus,  je  verfließender  sie  sind,  desto  mehr. 

Das  wichtigste  Beweismittel  wird  aber  natürlich  die  Analyse  von 
Bildern  sein.  Ich  will  die  Anschauung,  welche  ich  mir  gebildet  habe, 
hier  sofort  formulieren:  Die  Wiedergabe  von  Schatten  entsprechend  ihrer 
Eindringlichkeit  ist  ein  typisches  Verfahren  der  impressionistischen 
Darstellungsweise.  Dabei  bedarf  die  Verwendung  des  Ausdrucks  »im- 
pressionistisch« einer  näheren  Erläuterung.  Es  sind  nämlich  nicht  nur 
solche  Künstler  gemeint,  welche  zur  »Schule«  des  modernen  Impres- 
sionismus gehören.  Man  hat  ja  stets  bemerkt,  daß  es  lange  vor  Manet 
Impressionisten  gab.  Um  nur  den  größten  vor  allen  zu  nennen:  Rem- 
brandt.  Aber  auch  Goya  zeichnet  oft  »impressionistisch«,  ebenso  Guercino 
und  viele  andere.  Die  impressionistische  Darstellungsweise  tritt  über- 
all dort  auf,  wo  der  Künstler  am  Licht  selbst  und  nicht  an  den  Dingen 
interessiert  ist.  Und  gerade  bei  den  älteren  »Impressionisten«  ist  das 
gar  keine  Sache  feststehender  Überzeugung,  sondern  oft  vom  Vor- 
wurf abhängig.  Das  Anwendungsgebiet  des  Begriffes  »Impressionis- 
mus« muß  also  sachlich,  nicht  historisch  oder  schulmäßig  bestimmt 
werden.  In  anderer  Beziehung  jedoch  muß  dieses  Anwendungsgebiet 
verengert  werden.  Es  gibt  nämlich  unter  den  impressionistischen 
Zeichnungen  solche  linearer  und  solche  malerischer  Darstellungsart, 
die  Ausdrücke  »linear«  und  »malerisch«  in  der  Bedeutung  genommen, 
welche  ihnen  Wölfflin  aufgeprägt  hat.  Und  auch  diese  Grenzen  werden 
nicht  strenge  innegehalten.  In  einer  Zeichnung  des  linearen  Impres- 
sionismus kann  man  Schattenandeutungen  finden.  Diese  Schatten 
brauchen  dann  durchaus  nicht  nach  ihrer  Eindringlichkeit  dargestellt 
zu  sein.  Im  ganzen  aber  ist  es  doch  so,  daß  der  Impressionismus 
gern  »malerisch«  zeichnet,  und  nur  für  diesen  malerischen  Impres- 
sionismus der  Zeichnung  gilt  die  oben  aufgestellte  These. 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.         365 

Wie  zeichnen  also  nun  die  Künstler?  Stellen  sie  die  Schatten  ent- 
"sprechend  ihrer  Eindringlichkeit  oder  entsprechend  ihrer  Oraunuance 
dar?  Hier  liegen  wieder  einmal  zwei  verschiedene  psychologische 
Einstellungen  vor,  denen  verschiedene  Ausdrucksmögiichkeiten  ent- 
sprechen.   Und  es  wird  nötig  sein,  darüber  zur  Klarheit  zu  kommen. 

Wenn  ich  an  meinen  eigenen  Zeichenunterricht  denke,  so  war  es 
das  durchaus  Natürliche,  die  Schatten  zuerst  nach  ihrer  Helligkeit 
wiederzugeben.  Ich  hatte  aber  dabei  stets  ein  Gefühl  der  Unbefriedi- 
gung,  denn  die  Bilder  wurden  so  unangenehm  flau  und  wirkungs- 
schwach. Ich  spürte  lebhaft,  daß  hier  etwas  nicht  in  Ordnung  war, 
und  machte  die  Schatten  immer  kräftiger,  als  ich  sie  wirklich  sah.  Dieser 
Entwicklungsgang  scheint  mir  typisch,  auch  für  die  Entwicklung  der 
Schattendarstellung  in  der  Kunst.  Es  ist  in  einem  gewissen  Sinne  das 
»natürlichere«  Vorgehen,  Schatten  nach  ihrer  Helligkeit  zu  zeichnen, 
und  zwar  vorwiegend  wohl  deshalb,  weil  man  die  Oraunuance  des 
Schattens  »sieht«,  seine  Eindringlichkeit  aber  nur  »fühlt«.  Und  es  ist 
ja  einleuchtend,  daß  man  bei  dem  Versuch  einer  Darstellung  sichtbarer 
Dinge  im  ganzen  mehr  auf  »Sehen«  eingestellt  ist.  Die  Kunst  brauchte 
erst  eine  lange  Erfahrung,  um  zu  lernen,  daß  die  Darstellung  wirkungs- 
kräftiger und  auch  wahrhaftiger  wurde,  wenn  man  sich  vom  Zwang 
des  bloß  »Sichtbaren«  frei  machte.  Dabei  muß  man  nun  fragen  was 
das  heiße,  die  HeUigkeit  werde  »gesehen«,  die  Eindringlichkeit  aber 
»gefühlt«.  Man  wird  eine  halbwegs  richtige  Beschreibung  des  Vor- 
ganges geben,  wenn  man  darauf  hinweist,  daß  im  ersten  Fall  die  Auf- 
merksamkeit mehr  nach  außen  gerichtet  ist,  auf  das,  was  vor  den 
Augen  steht,  im  zweiten  Fall  hingegen  mehr  nach  innen,  so  daß  die 
Affektion  der  Seele  durch  die  Erscheinungen  bemerkt  wird.  Doch 
diese  ganzen  Vorgänge  gehören  zu  den  sehr  geläufigen  und  daher 
wenig  auffälligen.  Denn  es  ist  eine  Orunderscheinung  unseres  Be- 
wußtseinslebens, daß  die  geläufigen  Vorgänge  die  Neigung  haben, 
unter  die  Bewußtseinsschwelle  zu  sinken  und  sich  dadurch  der  Beob- 
achtung zu  entziehen.  Nur  bei  besonders  günstigen  Umständen  rücken 
sie  dann  wieder  in  den  Blickpunkt  der  Selbstbeobachtung.  Wenn 
man  also  einen  Künstler  fände,  der  sicher  die  Schatten  nach  ihrer  Ein- 
dringlichkeit darstellte  und  ihn  dann  fragte,  wie  er  das  macht,  so  wird 
man  keinerlei  Aussicht  haben,  von  ihm  eine  richtige  Auskunft  zu  er- 
halten, besonders  da  bildende  Künstler  meist  schlechte  Selbstbeobachter 
sind.  Daß  es  möglich  ist,  Schatten  nach  ihrer  Eindringlichkeit  darzu- 
stellen, kann  man  jedoch  durch  Analyse  von  Zeichnungen  erkennen, 
oder  wenigstens  wahrscheinlich  machen.  Ich  habe  versucht,  der  An- 
gelegenheit auch  durch  einen  Laboratoriumsversuch  nahezukommen. 
Ich  baute  nämlich  eine  Anordnung  derart  auf,  wie  ich  sie  früher  be- 


366  GEORG  MARZYNSKI. 


schrieb,  und  ließ  sie  nun  von  mehreren  Versuchspersonen  abzeichnen. 
Dabei  zeigte  es  sich  in  der  Tat,  daß  einige  von  ihnen  die  Schatten 
ganz  sicher  nach  ihrer  Eindringlichl<eit  zeichneten,  manche  jedoch  nach 
der  Helligkeit.  Die  ersteren  machten  also  die  beschattete,  weiße  Scheibe 
tiefschwarz,  trotzdem  sie  deutlich  als  weiße  Scheibe  erschien,  mit 
einem  hellgrauen,  durchsichtigen  Schattenschleier  darüber;  die  zweite 
Gruppe  hingegen  gab  die  Scheibe  hellgrau  wieder.  Man  kann  den 
Versuch  noch  paradoxer  gestalten  —  und  das  geschah  auch  —  indem 
man  neben  die  beschattete  weiße  Scheibe  eine  unbeschattete  schwarze 
stellt,  welche  genau  ebensoviel  Licht  reflektiert  wie  jene.  Denn  Schwarz 
sendet  zwar  an  sich  weniger  Licht  aus  als  Weiß.  Wenn  man  aber, 
wie  hier,  die  schwarze  Fläche  unter  günstige,  die  weiße  unter  un- 
günstige Beleuchtungsverhältnisse  bringt,  so  kann  man  bei  einiger 
Geschicklichkeit  erreichen,  daß  sie  genau  gleichviel  Licht  reflektieren. 
(Wie  man  das  prüft,  mag  unerörtert  bleiben.)  Diese  beiden  Scheiben 
sahen  ganz  verschieden  aus,  links  stand  eben  ein  beschattetes  Weiß 
und  rechts  ein  Schwarz  im  hellen  Licht.  Trotz  dieses  verschiedenen 
Aussehens  wurden  beide  Scheiben  in  der  Zeichnung  gleich  dunkel 
dargestellt,  wenigstens  von  einem  Teil  der  Versuchspersonen.  Damit 
ist  überzeugend  bewiesen,  daß  es  möglich  ist,  die  Schatten  nach  ihrer 
Eindringlichkeit  zu  zeichnen. 

Es  wäre  nun  sehr  schön,  wenn  es  gelänge,  Bilder  aufzufinden, 
die  ungefähr  dieselbe  Situation  bei  derselben  Beleuchtung  darstellten,  und 
von  denen  das  eine  impressionistisch  gezeichnet  wäre,  das  andere  je- 
doch nicht.  Wenn  dann  auf  dem  impressionistischen  die  Schatten 
viel  dunkler  und  massiver  gegeben  wären  als  auf  dem  anderen,  so 
hätten  wir  damit  eine  Art  expenmentum  crucis.  Doch  so  leicht  werden 
uns  Erkenntnisse  selten  gemacht.  Man  muß  sich  mit  etwas  allgemeiner 
gehaltenen  Betrachtungen  begnügen.  Wir  haben  vorher  geschildert, 
wie  Schatten  aussehen,  und  daß  die  Schattendarstellung  durch  Schraffie- 
rung ein  Mittel  ist,  die  lockere,  schwebende  Art  des  Schattengraus 
wiederzugeben.  Der  Impressionist  aber  gibt  die  Schatten  ja  gar  nicht 
wie  sie  aussehen,  sondern  wie  sie  wi  rken.  Er  hat  also  kein  Interesse 
mehr,  die  eigentliche  Natur  der  Schattenphänomen  getreu  abzubilden. 
Er  ist  im  Gegenteil  oft  in  der  Lage,  Wirkungsunterschiede  darstellen 
zu  müssen,  die  er  mit  seinen  Mitteln  schwer  oder  gar  nicht  vollkommen 
erreichen  kann.  (Ich  erinnere  an  die  oben  aufgeführten  Zahlen.)  Seine 
Schattendarstellung  wird  deshalb  darauf  ausgehen  müssen,  möglichst 
kräftige,  geschlossene  Dunkelheiten  auf  dem  Blatt  darzustellen.  Des- 
halb schraffiert  er  seine  Schatten  nicht  mehr,  sondern  er  gibt  sie  — 
soweit  es  die  Technik  erlaubt  —  als  schwere,  schwarze  Flächen.  Er  hat 
auch  kein  Interesse  mehr,  das  fleckenweise  Durchbrechen  der  Gegen- 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.         367 

Standsfarbe  durch  den  Schatten  darzustellen,  wie  es  noch  Rembrandt 
in  seinem  weniger  konsequenten  »Impressionismus«  tut.  Vor  allem 
müssen  aber  die  Schatten  überhaupt  wesentlich  dunkler  sein  als  bei 
nicht  impressionistischen  Bildern,  —  eine  Folgerung,  die  man  immer 
wieder  bestätigt  finden  wird. 

Zu  weiteren  Folgerungen  gelangt  man,  wenn  man  sich  vergegenwärtigt, 
welches  die  Lage  des  Graphikers  ist.  In  der  Welt,  die  er  darstellen  will,  gibt 
es  erstens  Helligkeitsunterschiede  der  Gegenstandsfarben,  —  denn  Gelb 
z.  B.  ist  heller  als  Braun  —  und  zweitens  Helligkeitsunterschiede  des  Lichtes. 
Auf  seinem  Bild  gibt  es  nur  Helligkeitsunterschiede  einer  einzigen  Art. 
Ein  schwarzer  Fleck  auf  dem  Blatt  kann  einerseits  etwa  einen  schwarzen 
Anzug  bedeuten,  anderseits  einen  tiefen  Schatten.  Was  er  bedeutet, 
ergibt  sich  aus  der  Gesamtsituation.  Der  Künstler  hat  aber  keine  sehr 
wirksamen  Mittel,  um  die  Unterschiede  der  Gegenstandsfarben  anders 
darzustellen  als  die  Unterschiede  der  Beleuchtungswerte.  Einiges  kann 
er  vielleicht  durch  die  Strichführung  erreichen,  doch,  wie  gesagt,  dieses 
Mittel  ist  nicht  sehr  wirksam.  Man  muß  nun  zusehen,  wie  die  Graphiker 
sich  zu  diesem  Problem  verhalten.  Dürer')  etwa  verzichtet  meist  völlig 
darauf,  die  Helligkeitsunterschiede  der  Gegenstandsfarben  wiederzu- 
geben. Schraffierte  Flächen  auf  dem  Blatt  bedeuten  bei  ihm  stets 
Schatten.  Die  Impressionisten  dagegen  behandeln  meist  beide  Arten 
von  Dunkelheiten  völlig  gleichmäßig.  Wir  zeigten  vorher,  daß  die 
Eindringlichkeit  einer  beschatteten  Fläche  um  so  geringer  ist,  je  weniger 
Licht  sie  in  das  Auge  sendet.  Nun  sendet  aber  auch  eine  unbeschattete, 
graue  Fläche  weniger  Licht  in  das  Auge  als  eine  unbeschattete  weiße. 
Also  auch  hier  müssen  Eindringlichkeitsunterschiede  auftreten.  Der 
Verlauf  der  Eindringlichkeitswerte  längs  der  Reihe  von  Weiß  zu  Schwarz 
ist  im  allgemeinen  so,  daß  die  Eindringlichkeit  nach  dem  weißen  Ende 
zu  steigt  und  nach  dem  schwarzen  Ende  zu  sinkt.  Nur  die  ganz 
tiefen  schwarzen  Töne,  wie  sie  in  der  Graphik  kaum  vorkommen,  haben 
eine  etwas  größere  Eindringlichkeit  als  die  dunkelgrauen.  Wie  diese 
Verhältnisse  im  einzelnen  liegen,  kann  hier  nicht  weiter  erörtert  werden, 
weil  dies  tief  in  ein  sehr  kompliziertes  Gebiet  der  speziellen  Sinnes- 
psychologie hineinführen  würde,  dessen  Methoden  und  Gedankengänge 


')  Wir  nehmen  Dürer  als  Beispiel,  weil  er  in  der  Tat  ais  der  wahre  Gegenpol 
des  Impressionismus  erscheint.  Seine  Art  des  Zeichnens,  die,  wie  immer  wieder 
betont  werden  muß,  einer  bestimmten  Art  des  Sehens  entspricht,  ist  aber  keine 
individuelle  Eigentümlichkeit  von  ihm.  Er  teilt  sie  mit  seiner  ganzen  Zeit.  Im 
Barock  kommt  dann  eine  mehr  impressionistische  Sehweise  auf,  die  aber  durchaus 
noch  nicht  klar  und  konsequent  durchgeführt  wird.  Ihre  reine  Erfüllung  findet  sie 
erst  im  modernen  Impressionismus.  Die  Entwicklungslinie  im  einzelnen  zu  ver- 
folgen ist  hier  unmöglich. 


368  GEORG  MARZYNSKI. 


der  Nicht-Psychologe  schwer  überschauen  kann.  Es  genügt  für  den 
jetzigen  Zweck  auch  völlig,  zu  wissen,  daß  die  Eindringlichkeit  von 
Weiß  nach  Schwarz  zu  sinkt.  Ebenso  sinkt  die  Eindringlichkeit  mit 
der  Schattentiefe.  Und  zwar  ist  die  Eindringlichkeit  einer  beschatteten 
weißen  Fläche  ungefähr  gleich  der  Eindringlichkeit  derjenigen  unbe- 
schatteten  Fläche,  welche  dieselbe  Lichtmenge  aussendet  wie  sie.  Dies 
zeigt  ja  der  eine  der  früher  beschriebenen  Versuche.  Wenn  also  ein 
Künstler  konsequent  nach  der  Eindringlichkeit  zeichnet,  so  wird  er 
dunkle  Farben  der  Gegenstände  und  dunkle  Schatten  ganz  gleichmäßig 
geben,  sobald  sie  dieselbe  Lichtmenge  aussenden.  Man  sieht  das  gut 
auf  impressionistischen  Bildern.  Natürlich  kann  man  nicht  beweisen, 
daß  irgend  ein  bestimmter  Schatten,  der  dort  dargestellt  wird,  auch 
in  Wirklichkeit  ebenso  viel  Licht  aussandte  wie  eine  ebenso  dunkel 
dargestellte  Gegenstandsfarbe.  Bei  einiger  Erfahrung  kann  man  sich  auch 
darüber  ein  ungefähres  Urteil  bilden.  Doch  kann  man  nicht  vor  einem 
Bild  das  objektive  Recht  solcher  Schätzung  wirklich  demonstrieren. 
Aber  davon  ganz  abgesehen,  spricht  schon  die  ganz  gleichmäßige  Art, 
wie  hier  Schatten  und  Oegenstandsfarben  behandelt  sind,  dafür,  daß 
beide  auf  ein  gemeinsames  Moment  hin  betrachtet  worden  sind.  Und 
dieses  kann  eben  nur  die  Eindringlichkeit  sein.  Ebenso  wie  die  Unter- 
drückung aller  Gegenstandsfarben  bei  Dürer  dafür  spricht,  daß  er  die 
Eindringlichkeitsunterschiede  noch  nicht  entdeckt  hatte.  Dazwischen 
finden  sich  nun  alle  möglichen  Übergänge.  Der  Künstler  ist  ja  schließ- 
lich kein  photographischer  Apparat,  der  einfach  ein  Stück  Wirklichkeit 
aufnimmt.  Nebenbei  bemerkt:  Der  photographische  Apparat  gibt  auch 
die  Unterschiede  der  objektiven  Lichtstärken.  Die  Unterschiede  von 
Hell  und  Dunkel  auf  einer  Photographie  bedeuten  also,  psychologisch 
ausgedrückt,  gleichfalls  Eindringlichkeitsunterschiede,  wie  man  übrigens 
direkt  beweisen  kann.  Daß  die  Photographien  trotzdem  nicht  einfach 
so  aussehen  wie  impressionistische  Zeichnungen,  liegt  an  anderen  Um- 
ständen. Immerhin  sehen  sie  ihnen  ähnlicher  wie  den  Dürerzeichnungen. 
Aber  der  Künstler  ist  ja  kein  Apparat  und  verwendet  seine  Kunstmittel 
nicht  nur,  um  Unterschiede  der  objektiven  Lichtstärken  darzustellen, 
sondern  entsprechend  seinen  eigenen,  künstlerischen  Absichten.  Dar- 
aus erklären  sich  die  großen  Mengen  der  »Inkonsequenzen«.  Man 
nehme  einmal  so  ein  Blatt  wie  den  »Triumph  des  Mordechai«  von  Rem- 
brandt.  Hier  sind  die  Menschen  im  hellen  Teil  ganz  linear  behandelt, 
ohne  jegliche  Berücksichtigung  ihrer  Kleiderfarben  und  ihrer  Binnen- 
schatten. In  der  Mittelgruppe  sind  die  Kleiderfarben  teilweise  wieder- 
gegeben, die  Schatten  hingegen  sind  locker  schraffiert.  Und  in  der 
linken  Ecke  sitzen  schwere  »impressionistische«  Schatten,  hinter  denen 
aber  die  Säulen  hervorschimmern,  was  ein  ganz    echter«  Impressionist 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.  369 


wohl  kaum  getan  hätte.  Die  innere  Logik  dieser  Darstellungsweise 
liegt  darin,  daß  durch  die  völlige  Aussparung  der  Menschen  im  be- 
lichteten Teil  die  Dunkelheit  des  Oewölbeschattens  stark  hervortritt. 
Denn  dies  ist  ja  die  ständige  Schwierigkeit  der  impressionistischen 
Methode:  Die  Lichtstärkenunterschiede  zwischen  hellen  und  dunklen 
Teilen  des  Blattes  sind  noch  nicht  einmal  wie  1 :  60.  (Denn  Weiß  sendet 
bloß  sechzigmal  so  viel  Licht  aus  als  das  allertiefste  Schwarz.)  Die  Licht- 
stärkenunterschiede zwischen  hell  beleuchteten  Flächen  und  tiefen 
Schatten  sind  aber  häufig  wesentlich  größer.  Will  der  Künstler  diese 
also  mit  aller  Kraft  geben,  so  darf  er  seine  Mittel  nicht  an  feinere 
Einzelheiten  verzettein,  sondern  muß  schroff  Gegensätze  schaffen.  Die 
so  völlig  andere  Behandlungsweise  der  Hauptgruppe  des  Bildes  gibt 
dieser  wiederum  einen  stärkeren  Akzent,  durch  den  sie  die  Aufmerk- 
samkeit leicht  auf  sich  zieht. 

Wir  kommen  zu  weiteren  Folgerungen.  Wir  sprachen  eben  da- 
von, daß  die  Eindringlichkeitsunterschiede  zwischen  Licht  und  tiefen 
Schatten  stärker  sind  als  diejenigen  zwischen  hellen  und  dunklen  Farben. 
Ist  unsere  These  also  richtig,  so  müssen  auf  den  Blättern  der  impres- 
sionistischen Graphik  die  schroffen  schwarz-weiß  Unterschiede  vor- 
wiegend durch  Lichtunterschiede  bedingt  sein.  Auf  Blättern  der  Dürer- 
schen  Art  kann  es  zu  energischen  schwarz-weiß  Gegensätzen  über- 
haupt nicht  kommen.  Denn  die  Gegenstandsfarben  sind  hier  ausge- 
schaltet, und  die  Schatten  werden  entsprechend  ihrer  Graunuance  ge- 
geben. Wir  haben  aber  gesehen,  daß  selbst  sehr  tiefe  Schatten,  d.  h. 
Schatten  sehr  geringer  Eindringlichkeit,  noch  ziemlich  hellgrau  aus- 
sehen. Dies  gilt  natürlich  nur,  wenn  sie  auf  einem  weißen  Gegen- 
stand liegen.  Denn  sonst  addiert  sich  die  spezifische  Dunkelheit  der 
Oegenstandsfarbe  zum  Schattengrau.  Werden  nun  einerseits  die  Gegen- 
standsfarben entsprechend  ihrer  spezifischen  Dunkelheit  dargestellt, 
anderseits  die  Schatten  nicht  nach  ihrer  Eindringlichkeit,  sondern  nach 
ihrer  Graunuance  gezeichnet,  so  können  natürlich  auch  auf  solchen 
Blättern  kräftige  schwarz-weiß  Unterschiede  entstehen,  aber  nur  dann, 
wenn  sehr  helle  und  sehr  dunkle  Farben  an  den  dargestellten  Gegen- 
ständen vorkommen.  In  der  impressionistischen  Graphik  hingegen 
werden  die  stärksten  schwarz-weiß  Gegensätze  meist  Gegensätze  der 
Beleuchtungsstärke  zum  Ausdruck  bringen.  Behauptungen,  wie  die 
hier  aufgestellten,  sind  natürlich  nicht  durch  ein  paar  passende  Bei- 
spiele zu  beweisen,  auch  nicht  durch  ein  paar  Gegenbeispiele  zu  wider- 
legen. Sie  sagen  ja  nur  aus,  wie  die  Verhältnisse  im  allgemeinen  liegen 
sollen,  und  man  wird  ihnen  daher  nur  aus  seinen  Oesamterfahrungen  zu- 
stimmen oder  widersprechen  können. 

Wir  bemerkten  eben,  daß  auch  die  nicht  impressionistisch  gesehenen 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  «Mg.  Kunstwissenschaft.    XV.  24 


370  GEORG  MARZYNSKI. 


Schattenflächen  sehr  dunkel  wirken  können,  wenn  sie  auf  dunklen 
Gegenständen  liegen.  Dies  ist  ein  Grund,  weshalb  all  die  besprochenen 
Gegensätze  in  der  Malerei,  wo  die  Gegenstandsfarben  stets  wieder- 
gegeben sind,  weniger  auffällig  sein  werden  als  in  der  Graphik.  Ein 
zweifer  Grund  liegt  in  einem  eigentümlichen  Verhalten  der  Aufmerk- 
samkeit, das  übrigens  letzten  Endes  mit  der  früher  erwähnten  Enge 
des  Bewußtseins  zusammenhängt.  Das  betreffende  Gesetz  lautet  in 
strenger  Fassung i):  Ein  Bestandteil  oder  Teilinhalt  eines  sichtbaren 
Gegenstandes  fällt  um  so  weniger  auf,  je  mehr  andere  Bestandteile 
oder  Teilinhalfe,  welche  die  Aufmerksamkeit  einzeln  in  Anspruch 
nehmen,  das  Objekt  enthält  und  je  stärker  sie  sich  der  Aufmerk- 
samkeit aufzudrängen  suchen.  Was  von  den  Bestandteilen  des  Ob- 
jektes sich  der  Aufmerksamkeit  am  stärksten  aufdrängt,  hängt  natür- 
lich von  der  gerade  herrschenden  Interessenrichtung  ab.  Da  der  Maler 
vorwiegend  auf  die  farbige  Erscheinung  gerichtet  ist,  so  müssen  für 
ihn  die  Schatten  an  Wirkungskraft  verlieren  und  zwar  um  so  mehr, 
je  stärker  er  auf  die  Farbigkeit  an  sich  gerichtet  ist.  Man  denke  nur 
an  Bilder  der  Neo-Impressionisten,  bei  denen  Schatten  überhaupt  nicht 
mehr  vorkommen.  In  diesem  Gesetz  liegt  auch  die  Erklärung  dafür, 
daß  sich  die  Schattentiefe  verringert,  wenn  man  sehr  nahe  an  die 
Gegenstände  herantritt  und  sich  in  die  Einzelheiten  ihrer  Struktur  ver- 
tieft. Steht  man  dagegen  weit  vor  einer  Landschaft,  wie  sie  in  Lieber- 
manns »Polospielern«  dargestellt  ist,  wo  bei  dem  Wald  im  Hinter- 
grund von  den  einzelnen  Bäumen  gar  nichts  mehr  zu  sehen  ist,  so 
tritt  gerade  der  Eindringlichkeitsunterschied  zwischen  der  ganzen, 
dunklen  Waldmasse  und  dem  davorliegenden,  hellen  Feld  stark  heraus. 
Landschaften  solcher  Art  sind  kaum  anders  als  impressionistisch  zu 
behandeln.  Ebenso  Situationen,  bei  denen  stark  beleuchtete  und  stark 
beschattete  Flächen  direkt  zusammenstoßen.  Ich  erinnere  an  die  Be- 
merkung über  die  Schlagschatten.  Anderseits  versteht  man  jetzt,  weshalb 
die  Impressionisten  Lichtgegensätze  gern  scharf  gegeneinander  setzen, 
während  der  Nicht-Impressionist  sich  gerade  um  die  Übergänge  be- 
müht. Der  Impressionist  hat  nicht  nur  eine  besondere  Darstellungs- 
art, sondern  auch  einen  bestimmten  Kreis  von  Darstellungsobjekten, 
denen  er  sich  mit  Vorliebe  zuwendet,  und  ebenso  der  Nicht-Impres- 
sionist. Darstellungsmethode  und  Darstellungsobjekt  zeigen  eben  immer 
eine  innere  Zusammengehörigkeit. 

Schließlich  noch  eine  letzte  Beobachtung,  die  für  mich  immer  eine 
ziemlich  starke  Beweiskraft  gehabt  hat,  bei  der  ich  aber  nicht  über- 
zeugt bin,  daß  sie  diese  auch  für  alle  anderen  besitzt.    Ich  erwähnte 


')  Das  Gesetz  stammt  von  E.  Hering,  die  Formulierung  von  G.  E.  Müller. 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST.  37 1 

früher,  daß  Schlagschatlen  stets  etwa  so  dunkel  wirken,  wie  es  ihrer 
Eindringlichkeit  entspricht,  daß  es  daher  für  sie  die  beiden  verschiedenen 
Betrachtungsweisen  nicht  gibt.  Wenn  ich  versuchte,  irgend  eine  Zeich- 
nung Dürers  einmal  ganz  unabhängig  von  ihren  künstlerischen  Werten, 
einfach  als  Wiedergabe  einer  bestimmten,  wirklichen  Situation  zu  nehmen, 
so  fiel  mir  stets  auf,  daß  die  Schlagschatten  nicht  recht  hineinpaßten, 
daß  sie  eigentümlich  starr  wirkten,  ein  Eindruck,  der  bei  einem  impres- 
sionistischen Bilde,  selbst  wenn  es  noch  so  starke  Schlagschatten  ent- 
hält, nie  auftrat.  Denn  hier  ist  ja  alles  nach  seiner  Eindringlichkeit 
gegeben,  bei  Dürer  hingegen  nur  die  Schlagschatten. 

5. 
Man  wird  vielleicht  versucht  sein,  gegen  die  vorher  geschilderten 
Überlegungen  einzuwenden:  Es  ist  richtig,  daß  Zeichnungen  der 
Dürerschen  Art  zarter  und  flauer  sind  als  die  impressionistischen. 
Dieser  Unterschied  beruht  jedoch  nicht  auf  zwei  verschiedenen  Arten, 
die  sichtbare  Welt  zu  erleben.  In  Wirklichkeit  erlebte  man  die  Welt 
stets  in  der  gleichen  Art,  aber  man  fand,  daß  eine  Steigerung  der  schwarz- 
weiß Gegensätze  die  Blätter  interessanter,  wirkungskräftiger,  schöner 
machte.  Aus  diesen,  vorwiegend  ästhetisch-praktischen.  Gründen  er- 
kläre sich  alles.  Mir  scheint  eine  solche  Beweisführung  unhaltbar. 
Wer  Stilunterschiede  auf  Wandlungen  des  äußerlichen,  sozusagen 
kunstgewerblichen  Geschmacks  zurückführt,  unterschätzt  die  Ernst- 
haftigkeit der  Kunstentwicklung.  Das  wäre  ja  etwa  die  Denkweise 
Lenbachs,  der  dunkle  Bilder  malte,  weil  er  sie  so  »schön«  fand.  Die 
zwei  verschiedenen  Betrachtungsweisen  der  Schatten  erscheinen  zuerst 
vielleicht  als  eine  bloße  Einzelheit;  sie  sind  aber  nichts  weniger  als 
dies.  Dahinter  stehen  zwei  gänzlich  verschiedene  Einstellungen  zur  Wirk- 
lichkeit. Es  ist  etwas  anderes,  ob  man  auf  die  Erfassung  der  Dinge 
als  solcher  gerichtet  ist,  oder  bloß  auf  das  Licht  und  die  Farben  und 
ihre  Wirkungsunterschiede.  Die  Erkenntnis,  daß  die  Dinge  gar  nicht 
als  Einzelwesen  dastünden,  daß  wir  sie  vielmehr  bloß  als  sieht-  und 
empfindbare  Phänomene  erleben  —  diese  Erkenntnis  bedeutete  den  An- 
fang der  gesamten,  modernen  Philosophie  und  Erkenntnistheorie  im 
17.  Jahrhundert.  Gegensätze  solcher  Art  müssen  auch  in  der  Sphäre 
des  künstlerischen  Welterlebens  zu  tiefen  Stilunterschieden  führen. 
Eine  Graphik  von  Dürers  Art  ist  letzten  Endes  doch  nichts  anderes 
als  gezeichnete  Plastik.  Hier  hat  der  Schatten  keine  andere  Funktion, 
als  die  Wölbungen  der  Einzelform  zu  geben  und  die  Tiefenerstreckung 
des  Raumes.  Diese  Kunst  ist  darstellerisch  ganz  einseitig  an  der  Drei- 
dimensionalität  der  Welt  interessiert.  Sie  ist  auf  die  Gegenständlich- 
keit der  Dinge  gerichtet,  und  wir  wollen  zeigen,  daß  bei  dieser  Ein- 


372  GEORG  MARZYNSKI. 


Stellung  der  Schatten  naturgemäß  als  feiner,  grauer  Hauch  erscheinen 
muß,  so  wie  es  seiner  »Helligkeit«,  nicht  aber  seiner  Eindringlichkeit 
entspricht.  Der  Impressionist  hingegen  ist  verliebt  in  die  reinen  Licht- 
phänomene. Daß  deren  Wiedergabe  auch  gegenständliche  und  räum- 
liche Illusionen  erzeugt,  ist  ihm  ein  Nebenerfolg. 

Wir  haben  also  noch  die  Frage  zu  beantworten,  wie  es  zu  den 
beiden  verschiedenen  Betrachtungsweisen  der  Schatten  kommt.  Und 
dazu  müssen  wir  ein  wenig  weiter  ausholen.  Die  moderne  Psychologie 
hat  sich  lange  mit  dem  Zusammenhang  zwischen  den  Empfindungen 
und  den  »Reizen«  beschäftigt.  Reize:  das  sind  die  physikalischen  Vor- 
gänge, durch  deren  Einwirkung  auf  den  Körper  die  Empfindungen 
veranlaßt  werden.  Man  hat  gefunden,  daß  im  allgemeinen  einem  be- 
stimmten Reiz  auch  eine  bestimmte  Empfindung  angehört.  Nun  gibt  es 
aber,  besonders  bei  den  Augenempfindungen,  Tatsachen,  die  dieser  Regel 
widersprechen.  Gälte  sie  streng,  so  müßte,  um  ein  berühmt  geworde- 
nes Beispiel  zu  wiederholen,  ein  Stück  Kohle  an  einem  hellen  Tage 
ebenso  aussehen,  wie  ein  Blatt  Papier  an  einem  trüben  Tage').  Denn 
unter  solchen  Umständen  können  beide  genau  die  gleiche  Lichtmenge 
in  das  Auge  senden.  Daß  sie  trotzdem  verschieden  aussehen  und  über- 
haupt jedes  Ding  seine  Eigenfarbe  unabhängig  vom  Wechsel  der  Be- 
leuchtung behält,  liegt  daran,  daß  mit  der  Steigerung  der  gesamten 
Lichtstärke  die  Anpassungsvorrichtungen  des  Auges  in  Tätigkeit  treten 
und  seine  Erregbarkeit  im  selben  Maße  herabsetzen,  wie  die  Durch- 
schnittsstärke des  Gesichtsfeldes  sich  erhöht  hat.  Umgekehrt  bei  Ab- 
schwächung  der  Lichtstärke.  Man  nennt  dies  die  Transformation  der 
Empfindungen,  bei  Wechsel  der  Beleuchtung,  und  nur  durch  sie  wird 
es  möglich,  daß  die  Farben  der  Sehdinge  konstant  bleiben.  Lasse  ich 
nun  die  allgemeine  Beleuchtungsstärke  in  einem  Räume  unverändert, 
rücke  aber  eine  weiße  Scheibe,  die  vorher  in  gutem  Licht  stand,  in 
den  Schatten,  so  müßte  sie,  entsprechend  der  verringerten  Lichtmenge, 
welche  sie  jetzt  in  das  Auge  sendet,  eigentlich  dunkelgrau  aussehen. 
In  Wirklichkeit  aber  sieht  sie  weiter  weiß  aus,  nur  mit  einem  feinen, 
hellgrauen  Schatten  darüber.  Auch  hier  hat  der  Gegenstand  wenigstens 
ungefähr  seine  Eigenfarbe  behalten,  d.  h.  es  hat  eine  Transformation 
stattgefunden,  aber  dieses  Mal  lag  es  nicht  an  den  Anpassungsvor- 


■)  Das  Beispiel  stammt  von  E.  Hering,  der  zuerst  die  hier  liegenden  Probleme 
gesehen  hatte.  Die  durchgreifendste  Bearbeitung  für  das  Gebiet  der  Schattenphäno- 
mene hat  bisher  D.  Katz  geliefert  in  dem  Buch:  »Die  Erscheinungsweise  der  Farben 
und  ihre  Beeinflussung  durch  die  individuelle  Erfahrung«.  Versuche,  weiche  die 
Grundlage  der  vorliegenden  Abhandlung  bilden,  stammen  zum  großen  Teil  aus 
einer  Arbeit  von  mir  selbst,  die  unter  dem  Titel  »Beiträge  zur  Transformation  der 
Farben«  in  der  Zeitschrift  für  Sinnespsychologie  1920  erscheint. 


ZWEI  DARSTELLUNGSPROBLEME  DER  BILDENDEN  KUNST,  373 


richtungen  des  Auges.  Denn  dessen  Erregbarkeit  konnte  sich  nicht 
verändern,  da  die  allgemeine  Beleuchtung  des  Raumes  die  gleiche 
blieb.  In  solchen  Fällen  spricht  man  von  zentraler  Transformation  und 
will  mit  dem  Wort  »zentral«  sagen,  daß  dabei  psychologische  Vorgänge 
im  Spiele  sind.  Diese  Transformation  ist  nämlich  ganz  davon  ab- 
hängig, daß  ich  den  Gegenstand  als  solchen  und  die  Beleuchtungs- 
verhältnisse richtig  erkenne.  Halte  ich  vor  die  beschattete  Scheibe 
einen  Schirm  mit  enger  Öffnung,  in  dem  nur  ein  Teil  von  ihr  sicht- 
bar wird,  so  erscheint  dieser  Teil  sofort  nicht  mehr  als  weiß  mit  einem 
Schatten  davor,  sondern  als  dunkelgrau,  wie  es  seine  objektive  Licht- 
stärke verlangt.  Dies  nennt  man  die  »Reduktion«  der  vorher  trans- 
formierten Farbe. 

Man  sieht,  daß  beschattete  Gegenstände  nach  der  Reduktion  die- 
jenige Farbe  annehmen,  welche  ihrer  Eindringlichkeit  entspricht.  Und 
die  Reduktion  ist  daran  gebunden,  daß  man  die  Gegenständlichkeit 
der  Dinge  für  die  Wahrnehmung  unterdrückt.  Eine  Sehweise  also, 
welche  sich  für  die  Gegenstände  interessiert,  wird  den  Schatten  als 
feinen  Schleier  geben  müssen.  Wenn  die  Impressionisten  hingegen 
proklamieren:  Nicht  die  Gegenstände,  sondern  das  Licht  selbst  soll 
dargestellt  werden,  so  verlangen  sie  sozusagen  nichts  anderes  als  die 
Darstellung  der  Schatten  nach  ihrem  Reduktionswert,  unter  Ausschal- 
tung der  Transformation.  Aber  sie  wenden  keine  äußeren  Hilfsmittel 
an,  um  die  Reduktion  auszuführen,  sondern  sozusagen  psychologische, 
indem  sie  die  Schatten  auf  ihre  Eindringlichkeit  hin  ansehen.  Denn  die 
Eindringlichkeit  einer  beschatteten  Fläche  entspricht  ihrer  objektiven 
Lichtstärke,  und  d.  h.  ihrem  Reduktionswert. 

Zum  Schluß  noch  eine  allgemeine  Bemerkung.  Wenn  man  sich 
die  Oesamtpsychologie  des  »impressionistischen«  Zeitalters  ansieht,  so 
wird  man  zwei  Kennzeichen  finden.  Diese  Zeit  war  positivistisch 
auf  die  Erkenntnis  der  Wirklichkeitszusammenhänge  gerichtet  und  fand 
letzte  Befriedigung  in  der  Kultivierung  des  Empfindungslebens.  Sie 
war  in  Wahrheit  subjektivistisch  und  objektivistisch  in  einem.  Und 
nun  die  Methode  des  Zeichnens  nach  der  Eindringlichkeit:  Unterschiede 
der  Eindringlichkeit  entsprechen  genau  den  Unterschieden  der  physi- 
kalischen Lichtstärken,  aber  die  Beachtung  der  Eindringlichkeit  verlangt 
eine  Aufmerksamkeitsrichtung,  welche  nach  innen  und  nicht  nach  außen 
gekehrt  ist,  welche  die  Wirkungen  der  Reize  auf  das  eigene  Bewußt- 
sein beachtet.    Die  Parallele  ist  deutlich  und  sicher  nicht  zufällig. 


XI. 

Kunstcharaktere  südabendländischer  Völker. 

Von 

Otto  Höver. 

Die  von  Alois  Riegl ')  in  die  Kunstgeschichte  eingeführten  Be- 
griffe taktisch  (haptisch)  und  optisch  sind  wesentliches  terminologi- 
sches Rüstzeug  zur  Charakterisierung  ethnischer  Besonderheiten  des 
KunstwoUens,  das  eigentlich  ein  Kunst-Müssen  ist. 

Der  Wiener  Kunstforscher  wollte  mit  den  genannten  Begriffen  die 
besondere  schöpferische  Haltung  einzelner  Epochen  im  überethnischen 
(übernationalen)  Sinne  fassen.  Taktische  Werte  sollten  in  den  Kunst- 
leistungen von  Anfangsphasen  und  mittleren  (klassischen)  Stufen  ver- 
wirklicht sein.  Nahsichtige  Einstellung  vermittelte  in  Anfangsphasen, 
normalsichtige  Einstellung  in  klassischen  Phasen  das  taktische  Erlebnis. 
So  mußte  die  ägyptische  Kunst  unbedingt  taktisch-nahsichtig,  die 
griechische  Klassik  hingegen  taktisch-normalsichtig  sein.  Das  OptiscTie 
und  damit  fernsichtiger  Standpunkt  blieben  dann  eine  Angelegenheit 
aller  Spätphasen  (Spätantike,  Barocke  usw.). 

Wir  nun  sehen  von  jeder  zeitlichen  Auswertung  dieser  Begriffe 
ab.  Uns  bedeuten  sie  vielmehr  die  zeitlosen  psychischen  Grundver- 
haltungsweisen  des  kunstschaff  enden  wie  kunsterlebenden  Menschen 
überhaupt,  mögliche  Orundeinstellungen  der  Völker  (Rassen)  im  schöpfe- 
rischen Verhalten  wie  Erleben  2). 

Gleich  hier  aber  sei  bemerkt,  daß  innerhalb  der  abendländischen 
Kunstwelt  immer  die  Völker  mit  hervorragend  taktisch-körperhafter 
Begabung  die  Begründer  von  Zeitstilen  (klassischen  Epochen)  sind 
—  Begabung  für  das  Neuanfangen  — ,  wogegen  die  optische  Veran- 
lagung meist  in  Spätepochen  zu  höchsten  schöpferischen  Leistungen 
gelangt.  Eine  Übereinstimmung  mit  Riegls  Auffassung  läßt  sich  also 
auf  diesem  Grunde  wohl  erzielen. 

Mit  den  Begriffen  taktisch  und  optisch  allein  ist  es  jedoch  nicht 


')  Vgl.  Alois  Riegl,  Spätrömische  Kunstindustrie. 

'^)  Vgl.  auch  Bernhard  Schweizer,  Die  Begriffe  des  Plastischen  und  des  Male- 
rischen als  Grundformen  der  Anschauung,  diese  Zeitschrift  Bd.  XIII  (S.  259). 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  375 

getan.  Schon  der  Begriff  des  Optischen  legt  sich  in  zweierlei  Mög- 
lichkeiten auseinander:  in  das  Optisch-Zweidimensionale  (Fiächenhafte) 
und  das  Optisch-Körperhafte.  Eine  weitere  Reihe  von  Begriffen  ist 
dann  besonders  für  die  Darstellung  der  Kunstcharaktere  abendländischer 
Völker  (südalpin  und  nordalpin)  unbedingt  nötig.  Auf  vorläufige  de- 
finitorische  Festlegungen  verzichten  wir,  um  alles  dem  geschichtlichen 
Anschauungsstoff  zu  überlassen. 

Alles  orientalische  Kunstschaffen  ist  von  Anfang  an  optisch-flächen- 
haft,  unkörperlich-zweidimensional  und  will  in  seinen  Taten  entspre- 
chend gewertet  sein.  Alle  abendländische  (süd-,  west-  und  mittel- 
europäische) Kunst  ist  entweder  taktisch-körperhaft,  gesteigert  drei- 
dimensional oder  optisch-dreidimensional,  tiefenhaft  und  körperlich 
konzipiert.  Die  erste  Möglichkeit  tritt  entweder  allein  auf:  es  ist  das 
Südabendländische  schlechthin  in  ganz  bestimmten  Epochen  seiner 
Entwicklung  als  Zeichen  vollendeter  Loslösung  vom  Orientalischen 
(oder  Orientalisierten):  Dorik  und  italienische  Renaissance,  oder  sie  tritt 
in  ein  Wechselspiel  ein  mit  der  zweiten  Möglichkeit.  Es  ergibt  sich 
ein  Dualismus  —  der  Dualismus  der  abendländischen  Kunstseele  (der 
faustischen  Seele!)  überhaupt  —  aus  taktischen  und  optisch-drei- 
dimensionalen Werten,  etwa  in  französischer  Gotik  oder  im  italienischen 
Barock. 

Der  reine  Orient  kennt  keinen  derartigen  Dualismus,  Er  ist  völlig 
monistisch  in  seinen  ästhetischen  Werten. 

Zum  letzten  aber  offenbart  sich  das  Optisch-Körperliche  auch  ganz 
allein.  Das  ist  bezeichnend  für  die  sonderlich-ionische  Kunstveran- 
lagung. Auch  in  anfänglicher  wie  spätester  Entfaltung  deutschen 
Kunstschaffens  gibt  es  Zeiten,  in  denen  man  ausschließlich  optisch- 
körperhaft eingestellt  ist  und  oft  sogar  dem  Orientalischen  scheinbar 
sehr  nahe  kommt.  Es  sind  Punkte  größtmöglicher  Annäherung  an 
das  Optisch-Flächenhafte  einmal  im  frühesten  Mittelalter,  zum  anderen 
im  spätesten  Barock,  wo  die  Entkörperlichung  und  damit  die  Ver- 
geistigung der  Architektur  und  der  Ornamentation  am  weitesten,  fast 
unwahrscheinlich  weit  gediehen  sind '). 


1.  Dorischer  und  ionischer  Kunstdialekt 

Selbstverständlich  wird  alle  Architektur,  wie  alle  bildende  Kunst, 
durch  das  Auge  erlebt.    Der  Begriff  des  Taktischen  trifft  nur  einen 


')  Vor  allem  in  Spätromantik,  Spätgotik,  Spätbarock.  Verfasser  hat  über  das 
Wesen  der  »Spätstiie  deutscher  Baukunst«  eine  besondere  größere  Arbeit  vorbe- 
reitet, die  im  Laufe  des  Jahres  als  Buch  erscheinen  wird. 


376  OTTO  HÖVER. 


assoziativen  FaI<tor  des  künstlerischen  Schaffens  und  Genießens.  Die 
taktische  Möglichkeit  besteht  darin,  daß  das  Auge  sich  mit  den  Fähig- 
keiten des  Tastsinnes  gleichsam  leihweise  ausrüstet.  Taktisches  Kunst- 
schaffen stellt  irgendwie  die  Forderung  auf,  daß  seine  Erzeugnisse  mit 
den  Fingerspitzen  abgetastet  werden,  das  Gefühl  für  die  feinen 
Hebungen  und  Senkungen  der  körperbegrenzenden  Flächen  wird  an- 
geregt. Die  Formwerte  sind  in  erster  Linie  abtastbare  Werte.  Die 
ab  ovo  faktischen  Kunsttätigkeiten  sind  Töpferei  und  Modellieren.  Hier 
liegt  das  Formgefühl  in  den  Fingerspitzen. 

Alles  künstlerische  Schaffen  unter  Führung  taktischer  Absichten 
geht  zunächst  von  unserem  eigenen  Körpergefühl  aus.  Die  eigene 
Leiblichkeit  entscheidet.  Unser  Ich  fühlt  sich  ein.  Das  Taktische  ist 
solchermaßen  zunächst  anthropomorph  bestimmt.  Es  wird  zur  Norm 
südabendländischer  Kunstgestaltung,  zum  wesentlichen  Nenner  antiker 
Schönheit  und  alles  dessen,  was  weiterhin  diesem  Ideal  folgt  (Renais- 
sance). Taktische  Veranlagung  strebt  nach  Verkörperlichung,  nach 
dem  Festen,  Begrenzten  und  Greifbaren.  Die  geistige  Wesenheit  des 
Raumes  wird  verkörperlicht.  Der  Raum  erscheint  nur  als  Erweiterung 
unseres  Leibes  und  seiner  Gliedmaßen. 

Die  körperliche  Geformtheit,  die  sich  an  den  Tastsinn  wendet,  ist 
Immer  irgendwie  temperiert,  ist  plastisches  Optimum.  Nahsichtiger 
oder  normal  sichtiger  Standpunkt  werden  gefordert.  Wir  befinden  uns 
in  Übereinstimmung  mit  der  Auffassung  Riegls.  Das  Taktische  ent- 
spricht dem  künstlerischen  Ideal  mittlerer  oder  klassischer  Stufen.  Da 
nun  aber  bestimmte  Völker  ihre  ethnischen  Besonderheiten  gerade 
in  diesen  klassischen  Stufen  besonders  ausprägen  und  eindeutig  er- 
kennen lassen,  so  dient  uns  das  Taktische  über  Riegl  hinaus  zur 
Feststellung  der  Nationalkonstanten  jener  Völker,  die  in  klassischen 
Entwicklungsphasen  ihr  Bestes  gegeben  haben. 

Die  Bedeutung  des  Begriffes  taktisch,  die  Möglichkeiten  der  Ver- 
wirklichung abtastbarer  Formwerte  haben  natürlich  ihre  besondere 
Schwingungsweite.  Nichts  wäre  falscher,  als  den  Inhalt  des  Begriffes 
starr  und  unverrückbar  festzulegen.  Es  gibt  eine  ganze  Skala  von 
Untertönen  im  formgewordenen  Körpergefühl.  Auch  plastisches  Maxi- 
mum, z,  B.  im  italienischen  Barock,  kann  noch  taktisch  gemeint  sein. 
Es  kommt  auf  die  Nuancen  und  genetisch-historischen  Beziehungen 
an.  Taktisch-Körperhaft  und  Optisch-Dreidimensional  sind  Grade  einer 
Skala.  Das  Optisch-Dreidimensionale  enthält  die  Möglichkeit,  plastische 
Form  auch  bei  Fernsicht  noch  körperhaft  wirken  zu  lassen,  sogar  ge- 
steigert körperhaft  Starke  Schatten  dienen  dabei  der  Modellierung. 
Innerhalb  des  Abendländischen  finden  sich  Taktisches  und  Optisch- 
Dreidimensionales  oft  nebeneinander.     Darin  liegt  der  Dualismus  der 


KUNSTCHARAKTERE  SODABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  377 

abendländischen  Kunstseele.  Das  beginnt  schon  in  der  Antike,  wo 
immer  die  Befreiung  vom  Morgenlande  unternommen  und  vollzogen 
wird. 

Immer  aber  ist  auch  das  Optisch-Dreidimensionale  im  Körperhaften 
.  verwurzelt.  Immer  geht  der  echte  Abendländer  vom  Körper  zum 
Geist.  Das  Taktische  liegt  auf  der  Seite  des  Materialismus,  eines 
durch  und  durch  gesunden  Materialismus.  Burckhardt  würde  von 
unbefangener  Naturnähe  und  frischer  Naivität  sprechen.  Das  Optisch- 
Dreidimensionale  strebt  zum  Spiritualismus,  auf  Grund  eines  künst- 
lerischen Phänomenalismus,  den  Konrad  Fiedler  unter  dem  Ausdruck 
»Sichtbarkeit«  zu  fassen  suchte. 

Eine  Kunstanschauung,  die  folgerichtig  und  eindeutig  auf  das 
Taktische  eingestellt  ist,  setzt  dem  Monismus  des  Morgenlandes  in 
ihrer  Art  wieder  einen  Monismus  entgegen,  den  Monismus  der  schönen 
Körperlichkeit.  Das  Optisch-Dreidimensionale  bringt  ebenfalls  in  letzten 
Auswirkungen  einen  Monismus  unter  der  Herrschaft  des  Geistigen 
zustande,  wobei  der  Begriff  der  Bewegung,  namentlich  in  der  Gestal- 
tung der  Raumform,  eine  wichtige  Rolle  spielen  wird. 

Beide  Möglichkeiten  stehen  ^  und  das  gehört  wieder  zum  abend- 
ländischen Kunstwollen  —  von  vornherein  unter  dem  Grundsatz:  Form 
um  der  Form  willen.  Die  artistische  Auffassung  hat  das  Symbolische 
des  Morgenlandes  überwunden.  Daß  dies'  erstmalig  für  europäisches 
Bauschaffen  verwirklicht  wurde,  ist  Verdienst  der  Hellenen,  mehr  noch, 
ist  Verdienst  des  sonderlich  taktisch  veranlagten  hellenischen  Stammes 
der  Dorier. 

Man  kann  sagen,  daß  der  Dorier  dem  Orientalischen  gegenüber 
eine  Kantische  Tat  vollbrachte.  Wie  Kant  die  Philosophie  vom  dog- 
matisch-spekulativen Rationalismus  befreite,  das  Denken  vom  Himmel 
auf  die  Erde  herabholte  und  vor  allem  auf  die  reine  Formkraft  der 
Vernunft  hinwies,  die  Philosophie  zur  Theorie  der  Formprobleme  des 
Denkens  machte,  so  erlöste  der  Dorier  die  Architektur  aus  der  Symbolik 
des  Morgenlandes,  aus  der  religiösen  Transzendenz,  um  sie  ihren  im- 
manenten Aufgaben  zuzuführen.  Das  Architekturale  ist  kein  Gleichnis 
mehr,  sondern  »wahrhaftige«  Baukunst.  Wie  durch  Kant  die  abend- 
ländische Erkenntnistheorie  vollendet  wurde,  so  vollendete  der  Dorier 
praktisch  die  abendländische  Ästhetik.  Das  Tektonische  braucht  nur 
5schön«  zu  sein,  dann  enthält  es  seine  sakrale  Würde  von  selber. 
Schön  aber  ist  die  greifbare  Körperhaftigkeit,  und  so  enthält  das  Be- 
wußtwerden des  Abendländischen  zugleich  eine  Verwirklichung  takti- 
scher Formwerte. 

Was  dem  Dorier  innerhalb  des  Taktischen,  gelingt  dem  lonier 
unter    Führung   des  Optischen   gegenüber   dem  Orientalischen.     Der 


378  OTTO  HÖVER. 


lonier  setzt  dem  Optisch-Flächenhaften  zum  ersten  Male  das  Optisch- 
Körperhafte  entgegen.  Dorischer  und  ionischer  Kunstdialekt  sind  also 
in  dem  Streben  nach  Körperlichkeit  einig  und  vertreten  beide  das 
Abendländische  im  Gegensatz  zum  Morgenländischen.  Das  Unter- 
schiedliche der  beiden  Dialekte  liegt  nur  im  Optischen  hier  und  im 
Taktischen  dort.  Allemal  bleibt  das  Optische  des  Ionischen  dem  Orient 
um  einige  Grade  näher. 

Abendländische  Tektonik,  wie  abendländische  Kunst  überhaupt, 
beginnt  von  vornherein  mit  einem  Dualismus,  zweierlei  Möglichkeiten 
stehen  am  Anfang.     Das  wird  zum  Schicksal  Europas. 

Der  Wille  zur  Befreiung  vom  Orient  war  schon  in  mykenischer 
Zeit  einmal  sehr  stark  vorhanden.  Orientalisch  in  der  mykenischen 
Architektur  war  vor  allem  die  Art,  Wand  und  Säulen  zu  verkleiden 
mit  bemalten  Platten  oder  Metallbeschlägen.  Doch  spürt  man  überall 
schon  den  Drang  zum  Plastischen  (Metallrosetten  der  Atreuskuppel, 
Reliefierung  der  Zickzackbänder  an  den  Säulen  des  Einganges  usw.). 
Ganz  eindeutig  aber  wird  der  Gegensatz  zwischen  Morgenländischem 
und  Abendländischem  bei  den  eingelegten  Dolchklingen  und  am  Gold- 
becher von  Vaphio.  Die  Tierbilder  der  Dolchklingen  sind  schon  ihrer 
Technik  nach  rein  orientalisch.  Hier  ist  alles  optisch-flächenhaft  zu 
nehmen.  Die  Reliefdarstellungen  des  Vaphiobechers  sind  dagegen 
körperhaft  wie  nur  je  eine  form  aus  klassischer  Zeit.  Doch  will  die 
Plastizität  der  Vaphioreliefs  optisch  gefühlt  sein.  Darin  behält  Alois 
Riegl  recht.  In  dem  Optisch-Dreidimensionalen  dieser  Reliefs  liegt  also 
das  Abendländische,  das  echt  Griechische. 

Die  Mykenäleute  mit  ihrer  Veranlagung  zu  optisch-körperhafter 
Gestaltung  finden  wir  in  archaischer  und  klassischer  Zeit  als  lonier 
im  Osten  wieder.  Das  Dorische  und  damit  der  Wille  zum  Taktischen 
tritt  ganz  neu  in  die  Kunstgeschichte  der  mittelländischen  Völker 
ein.  Im  (dorischen)  Dipylonstil  hätten  wir  einen  Fall,  wo  sogar  rein 
flächenhafte  Ornamentation  eine  Fülle  tastbarer  Linearwerte  enthält. 
Alle  bemalte  Frühkeramik  der  lonier  steht,  am  Dipylonstil  gemessen, 
dem  Orientalischen  näher,  was  ja  durch  ihre  Abkunft  und  die  Nähe 
des  Orients  bestätigt  wird. 

Die  taktischen  Werte  dorischer  Keramik  sind  im  tiefsten  verknüpft 
mit  den  frühen  Kunstäußerungen  Alteuropas.  Schon  die  neolithische 
Keramik  des  Nordens  (Donauländer,  Nordbalkan)  läßt  die  Absicht  auf 
Taktisches  erkennen.  Der  neolithische  Töpfer  begriff  die  Ornamentik 
aus  dem  Wesen  seines  Handwerks*). 


')  Vgl.  die  Keramik  aus  der  neolitliischen  Station  Butmir  bei  Serajewo:  plastisch 
aufgelegte  Spiral  bänden 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.     379 


Die  ornamentalen  Leistungen  aus  den  besten  Perioden  hoch- 
nordischer Bronzezeit,  jene  Schilde,  Gürte!  und  Haisplatten  mit  ge- 
punzten  geometrischen  Zieraten,  Spiralen  und  Wellenmotiven  (laufen- 
der Hund),  sind  ebenso  aus  dem  Tastgefühl  zu  verstehen  wie  etwa 
die  sauberen  klaren  Linien  Dürerscher  Kupferstiche').  Punze  und 
Stichel  sind  völlig  taktische  Instrumente.  Auch  in  der  dorischen  Plastik 
(Sikyon)  ist  Erz  das  gegebene  Material:  dorische  Toreuten  stehen  gegen 
ionische  Porossteinschneider. 

Die  Tektonik  der  Dorier  ist  ganz  materialgebunden.  Dorik  ist 
Stein  und  nichts  als  Stein.  Der  Reiz  dorischer  Archaik  liegt  gerade 
darin,  zu  beobachten,  wie  sich  das  Anthropomorphe  aus  dem  Kristal- 
linischen losringt.  Man  hat  die  ägyptische  Tektonik  und  Statuarik 
kristallomorph  genannt.  Das  widerspricht  der  eigentlich  ägyptischen, 
der  orientalischen  Auffassung.  Das  Kristallinische  des  Steins  wurde 
erst  von  den  Griechen,  den  Abendländern,  künstlerisch  erkannt. 

Das  Maß  der  Geformtheit  des  Steins  im  dorischen  Stil  deckt  sich 
mit  den  taktischen  Werten.  Jede  Wand  hellenischer  Architektur  ent- 
hält noch  einen  optisch-flächenhaften  Charakter.  Wir  begreifen,  daß 
der  Grieche,  vorab  der  Dorier,  diese  Flächenhaftigkeit  aufheben  mußte 
durch  das  peripterale  Prinzip.  An  der  dorischen  Säule  sind  die  scharfen 
Stege  der  Kannelüren  das  Wesentliche.  Diese  Grate  kommen  dem 
Tastgefühl  entgegen.  Wölfflin  gebraucht  gern  das  Gleichnis  von  den 
scharfen  Kanten  eines  eckigen  Bleistiftes  zwischen  den  Fingerspitzen. 
Wie  die  Kannelüren  und  Stege  des  Säulenschaftes  sind  auch  die  Stege 
der  Triglyphen  Tastbahnen. 

Allgemein  gilt:  das  Weiche,  Glatte,  Runde,  das  Stoffliche  und 
Nachgiebige  ist  nicht  unter  allen  Umständen  tastbar,  vielmehr  un- 
taktisch. Tastbar  ist  das  Eckige,  Rauhe,  Kantige,  das  Gebrochene  und 
Widerstandleistende.  Alle  stoffliche  Charakteristik  in  Plastik  und 
Malerei  fällt  schon  in  das  Gebiet  reiner  Sehbarkeit^). 

Die  Ausmaße  des  Säulenkörpers  geben  die  Norm  für  den  Aufbau 
des  Tempels  ab.  Das  Interkolumnium  ist  nichts,  die  Kolumna  als 
plastisches  Individuum  alles.  In  der  plastischen  Gesamtform  der  Säule 
lebt  unsere  eigene  Leiblichkeit,  das  anthropomorphe  Gesetz.  Der 
statische  Ausgleich  zwischen  Kraft  und  Last  wirkt  wohltuend,  weil 
wir  unsere  eigene  körperliche  Leistungsfähigkeit  hineinfühlen.  Alle 
orientalische  Tektonik  bedeutet  etwas  anderes,  Außertektonisches.    Die 


')  Vgl.  die  Erzeugnisse  der  zweiten  und  fünften  Periode  nordiscfier  Bronzezeit 
nacti  Oskar  Montelius. 

^)  Vgl.  die  Gewandung  und  die  Behandlung  des  Nackten  bei  den  sogenannten 
Tauschwestern  des  Parthenongiebels  gegenüber  den  Steilfalten  am  Peplos  dorischer 
Tänzerinnen  usw. 


380  OTTO  HÖVER. 


hellenische  Säule  ist  nur  Körper,  sie  trägt  wirklich,  erscheint  nicht 
symbolhaft  verschleiert. 

Jede  Tropfenleiste,  jedes  Profil,  jedes  Gesims  ist  taktisch  empfun- 
den. Die  Metopen,  anfänglich  noch  Tonplatten  in  orientalischer  Manier 
flächenhaft  ornamentiert,  werden  zu  Reliefs  mit  hochplastischen  Figuren. 
Dasselbe  gilt  von  den  Giebel-  und  Eckakroterien :  aus  einfachen  Platten- 
ziegeln werden  skulpturale  Gebilde.  Doch  niemals  wird  plastisches 
Optimum  überschritten.  Das  rein  Dorische  und  damit  das  Taktische 
gelangen  bis  zur  Klassik,  weiter  aber  nicht,  ja  sie  gelangen  nicht  ein- 
mal zur  Klassik.  Die  letzte  Erfüllung  des  Taktischen  dorischer  Tek- 
tonik ist  vielleicht  noch  reif-archaisch.  Immer  kann  nur  Pästum  ge- 
nannt werden.  Auf  dem  Peloponnes  ist  der  olympische  Zeustempel 
das  letzte  Ergebnis  reiner  Dorik.  Am  Parthenon  ist  das  dorische 
Säulenwerk  schon  aufgegangen  im  Optisch-Körperhaften  i).  Das  ioni- 
sche Attika  und  seine  Künstler  haben  die  Führung.  In  dieser  be- 
ginnenden Macht  des  Optisch-Körperhaften  ionischer  Baugesinnung 
über  das  Taktische  des  rein  Dorischen  liegt  ein  leis  klassizistischer 
Zug  der  Perikleischen  Bauten. 

Ludwig  von  Sybel  sagt  angesichts  des  Erechtheion:  »Auf  der 
Höhe  klassischer  Zeit  ein  malerischer  Bau.«  Malerisch  im  barocken 
Sinne,  wie  Sybel  es  meint,  ist  das  Erechtheion  noch  nicht  —  griechi- 
scher Gliederbau  kann  niemals  malerisch  sein.  Es  ist  ein  Bau,  der 
optisch -körperhaft,  nie  taktisch  erlebt  sein  will,  und  nur  insofern 
liegen  grundsätzlich  die  Wege  zum  Malerischen  barocker  Formbildung 
von  hier  ab  offen.  Mit  dem  Erechtheion  ist  sogleich  die  ganze  Fülle 
der  Möglichkeiten  der  ionischen  Kunstart  gegeben:  Möglichkeiten  der 
Freiheit  und  der  Strenge,  des  Klassischen,  des  Klassizistischen  und 
des  Barocken. 

Die  Karyatiden  der  Korenhalle,  ursprünglich  dorischer  Abstam- 
mung (Gewandung),  mußten  sich  die  gleiche  Ionisierung  gefallen  lassen 
wie  die  Säulen  des  Parthenon. 

Das  rein  Dorische  bevorzugt  die  greifbare  Sonderheit,  das  ab- 
tastbare, schöne  Einzelne.  Jede  Kannelüre  will  gefühlt  sein.  Das 
Ionische  dagegen  geht  immer  auf  das  sichtbare  Ganze.  Man  rechnet 
schon  mehr  mit  fernsichtigem  Standpunkt.  Ionische  Säulen  können 
immer  mehr  in  Massen  auftreten  als  dorische  (vgl.  die  großen  Dipteroi 
Kleinasiens). 

Die  Gegensätze  von  Hell  und  Dunkel,  optische  Faktoren,  spielen 

')  Bei  einem  iWeister  wie  Iktinos,  der  im  Innern  der  Zelia  des  Apollotempels 
zu  Phigalia  sich  freie  Umbildungen  jonischer  Kapitelle  erlaubt,  kann  die  Einstellung 
auf  Optisches  nicht  wundernehmen  (vgl.  auch  wie  die  Säulen  mit  der  Zellamauer 
durch  eine  Art  Streben  verbunden  sind). 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  381 

eine  größere  Rolle  im  Ionischen  als  im  Dorischen.  Die  kubische 
Strulctur  des  Zahnschnittfrieses  ist  eigentlich  untaktisch,  besitzt  nur 
visuelle  Momente.  Die  tiefen  Kannelüren  der  ionischen  Säule  sind 
ausschließlich  Schattenbahnen,  die  Stege  breitere,  helle  Bänder,  keine 
scharfen  Grate.  Das  Volutenstück  des  ionischen  Kapitells  in  der 
plastischen  Durchformung  hochklassischer  Zeit  nimmt  man  gern  als 
besonders  tastbar  hin.  Wir  erkennen  an,  daß  hier  ein  bemerkens- 
werter Orenzfall  vorliegt.  Bedenkt  man  jedoch,  daß  die  immerhin 
schwache  Reliefierung  in  der  Fernsicht  sich  dem  Taktischen  entzieht, 
so  bleibt  schließlich  wieder  nur  ein  optisches  Spiel  von  Licht  und 
Schatten  über,  wie  am  ionischen  Säulenschaft.  Die  plastische  Bildung 
ionischer  Voluten  hat  im  Vergleich  zu  den  scharfen  und  bestimmten 
Kannelüren  des  dorischen  Säulenschaftes  etwas  Weiches  und  Ver- 
schwimmendes. In  Kapitell  wie  Schaft  der  ionischen  Säule  lebt  niemals 
die  pralle  Körperlichkeit  dorischer  Ordnung.  Die  ionische  Schönheit 
offenbart  sich  dem  Auge  allein.  Sie  verlangt  einen  weiteren  Gesichts- 
winkel. 

Im  Ionischen  ist  das  Interkolumnium  schon  in  ganz  anderem 
Maße  künstlerisch  bedeutsam  als  in  echter  Dorik.  Daraus  ergeben  sich 
weitreichende  Konsequenzen  im  Verlauf  der  Bauentwicklung,  wobei 
schließlich  an  die  Stelle  plastisch-tektonischer  Existenzen  die  unkörper- 
lichen, rein  visuellen  Wesenheiten  der  späteren  sogenannten  Schalt- 
räume') (vgl.  Basilika)  treten. 

Das  für  dorisches  Körpergefühl  so  wichtige  Kunstmittel  der  En- 
tasis  erscheint  am  ionischen  Säulenschaft  reduziert,  kaum  bemerkbar 
und  fällt  später  ganz  fort.  Alle  dorischen  Säulen  sind  in  dem  Maße 
ionisiert,  dem  Optischen  näher  gerückt,  wie  die  Entasis  abgeschwächt 
wird  oder  allmählich  ganz  fortfällt. 

Daß  aus  dem  an  sich  flächenhaften  Volutenstück  auf  besondere 
Art  eine  körperhafte  Form  herausgeholt  wurde,  wird  besonders  deut- 
lich an  der  Genesis  dieses  Architekturteils.  Vermutlich  v/aren  ja  die 
ältesten  wirklichen  Sattelhölzer  mit  flachen,  unplastischen,  bemalten 
Tonplatten  nach  orientalischer  Art  verkleidet.  Hier  schuf  der  lonier 
kraft  seiner  plastischen  Begabung  gründlichen  Wandel  und  prägte  die 
europäische  Form:  Körperhaftes  mit  optischen  Wirkungen. 

An  sich  bleibt  das  Unternehmen  der  Okzidentalisierung  bei  den 
ionischen  Griechen  bewundernswert  genug.  Denn  die  lonier  hatten 
es  in  einer  Weise  schwerer,  sich  vom  Orientalischen  loszuringen, 
einmal   wegen   der  Überlieferung  von    ihren    mykenischen  Vorfahren 


')  Den   Terminus    iScIialtraunis    hat   August   Schmarsow    geprägt;    er    meint 
damit  vor  allem  die  Arkaden  der  altchristiiclien  Basilika. 


382  OTTO  HÖVER. 


her,  zum  andern  waren  sie  infolge  der  geographischen  Lage  ihrer 
hauptsächlichen  Wohnsitze  an  der  kleinasiatischen  Küste  sowie  auf 
den  Inseln  der  Ägäis  dem  Orient  und  allen  orientalischen  Einflüssen 
viel  näher  als  die  Dorier  im  westlichen  Oroßgriechenland  oder  auf 
dem  Peloponnes.  Dorisches  verfällt  schließlich  der  ionischen  Optik, 
diese  aber  verfällt  zu  guter  letzt  wieder  dem  Morgenlande. 


Dorik  und  lonik,  das  sind  Polyklet  und  Phidias,  das  sind:  die 
Giebelskulpturen  des  olympischen  Zeustempels  und  des  Parthenon. 
Die  Formprobleme  hier  und  da  verhalten  sich  zueinander  wie  plasti- 
sche Gruppe  zur  Einzelfigur.  Der  taktische  Wille  dorischer  Bildner 
wirkt  sich  aus  an  der  schönen  männlichen  Einzelstatue.  Polyklets 
Kanon  ist  Höhepunkt  und  Abschluß  zugleich.  An  der  archaischen 
Plastik  dorischer  Herkunft  hat  Emil  Waldmann  (Griechische  Originale, 
Leipzig  1912)  treffend  hervorgehoben,  wie  jede  leise  Hebung  und 
Senkung  des  Torso,  der  feine  Atem  der  plastisch  geformten  Ober- 
fläche mit  liebender  Hand  nachgefühlt  sein  will.  Rodin  liebkoste  gern 
die  Schönheiten  seiner  Antikensammlung. 

Ionische  Archaik  (von  den  Inseln)  entzieht  sich  dem  Tastorgan. 
Die  zieren  Gewandfältelungen  der  Akropolismädchen  wenden  sich  nur 
an  das  Auge.  Auch  lebt  ein  letzter  Rest  orientalischer  Front^lität 
noch  in  dieser  köstlichen  Archaik,  durch  östliche  Herkunft  und  geo- 
graphische Nähe  des  Morgenlandes  erklärlich.  Das  archaische  Lächeln 
wurde  ausgelegt  (Wilh.  Lermann,  Altgriechische  Plastik,  München  1Q08) 
als  ein  erster  Versuch,  die  morgenländischen  Fesseln  des  Nur-Flächen- 
haffen  zu  sprengen.  Man  wollte  das  Antlitz  körperlich  »begreifen«. 
Die  Bildung  des  Mundes  sollte  die  Tiefe  andeuten,  wurde  aber  wie- 
derum flächenhaft  nach  oben  gezogen  und  erstarrte  so  zu  ewig  hei- 
terem physiognomischem  Ausdruck. 

Die  Akropolismädchen  treten  gleich  in  Korona  auf.  Die  statiia 
quadrata  Polyklets  und  der  Dorier  duldet  nichts  neben  sich.  Die 
Brustwölbung,  die  Rückenlinie  und  der  herrliche  Beckenschwung  des 
Doryphoros  reizen  zum  Nachmodellieren  mit  der  Hand.  Man  ver- 
gleiche dagegen  die  temperierte,  weiche  Körperlichkeit  des  sogenannten 
Theseus  aus  dem  Parthenongiebel.  Ganz  unter  dem  optischen  Gesetz 
ist  natürlich  der  Panathenäenzug  des  Cellafrieses  geschaffen.  An  den 
Metopen  des  Parthenon  läßt  sich  die  allmähliche  Entdorisierung  fast 
Schritt  für  Schritt  verfolgen. 

Adolf  von  Hildebrand  hat  in  seinem  »Problem  der  Form«  nichts 
anderes  fixiert  als  das  optische  Gesetz  ionischer  Plastik  und  Archi- 
tektur. Reliefanschauung  besagt  nicht,  körperhafte  Daseinsform  in  eine 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  383 

nur  zweidimensionale  Erscheinungsform  zu  verwandeln,  heißt  viel- 
mehr, das  Kubische  so  zu  gestaUen,  daß  das  Augenerlebnis  die  Drei- 
dimensionalität  überall  klar  erfaßt  von  einem  unverrückbaren  frontalen 
Standpunkt  aus.  Hat  der  Plastiker  die  Aufgabe,  »dem  Kubischen  das 
Quälende  zu  nehmen«,  so  ist  damit  auf  keinen  Fall  gesagt,  daß  er  die 
reale  Körperlichkeit  zu  bloß  flächenhafter  Wirkung  herabmindert.  Das 
wäre  ägyptische  Statuarik.  Das  Quälende  des  Kubischen  besteht  nur 
in  jener  plastischen  Formgebung,  wie  sie  der  naturalistische  Pseudo- 
barock der  Begasschule  kultivierte,  wo  der  Betrachter  ruhelos  um 
Einzelfigur  und  plastische  Gruppen  herumgetrieben  wird,  um  ihrer  rein 
gegenständlichen  Bedeutung  habhaft  zu  werden  und  das  eigentlich 
Künstlerische  verloren  geht.  (Vgl.  von  antiken  Bildwerken  etwa  den 
farnesischen  Stier.)  Aus  dem  tiefgefühlten  Gegensatz  zu  dieser  Manier 
ist  Hildebrands  Büchlein  entstanden.  Die  Möglichkeiten  echter  Barock- 
plastik läßt  der  Münchner  Meister  offen.  Gegen  Schlüter,  selbst  gegen 
Bernini  richtet  sich  seine  Theorie  nicht.  Reine  Reliefanschauung  bei 
frontaler  Einstellung  ist  plastisches  Optimum  in  geklärter  Sichtbarkeit. 
Barock  ist  gesteigerte  Tiefenhaftigkeit,  plastisches  Maximum,  optisch 
erlebt  bei  Schrägansicht,  wobei  niemals  die  Forderung  an  den  Be- 
schauer gestellt  wird,  ruhelos  um  die  Figur  oder  Gruppe  herumzu- 
wandern. Alle  echte  Barockplastik  bietet  ihr  fruchtbares  Moment  auch 
nur  in  einer  Ansicht  dar  (Schrägansicht  von  links  oder  rechts).  Das 
beweisen  Berninis  heilige  Therese  oder  sein  Reiterbildnis  Konstantins 
des  Großen  am  Fuße  der  Scala  Regia  ebenso  wie  jede  Altarkompo- 
sition des  18.  Jahrhunderts  mit  Figuren  von  Franz  Ignaz  Guenther  oder 
I.  B.  Straub.  Plastisches  Maximum  ist  zu  bildhaftem  Eindruck  ge- 
bändigt, ohne  etwas  von  gesteigerter  Dreidimensionalität  einzubüßen. 

Man  muß  den  geheimen  Impressionismus  bei  Hildebrand  heraus- 
fühlen. Seine  Theorie  entwächst  in  der  Tat  einer  impressionistischen 
Grundeinstellung,  wie  die  ganze  Kunstanschauung  Konrad  Fiedlers 
(Begriff  der  Sichtbarkeit,  vgl.  auch  Hans  von  Marees).  So  sehr  auch 
Hildebrand  persönlich  gegen  Rodin  Stellung  nahm,  aus  dem  Problem 
der  Form  lassen  sich  die  besten  Werke  des  französischen  Meisters 
trotzdem  rechtfertigen.  Der  Unterschied  liegt  nur  im  Äußerlichen: 
der  Münchner  ist  rückschauend,  ein  spätgeborener  Klassizist  bester 
Schulung,  Impressionist  der  Theorie  nach;  der  Pariser  geht  eigene 
Wege,  entdeckt  neue  Möglichkeiten  körperhafter  Flächenbelebung,  ist 
Impressionist  in  der  Praxis  und  insgeheim  allen  Spätgotikern  und 
Barockbildnern  verwandt. 

Die  plastischen  Meisterwerke  Hildebrands  sind  bei  aller  Bildhaftig- 
keit  voller  raumkörperlicher  Beziehungen.  Anderes  wollte  Hans  von 
Marees  auch  nicht. 


384  OTTO  HÖVER. 


Von  diesen  Grundlagen  aus  kann  die  ganze  klassische  und  nach- 
klassische Plastik  und  Architektur  der  Hellenen  beurteilt  werden,  ins- 
besondere das  Problem  der  Gruppe.  Dieses  kann  restlos  nur  gelöst 
werden  unter  dem  Formgesetz  des  Optisch-Dreidimensionalen,  gleich- 
viel ob  es  sich  um  die  Parthenongiebel,  den  Laokoon  oder  das  Reiter- 
standbild handelt.  Alle  Reiterstandbilder,  in  denen  es  nicht  gelungen  ist, 
die  beiden  plastischen  Massen  Mann  und  Pferd  zu  vollständiger  Einheit 
optisch  zu  binden,  müssen  unvollkommen  bleiben.  Deswegen  ist  das 
Reiterstandbild  das  eigentlich  plastische  Problem  des  Barock.  Dem 
Gattamelata  mögen  die  höchsten  Vorzüge  zuerkannt  werden  —  immer- 
hin hat  Donatello  für  die  reine  Seitenansicht  die  Gestalt  des  Feldherrn 
allzusehr  von  der  Schmalseite  aufgefaßt.  Verrocchio  gab  sich  Mühe, 
die  Figur  seines  Colleoni  dem  Relief  des  Gaules  anzupassen.  Lionardo 
versuchte  in  einem  ersten  Entwürfe  für  das  Reiterdenkmal  des  Fran- 
cesco Sforza  die  spätquattrocentistische  Bewegtheit  des  Colleoni  zu 
überbieten,  indem  er  dem  Pferde  die  Sprungstellung  gab,  also  in  etwas 
eine  barocke  Lösung  vorwegnahm,  die  jedoch  hier,  nach  den  Zeich- 
nungen zu  urteilen,  auf  reine  Reliefansicht  berechnet  war.  (Vgl.  auch  die 
Zeichnung  des  Pollaiuolo,  Abbildungen  bei  W.  von  Seydlitz,  Lionardo  da 
Vinci.)  Die  späteren  Studien  für  die  Denkmäler  des  Sforza  und  Tri- 
vulzio  zeigen  das  Pferd  in  der  Schrittbewegung.  Das  Ganze  ist  im 
Sinne  der  Hochrenaissance  beruhigt,  doch  muß  man  sagen,  daß  auch 
Lionardo  hier  der  Schwierigkeit  eines  optischen  Ausgleichs  der  beiden 
Massen  Roß  und  Reiter  nicht  ganz  Herr  geworden  wäre.  Die  Neu- 
aufstellung des  Marc  Aurel  auf  dem  Kapitolsplatz  durch  Michelangelo 
wird  dann  zu  bündiger  Norm  für  Aufstellung  barocker  Standbilder 
überhaupt.  Andreas  Schlüter  erreicht  in  seinem  Großen  Kurfürsten, 
nicht  ohne  starke  Einflüsse  von  selten  der  Italiener  i)  und  der  Franzosen 
(Girardons  Reiterbilder  für  Ludwig  XIV.)')  das  Höchste  an  optischer 
Bindung  der  beiden  plastischen  Massen.  Hier  ist  die  Figur  des  Reiters 
mit  wallendem  Mantel  wahrhaft  groß  gesehen.  Das  Ganze  gipfelt  sich 
bei  Schrägansicht  in  einheitlichem  Zuge  pyramidenartig  auf  (man  be- 
achte die  gedrungene  Gestalt  des  Pferdes,  auf  dem  der  Kurfürst  sitzt). 
Bezeichnenderweise  kommt  auch  Hildebrand  bei  seinen  beiden  Reiter- 
denkmälern in  Bremen  (Bismarck)  und  München  (Prinzregent)  nicht 
um  die  Schrägansicht  als  Schauseite  herum. 

Im  dorischen  Olympiagiebel  sind  alle  Figuren  noch  in  sich  ge- 
schlossene Individuen.    Der  Zusammenhang  des  Ganzen  ist  nur  durch 


')  Vgl.  die  Reiterdenkmäler  der  beiden  Farnese  auf  der  Piazza  dei  Cavalli  zu 
Piacenza  von  Francesco  Mocchi. 

2)  Vgl.  das  Reiterdenkmal  Heinrichs  IV.  von  Pietro  Tacca  (Mitarbeit  des  Gio- 
vanni da  Bologna)  auf  dem  Pont  neuf  zu  Paris. 


I 


KUNSTCHARAKTERE  SODABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  385 

rein  gegenständliche  Bedeutung,  ist  durch  etwas  Mythologisch-Mimi- 
sches gewährleistet  (vgl.  auch  die  Ägineten).  Die  Spieler  sind  ge- 
stellt wie  bei  einem  lebenden  Bild.  Nicht  anders  ist  etwa  die  Myro- 
nische  Gruppe  Athena  und  Marsyas  zu  beurteilen.  Phidias  und  seine 
Leute  lassen  alles  Mythologische  und  Mimische  weit  zurück,  binden 
alle  Figuren  rein  optisch  zu  künstlerischer  Einheit  miteinander.  Das 
Artistische  ist  ausschlaggebend  geworden.  Selbst  an  den  kläglichen 
Fragmenten  der  Londoner  Elgin  marbles  läßt  sich  noch  die  optische 
Vereinheitlichung  des  Ganzen  erkennen.  Das  künstlerische  Geheimnis 
aller  Gruppenprobleme  ist  gefunden.  Und  es  konnte  nur  gefunden 
werden  von  einem  lonier.  Ja  noch  mehr:  Phidias  erweist  sich  als  der 
wahre  Schüler  des  ionischen  Malers  Polygnot.  Es  muß  ein  ähnliches 
Verhältnis  gewesen  sein  zwischen  diesen  beiden  wie  zwischen  Hilde- 
brand und  Marees. 

Was  neuerdings  behauptet  wurde:  daß  in  der  hellenischen  Kunst 
nicht  die  Plastik,  sondern  die  Malerei  die  Führung  gehabt  habe,  kann 
für  das  Ionische  zugestanden  werden,  insofern  das  Optische  hier  von 
Anfang  an  den  Ausschlag  gegeben  hat,  aber  nur  in  diesem  Betracht. 
Wollte  man  damit  sagen,  der  Grieche  sei  ebenso  nur  —  malerisch  ver- 
anlagt gewesen  wie  der  Niederländer  des  17.  Jahrhunderts,  so  stimmt 
das  auf  keinen  Fall.  Und  ebenso  ist  es  verfehlt,  wenn  man  aus  der 
Tatsache,  daß  alle  griechische  Plastik  und  Architektur  bemalt  war,  eine 
Vorherrschaft  der  Malerei  in  hellenischer  Antike  herausfinden  will. 
Vorliebe  für  Buntfarbigkeit  ist  noch  kein  Zeichen  für  malerische  Grund- 
einstellung. Alle  Buntfarbigkeit,  alles  Kolorierte  der  tektonischen  Glieder 
diente  so  oder  so  doch  wieder  zur  Klärung  des  Körperlich-Dreidimen- 
sionalen. 

Man  lasse  sich  nicht  täuschen:  körperhaft-plastisch  war  auch  die 
klassische  Malerei  der  Griechen  (Polygnot),  auch  sie  war  anthropo- 
morph.  Es  ging  immer  um  die  menschliche  Figur,  den  Akt,  um  die 
körperhafte  Existenz,  darauf  war  alles  Räumliche  bezogen,  und  das 
Räumliche  wiederum  konnte  nur  aus  den  gegenseitigen  Beziehungen 
der  Körper  abgelesen  werden.  In  allem  entschied  letztlich  das  Optische. 
Hans  von  Marees  bemühte  sich  um  die  gleichen  Probleme,  seine  Bilder 
wurden  nicht  mit  Unrecht  gemalte  Metopen  genannt. 

Ionische  Malerei  und  Plastik  sind  beide  gleichwertig.  Die  Führung 
hat  in  beiden  das  eine  übergeordnete  Prinzip  optisch-körperhafter  Ge- 
staltung. Das  ist  vorab  festzustellen.  Dann  konnten  immerhin  die 
Malwerke  großer  Meister,  etwa  der  Polygnotschule,  Vorbilder  abgeben 
für  die  wirkliche  Plastik,  wie  es  am  Heroon  von  Gjölbaschi  usw.  der 
Fall  war,  und  wie  es  Phidias  eben  von  Polygnot  lernte.  Wenn  es 
scheint,  als  sei  die  Plastik  ganz  in  das  Fahrwasser  der  Malerei  ge- 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    XV.  25 


386 


OTTO  HOVER. 


raten,  so  heißt  das  nur:  das  ionische  Prinzip  des  Optischen  hat  über 
das  rein  Dorische  gesiegt,  hat  das  Taktisch-Körperhafte  in  seinen  Bann 
gezogen  und  nach  Polyklet  die  ausschließliche  Führung  gewonnen, 
wie  auch  am  dorischen  Gesäule  des  Parthenon  erkennbar. 

Alle  großen  griechischen  Maler  seitdem  sind  vorwiegend  ionischen 
Stammes  gewesen:  Zeuxis  —  Parrhasios  —  Apelles  usw.  Im  optischen 
Prinzip  der  ionischen  Kunst  sind  die  geschichtlichen  Grundvoraus- 
setzungen für  den  gesamten  weiteren  Entwicklungsverlauf  der  Malerei 
abendländischer  Antike  gegeben.  Eine  Darstellung  des  hellenistischen 
Impressionismus  hätte,  immer  soweit  abendländische  Wesenheiten  (Raum- 
Körperliches)  in  Frage  kommen,  mit  den  ionischen  Malern  zu  beginnen. 
Die  Entwicklungslinie  optischer  Kultur  ist  einheitlich  zu  verfolgen. 

Wir  begreifen,  daß  nur  der  ionische  Stamm  eine  bildhafte  Archi- 
tektur wie  die  des  Erechtheion  hervorbringen,  daß  die  Idee  einer  bild- 
haften Plastik  wie  die  der  Nike  des  Päonios  nur  in  einem  ionischen 
Meister  entstehen  konnte.  Gerade  an  der  Nike  sehen  wir,  wie  alles 
Optisch-Bildhafte  gesteigert  dreidimensionale  Werte  enthält  und  ent- 
halten muß:  die  kühne  Kurve  des  zurückwehenden  Mantels,  die  untere 
Gewandung,  die  sich  fest  um  den  stark  gebauten  Mädchenkörper  legt 
und  alle  Glieder  hervortreten  läßt.  Hier  liegen  die  Anfänge  zum  hel- 
lenistischen Barock.  Ionische  Freiheit  unter  optischem  Gesetz  wirkt 
weiter.  Das  Nereidendenkmal  zu  Xanthos,  die  Werke  des  Skopas, 
die  Niobiden,  die  Gigantomachie  von  Pergamon  sind  die  Rastorte  des 
Weges.  Überall  ist  es  wieder  das  Ganze,  nie  mehr  die  Einzelstatue. 
Die  Schatten,  die  sich  in  den  immer  tiefer  eingebauchten  Gewandfalten 
einnisten,  sind  stärkste  Mittel  für  dreidimensionale  Wirkung,  bei  den 
Frauen  des  Nereidenmonumentes  um  so  nötiger,  als  die  hohe  Auf- 
stellung der  Figuren  nur  die  Fernsicht  zuließ.  Gewiß  bietet  die  mäch- 
tige Plastizität  der  Gigantomachie  bei  Nahsicht  (Treppenaufgang)  viele 
tastbare  Schönheiten,  aber  nur  im  Detail.  Für  den  Genuß  des  Ganzen 
mußte  der  Beschauer  zurücktreten  und  wurde  damit  erst  der  künst- 
lerischen Absicht  gerecht.  Einzelstatuen  werden  zwar  auch  noch  ge- 
schaffen in  hoher  Vollendung.  Lysipp  bemüht  sich  in  bewußtem 
Polykletisieren  um  männliche  Schönheit,  findet  aber  gerade  dabei  sein 
neues  —  rein-optisches  —  Motiv  der  Gliederverkürzung.  Lysipp  er- 
reicht vom  Thema  der  freistehenden  Einzelfigur  aus  eine  erste  barocke 
Möglichkeit.  Der  Grundsatz  des  Optischen  bleibt  gewahrt,  nur  wird 
statt  frontaler  Ansicht  jetzt  mehr  und  mehr  die  Schrägansicht  gefordert. 
Gleichzeitig  ist  das  rein  tektonische  Prinzip  durchbrochen.  Zu  Lysipps 
Apoxyomenos  gehört  der  Raum,  mehr  noch,  gehört  der  überkuppelte 
Zentralraum. 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  387 

Unter  dem  optischen  Gesetz  vollzieht  sich  des  weiteren  die  ganze 
Bauentwicklung  späthellenischer  und  hellenistischer  Antike.  Ohne  die 
Norm  der  reinen  Sehbarkeit  wäre  die  Vervielfältigung  des  tektonischen 
Apparates  weder  im  griechischen  Klassizismus  noch  die  Steigerung  der 
plastischen  Kraft  im  hellenistischen  Körperformenbarock  möglich.  Es 
handeh  sich  immer  um  das  optische  Erlebnis  des  Ganzen.  Davon 
hängen  letzten  Endes  auch  die  Raumwirkungen  der  Säulenstraßen 
und  der  Hallen  um  die  Agora  usw.  ab.  Alle  städtebaulichen  Probleme 
ließen  sich  künstlerisch  nur  unter  optischen  Absichten  verwirklichen. 

Die  Säule  behält  in  der  mannigfachen  Verwendung  wohl  noch 
ihre  Körperlichkeit  (darin  konnte  sich  Griechisches,  Abendländisches 
nie  verleugnen),  aber  die  Interkolumnien  werden  immer  weiter  ge- 
nommen. In  die  dorische  Ordnung  besonders  reißt  jene  Laxheit  ein, 
die  für  alles  Klassizistische  bezeichnend  ist.  Man  kann  geradezu  sagen, 
und  beim  Parthenon  deuteten  wir  es  schon  an,  daß  überall  da,  wo  die 
ehemals  rein  taktische  dorische  Ordnung  nur  noch  optisch  behandelt 
und  verwertet  wird,  der  Klassizismus  gegeben  ist.  Das  gilt,  wie  für 
den  antiken,  so  auch  für  den  neueren  Klassizismus.  Der  Dorismus 
eines  Gilly  ist  durchaus  optisch,  ebenso  wie  das  Dorische  an  der 
Petersburger  Börse  des  Thoma  de  Thomon  oder  der  Portikus  an  der 
Frauenkirche  zu  Kopenhagen.  Alle  Tektonik  des  nachbarocken  Klassi- 
zismus ist  nur  sehbar,  niemals  tastbar  gedacht,  gleichviel  ob  bei  Klenze 
oder  Schinkel  (Propyläen  in  München,  Ruhmeshalle  an  der  Theresien- 
wiese,  Walhalla,  Neue  Wache  in  Berlin  usw.).  Klenze  versucht  zwar 
auch  Taktisches  zu  geben,  wo  es  etwa  in  seinen  Vorbildern  aus  der 
italienischen  Renaissance  vorhanden  war,  jedoch  selbst  da  verfällt  sein 
Epigonentum  der  Macht  des  Optischen.  Den  Außenbau  des  Münchner 
Odeon  mag  man  noch  irgendwie  taktisch  empfinden.  Der  Königsbau 
am  Max-Joseph-Platz  bedeutet,  am  wahren  Pittipalast  in  seiner  tastbaren 
Rauheit  gemessen,  optische  Verflachung. 

Dem  neueren  Klassizismus  war  das  optische  Gesetz  vom  Barock 
hinterlassen.  Was  jedoch  im  Barock  unter  Führung  der  Raumvorstel- 
lung geschaffen  war,  wurde  im  Klassizismus  wieder  dem  Vorrang  der 
reinen  Körperform  unterstellt.  Im  antiken  Klassizismus  war  das  Op- 
tische, noch  vor  räumlicher  Problematik,  mit  dem  Ionischen  gegeben, 
und  dieses  Ionische  wurde  seiner  Sehbarkeit  wegen  die  Ordnung 
schlechthin  für  den  hellenistischen  Klassizismus.  Hier  konnte  dann  auch 
ein  Klenze  nicht  fehlgehen.  Die  »ionische^  Glyptothek  bleibt  sein  er- 
freulichstes Werk. 

Das  Antik-Ionische  wurde  schließlich  immer  schmächtiger  in  seiner 
Körperlichkeit.  Die  Säulchen  des  Pergamonaltares  bieten  an  Körperlich- 
keit höchstens  das,  was  der  Schinkel-Epigone  Persius  zu  geben  vermag- 


388  OTTO  HÖVER. 


Wo  die  Neigung  zum  Barocken,  zur  Steigerung  der  Körperlichkeit  für 
den  Augeneindruck  vorherrschte,  mußte  naturgemäß  die  korinthische 
Ordnung  oder  eine  Verbindung  verwendet  werden. 

An  rein  klassizistischen  Typen,  wie  bei  der  forensischen  Basilika, 
wo  nie  der  Versuch  zu  barocker  Umgestaltung  gemacht  wurde  —  das 
hätte  von  vornherein  ein  Versuch  mit  untauglichen  Mitteln  am  untaug- 
lichen Objekt  bleiben  müssen  — ,  verflüchtigt  sich  das  Körperhafte  des 
Tektonischen  immer  mehr.  Schließlich  ist  der  Punkt  größter  Annähe- 
rung an  das  Optisch-Flächenhafte  des  Orients  gegeben.  Der  Klassi- 
zismus gleitet  in  das  Morgenländische  über.  Was  an  hellenischem 
Säulenwerk  noch  übrig  war,  erstand  zu  neuem  Leben  in  der  altchrist- 
lichen Basilika  und  ihren  transarchitekturalen»)  Wirkungsmöglichkeiten. 

Bedeutende  Meister  unter  den  späteren  griechischen  Klassizisten 
wissen  trotz  allem  aus  der  Gesamtsituation  ihrer  Bauten  noch  höchst 
reizvolle  Wirkungen  herauszuholen,  so  schon  Hermogenes  in  Magnesia 
(Tempel  und  Hallenhof),  besonders  aber  Apollodor  von  Damaskus  mit 
der  Anlage  des  Forum  Trajanum,  der  Bibliothek,  der  Basilika  Ulpia  und 
der  Trajanssäule.  Sicher  war  die  körperliche  Form  des  Tektonischen 
durchaus  klassizistisch;  das  optische  Ganze  aber  mit  seinen  Durch- 
blicken, Überschneidungen  und  der  Zusammendrängung  auf  relativ 
kleinen  Raum  muß  stark  barocke  Effekte  enthalten  haben.  Zum  hel- 
lenistischen Körperformenbarock  im  eigentlichen  Sinne  gehört  die 
trajanische  Anlage  nicht.  Beim  Körperformenbarock  scheint  es,  als  ob 
das  Auge  immer  stärkerer  Reize  bedürfe,  um  das  Körperliche  als  solches 
zu  fassen.  Da  alles  mehr  denn  je  auf  Fernsicht  berechnet  ist,  muß 
das  Relief  der  Baukörper  entsprechend  betont  werden,  muß  vor- 
quellen und  zurücktreten,  damit  das  Dreidimensionale  zur  Geltung 
kommt.  Die  Fernsicht  ist  natürlich,  weil  dieser  Fassadenbarock  von 
der  tektonischen  Dekoration  der  scenae  frons  des  Theaters  ausgegangen 
war,  also  hier  ganz  nur  auf  Sehbarkeit  und  Fernsicht  eingestellt  ge- 
wesen war. 

Gegen  die  abendländische  (führende)  Stimme  zu  Baalbek,  Petra, 
Palmyra  usw.  verschlagen  die  Orientalismen  der  Ornamentik  nicht 
sonderlich  viel.  Die  machtvolle  Plastik  der  enggestellten  Säulenkörper 
an  den  Baalbeker  Großtempeln  drängt  sich  ohne  weiteres  auf.  Daß 
ein  Fries  im  beginnenden  Tiefendunkel  ausgearbeitet  ist,  kommt  erst 
bei  genauerer  Prüfung  zur  Geltung.  Man  bedenke  immer,  daß  der 
kleine  runde  Venustempel  mit  seinem  barocken  Gebälk  und  Säulen- 
werk   erst  im   späten   2.  Jahrhundert   n.   Chr.  entstanden   und  noch 


')  Über  den  Begriff  des  Transarchitekturalen  vgl.  einen  anderen  Aufsatz  des 
Verfassers,  der  voraussichtlich  in  dieser  Zeitschrift  erscheinen  wird. 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  380 

immer  Kronzeuge  des  Abendländischen  ist.  In  dem  hufeisenförmigen 
Forum  von  Oerasa')  waren  sicher  Wirkungsmöglichkeiten  der  Bau- 
situation enthalten,  die  erst  ein  Bernini  vor  St.  Peter  wieder  er- 
reichen sollte. 


2.  Das  abendländische  Italien. 

Unter  rein  optischer  Orundein Stellung  erfolgte  auch  die  Vereini- 
gung von  Oliederbau  und  Wölbung  im  östlichen  Hellenismus*).  So- 
lange hellenisches  Körpergefühl  noch  lebendig  war  im  Osten,  wurde 
das  Abendländische,  das  Optisch -Dreidimensionale  vollkommen  ge- 
wahrt. Schließlich  aber  geschah  dasselbe  an  dem  durchgliederten  ge- 
wölbten Raumbau  wie  später  an  der  altchristlichen  Basilika:  die  An- 
näherung an  das  Unkörperliche.  Damit  war  die  orientalisierte  Spät- 
antike, war  der  byzantinische  Raumbau  gegeben. 

Bevor  die  Angleichung  an  das  Morgenländische  eintrat,  machte 
erst  noch  Rom-Italien  seine  baukünstlerische  Kraft  geltend.  Es  hatte  keine 
geringere  Aufgabe,  als  den  neuerstehenden  Raumbau  des  hellenistischen 
Osten  noch  einmal  zu  okzidentaiisieren.  Rom  verhält  sich  zum  be- 
ginnenden östlichen  Raumbau  nicht  anders  als  einst  der  Dorier  zum 
lonier,  d.  h.  die  optisch-dreidimensionale  Auffassung  wurde  ersetzt  durch 
die  taktisch-körperhafte  Vorstellungskraft  des  Italieners  auch  dem  Raum 
gegenüber.  Damit  haben  wir  die  Nationalkonstante  des  abendländischen 
Italien  gefaßt. 

Im  Osten  barg  nur  gesteigerte  Körperlichkeit  für  das  Auge  noch 
dreidimensionale  Wirkungen.  In  diese  barocke  Situation  greift  der 
frische  Raumwille  der  frühen  Kaiserzeit  und  bringt  eine  neue,  verjüngte 
Art,  den  Raum  wie  den  Oesamtbaukörper  zu  gestalten.  An  die  Stelle 
des  Nur-Barocken  östlicher  Herkunft  tritt  die  Renaissancegesinnung  des 
neuen  Westen.  Das  raumhafte  Schaffen  steht  hier  unter  einem  neuen, 
kraftvollen  Körpergefühl.  In  die  Entwicklung,  die  im  Osten  auf  dem 
besten  Wege  zu  S.  Konstanza  und  zur  Hagia  Sophia  war,  mußte  vor- 
erst noch  das  Pantheon  verzögernd  eintreten.  Die  abendländischen 
Kunstkräfle  Italiens  hatten  noch  ein  gewichtiges  Wort  zu  sprechen. 

Was  der  Dorier  alles  auf  seine  Säulen  übertragen  hafte,  verwirk- 
lichte Rom  nunmehr  im  Raum.  Der  Raum  wird  verkörperlicht.  Die 
geistige  Polarität  der  Baukunst  wird  zu  einer  edlen  Stofflichkeit  und 


')  Djemal  Pascha,  Alte  Denkmäler  in  Syrien  und  Palästina.  Berlin,  Reimer,  1918. 
Vgl.  auch  die  optischen  Effekte  im  Innern  des  Serapeion  zu  Alexandria. 

-)  Vgl.  im  übrigen  zu  diesem  Abschnitt  vor  allem:  K.  M.  Swoboda,  Römische 
und  romanische  Paläste.    Wien  1918. 


390  OTTO  HÖVER. 


Diesseitigkeit  gezwungen.  Der  abendländische  Raum  in  Italien  ist  jetzt 
in  Wirklichkeit  die  erweiterte  Sphäre  der  organischen  Leiblichkeit.  Das 
Anthropomorphe  dieser  Raumwesen,  das  hohe  Maß  räumlicher  Schönheit 
beruht  in  den  durchaus  taktischen  Absichten  der  Schöpfer  und  wird  zu 
einem  bestimmenden  Merkmal  aller  klassischen  Raumstimmung  in  Italien. 

Taktischen  Absichten  hat  im  Pantheon  alles  zu  dienen:  die  einheit- 
liche, äußerst  konzentrierte  Beleuchtung  (keine  Verzettelung  der  Licht- 
quellen), die  Kassettierung  der  inneren  Kuppelfläche,  rein  architektonische 
Bedeutung  aller  sonstigen  tektonischen  Gliederungen.  Die  gesamte  Pro- 
portion ist  taktisch  abgestimmt.  Alles  bleibt  sozusagen  in  Reichweite. 
Nach  allen  Dimensionen  sind  in  greifbarer  Nähe  die  festen  Grenzen 
zu  spüren.  Wiederum  geht  der  taktische  Wille  auf  das  insichbe- 
schlossene  Einzelne,  und  das  bedeutet  für  den  Raumbau:  Addition i). 
Alle  Absichten  auf  Raumaddition  in  der  Architektur  des  abendländi- 
schen Italien  in  Antike  wie  Neuzeit  sind  unverbrüchlich  mit  der  tak- 
tischen Veranlagung  verknüpft.  Jeder  Raumsummand  enthält  tastbare 
Erlebniswerte.  Das  gilt  wie  für  den  Zentralbau  so  auch  für  die  kreuz- 
gewölbten Abteile  der  Tepidarien  oder  die  tonnengewölbten  Säle 
kaiserlicher  Paläste.  Die  taktische  Formkraft  mußte  notwendigerweise 
alle  Ansätze  zum  durchgliederten  Zentralbau  östlicher  Herkunft  in 
einen  raumhegenden  Massenbau  umbilden,  dann  aber  auch  einer 
Raumvereinheitlichung  entgegenarbeiten.  So  kommt  es,  daß  in  den 
säulendurchgliederten  Raum  werken,  die  Montano ')  abbildet,  und 
deren  vermutliche  Vorbilder  aus  dem  hellenistischen  Osten  in  die 
Ahnenreihe  der  Hagia  Sophia  gehören,  durch  die  Hand  römischer 
Architekten  das  isolierende  Prinzip  den  Sieg  davonträgt. 

Der  optische  Wille  des  Hellenismus  hatte  auch  im  Raumbilde  die 
Gesamtwirkung  angestrebt;  Rom  und  dann  die  reichsrömische  Raum- 
kunst, soweit  sie  von  abendländischer  Triebkraft  erfüllt  war,  negierten 
das  Raumganze  zugunsten  der  einzelnen,  selbständigen  Raumexi- 
stenzen. Das  ist  kein  Rückschritt,  zeugt  vielmehr  davon,  wie  sehr  die 
reine  Nebeneinanderordnung  gleichwertiger  Räume  unter  dem  taktischen 
Prinzip  Ausdruck  eines  freischöpferischen  Willens  ist,  der  über  alle 
konstruktive  Gebundenheit  hinausgeht.  Alle  Raumaddition  morgenländi- 
scher Bauten  entspringt  demgegenüber  mehr  oder  weniger  konstruk- 
tiven Bedingungen,  die  selbst  in  westeuropäischer  Romanik  noch  eine 
ausschlaggebende  Rolle  spielen. 


')  Zum  Begriff  der  Addition  in  der  Raumgestaltung  vgl.  Paul  Frankl,  Ent- 
wicklungsphasen der  neueren  Baukunst,  Leipzig  1914. 

^)  Giovanni  Battista  Montane  (G.  B.  Soria),  Scielta  dl  varii  tempiäü  antichi. 
Roma  1624.  Giuseppe  Mongeri,  Le  rovine  di  Roma  al  principio  del  secolo  XVI. 
Mailand  1875. 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  391 

Die  eingestellten  Stützkörper  mußten,  wo  die  Vereinheitlichung 
des  Raumes  schon  weit  vorgeschritten  war,  in  ihrer  immer  noch  kräftigen 
Plastizität  in  eine  Gegenwirkung  zum  Räume  treten.  Die  Säulen  wirkten 
allemal  mehr  trennend  als  verbindend,  und  erst  die  orientalisierte  Spät- 
antike konnte  kraft  ihrer  besonderen  formalen  wie  geistigen  Möglich- 
keiten diesen  Dualismus  in  der  Raumbehandlung  ganz  überwinden. 
Für  diesen  Prozeß  aber  waren  die  hellenistischen  Raumtypen,  die  in 
die  Hände  Roms  gerieten,  von  vornherein  verloren. 

Die  Prachtliebe  römischer  Kaiser  stattete  alle  Raumbauten  ver- 
schwenderisch mit  polierten  Marmorplatten  aus,  verwendete  Säulen  aus 
blankem  Granit  und  Porphyr,  das  Pantheon  war  am  Äußeren  ganz 
inkrustiert,  alles  zugegeben:  das  abendländische  Orundgefühl  überwiegt 
dennoch.  Der  Römer  hat,  wohl  zum  ersten  Male  unter  den  Abend- 
ländern, die  bare  Masse  körperhaft  und  taktisch  empfunden  —  der 
Grieche  hatte  es  ja  nur  mit  seinem  Oliederbau  zu  tun  — ,  dafür  ist  die 
Moles  Hadriani  bis  heute  hinreichendes  Zeugnis.  Was  in  späteren 
Bauten  des  mittelalterlichen  Italien,  die  mit  Inkrustation  versehen  sind, 
das  Orientalische  ausmacht,  ist  nicht  diese  Inkrustation  allein,  viel- 
mehr auch  die  Unkörperlichkeit  der  Wände  und  Säulen,  ist  das  Trans- 
architekturale überhaupt.  Bei  aller  Vorliebe  für  reiche  Ausstattung 
mit  vielen  bunten  Marmorsorten  vergaßen  die  Meister  des  römischen 
Raumstils  nie  das  Eigentlichste  und  Wesentlichste  einer  rein  archi- 
tekturalen  Wirkung  im  statischen  Aufbau  wie  im  Gesamtaussehen 
ihrer  Großkonstruktionen.  Masse,  Säulen  und  Raum  werden  in  erster 
Linie  körperhaft  durchgefühlt.  An  diesem  Fall  der  Römerbauten  wird 
klar,  daß  man,  namentlich  bei  Abendländischem,  sich  nicht  auf  den 
schließlichen  Eindruck  des  Bauwerkes  allein  verlassen  soll,  sondern 
auf  die  Raum-Kgrpervorstellung  des  Künstlers  zurückgreifen  muß.  Im 
Morgenländischen  ergibt  sich  auch  von  dieser  Seite  her  die  völlige 
Einheit  von  Absicht  und  Wirkung  unter  Führung  des  Optisch-Un- 
körperlichen. Im  Abendländischen  stellt  sich  oft  genug,  und  meist 
gerade  in  klassischen  Zeiten,  eine  Zwiespältigkeit  ein:  die  körperhaft 
taktische  Absicht  als  Grundlage  und  völlig  originell,  der  Apparat 
äußerer  Ausstattung  oft  entlehnt  und  ganz  unabendländisch.  Trotz- 
dem bleibt  die  Gesamthaltung  immer  architektonisch. 

Auf  keinen  Fall  enthielten  die  römischen  Räume  einen  derartigen 
Widerspruch  wie  etwa  der  überkuppelte  Lichthof  der  Münchner  Uni- 
versität, wo  die  Wand  optisch-flächenhaft,  die  kassettierte  Kuppel  (und 
das  Tonnengewölbe  der  Freitreppe)  aber  taktisch-körperhaft  behandelt 
sind,  also  ein  Ausgleich  zwischen  Byzantinischem  und  Römischem 
vorhanden  ist. 

Man  hat  nur  das  Ingenieurhafte  der  römischen  Großkonstruktionen 


392  OTTO  HÖVER. 


als  sonderlich  römisch  gelten  lassen  wollen;  abgesehen  davon,  daß 
auch  dieses  schon  genügte,  das  Hochschöpferische  zu  rechtfertigen, 
ist  doch  mit  dem  taktischen  Willen  eine  eminent  künstlerische  Wesen- 
heit gegeben,  die  außerhalb  Roms  und  römischer  Gesamtkunst  in  jener 
Zeit  nicht  mehr  ihresgleichen  hatte  und  haben  konnte. 

Je  mehr  sich  römischer  Raumbau  mit  östlichem  Hellenismus  aus- 
einanderzusetzen hatte,  je  mehr  durch  viele  offene  und  geheime  Kanäle 
orientalische  Baugewohnheiten  sich  einzuschleichen  wußten,  um  so 
staunenswerter  bleibt,  wie  Rom  sein  Amt  als  Sachwalter  und  Vertei- 
diger des  Abendländischen  noch  mit  kräftiger  Hand  und  straffem  Geiste 
auszuüben  vermochte.  Schließlich  mußte  es  ja  nachgeben,  die  Kaiser 
selbst  mit  ihren  Überspanntheiten  arbeiteten  dem  Morgenländischen 
zur  Genüge  vor,  aber  in  jenem  ersten  nachchristlichen  Jahrhundert,  in  dem 
die  entscheidenden  Leistungen  des  Raumbaues  vollbracht  werden,  ist 
der  abendländische  Geist  noch  stark  genug,  um  sieghaft  die  Renais- 
sancelinie zu  wahren,  d.  h.  nunmehr:  taktisch-körperhafte  Vorstellung 
in  Raum,  Tektonik  und  Masse  voll  zu  verwirklichen.  Auch  später 
gelingt  das  noch  hier  und  da.  Vorbehaltlich  aller  fremden  Ein- 
schläge kommt  Römisches,  kommt  Italienisches  und  Abendländisches 
in  der  Minerva  Medica  und  in  Spalato^)  doch  wieder  zum  Durchbruch. 
Hat  man  sich  das  Recht  genommen,  hier  nur  »Orient«  zu  sehen,  so 
müssen  wir  billigerweise  das  Ohr  spitzen,  um  jene  leisen  Töne  zu 
vernehmen,  die  noch  abendländisch,  noch  römisch  sind,  müssen  das 
herausfühlen,  was  die  Minerva  Medica  mit  dem  Pantheon  anstatt  mit 
Armenien*)  verbindet.  Es  ist  das  gleiche,  was  in  weitem  Bogen  die 
Jahrhunderte  überspannt  und  alle  die  wahrhaft  abendländischen  Raum- 
bauten römischer  Kaiserzeit  mit  denen  der  italienischen  Renaissance 
verknüpft,  wo  zum  zweiten  Male  Italien  für  Europa  und  für  den  Ok- 
zident gewonnen  wird^).  Es  ist  das  gleiche,  was  die  prachtvollen 
plastischen  Charakterporträte  der  späten  Republik  und  frühen  Kaiser- 
zeit mit  den  Porträtwerken  des  Florentiner  Quattrocento  verbindet. 
Gerade  in  dieser  Bezüglichkeit  offenbart  sich  die  besondere,  tiefste 
Menschlichkeit,  die  an  dem  Willen  zum  Taktisch-Körperhaften  grund- 
legend beteiligt  ist. 

Zugegeben,  daß  in  jenen  Charakterköpfen  der  Porträtplastik  der 
echt  römische  Grundzug  zum  Vorschein  kommt,  so  könnte  ihre  zeit- 
liche Entstehung  (späte  Republik)  besagen,  daß  in  der  Kaiserzeit  nichts 
mehr  davon  vorhanden  war,  was  scheinbar  durch  die  klassizierenden 


')  Vgl.  Swoboda  a.  a.  O. 

')  Vgl.  die  einschlägigen  Arbeiten  Sirzygowskis. 

')  Denn  alle   mittelalterliche   Kunst   Italiens   mit  Einschluß   der   sogenannten] 
Protorenaissance  Toscanas  steht  unter  orientalischem  Vorzeichen. 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  393 

Bildhauerschulen  unter  Augustus  bestätigt  wird.  Soweit  die  figurale 
Plastik  in  Frage  kommt,  können  wir  das  im  gewissen  Sinne  einräumen. 
Das  Echt-Römische  und  Abendländisch-Italische,  das  den  Porträtbüsten 
der  späten  Republik  innewohnt,  bricht  aber  während  der  Kaiserzeit 
eben  in  der  Raumgesinnung  hervor,  ist  in  den  gewaltigen  schöpferi- 
schen Architekturwillen  des  ersten  nachchristlichen  Jahrhunderts  hinein- 
verlegt. Daß  trotzdem  auch  in  der  Plastik  ein  echt  römischer  Kunst- 
wille weiterlebt,  hob  schon  Julius  von  Schlosser  hervor:  In  diesem 
intransigenten  Realismus  (Münzporträte  der  Kaiserzeit)  liegt  die  histo- 
rische Bedeutung  der  solange  verächtlich  beiseite  geschobenen  römi- 
schen Kunst,  deren  Wesen  nicht  in  der  Kopistenarbeit  ihrer  Gräkuli, 
sondern  darin  zu  suchen  ist,  daß  sie  das  große,  vom  Hellenismus 
unterbrochene  Werk  des  echt  nationalen  Griechentums  aufgenommen 
und  weitergeführt  hat.« 

Wie  sich  die  quattrocentistischen  Bildhauer  von  Florenz  zu  den 
baukünstlerischen  Taten  der  Hochrenaissancemeister  in  Rom  (Bramante) 
verhalten,  in  der  gleichen  äußeren  wie  tiefinneren  Beziehung  stehen 
die  republikanischen  Charakterköpfe  der  Plastik  zum  kaiserlichen  Rom. 
Mögen  die  Kaiser  Roms  im  Punkte  der  Moral  gewesen  sein,  wie  sie 
wollen,  das  geht  uns  nichts  an.  Die  schöpferische  Geste,  der  Bauwille 
ist  entscheidend,  gleichviel  ob  im  alten  Rom  oder  bei  den  Florentiner 
Finanzleuten. 

Es  kann  eingewandt  werden,  griechische  Bildhauer  —  auch  im 
Hellenismus  war  das  realistische  Porträt  zum  Hauptthema  geworden  — 
hätten  die  republikanischen  Römer  porträtiert.  In  manchen  Fällen 
sicherlich,  doch  was  so  auffallend  im  15.  Jahrhundert  wiederersteht 
ohne  Griechen,  das  muß  schon  damals  in  der  Antike  römisch  und 
italienisch  der  künstlerischen  Urheberschaft  nach  gewesen  sein.  Die 
hellenistischen  Porträtköpfe,  die  optisch-impressionistisch  gestaltet  sind 
(sogenannter  Seneca),  verhalten  sich  zu  unseren  taktischen  Römern 
plastisch  wie  ein  Rodin  zum  Quattrocento.  Echt  italienisch  bleibt 
immer  der  Typus  der  Dargestellten,  ob  ein  römischer  Konsul,  Latifun- 
dienbesitzer oder  ein  florentinischer  Bankier,  der  innere  Kern  ist  ur- 
wüchsiges, bodenständiges,  realpolitisches  Bauerntum.  Das  Rustikale 
erscheint  als  bindende  Formel  für  die  Dorier  und  abendländischen 
Italiener.  Dorische  Plastik,  römische  und  quattrocentistische  Porträte 
sind  erdfeste  Bauernkunst  edelsten  Geblütes.  Die  künstlerische  Ein- 
stellung, die  wir  hier  mit  dem  terminus  technicus  taktisch  belegen,  ist 
in  dieser  bodenfesten  Bäuerlichkeit  verankert.  Man  will  das  Reale,  ist 
jeder  ideologischen  Verstiegenheit  abhold  und  bringt  trotzdem,  nein 
gerade  deshalb,  die  höchsten  Leistungen  zustande.  Überall  hat  man 
Boden  unter  den  Füßen.    In  den  Behausungen  dieser  Menschen  darf 


394  OTTO  HÖVER. 


man  fest  und  breit  auftreten:  ein  Punkt  weitester  Entfernung  vom 
Orientalischen. 

Es  gibt  Leute,  die  das  plastische  ideal  Europas  einzig  und  allein 
in  den  Werken  des  Polyklet  sehen.  Das  Porträt  soll  nach  ihnen  über- 
haupt keine  plastische  Aufgabe  sein.  Der  echte  Plastiker  könne  nur 
so  weit  in  der  Bildung  eines  Kopfes  gehen  wie  Polyklet  bei  seinem 
Doryphoros.  Wir  sind  der  Meinung,  daß  römische  Porträtbüsten  und 
Polyklet  auf  einer  Linie  liegen.  Was  der  große  Dorier  auf  den  ganzen 
männlichen  Akt  verteilte,  sammelten  Römer  und  Quattrocentisten  auf 
den  Kopf,  auf  das  Gesicht.  Das  Physiognomische  wird  taktisch  er- 
lebt und  plastisch  geformt:  kann  es  intensiver  erlebt,  kann  es  wesen- 
hafter geformt  werden?  Auch  hier  finden  die  Möglichkeiten  der  plasti- 
schen Kunst  eine  höchste  Erfüllung,  vom  naturnahen  Realismus  geht 
es  zu  feinster  Durchgeistigung.  Die  herrliche  Materialität  der  Bronze 
ist,  wie  bei  sikyonischen  Toreuten,  so  auch  zur  Zeit  der  römischen 
Republik  und  im  Quattrocento  Grundbedingung  aller  formalen  (tak- 
tischen) und  geistigen  Werte,  geistiger  Werte,  die  den  Möglichkeiten 
der  Plastik  (und  ebenso  dann  denen  der  Architektur)  in  jeder  Richtung 
immanent  sind. 

In  der  Rustikafassade  des  Pittipalastes  ist  die  ganze  erdgeborene 
Kraft  des  toskanischen  Bauerntums,  das  zu  Höchstem  fähig  war  und 
vor  allen  anderen  sich  neu  auf  abendländisches  Wesen  besann.  Stein 
geworden.  Brunelleschi,  der  Wortführer,  begreift  die  Mauer  wieder 
aus  der  rauhen  Stofflichkeit  des  Steins.  Die  abendländische  Wand  ist 
gegeben.  Der  Strozzibau  des  Benedetto  da  Majano  bildet  die  Vor- 
stufe, Brunelleschi  aber  geht  erst  mit  äußerster  Konsequenz  vor.  Die 
trotzige  Einzelhaftigkeit  des  hohen  Oesamtkörpers  des  Pittipalastes  mit 
nur  sieben  Achsen  ursprünglicher  Breite  entsprach  völlig  dem  takti- 
schen Willen  nach  gesonderter  Körperlichkeit.  Andere  florentinische 
Paläste  folgen  darin.  Es  heißt  die  ursprüngliche  Absicht  ins  Gegenteil 
verkehren,  wenn  der  Klassizist  Klenze  im  Gefolge  barocker  Tradition 
einen  ganzen  breiten  Straßenzug i)  —  alle  italienischen  Straßen  sind 
schmal  und  eng  —  mit  quattrocentistischen  Palastexistenzen  zu  flan- 
kieren versucht.  Das  gelingt  schließlich  nur  unter  Ausschaltung  aller 
taktischen  Absichten.  Die  Bindung  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  wird 
erreicht  durch  das  optische  Prinzip  barocker  Abkunft. 

Eindeutig  und  klar  abtastbar  zieht  Brunelleschi  seine  Architrave,  Ge- 
simse, Rahmungen  aus  grüngrauem  Stein  über  weißes  Gewände  in  S.  Lo- 
renzo,  in  der  Pazzikapelle,  in  der  Sacrestia  vecchia  usw.  In  S.  Lorenz© 
okzidentalisiert  er  ganz  aus  eigener  schöpferischer  Idee  heraus  die  alt- 


I 


')  Die  Ludwigstraße  in  München. 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  395 

christliche  Basilika  von  neuem  i).  Das  Raumproblem  der  Basilika  wird 
von  ihm  selbständig  nochmals  durchdacht.  Der  allgemein  spätantike 
Raum  wird  italienisiert,  wird  zur  Einheit  nur  durch  Nebenordnung 
selbständiger,  individuell-greifbarer  Einzelräume  (vor  allem  in  den  Seiten- 
schiffen mit  ihren  Stutzkuppeln). 

Über  alle  äußerliche  Nachahmung  antikischer  Formen  hinaus  bleibt 
also  vom  tiefsten  Wesen  künstlerischen  Willens  aus  Brunelleschi  das 
Verdienst,  das  Zeichen  zum  Beginn  der  wahren  und  eigentlichen  Re- 
naissance gegeben  zu  haben.  Der  Weg  zu  neuer  Körperhaftigkeit  war 
an  sich  ja  schon  seit  Niccolo  Pisano  beschritten.  Aber  hier  herrschte 
die  optisch-dreidimensionale  Einstellung.  Giotto  erschloß  dem  Auge 
ein  neues  Raumerlebnis  auf  der  Fläche.  Da  zeigt  sich  nun  wieder, 
daß  alles  Abendländische  ohne  Dualismus  nicht  auskommen  kann. 
Ghiberti  und  Donatello  tragen  beide  Möglichkeiten  in  sich,  das  Takti- 
sche wie  das  Optische.  Man  mag  sie  wieder  Strenge  und  Freiheit 
nennen.  Die  malerischen  Reliefs  des  Ghiberti,  die  impressionistischen 
Szenen  Donatellos  an  den  Kanzeln  von  S.  Lorenzo  usw.  sind  Zeugen 
der  optischen  Möglichkeit.  Einig  aber  gehen  alle  im  Körpergefühl,  das 
wieder  anthropomorph  geworden  wie  nur  je  in  den  besten  Zeiten  der 
Antike.  Oft  mag  man  schwanken,  ob  taktisch  oder  optisch  empfunden, 
nie  wird  man  über  das  Körpergefühl  im  unklaren  sein,  das  sich  in 
aller  italienischen  Tektonik  und  Raumgestalt  ausspricht.  Bramante, 
Michelangelo  sind  gewiß  in  erster  Linie  Raumdenker,  doch  sie  denken 
den  Raum  plastisch,  verkörperlichen  das  Geistige  wie  jener  unbekannte 
antike  Italiener,  der  Meister  des  Pantheon,  es  tat*). 

Alles  in  allem  bedeutet  die  italienische  Renaissance  für  Europa 
einen  letzten  großen  Akt  der  Bewußtwerdung  des  Abendländischen 
und  stellt  sich  solchermaßen  den  anderen  wichtigen  Okzidentalisierungs- 
prozessen  an  die  Seite,  die  da  heißen:  das  Werden  abendländischer 
Tektonik  in  Hellas,  insonderheit  durch  dorische  Baugesinnung,  die 
Schöpfung  des  abendländischen  Raumstils  im  römischen  Imperium  und 
zum  dritten  der  Weg  vom  romanischen  Stil  zur  Gotik  als  Ergebnis 
lebhaftester  Auseinandersetzung  der  jungen  Nordvölker  auf  neuem 
Boden  mit  dem  Erbgut  der  orientalisierten  Späiantike. 

Bramante  setzt  in  der  ultima  maniera  durchaus  die  taktischen  Ab- 
sichten des  Brunelleschi  fort.  Das  zeigen  die  Säulen  des  Tempietto 
bei  S.  Pietro  in  Montorio  oder  die  mächtig  schwellenden  Halbsäulen 
der  Palastfassaden.     Giulio   Romano   geht   sogar   noch   weiter.     Die 


')  Im  Wölbedom  des   romantischen  Stils  lag  der  andere  (erste)  Versuch  vor, 
die  Basilika  zu  okzidentalisieren. 

')  Spengler  freilich  denkt  anders  über  das  Pantheon  und  seine  Meister! 


396  OTTO  HÖVER. 


toskanische  Ordnung  wird  unter  seinen  Händen  dem  Wesen  der  do- 
rischen Säulen  völlig  adäquat  (Pal.  del  Te). 

Bramante  leistet  für  die  römische  Hochrenaissance,  was  Brunel- 
leschi  für  die  Fruhrenaissance  in  Florenz  tat.  Durch  Bramante  holt 
Rom  in  Kürze  den  Vorsprung  Toskanas  ein,  und  als  es  im  Begriff 
steht,  die  Spitze  zu  nehmen,  ist  der  Barock  gegeben,  der  spezifisch 
römische  Barock:  Masse  und  Bewegung.  Michelangelo  modelliert 
Wandkörper  und  Raum.  Die  herrlichen  Kurven  seiner  Peterskuppel 
werden  selbst  noch  bei  Fernsicht  zum  taktischen  Erlebnis.  Daß  die 
ganze  erste  Phase  des  italienisch-römischen  Barock  plastisch  sei,  steht 
heute  überall  geschrieben  (vgl.  Pinder).  Man  kann  weiter  gehen:  der 
italienische  Barock  überhaupt  ist  plastisch,  ist  körperhaft-taktisch  im 
Vergleich  zu  den  Leistungen  des  deutschen  Spätbarock.  Hier  kommt 
es  mehr  denn  je  auf  die  Nuancen  und  Bezüglichkeiten  an  und  vor 
allem  auf  das,  was  sich  in  der  schaffenden  Vorstellung  des  italieni- 
schen Künstlers  abspielte.  Caravaggio  oder  die  Carracci  sind  Rem- 
brandt  gegenüber  immer  noch  taktisch.  Wir  nehmen  vieles  rein  op- 
tisch, was  auch  bei  späten  Leistungen  taktisch  gemeint  ist.  Das 
italienische  Seicento  zeigt,  daß  unter  taktischen  Absichten  auch  ein 
Barock,  ein  Körperformenbarock  möglich  sei.  Taktisches  und  Optisches 
schließen  aber  einander  nicht  aus  in  abendländischer  Kunstgestalt,  in 
Italien  nun  schon  gar  nicht. 

Überblickt  man  die  Gesamtheit  des  italienischen  Barock,  so  wird 
in  der  Tat  klar,  daß  die  besten  und  originellsten  Leistungen  sich  inner- 
halb der  Möglichkeit  der  Körperform  halten.  Wölfflin  brauchte  dem 
Raumhaften  (Renaissance  und  Barock)  nur  eine  kurze  Erörterung  zu 
widmen.  Masse  und  Bewegung  sind  ausschlaggebend,  und  diese  Ter- 
mini gewinnen  an  den  beiden  nordischen  Bewegungsstilen  gemessen 
noch  besondere  Bedeutung:  Gotik  =  Bewegungsstil  des  Gliederbaues, 
deutscher  Barock  als  Bewegungsstil  eines  Raumbaues  höchster  Ordnung. 

In  Michelangelos  St.  Peter  und  im  Gesü  Vignolas  ist  die  Lösung 
des  Raumproblems  sicherlich  nach  den  spezifischen  Bildungsgesetzen 
eines  barocken  Raumbaues  angestrebt.  Niemand  wird  das  bestreiten. 
Auch  Palladio  tritt  als  barocker  Raumdenker  auf,  als  welchen  ihn 
A.  E.  Brinckmann  jetzt  endgültig  hingestellt  hat.  Aber  was  diese  Meister 
zuwege  brachten  in  der  Großraumbehandlung,  ist  als  Barockleistung 
zugleich  ein  Äußerstes  für  Italien.  Gegenüber  allem,  was  deutsche 
Spätbarockisten  aus  den  Raumproblemen  machen,  bleibt  das  Italieni- 
sche doch  wieder  der  additionalen  Möglichkeit  nahe.  Gerade  der 
Gesü  enthält  starke  additionale  Wesenheiten:  Tambour  und  Kuppel, 
Seitenkapellen  usw.;  er  ist  Mischcharakter  (ähnlich  etwa  wie  die  Hagia 
Irene  in  Byzanz,  vgl.  S.  Ignazio  und  S.  Andrea  della  Valle).    Mit  dem 


I 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  397 


Gesütyp  ist  der  Umkreis  der  Raumprobleme  in  Italien  von  vornherein 
verengert,  und  darin  mag  ein  triftiger  Grund  liegen,  daß  um  so  mehr 
alle  schöpferischen  Kräfte  sich  auf  die  Steigerung  plastischer  Wesen- 
heiten sammeln  konnten.  Das  gegebene  Feld  waren  die  Gewände 
des  Inneren  und  der  Fassade  (Fassadenbarock).  Gewiß  wird  das  reine 
Rund  zentraler  Räume  der  Renaissance  ins  Ovale  umgebildet.  Die 
Ellipse  kommt  zu  großer  Bedeutung  schon  in  einigen  Entwürfen  Vi- 
gnolas.  Borromini  und  Guarini  wagen  Äußerstes  an  Raumkomplizierung. 
Dennoch:  erstlich  sind  es  immer  klein  dimensionierte  Bauten,  Extra- 
vaganzen besonderer  künstlerischer  Launen  und  in  dem  Grade,  wie  sie 
solches  sind,  vielleicht  oft  ganz  unitalienisch,  dem  Nordischen  nahe- 
stehend. Niemals  hat  S.  Ivo  alla  Sapienza  des  Borromini  innerhalb 
des  italienischen  Gesamtcharakters  die  Bedeutung  wie  Vierzehnheiligen 
oder  Neresheim  für  unseren  Barock.  Auch  daß  die  letzteren  Bauten 
später  sind  als  alles  Italienische,  verschlägt  nichts.  Deutschland  ist 
an  sich  später  daran.  Italien  durchlief  alle  Möglichkeiten  schon  im 
Seicento.  Zum  anderen:  den  Borromini  und  Guarini  war  das  Räum- 
liche doch  nur  eine  Nebensache.  Hauptsache  war  ihnen  die  möglichst 
künstliche  Führung  aller  struktiven  und  tektonischen  Elemente,  die 
Komplizierung  des  Körperformenapparates  außen  und  innen,  die  Aus- 
lösung bizarrer  Möglichkeiten  an  Wand  und  Wölbung,  wobei  sich 
Guarini  sogar  bei  den  Arabern  Rat  holte.  Die  Endabsicht  geht  immer 
auf  die  höchstbewegten  Umrißlinien  der  raumbegrenzenden  Körper. 
Im  deutschen  Barock  wird  das  Raumhafte  selbst  in  Bewegung  gesetzt. 
Das  Wesentliche  an  Borromini  ist  tatsächlich  erfaßt,  wenn  gesagt 
wurde,  die  Fassade  von  S.  Carlo  alle  Quattro  Fontane  sei  wie  aus  Ton 
geknetet  und  über  dem  Ofen  getrocknet,  oder:  er  gebe  sich  alle  Mühe, 
die  Wände  der  Lateranbasilika  in  Aufruhr  zu  bringen.  Hinter  den  Kurven 
der  Fassade  von  S.  Carlo  alle  Quattro  Fontane  steckt  nur  zu  einem 
geringen  (mittleren)  Teile  die  eigentliche  Raumform.  Die  Plastizität  der 
Säulen  und  das  schwingende  Gebälk  bleiben  unbedingt  führendes  Thema. 
Vor  S.  Ivo  alla  Sapienza  hat  man  das  Gefühl,  die  Wendungen  der  Laterne 
seien  Borromini  wichtiger  als  alles  andere  gewesen.  Ähnliches  gilt  von 
dem  Stern  der  Gewölberippen  im  Turiner  S.  Lorenzo  oder  an  der  Kuppel 
der  Capeila  S.  Sindone  (vgl.  A.  E.  Brinckmann) ').  Staunenswert,  welche 
Beweglichkeit  der  zähen  Materie  abgerungen  wird.  In  S.  Maria  della 
Divina  Providenza  zu  Lissabon  holt  Guarini  sicher  ungeahnte  Neuheiten 
aus  dem  modifizierten  Gesüschema,  indem  er  das  Ganze  in  eine  Folge 
ellipsoider  Teilräume  auflöst   und    damit   der   Neumannschen    Raum- 


')  Die  Baukunst   des   17.   und  IS.  Jahrhunderts  in  den  romanischen  Ländern 
(Burgers  Handb.  d.  Kunstwissensch.). 


398  OTTO  HÖVER. 


behandlung  sehr  nahekommt,  aber  die  Schrägstellung  der  Gurtungen, 
die  Wellenbewegung  des  Gewölbes  lagen  Guarini  als  solche  scheinbar 
doch  mehr  am  Herzen  als  das  Raumschöpferische  an  sich.  Dieser 
Barock  muß  mit  englischer  oder  französischer  Spätgotik  zusammen  ge- 
nommen werden,  Guarini  bringt  es  nur  zu  einem  style  flamboyant. 
Man  denke  auch  an  S.  Gregorio  in  Messina.  In  Deutschland  bemühen 
sich  die  Dienzenhofer,  angeregt  durch  Bauten  Guarinis  in  Böhmen, 
und  der  junge  Balthasar  Neumann  um  die  Nachahmung  Guarinesker 
Kurven  in  den  Gewölbegurten  und  entsprechender  Verdrehung  der 
Säulen  und  Pfeiler.  Den  Dienzenhofern  (Kloster  Banz)  war  es  nicht 
gegeben,  Guarinis  Körperformkünsteleien  zu  überwinden,  das  bleibt  dem 
Neumann  vorbehalten.  Seine  Raumphantasie  gewinnt  Macht  über  die 
Kurven  der  Körperform,  sie  werden  aus  Selbstzweck  zu  bloßen  struk- 
tiven  Mitteln.  Im  Dienste  des  Raumhaffen  höchster  Ordnung  verlieren 
die  kunstvollen  Führungen  von  Wand  und  Gurtungen  alle  Wunder- 
lichkeit, werden  selbstverständlich  wie  hellenische  Tektonik.  Das 
Geistige  hat  gesiegt  über  den  Körper.  Es  ist  der  Weg  von  der  Würz- 
burger Schloßkapelle  zu  Vierzehnheiligen  und  Neresheim  *). 

Borromini,  Guarini,  Padre  Pozzo  sind  alles  in  allem  eigenwillige 
Seitenzweige  am  eigentlichen  Stamm  italienischer  Kunst,  krause 
Schnörkel  wie  Meissonier  und  die  Männer  der  Rokokodekoration  in 
Paris  gegenüber  der  antikischen  Rechtgläubigkeit  französischer  Aka- 
demiker. Nach  Michelangelo  wird  der  Tektoniker  Palladio  zum  Wort- 
halter der  offiziellen  Baukunst  auch  in  Italien,  und  im  Auslande  wurde 
gerade  seine  Art  als  italienisch  empfunden:  eine  Antike  gesehen  durch 
das  Temperament,  besser  durch  die  Temperiertheit  des  Vicenfiners. 
Für  das  »orientalische«  Venedig  hatte  Palladio  noch  die  besondere 
Aufgabe,  die  Okzidentalisierung  der  Architektur  zu  vollenden,  die  von 
Sansovino  und  anderen  begonnen  war. 

Wie  in  dem  Cavaliere  Bernini  das  Körpergefühl  lebendig  war, 
zeigen  seine  Peterskolonnaden.  Gewiß  hat  er  den  Platzraum  zu  meistern 
verstanden,  kein  Klassizist  hat  ihn  darin  je  begriffen,  aber  er  meisterte 
eben  diesen  Platzraum,  indem  er  ihn  als  Körperlichkeit  nahm.  Darin 
beruht  das  Geheimnis  aller  barocken  Stadtbaukunst  in  Italien.  Der 
Raumeffekt  in  den  hellenistischen  Säulenstraßen  war  dagegen  allzusehr 
optisch.  Bernini  stellt  das  Gleichgewicht  her  zwischen  Körpergefühl 
und  optischer  Wirkung.  Das  erstere  aber  hat  die  Führung.  Der 
Raum  wird  als  Ganzes  plastisch  vorgestellt,  nicht  nur  die  Kolonnaden 
wie  in  der  Antike.    Der  Klassizismus  konnte  dann  nur  noch  mit  dem 


')  Wir   möchten   Neumanns   raumkünstlerische   Begabung   gerade   gegenüber 
einer  jüngst  vorgebrachten  Kritik  unentwegt  zu  höchst  einschätzen! 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  399 

Reißbrettschematismus  arbeiten;  er  projizierte  das  Körperhafte  als  Punkte 
auf  die  Ebene  des  Grundrisses.  Bernini  wußte,  was  sich  in  der 
figuraien  Plastik  gehört,  und  was  in  der  Architektur  unstatthaft  ist. 
Als  Bildhauer  läßt  er  der  Phantasie  die  Zügel  schießen,  streift  hart  die 
Grenzen  des  Möglichen,  in  der  Architektur  weiß  er  immer  die  römische 
gravitas  zu  wahren  (vgl.  Pal.  Odescalchi).  Das  Tabernakel  von 
St.  Peter  faßt  er  nicht  als  bauliche  Aufgabe,  sondern  als  Modelleur. 
Interessant,  wie  er  das  ursprünglich  orientalische  Motiv  der  gewun- 
denen Säulen  mit  körperlicher  Kraft  zu  füllen  weiß. 

Das  kleine  Kirchlein  S.  Andrea  al  Quirinale  von  Bernini  ist  trotz 
seiner  ellipsoiden  Raumgestalt  fast  streng  zu  nennen  im  Aufbau  des 
Inneren  wie  an  der  Fassade.  Alles  ist  klar  und  übersichtlich  geordnet, 
das  tektonische  Empfinden  wird  nie  verletzt.  Die  Scala  Regia  wurde 
immer  als  non  plus  ultra  freiperspektivischer  barocker  Gestaltung  an- 
gesehen. Erwin  Panofskyi)  hat  diesen  Glauben  zerstört.  Der  Rest  ist 
wieder:  zwei  Reihen  mächtiger  Säulen,  die  den  Raum  verengern.  (Vgl. 
auch  die  Säulen  der  Wendeltreppe  des  Pal.  Barberini  in  Rom.)  Treffend 
weist  Panofsky  auf  den  Dualismus  in  der  Seele  Berninis  hin:  »Der 
architektonische  Geschmack  Berninis  wird  —  theoretisch  —  durchaus 
vom  Plastischen  und  zwar  antiken  Ideal  bestimmt.«  Im  Architektoni- 
schen bleibt  er  immer  strenger  Vorschrift  unterworfen  (vgl.  Konrad 
Escher,  Barock  und  Klassizismus,  Leipzig  IQll). 

Was  den  Franzosen  nicht  gefiel  in  der  Louvresache,  war  gerade 
das  hochplastische  Massengefühl  des  Italieners.  In  Paris  bedurfte  es 
nur  der  dünnen  Kolonnaden,  um  die  ewig  klassizistischen  Gemüter  zu 
befriedigen.  Optischer  Geschmack  war  schon  vorhanden,  aber  das 
Körpergefühl  war  schwach,  schwächer  jedenfalls  als  das  eines  Voll- 
blutitalieners auf  der  Höhe  des  Seicento. 

Wo  italienische  Meister  bewußt  auf  bühnenperspektivische  Raum- 
wirkung ausgehen  in  der  Großarchitektur,  liegen  doch  die  Akzente  auf 
den  plastischen  Formen  von  Säulen  und  eingezogenen  Streben.  Diese 
behalten  in  ihrer  Funktion  als  Kulissen  etwas  durchaus  Kubisches  und 
Festes  (etwa  im  Innern  von  S.  Maria  in  Campitelli).  Im  Grunde  ist 
die  Raumwirkung  gerade  in  dieser  Kirche  noch  nicht  über  die  Raum- 
schichten der  Hintergrundsarchitektur  auf  Raffaels  Schule  von  Athen 
hinaus  gelangt.  Auch  in  Palladios  Teatro  Olympico  wird  immer  die 
Körperiichkeit  gewahrt.  Er  konstruiert  die  Perspektive  wie  ein  Quattro- 
centist  den  Bildraum.  Das  Perspektivische  wird  taktisch  durchgefühlt. 
Der  Blick  tastet  sich  aus  einer  Raumschicht  in  die  andere,  greift  von 


')  Vgl.  Piiiiofsky,    Die   Scala   Regia   im  Vatikan   und  die    Kunstanschauungen 
Berninis,  Jahrb.  der  preuß.  Kunstsamini.  Bd.  40,  1919. 


400  OTTO  HÖVER. 


einem  vorspringenden  tektonisclien  Glied  zum  nächstfolgenden  über.  Im 
deutschen  Barockraum,  der  nach  solchen  bühnenmäßigen  Grundsätzen 
gestaltet  ist,  geht  der  Blick  einheitlich  über  alle  Körperformen  hinweg 
in  die  Tiefe.  Der  Raum  als  solcher  wird  perspektivisch  und  optisch 
erlebt.  Er  hat  nichts  Konstruiertes,  ist  nur  geschaut,  kein  Schreiten 
von  Schicht  zu  Schicht,  die  Kurve  rollt  kontinuierlich  in  die  Tiefe. 

Der  Geist  des  italienischen  Seicento  steht  einem  vor  Augen  überall 
in  jenen  hochplastischen  Fassaden  von  S.  Maria  della  Face,  S.  Vincenzo 
e  Anastasia  usw.  bis  zu  dem  Spätwerk  von  S.  Giovanni  in  Laterano 
(1734  von  Alessandro  Galilei),  das  schon  hart  an  der  Grenze  zum 
Klassizismus  steht,  in  einer  Zeit,  wo  die  Raumkünstler  des  deutschen 
Barock  und  Rokoko  erst  zu  entscheidenden  Taten  auszuholen  beginnen. 

In  jeder  italienischen  Stukkatur  lebt  noch  die  gleiche  Gesinnung 
wie  in  der  Rustika  des  Pitti.  Pietro  da  Cortona  ist  als  Dekorateur 
dafür  typisch  (vgl.  auch  die  hochplastische  Dekoration  im  römi- 
schen Pal.  Spada  aus  der  Schule  des  Giulio  Romano).  Daß  der 
ganze  Stuckdekor,  der  um  1670 — 1690  über  die  Alpen  dringt,  so 
volltönend  plastisch  und  körperlich  greifbar  (taktisch)  gestaltet  ist, 
macht  den  Unterschied  zum  deutschen  Dekorationswillen,  der  nach 
Optischem  strebt  und  immer  flacher  ist,  deutlich  fühlbar.  Wie  die 
Wessobrunner  zu  dem  Stucko  der  Theatinerkirche,  so  stehen  schon 
vorher  Sustris  sowie  die  Niederländer  und  Deutschen  vom  ausgehen- 
den 16.  Jahrhundert  zum  tiefgehöhlten  Kassettenwerk  der  MantuaYier. 
Aus  Plastisch-Taktischem  macht  der  nordalpine  Kunsthandwerker  immer 
etwas  Optisches.  Die  Körperlichkeit  wird  gedämpft  um  des  Raumes 
willen.  Daneben  gab  es  in  Deutschland  natürlich  auch  eine  Richtung, 
die  auf  plastisches  Maximum  im  Ornament  ausgeht  und  sogar  stark 
taktische  Absichten  hat:  den  Knorpelstil.  Der  plastische  Stil  wird 
Selbstzweck,  man  sucht  Italien  zu  überbieten.  Bezeichnenderweise  aber 
wird  das  Knorpelornament  in  eigentlichen  Raumwerken  wenig  ver- 
wendet. Es  bleibt  mehr  eine  kunstgewerbliche  Angelegenheit,  Produkt 
des  Schnitzens  und  Schreinerns  (Möbel,  Türen  und  äußere  Dekoration 
der  Gebäude:  Giebel  usw.).  Im  Gegensatz  zum  ruhenden  plastischen 
Ornament  des  italienischen  Stukkators  kommt  es  den  Deutschen  immer 
auf  bewegte  Flächenfüllung  an.  Im  Knorpelstil  wird  das  beruhigt 
Plastische  italienischer  Abkunft  ins  Bewegte  umgebildet. 

Der  Italiener  Barelli  wird  daran  erkannt,  daß  seine  mächtig  schwel- 
lenden Halbsäulen  in  den  Raum  vordrängen  (Theatinerkirche),  daß  jede 
Ecke,  jede  Wand  mit  schwerer  Körperlichkeit  gleich  Posaunentönen 
zum  Bersten  angefüllt  wird.  Raum,  Tektonik  und  Dekoration  stehen 
im  italienischen  Barock  immer  noch  in  jener  Gegenwirkung  zueinander, 
wie  sie  schon  in  den  Bauten  der  römischen  Kaiserzeit  vorhanden  war. 


KUNSTCHARAKTERE  SODABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  401 

Der  Deutsche  hebt  mit  fortschreitender  Entwici<lung  diese  Oegen- 
wiri<ung  auf,  darin  den  Prozeß  der  Spätantii<e  wiederholend.  Auch 
der  Deutsche  kann  stärkste  Tonarten  in  der  Dekoration  anschlagen, 
aber  alles  Dekorative  bleibt  eben  nur  Ornament,  während  alles  italie- 
nische Ornament  zugleich  Architektur  sein  will.  Wir  haben  natürlich 
auch  unsere  »Italiener«,  so  den  großen  Andreas  Schlüter,  der  immer 
plastisch  tektonisch  denkt. 

Taktisches  und  Optisches  stellen  sich  alles  in  allem  als  die  zwei 
wesentlichen  Richtungen  künstlerischen  Schaffens  wie  Erlebens  bei 
den  kunstbegabtesten  Stämmen  des  europäischen  Mitteimeerkreises 
heraus.  Diese  Richtungen  sind  hier  nicht  dem  Wesen,  sondern  nur 
dem  Grade  nach  verschieden,  Möglichkeiten  einer  durchgehenden 
Folge.  Zwischen  beiden  gab  es  eine  ganze  Reihe  von  Übergängen 
und  vermittelnden  Zwischengliedern.  Das  Dreidimensionale,  das  immer 
mitgesetzt  war,  enthielt  den  grundsätzlichen  Unterschied  zum  Orientali- 
schen. Damit  ist  jedoch  noch  kein  Kennzeichen  zur  Scheidung  des 
Südabendländischen  vom  Nordabendländischen  gegeben.  Das  liegt  erst 
darin,  daß  für  den  künstlerischen  Ausdruck  südabendländischer  Völker 
das  Körperhafte  immer  anthropomorph  und  in  Ruhe,  als  beruhigtes 
Sein  gedacht  wird.  Taktisch  und  Optisch  ordnen  sich  der  schönen 
Menschlichkeit  unter.  Auch  italienischer  Barock  ist  immer  noch  anthro- 
pomorph. Gewiß  wird  der  Versuch  gemacht,  Masse  in  Bewegung 
umzusetzen,  aber  es  ist  weniger  die  Vertikalbewegung,  die  schließlich 
immer  die  Masse  überwindet,  als  vielmehr  eine  Bewegung  der  Masse 
in  der  Horizontale:  der  plastische  Ausdruck  wächst  nach  der  Mitte  zu. 
Man  kann  im  italienischen  Barock  einen  letzten,  äußersten  Versuch 
sehen,  auch  für  den  südalpinen  Kunstkreis  zu  einer  Art  Gotik  zu  ge- 
langen. Immer  aber  mußte  es  ein  Versuch  mit  untauglichen  Mitteln 
bleiben.  Hinderlich  waren  die  Massen,  das  Tektonische,  das  Körper- 
hafte, das  Anthropomorphe  und  überhaupt  die  ganze  Verwurzelung 
des  italienischen  Barock  in  der  Renaissance.  Alle  barocke  Bewegtheit 
enthält  in  Italien  gleichzeitig  doch  wieder  ein  statisches  Moment  der 
Ruhe,  der  Ausgewogenheit.  Es  fehlt  das  ruhelose  Streben  in  die 
Unendlichkeit,  das  dem  gotischen  Gliederbau  im  Norden  und  den 
barocken  Raumwesen  Süddeutschlands  innewohnt.  Wo  Guarini  diesem 
nahekommt,  wo  er  mit  spätgotischen  Strukturen  arbeitet,  da  geht  er 
eben  über  die  allgemeine  Architekturauffassung  des  echten  Italieners 
hinaus. 

Darin,  daß  man  nie  recht  von  der  Säule  loskommt,  liegt  ein  We- 
sentliches südalpiner  Kunsteinstellung  beschlossen.  Zum  anderen  sind 
ein  für  allemal  die  Proportionen  entscheidend  (Gesetz  der  stetigen  Pro- 
portion, Gesetz  von  der  Wiederholung  ähnlicher  Figuren  usw.).    Alle 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft     XV.  26 


402  OTTO  HÖVER. 


italienischen  Architekturtheoretiker  bemühen  sich  um  die  regola  deüi 
cinque  ordini.  Auch  die  psychologische  Grundlage  der  Artikulation, 
jener  Organisierung  der  Massen  in  der  Baukunst  Italiens  wie  in  der 
italienischen  Kunst  überhaupt,  ist  nichts  anderes  als  diese  taktische 
Einstellung.  Fühlen  wir,  daß  die  tektonische  Struktur  in  den  Gelenken 
bewegt  sei,  so  projizieren  wir  ein  taktisches  Erlebnis,  das  aus  dem 
freien  Spiel  der  Gliedmaßen  in  unser  ästhetisches  Bewußtsein  dringt, 
in  die  schön  gegliederte  Gestaltung  des  Kunstwerkes  hinein.  Wie  die 
Gelenke  federn  und  zweckvoil  ineinandergreifen,  wird  mit  dem  Tast- 
sinn erfaßt. 

Dem  ganz  Geistigen  des  Orients  setzen  Hellenen  wie  Italiener 
die  insichruhende  Materie  gegenüber,  und  diese  Materie  ist  für  sie 
gleichzeitig  organische  Materie.  Alle  Architektur  wird  organisch  ge- 
dacht, der  menschliche  Organismus  ist  A  und  O  in  Körper  wie  Raum- 
gestalt, Grundbedingung  des  ästhetischen  Humanismus,  Grundbe- 
dingung auch  für  das  Artistische.  Niemals  versucht  der  Südabend- 
länder, die  Grenzen  der  einzelnen  Kunstprovinzen  zu  überschreiten. 
Das  Geistige  ist  nur  so  weit  da,  als  es  in  schöner  Körperhaftigkeit  oder 
in  schöner  Raumbildung  ausdrückbar  ist.  Das  Reich  der  Kunst  wahrt 
auch  der  Religion  gegenüber  seine  volle  Selbständigkeit.  Alle  großen 
Schöpfungsbauten  des  abendländischen  Italien  sind  ebensoweit  von 
bloßer  religiöser  Symbolik  entfernt  wie  die  hellenischen  Tempel.  Das 
wahrhaft  Große  der  Renaissancekirchen  liegt  darin,  daß  alle  kultliche 
Zweckgesinnung  überwunden  wurde,  und  doch  zugleich  der  höchste 
Zweck  gewissermaßen  idealisch  erfüllt  ist.  St.  Peter  nach  Bramante- 
Michelangelo  verkörpert  die  Idee  einer  Wallfahrtskirche  (Zentralbau) 
der  Gesamtchristenheit  ohne  eigentliche  kultliche  Vorschriften.  Viel- 
leicht ist  das  Beste  am  Michelangelowerk  das  grandiose  Heidentum, 
jenes  Heidentum,  das  zur  abendländischen  Antike  gehörte  und  ebenso 
im  Parthenon  wie  im  Pantheon  zum  Ausdruck  kam. 

Die  zwei  Arten  des  Taktischen  und  Optischen  gehen  für  den 
Südabendländer  doch  wieder  zu  einem  Monismus  zusammen,  einem 
anthropozentrischen  Monismus,  der  rein  artistisch  und  ästhetisch 
bleibt,  einem  physischen  Monismus.  Es  kam  dann  darauf  an,  ob  es 
dem  Kunstschöpferischen,  das  der  abendländischen  Menschheit  zuge- 
messen war,  gelang,  von  der  bloßen  Physis  aus  wieder  zum  Geistigen 
durchzudringen,  und  damit  für  Europa  das  zu  erreichen,  was  der 
Orientale  von  jeher  in  sich  trug.  Diese  Riesenaufgabe  fiel  den 
Nordabendländern  zu.  Zweimal  unternahmen  sie  —  Franzosen  und 
Deutsche,  enger  gefaßt  Nordfranzosen  und  Süddeutsche  —  die  Lösung 
dieser  Aufgabe:  die  Überwindung  der  Materie  durch  den  Geist,  der 
Physis  durch  die  Psyche.   Die  Ergebnisse  stehen  vor  uns  als  Gotik  in 


KUNSTCHARAKTERE  SÜDABENDLÄNDISCHER  VÖLKER.  403 


Nordfrankreich,  als  Spätbarock  in  Süddeutschland.  Der  Barock  geht 
sogar  noch  weiter  als  die  Gotik,  in  welcher  immer  noch  ein  dualisti- 
scher Rest  übrig  bleiben  mußte.  Die  Aufgabe  des  nordischen  Men- 
schen war  von  vornherein  schwerer  als  die  des  südalpinen,  weil  im 
Norden  die  Materie  gleichsam  anorganisch,  transanthropomorph  war. 
Nordisches  Künstlertum  mußte  den  weiteren  Schritt  tun,  vom  Kristal- 
linischen zum  Geistigen  vorzudringen,  wobei  die  Auseinandersetzung 
mit  der  anthropomorphen  Form  des  Südabendländers  unvermeidlich 
war.  Die  Ergebnisse  dieser  Auseinandersetzung,  Gotik  und  deutscher 
Barock,  halten  den  weitesten  Abstand  vom  Südabendländischen,  von 
antiker  Klassik  wie  von  der  Renaissance.  Italienischer  Barock  ist  nur 
eine  Stilphase  der  Renaissancebewegung,  ihre  Endphase. 

Der  Schritt  zum  Geistigen  im  Norden  geschieht,  indem  die  Ma- 
terie als  solche  in  ihrer  Wesenheit  gewahrt  bleibt,  womit  der  Unter- 
schied zum  Morgenländischen  gegeben  ist.  Die  Wirkungen  von  Körper 
und  Raum  bleiben  immer  dem  Kunstmäßigen  immanent,  gehen  nie  über 
den  Umkreis  des  Ästhetischen  hinaus,  will  heißen  ein  Transarchitek- 
tural-Geistiges und  Religiös-Symbolisches  nach  morgenländischer  Ein- 
stellung gibt  es  im  Nordischen  nicht.  Der  religiöse  und  kultliche 
Zweck  wird  auch  hier,  wie  in  Italien  und  in  der  Antike,  idealisch  er- 
füllt. Das  Geistige  ist  immer  aus  den  spezifischen  Mitteln  des  bau- 
künstlerischen Schaffens  begriffen.  Der  Raum  als  solcher  in  seiner 
Bewegtheit  ist  im  nordischen  Barock  höchster  geistiger  Wert.  Darin 
liegt  zugleich  beschlossen,  warum  der  Gotik  immer  ein  dualistischer 
Rest  verbleiben  mußte:  weil  sie  zu  ausschließlich  Gliederbau  war  und 
für  sie  der  Raum  nur  eine  Funktion  des  kristallinischen  Gerüstes  sein 
durfte.  Wie  sich  gotisches  und  barockes  Schicksal  vollziehen  am 
nordischen  Menschen,  am  Franzosen  hier  und  am  Deutschen  da,  kann 
ebenfalls  an  einer  Deduktion  der  Begriffe  Taktisch  und  Optisch-Körper- 
haft deutlich  werden,  die  sich  dann  unter  dem  anderen  Begriff  der 
Bewegung  vereinigen  lassen.  Doch  das  bleibt  einer  besonderen  Arbeit 
vorbehalten. 


XII. 

Beiträge  zur  Lehre  vom  Ornament. 

Von 

F.  Adama  van  Scheltema. 

I.  Die  technisch-materialistische  Erklärung 
der  ersten  Ornamentformen. 

Mit  Tafel  I-III. 

Der  scharfe,  nie  genügend  betonte  Gegensatz  in  der  Entwicklung 
der  ornamentalen  Kunst  bei  den  Naturvölkern  und  dem  Menschen  der 
Diiuvialzeit  einerseits,  in  der  jüngeren  Steinzeit  und  den  anschließenden 
Entwicklungsperioden  anderseits,  vereinfacht  den  kritischen  ersten  Teil 
dieser  Untersuchung,  die  sich  ausschließlich  mit  der  prähistorischen 
Ornamentik  Europas  seit  dem  Anfang  der  Neolithzeit  beschäftigt.  Denn 
von  den  beiden  Hauptwurzeln  des  primitiven  Ornaments,  die  man 
gewöhnlich  unterscheidet,  nämlich  der  Erstarrung  ursprünglich  natura- 
listischer Formen  und  der  Übertragung  technischer  Muster,  kann  hier 
nur  letztere  in  Betracht  kommen.  Zeigen  doch  die  Strich-  und  Tupfen- 
reihen der  neolithischen  Gerätverzierung,  besonders  auch  in  ihren  An- 
fängen —  dänische  Muschelhaufenkeramik  der  Litorinazeit  — ,  daß  von 
irgendwelcher  Beziehung  zu  den  erstarrten  Formen  einer  vorhergehen- 
den naturalistischen  Kunstübung  nicht  entfernt  die  Rede  sein  kann. 
So  ist  es  begreiflich,  daß  die  Theorie  von  der  Übertragung  tech- 
nischer Motive  als  Entstehungsursache  für  das  Ornament  sich  beson- 
ders in  den  prähistorischen  Forscherkreisen  einer  allgemeinen  Beliebt- 
heit erfreut  ^). 

Bei  dieser  technisch-materialistischen  Erklärungsweise,  die  meines 


')  Eine  entschiedene  Bekämpfung  erfolgte  nur  von  Seite  der  Kunsthistoriker: 
Alois  Riegl  in  seinen  Stiifragen  (1893),  dann  vor  allem  Aug.  Schmarsow  (Zeitschr. 
f.  Ästh.  1910) ;  dazu  die  lehrreiche,  die  Ergebnisse  der  Ornamentforschung  zusammen- 
fassende Darstellung  seiner  Schülerin  Elisabeth  Wilson  (Das  Ornament,  Erfurt  1914). 
Meine  hier  folgende  Widerlegung  der  technischen  Erklärung,  die  sich  in  erster  Linie 
auf  die  konkreten,  geschichtlichen  Erscheinungen  stützt,  berührt  sich  nur  zum  Teil  mit 
Schmarsows  theoretisch-psychologischen  Gedanken.  Die  Feststellung  des  eigenartigen 
Verhältnisses  zur  Technik  und  zu  den  technischen  Formen  bewegte  sich  in  einer 
anderen  Richtung  und  ergab  abweichende  Resultate. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  405 

\  '  '■  "  '■■■■  

Erachtens  auf  einem  grundsätzlichen  Vericennen  der  Semperschen  Ge- 
danken beruht  und  diese  ihres  geistigen  Inhalts  entkleidet '),  spielen 
bekanntlich  die  geometrischen  Verzierungen  der  neolithischen  Oefäß- 
kunst  und  die  in  den  textilen  Techniken,  vor  allem  in  der  Korbflechterei, 
automatisch  erzeugten  Muster  die  Hauptrolle.  Bei  den  späteren,  ge- 
bogenen Linienmotiven,  dem  Kreis,  der  Spirale  usw.,  könnte  zur  Not 
noch  an  eine  primitive  Nachahmung  von  natürlich-konkreten  Gegen- 
ständen —  Sonnenscheibe,  Schneckengehäuse,  Pflanzenranken  uswr.  — 
gedacht  werden;  für  diese  geradlinigen  Verzierungen  dagegen  schien 
es  nicht  möglich,  eine  annehmbare  Vorlage  in  der  Natur  aufzutreiben. 
Hier  füllte  die  technische  Erklärung  eine  Lücke  aus,  indem  sie  es  er- 
möglichte, nun  auch  diese  streng  geometrischen  Muster  als  Nach- 
ahmungsprodukte aufzufassen  und  damit  die  gesamte  ornamentale  und 
bildende  Kunstentwicklung  von  dem,  allerdings  für  die  höhere  Kunst 
inzwischen  glücklich  überwundenen,  Gesichtspunkt  der  Nachahmung 
aus  zu  betrachten.  Zugleich  schien  dadurch,  daß  man  die  Technik  als 
Wechselbalg  in  die  Wiege  der  neugeborenen  Kunst  legte,  das  Problem 
von  dem  Anfang  der  Kunst  in  überraschender  Weise  gelöst. 

Die  führenden  Gedanken  bei  dieser  Erklärung  der  geradlinigen 
neolithischen  Gefäßornamentik  aus  der  Nachahmung  von  Flechtmustern 
sind  kurz  gefaßt  diese:  1.  In  der  Flechttechnik  entstehen  automatisch 
Muster  von  sich  kreuzenden  oder  parallelen  Linien.  2.  Ein  gewisser 
Zusammenhang  zwischen  Flechttechnik  und  Töpferei  ist  bei  vielen 
Naturvölkern  nachweisbar.  Die  Tongefäße  werden  durch  geflochtene 
Hüllen  geschützt,  sie  werden  an  Schnüren  getragen,  Hals  und  Fuß 
können  angeflochten  werden.  Es  kommt  vor,  daß  eine  geflochtene 
Hülle  bei  der  Herstellung  des  Gefäßes  benutzt  wird,  daß  ein  Flecht- 
werk von  innen  mit  Ton  bestrichen  und  beim  Brennen  zerstört  wird, 
sodaß  der  Abdruck  des  Flechtmusters  in  der  Gefäßwand  zurückbleibt. 
3.  Auch  das  frühe  keramische  Ornament  ist  geradlinig  und  kann  eine 
gewisse  Ähnlichkeit  mit  Flechtmustern  aufweisen.  4.  Also  ist  das  erste 
geradlinige  Ornament  aus  der  Übertragung  von  textilen  Mustern,  in 
erster  Linie  aus  der  Flechttechnik,  zu  erklären. 

Während  wir  die  wichtigsten  Vertreter  der  technischen  Erklärung 

')  Wer  den  ^Stil«  aufmerksam  liest,  wird  sehen,  daß  Seniper  zwischen  beiden, 
dem  technischen  Muster  und  der  Kunst-  beziehungsweise^Ornamentform,  geflissent- 
lich Raum  läßt  für  die  schöpferische  Betätigung  der  künstlerischen  Phantasie,  indem 
er  von  dem  technischen  Erzeugnis  übergeht  zu  dem  »Begriff«  oder  auch  der  »Idee« 
der  in  ihm  waltenden  Kräfte.  Hiermit  ist  Semper  gegen  kritische  Angriffe  gedeckt; 
es  mag  aber  sein,  daß  der  richtige  Grundgedanke  im  Laufe  seines  umfangreichen 
Werkes  nicht  immer  scharf  genug  hervorgehoben  und  damit  einer  irrtümlichen  Auf- 
fassung Vorschub  geleistet  wird.  Ich  komme  unten  kurz  auf  den  Qedanken  Sem- 
pers  zurück. 


406  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

im  Laufe  dieser  Untersuchung  l<ennen  lernen  werden,  möchte  ich  gleich 
zu  der  Bekämpfung  der  Flechtwerktheorie  selbst  schreiten,  indem  ich 
auf  folgendes  hinweise: 

Die  oben  ausgesprochenen  vier  Sätze  scheinen  auf  den  ersten 
Anblick  sehr  annehmbar;  treffen  sie  aber  zu,  d.  h.  ist  in  der  Tat  das 
geradlinige  Ornament,  so  wie  es  in  der  Neolithik  seine  höchste  Blüte 
erreichte,  eine  Nachbildung  von  Flechtformen,  so  muß  das  früheste 
Oefäßmaterial,  das  wir  kennen,  notwendig  ganz  bestimmte  Bedingungen 
erfüllen,  die  sich  sowohl  auf  die  Form  der  Gefäße  selber  als  auch  auf 
die  Ausdehnung,  die  Gestalt  und  die  Stelle  der  geometrischen  Ver- 
zierung beziehen.  Handelt  es  sich  um  das  Bestreichen  einer  textilen 
Hülle  mit  Ton,  wobei  nach  dem  Brande  der  Topf  zurückblieb,  oder 
um  den  Abdruck  beziehungsweise  die  Nachbildung  einer  stützenden 
oder  schützenden  Hülle,  so  ist  zu  erwarten,  daß  gerade  im  Anfang, 
als  ja  die  abhängige  Beziehung  zu  dem  textilen  Vorbild  am  engsten 
war,  das  geradlinige  Ornament  größere  zusammenhängende  Flächen 
ausfüllt,  daß  es  sich  in  erster  Linie  über  die  untere  Gefäßhälfte 
ausbreitet  und  in  der  Zeichnung  völlig  oder  doch  möglichst  genau 
dem  geflochtenen  Muster  entspricht.  Haben  wir  mit  der  Nachbildung 
von  geflochtenen  Behältern  selber  zu  tun,  so  muß  außerdem  die  Ge- 
fäßform die  geflochtene  Form  des  Vorbildes  wiederholen.  Es  ist  nicht 
erlaubt,  daß  man,  um  die  Richtigkeit  der  Flechtwerkhypothese  zu  be- 
kräftigen, immer  wieder  gerade  die  späteren  Entwicklungserscheinungen 
heranzieht:  die  mitteleuropäische  Winkelbandkeramik,  die  späte  Mega- 
lith-, Schnur-  und  Glockenbecherkeramik  im  Norden.  Die  Chronologie 
der  verschiedenen  neolithischen  Gruppen  mag  im  allgemeinen  noch 
ziemlich  unsicher  sein,  in  den  Hauptzügen  steht  sie  fest,  und  gerade 
hinsichtlich  der  frühesten  Periode  der  nordeuropäischen  Neolithik  kann 
kein  Zweifel  sein:  diese  haben  wir  in  den  dänischen  Muschelhaufen 
vor  uns.  Und  gerade  hier  zeigt  sich  nun,  daß  den  soeben  aufgestellten 
Bedingungen  in  keiner  Weise  entsprochen  wird. 

Die  Dänen ')  unterscheiden  in  diesen  Abfallhaufen  zwei  Perioden. 
In  keiner  von  beiden  ist  noch  das  geschliffene  Beil  bekannt,  was  dazu 
geführt  hat,  daß  man  die  Kultur  der  Muschelhaufen  als  ein  Übergangs- 
stadium zwischen  der  älteren  und  jüngeren  Steinzeit  aufgefaßt  hat. 
Dagegen  war  in  beiden  Perioden  die  Töpferei  bekannt,  und  so  besitzen 
wir  nicht  nur  ornamentierte  Scherben,  sondern  auch  vollständige  Ge- 
fäße. Typisch  für  die  erste  Periode  ist  eine  dickbäuchige  Urne  mit 
spitzausgezogenem  Boden  und  weitausladendem  Mund;  Ornament  fehlt 


')  A.  P.  Madsen,  S.  Müller,  Neergaard  u.  a.,  Affaldsdyngar  fra  Stenaldern  i 
Danmark.    Kopenhagen  1000. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  407  ' 

entweder  gänzlich  oder  es  beschränkt  sich  auf  einen  Saum  von  Finger- 
eindrücken auf  oder  gleich  unter  dem  Mundrand.  Da  sehr  ähnliche 
Oefäße  aus  der  Pfahibautenkultur  unter  anderem  vom  Michelsberg 
bekannt  sind  und  auch  am  Rhein  Spuren  dieser  Keramik  gefunden 
wurden,  haben  wir  wahrscheinlich  mit  einer  größeren  Ausdehnung 
dieser  frühneolithischen  Kultur  zu  rechnen.  Wie  die  dänischen  Gefäße 
sind  auch  die  deutsch-schweizerischen  entweder  ornamentlos  oder  mit 
Fingereindrücken  geschmückt. 

Erst  in  der  zweiten  Periode  der  dänischen  Muschelhaufen  tritt  das 
geradlinige  Ornament  auf,  und  zwar  in  weitaus  den  meisten  Fällen 
—  von  545  Bauch-  und  Bodenscherben  waren  8,  von  125  Rand- 
scherben dagegen  die  Hälfte  verziert  —  als  Randornament,  das  nun 
als  eine  Reihe  senkrechter  oder  schräger  Striche,  als  eine  wagrechte 
Linie,  als  eine  Kette  aus  kleinen  Dreiecken  oder  auch  als  eine  Kom- 
bination solcher  Formelemente  erscheint.  Mit  anderen  Worten:  in 
dieser  frühesten  neolithischen  Keramik  und  ihrer  Verzierung  ist  von 
einer  direkten  Nachahmung  geflochtener  Hüllen  oder  Behältern  keine 
Spur  zu  finden. 

Höchstens  wäre  noch  an  eine  Imitation  von  Schnüren  zu  denken. 
Wie  unbillig  es  aber  ist,  gerade  dieses  früheste  Fingertupfenornament 
als  eine  Nachbildung  von  Schnüren  aufzufassen,  folgt  nicht  nur  daraus, 
daß  es  sich  anfänglich  oben  auf  dem  Mundrand  befindet,  an  einer 
Stelle,  wo  keine  Schnur  etwas  zu  suchen  hat,  sondern  auch  aus  der 
Erwägung,  daß  keine  keramische  Verzierung  sich  so  unmittelbar  aus 
der  eigenen  Technik  ergibt  als  diese  Fingereindrücke  in  dem  noch 
weichen  Ton.  Durch  die  ganze  Neolithik  findet  sich  dieses  primitive 
Ornament  vereinzeh,  mit  dem  Verfall  der  keramischen  Kunst  kommt 
es  gegen  die  Metallzeit  wieder  in  Ehren  und  bleibt  dann  besonders 
beim  grobwändigen  Oebrauchsgeschirr  der  gesamten  prähistorischen 
Metallzeit  eine  ganz  gewöhnliche  Erscheinung.  Wir  finden  es  von 
Kleinasien  (Troja)  bis  England  (Pitt  Rivers  collection),  von  Italien  bis 
in  das  arktisch-baltische  Gebiet,  ja  noch  in  der  heutigen  Volkskunst 
ist  es  anzutreffen  (Fliesen  im  Museum  zu  Bern,  in  der  österreichischen 
und  schwedischen  Bauernkunst,  vgl.  Studio,  special  number  IQll, 
Abb.  225,  IQIO,  Abb.  24,  28).  Wie  diese  Reihe  von  Fingereindrücken 
auf  dem  Mundsaum  entstand,  haben  uns  die  Dänen  gleichfalls  erklärt. 
Das  Verfahren  bei  der  Herstellung  des  Gefäßes  war  dieses,  daß  man 
immer  wieder  einen  neuen  Tonstreifen  auflegte  und  mit  den  Fingern 
andrückte.  Die  dadurch  entstandenen  Vertiefungen  wurden  durch  den 
nächstfolgenden  Streifen  bedeckt,  schließlich  blieben  sie  aber  auf  dem 
letzten  Band  stehen.  Daher  kommt  es,  daß  sie  zuerst  oben  auf  dem 
Rand  erscheinen  und  erst   nachträglich  rein  ornamental  ausgenutzt 


408  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

werden  durch  die  Verschiebung  unter  den  Rand.  Was  die  überflüssige 
rhythmische  Anordnung  dieser  Eindrücke,  ihre  Verschiebung  unter  den 
Rand,  wo  sie  sich  als  Halsl<ette  um  den  Oefäßhals  legen,  was  endlich 
der  Übergang  zum  geradlinigen  Ornament  der  zweiten  Stufe  zu  bedeuten 
hat,  wird  sich  aus  unserer  eigenen  Deutung  des  geometrischen  Orna- 
ments ergeben. 

Diese  Tatsache,  daß  gerade  bei  den  frühesten  Gefäßen,  wo  nach 
der  Flechtwerkhypothese  mit  logischer  Notwendigkeit  die  größte  Über- 
einstimmung mit  textilen  Vorbildern  zu  erwarten  wäre,  die  davon  ab- 
weichende Gestaltung  am  augenfälligsten  ist,  hat  nun  zu  einer  merk- 
würdigen Ergänzung  dieser  Theorie,  wiederum  auf  technisch-materia- 
listischer Grundlage,  geführt.  Schuchhardt,  einer  der  überzeugtesten 
Anhänger  der  Flechtwerktheorie,  sieht  nämlich  in  diesen  frühesten 
Oefäßformen  der  Pfahlbauten  und  Muschelhaufen  eine  Nachahmung  von 
Lederbeuteln  ^).  Auf  die  sehr  gesuchte  Erklärung  der  Gefäßformen 
selbst  —  die  er  übrigens  auch  wiederum  mit  afrikanischen  Korb- 
flechtereien vergleicht  —  werde  ich  hier  nicht  eingehen.  Wichtiger  für 
uns  ist,  daß  Schuchhardt  die  Kette  von  Fingereindrücken  als  eine  Er- 
innerung an  die  Stiche  deutet,  die  durch  das  Einnähen  eines  festen 
Ringes  zum  Festlegen  der  Beutelform  entstanden.  Nach  dem,  was  hier 
über  das  Entstehen  dieses  durchaus  keramischen  Ornamentes  und 
dessen  Verbreitung  auch  dort,  wo  von  einem  Zusammenhang  mit 
Lederbeuteln  keine  Rede  sein  kann,  gesagt  wurde,  scheint  es  über- 
flüssig, auf  diese  Hypothese  einzugehen.  Ich  möchte  nur  betonen, 
daß  in  den  Kulturresten  der  Pfahlbauten,  die  Weberei  und  Flechtwerk, 
hölzerne  Geräte  usw.  in  vorzüglichem  Zustand  erhalten  haben,  keine 
Spur  von  ledernen  Beuteln  gefunden  worden  ist. 

Wir  haben  gesehen,  daß  die  Töpferkunst  in  Nordeuropa  ganz  un- 
abhängig von  der  Flechttechnik  entstanden  sein  muß;  von  einer  wach- 
senden Befreiung  von  dieser  Technik,  von  der  bewußten  oder  un- 
bewußten Nachbildung  ihrer  Erzeugnisse  ist  nichts  zu  bemerken.  Im 
allgemeinen  scheint  es  angebracht,  die  Untersuchung  auf  ein  bestimmtes 
Gebiet,  auf  Nordeuropa,  zu  beschränken,  nicht  nur,  weil  hier  weitaus 
das  reichste  Material  zur  Verfügung  steht  und  sich  gerade  im  Norden 
die  größte  Blüte  und  eine  Alleinherrschaft  der  geradlinigen  Ornamentik 
feststellen  läßt,  sondern  auch,  weil  durch  die  sorgfältige  Betrachtung 
der  Erscheinungen  auf  einem  und  demselben  Gebiet  sicherere  Ergeb- 
nisse zu  erwarten  sind,  als  wenn  man  willkürlich  Griffe  tut  aus  dem 
unübersehbaren  Stoff  der  gesamten  vorgeschichtlichen  Kunst  und  der 


')  Carl  Schnchhardt,  Das  technische  Ornament  in  den  Anfängen  der  Kunst. 
Prähistor.  Zeitschr.  1910.    Derselbe,  Alteuropa. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  409 


der  Naturvölker.  Doch  möchte  ich  hier  darauf  hinweisen,  daß  diese 
Unabhängigkeit  vom  Flechtwerk  in  der  frühesten  Keramik  keineswegs 
ein  ausschließliches  Merkmai  der  nord-  und  mitteleuropäischen  Neo- 
lithik  darstellt.  Die  gleiche  Erscheinung  ist  an  den  verschiedensten 
Stellen  im  Süden  wahrzunehmen:  in  Spanien,  auf  Kreta,  Zypern,  in 
Kanaan  ist  die  älteste  neolithische  Keramik  ornamentlos,  erst  später 
setzt  das  geradlinige  Ornament  ein '). 

Aber  es  sind  nicht  nur  die  frühesten  keramischen  Erzeugnisse, 
die  den  Anforderungen  der  technischen  Erklärung  nicht  entsprechen. 
Betrachten  wir  die  Gefäße  mit  voll  entwickeltem  geradlinigem  Ornament, 
so  zeigt  sich,  daß  weder  die  Stelle  noch  die  Gestalt  des  Ornaments 
die  gehegten  Erwartungen  erfüllen.  Ich  habe  bemerkt,  daß  das  Orna- 
ment sich  nach  der  technischen  Erklärung  in  erster  Linie  an  der 
unteren  Gefäßhälfte  befinden  müßte.  Nichts  erscheint  da  nun  naiver 
als  Götzes  Bemerkung,  daß  das  Gurtsystem,  welches  Hals  und  Schul- 
tern der  Thüringer  Amphoren  umfaßt,  sicher  aus  der  Nachahmung  von 
tragenden  Gurten  entstanden  sei,  daß  es  also  gerade  an  der  unteren 
Hälfte  der  Amphore  sitzen  müsse,  aber  nun  nach  oben  verlegt  worden 
sei,  um  dort  besser  ins  Auge  zu  fallen  -).  Beispiele  dafür,  daß  die  Ver- 
zierung sich  auch  in  der  Blütezeit  der  geradlinigen  Ornamentik  auf  Hals 
und  Schultern  beschränkt,  sind  zahllos.  Die  Ausbreitung  des  Orna- 
ments vom  Hals  und  Rand  abwärts  nach  dem  Boden  zu  ist  gerade 
bei  den  frühen  Megalithamphoren,  die  übereinstimmend  im  Beginn  der 
Entwicklung  —  nach  der  Muschelhaufenkultur  —  angesetzt  werden, 
deutlich  zu  verfolgen:  die  Striche,  die  von  der  struktiv  wichtigsten 
Stelle,  dem  scharfen  Knick  zwischen  Hals  und  Schultern,  ausstrahlen, 
beschränken  sich  erst  auf  einen  Halskragen,  der  darauf  einige  Strahlen- 
bündel über  den  Bauch  entsendet,  bis  schließlich  der  ganze  kugel- 
förmige Körper  mit  solchen  Strahlen  bedeckt  wird.  Erst  wenn  sich 
das  Ornament  über  das  ganze  Gefäß  ausgebreitet  hat,  wird  natürlich 
auch  die  untere  Hälfte  in  die  Verzierung  einbezogen.  Hat  das  Gefäß 
einen  langen  Hals,  so  kann  es  in  der  Tat  vorkommen,  daß  nur  der 
eigentliche  Körper,  d.  h.  der  untere  Teil,  geschmückt  wird,  aber  gerade 
in  diesen  Fällen  —  bei  den  kleinen  Megalithbechern  und  den  soeben 

')  Für  Spanien  u.  a.  Cartailhac,  Ages  prMstoriques  de  l'Espagnc  et  du  Portugal. 
Ein  bei  Cartailhac  abgebildeter  geflochtener  Korb  zeigt  eine  gewisse  Ähnlichkeit  mit 
dem  Oefäß  Abbildung  70,  das  aber  nur  am  Rande  verziert  ist;  die  iberische  Muschel- 
haufen-Keramik ist  schmucklos.  Für  die  früheste  spanisch-portugiesische  Megalith- 
keramik vgl.  Wilke,  Südwest-europäische  Megalithkultur;  für  Kreta:  Duncan  Mackenzie, 
The  pottcry  of  Knossos  m  Journal  of  Hell.  Studies  vol.  XXIII;  für  Zypern:  Hoemes, 
Urgeschichte  der  bildenden  Kunst  S.  363;  für  Palästina:  Pere  Vincent,  Canaan. 

^)  Die  Oefäßformen  und  Ornamente  der  neolithischen  schnurverzierten  Keramik 
im  Flußgebiet  der  Saale. 


410  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

genannten  Amphoren  —  kann  an  eine  tragende  oder  schützende  Hülle 
nicht  gedacht  werden.  Die  10—12  cm  hohen  Becher  wurden  nicht 
getragen  und  verlangten,  weniger  als  irgend  eine  andere  Form,  Schutz 
oder  Stütze;  die  freien  Megalithamphoren  dagegen  sind  mit  einer  aus- 
gezeichneten Tragevorrichtung  versehen,  kleinen,  zwischen  Hals  und 
Schultern  befindlichen  Zapfen  mit  einer  Durchbohrung,  groß  genug, 
um  eine  Schnur  durchzuziehen. 

Ich  gehe  jetzt  zu  der  Gestalt  des  geradlinigen  Ornaments  selber 
über.  Auch  hier  muß  eine  streng  wissenschaftliche  Kritik  ganz  be- 
stimmte Forderungen  aufstellen.  Daß  ein  entwickeltes  System  aus 
geraden  Linien,  das  sich  an  die  Form  des  Trägers  hält,  eine  gewisse 
Ähnlichkeit  mit  einem  Flechtwerk  aufweisen  kann,  das  ja  selber  eine 
Struktur  aus  geraden  Linien  —  Ruten,  Binsen,  Spänen  usw.  —  dar- 
stellt, die  zusammen  eine  analoge  Form  bestimmen,  ist  klar.  Aber  mit 
dieser  vagen  Übereinstimmung  dürfen  wir  uns  nicht  begnügen,  im 
Gegenteil,  für  den  direkten  Abdruck  oder  die  Nachahmung  primitiver 
Flechtformen  sind  ganz  bestimmte  Muster  zu  erwarten.  Ich  betone 
dabei  das  Wort  »primitiv«,  weil  bei  dem  Vergleich  mit  komplizierteren 
Korbflechtereien,  die  selber  Kunst  sein  wollen,  für  sich  eine  so  und 
nicht  anders  gemeinte  künstlerische  Zusammenstellung  bezwecken,  die 
Frage  nach  dem  Entstehen  der  geometrisch-ornamentalen  Kunst  nur 
nach  dem  Gebiete  der  textilen  Technik  verschoben  würde.  Jedenfalls 
haben  wir,  wenn  wir  den  mechanischen  Abdruck  oder  die  Nachahmung 
von  geflochtenen  Behältern  ins  Auge  fassen,  in  erster  Linie  an  die 
einfachsten  Flechtwerke  zu  denken. 

Nun  sind  wir  über  die  Art  des  primitiven,  prähistorischen  Flechtwerks 
ziemlich  genau  unterrichtet.  Die  Seen  der  Schweiz  haben  uns  Flecht- 
werk geliefert,  besonders  aus  Robenhausen  sind  verschiedene  Beispiele 
bekannt.  Ein  Geflecht  aus  der  bayerischen  Bronzezeit  finden  wir  bei 
Naue^).  Abdrücke  von  Flechtwerk  in  Ton  kennen  wir  aus  Stütz- 
heim im  Elsaß  ^),  ein  sehr  ähnliches  Muster  aus  dem  Lago  di  Varese 
gibt  Montelius').  Der  Abdruck  einer  Matte,  auf  die  das  Gefäß  zum 
Trocknen  gestellt  worden  war,  ist  aus  Amorgos  bekannt*).  In  all 
diesen  Fällen  entstanden,  wie  zu  erwarten,  Systeme  von  sich  kreuzen- 
den Bändern  oder  Strichlagen  —  Kette  und  Einschlag  — ,  in  den 
meisten  Fällen  das  Schachbrettmotiv.  Ein  Stück  Flechtwerk,  das 
in  Bern  aufbewahrt  wird,  zeigt  durch  die  Kreuzung  der  flachen  breiten 
Streifen  das  reine  Schachbrett;  noch  in  unseren  Tagen  ist  die  gleiche 


')  Jul.  Naue,  Die  Hügelgräber  zwischen  Ammer-  und  Staffelsee,  Taf.  XXXV. 
4  R.  Forrer,  Reallexikon.    Abb.  202,  203;  Taf.  69. 
^)  O.  Montelius,  La  civilisation  primitive  en  Italic.    Serie  B,  Taf.  2,  22. 
^)  Myres  m  Journal  of  the  anthropol.    Inst.  1898. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  4t  1 

Technik  in  der  Volkskunst  von  Italien  bis  Skandinavien  allgemein.  Es 
sei  mir  erlaubt,  hier  darauf  hinzuweisen,  daß  noch  in  der  bildenden 
Kunst  des  späteren  Mittelalters  neben  der  gröberen  Korbflechterei  aus 
vertikalen  Rippen,  die  ganz  durch  wagrechte  Bänder  bedeckt  werden, 
die  zierlicheren,  reicher  gegliederten  Flechtwerke  genau  die  gleichen 
Rechtecke  oder  Rauten  zeigen.  Das  ist  zwar  kein  Beweismaterial  für  das 
prähistorische  Flechtwerk,  aber  in  diesem  Zusammenhang  scheint  mir  die 
nordische  Technik  aus  dem  Mittelalter  von  ungleich  größerer  Bedeutung 
als  etwa  Kongoflechtwerke  aus  dem  19.  Jahrhundert,  um  so  mehr,  weil 
wir  das  gleiche  Muster  in  vorgeschichtlichen  Flechtwerken  wiederfinden. 

Ein  entsprechendes  Muster  aus  regelmäßig  abwechselnden  wag- 
rechten und  senkrechten  oder  schrägen  Bändern  ist  nun  aber  in  der 
neolithischen  Keramik  sehr  selten  anzutreffen.  Das  Schachbrett  kommt 
ganz  vereinzelt  in  Schweden  vor,  einmal  in  England,  Frankreich  (in 
all  diesen  Fällen  spät),  und  in  der  nordwestdeutschen  Megalithkeramik 
gibt  es  einzelne  Muster,  die  einem  solchen  Flechtwerk  einigermaßen 
ähnlich  erscheinen;  das  ist  aber  ungefähr  alles.  Aus  sehr  guten  Grün- 
den, die  ich  nachher  darlegen  werde,  vermeidet  die  neolithische  Orna- 
mentik fast  ausnahmlos  das  Zerhacken  der  geradlinigen  Motive. 

Dies  sind  die  wichtigsten  Argumente,  die  ich  gegen  die  Erklärung 
des  geradlinigen  Ornaments  aus  der  Technik  anzuführen  habe.  An- 
gesichts dieser  Hunderttausende  von  Töpfen  und  Vasen,  Schalen  und 
Bechern,  die  in  den  späteren  Perioden  mit  Ornament  überzogen  werden, 
muß  man  doch  fragen,  wie  sich  die  Vertreter  der  Flechtwerktheorie 
das  Verhältnis  zu  diesen  gänzlich  unbekannten  geflochtenen  Hüllen 
und  Schnüren  eigentlich  wohl  vorstellen.  Haben  diese  keineswegs 
nomadisierenden  Menschen  denn  ihr  gesamtes  Geschirr  an  Schnüren 
getragen?  Warum  gibt  es  in  den  nordischen  Mooren  und  den  Schwei- 
zer Seen,  die  sogar  Kleidung  und  Gewebe  bewahrt  haben,  keine  Spur 
von  einem  dem  neolithischen  Ornament  entsprechenden  Flechtwerk, 
das,  wenn  die  technische  Erklärung  richtig  wäre,  doch  allgemein  ver- 
breitet gewesen  sein  müßte?  Warum  hat  sich  nichts  davon  in  die 
Volkskunst  gerettet?  Warum  hat  man,  wenn  man  es  schon  nicht 
lassen  kann,  die  Töpferei  als  etwas  Sekundäres  zu  betrachten,  nicht  in 
allererster  Linie  auf  die  Holzbearbeitung  hingewiesen,  die,  wie  viele 
Reste  zeigen,  neben  der  Keramik  geblüht  haben  muß,  die  zum  Teil  die 
gleichen  Formen,  so  z.  B.  die  Megalithamphoren,  in  Holz  angefertigt 
hat  und  deren  Erzeugnisse  so  auffällig  dem  Besitz  unserer  Senn- 
hütten und  der  skandinavischen  Bauernstuben  entsprechen  ')?  Die  Ant- 


')  Schweiz:  Schafis,  Vinelz,  Robenhausen.  —  Dänemark:  vgl.  S.  Müller,  Nor- 
dische Altertumskimde  I  S.  343.  —  Bayern :  vgl.  Jul.  Naue,  Die  Hügelgräber  zwischen 
Ammer-  und  Staffelsee.    Taf.  XXV,  6  usw. 


412  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

wort  liegt  auf  der  Hand:  aus  der  Holztechnik  war  nicht  das  mecha- 
nische Entstehen  eines  bestimmten  ornamentalen  Stils  abzuleiten. 

Es  ist  ganz  bezeichnend,  daß  die  Vorkämpfer  der  technischen 
Erklärung  zum  Beweis  der  Richtigkeit  ihrer  Theorie  immer  Fiechtwerke 
aus  Japan  (Schuchhardt),  Afrika  (Holwerda),  Brasilien  (Wilke)  heran- 
ziehen müssen,  d.  h.  das  beste  Flechtwerk,  das  überhaupt  bekannt  ist, 
und  Produkte  einer  zum  Teil  hochentwickelten,  jedenfalls  uralten  Kultur, 
deren  historische  Entwicklung  uns  nahezu  unbekannt  ist.  Abgesehen 
von  vielen  anderen  Bedenken,  dürfen  wir  schon  darum  diese  exo- 
tischen Flechtwerke  nicht  zur  Vergleichung  verwenden,  weil  die  Ent- 
wicklung dieser  äußerst  verfeinerten  Flechttechnik  in  Japan,  im  Kongo- 
gebiet usw.  aufs  engste  mit  einem  Material  —  Bambus-  und  Palm- 
fasern, harten  Gräsern  —  zusammenhängt,  das  nur  in  den  genannten 
tropischen  bzw.  subtropischen  Gebieten  zur  Verfügung  stand.  Warum 
man  diesen  bedenklichen  Schritt  tat,  ist  begreiflich:  nur  in  den  er- 
wähnten raffinierten,  großenteils  selber  als  Kunst  aufzufassenden  Flecht- 
werken war  die  gesuchte  Ähnlichkeit  mit  dem  geradlinigen  Ornament 
der  europäischen  Steinzeit  zu  entdecken.  Daß  dieser  unglückliche 
Vergleich  mit  afrikanischen  Geflechten  tatsächlich  dazu  geführt  hat,  die 
Heimat  unter  anderem  der  nordeuropäischen  Megalithbevölkerung  nach 
Afrika  zu  verlegen,  sei  nur  nebenbei  erwähnt.  Hier  kommt  es  mir  vor 
allen  Dingen  darauf  an,  die  fehlerhafte  Logik  der  technisch-materia- 
listischen Beweisführung  zu  betonen,  wenn  diese  nun  den  Gegensatz 
zwischen  dem  geradlinigen  »Flechtwerkstil«  des  Nordens  und  dem 
sogleich  zu  besprechenden  »Kürbisstil«  des  Südens  aus  dem  Unter- 
schied des  angeblich  vorbildlichen  Materials  erklärt.  Das  alte  Europa 
war  Holz-  und  Pelzgebiet,  es  war  ebensowenig  Flechtwerk-  wie  Kür- 
bisgebiet. Sowohl  »Kürbis«-  wie  »Flechtwerkmuster«  sind  —  wohl- 
verstanden nach  der  technischen  Erklärung  —  unmittelbar  abhängig 
von  einem  tropischen  oder  subtropischen  Pflanzenmaterial  und  damit 
an  den  Süden  gebunden. 

Als  das  Gegenstück  und  eine  Ergänzung  der  Flechtwerkhypothese 
ist  die  Kürbistheorie  zu  betrachten.  Der  grundlegende  Gedanke 
ist  dabei  folgender:  im  Gegensatz  zu  dem  ausschließlich  geradlinigen 
Ornament  der  nordeuropäischen  Neolithik  begegnet  man  im  Süden 
schon  sehr  früh  einer  freien  Verzierung  aus  gebogenen  Linien  oder 
figürlichen  Darstellungen,  im  besonderen  steht  die,  sicher  aus  dem 
Süden  eingedrungene,  Bandkeramik  mit  ihrem  Spiralvoluten-  und  Mä- 
anderornament scharf  der  nordischen  Zierkunst  gegenüber.  Nun  zeigen 
die  kugel-  und  birnförmigen  Gefäße  der  Bandkeramik  eine  gewisse 
Ähnlichkeit  mit  Kürbissen;  der  Kürbis  wird  aber  noch  heutzutage  im 
Süden  vielfach  zur  Herstellung  von  Flaschen,  Näpfen  usw.  verwendet. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  413 

Bei  diesen  aus  Kürbissen  angefertigten  Gefäßen  fehlt  —  es  sei  denn, 
daß  Fuß,  Henkel  oder  Hals  angeflochten  werden  —  die  Beziehung 
zum  Flechtwerk,  dagegen  konnte  das  in  die  Schale  eingeschnittene 
Ornament  sich  frei  in  jeder  beliebigen  Form  entfalten.  Das  »freie« 
südliche  Ornament  verdankt  also  dem  Zusammenhang  der  südlichen 
Keramik  mit  Kürbisgefäßen  sein  Entstehen,  der  Gegensatz  zwischen 
den  geradlinig  nordischen  und  den  gebogenen  südlichen  Mustern  ist 
in  dem  nachgeahmten  Material  begründet:  Flechtwerk  im  Norden, 
Kürbisse  im  Süden.  Die  Grenze  des  Kürbisstils  ist  nach  Norden  mit 
der  Verbreitung  des  Kürbis  selber  gegeben ').  —  Wie  man  sieht,  eine 
sehr  plausible  Erklärung.     Aber  auch  sie  verträgt  keine  Kritik. 

Cucurbita  Lagenaria,  der  Flaschenkürbis,  ist  ursprünglich  heimisch 
in  den  Tropen  der  alten  Welt,  wird  aber  jetzt  in  allen  wärmeren  Län- 
dern angebaut,  in  Ägypten  wird  sie  verwildert  und  kultiviert  ange- 
troffen, auch  in  Kleinasien  wird  sie  gebaut,  in  Rußland  nur  in  den  süd- 
lichen Provinzen.  In  Spanien  und  Südfrankreich  wird  sie  kultiviert,  in 
Dalmatien  sieht  man  die  Frucht  bei  den  Fischern  und  Bauern  vielfach 
in  Gebrauch.  In  der  Flora  Deutschlands  und  der  Schweiz  wird  sie 
nicht  mehr  erwähnt*). 

Zunächst  nun  muß  man  sich  doch  etwas  wundern,  daß  die  Er- 
klärer vorzugsweise  afrikanische  Flechtwerke  als  Vorbild  für  das 
geradlinige  Ornament  heranziehen,  während  jetzt  gerade  im  Süden, 
dem  Dorado  des  Flechtmaterials,  der  Kürbis  zur  Erklärung  der  typisch 
südlichen  Stilformen  erhoben  wird. 

Betrachten  wir  nun  das  südliche  Ornament,  so  müssen  wir  fest- 
stellen, daß  vielfach  ausgesprochen  kürbisförmige  Gefäße  vorkommen^ 
die  teilweise  oder  ganz  mit  einem  rein  geradlinigen  Ornament  bedeckt 
sind,  und  zwar  in  einer  Weise,  die  jede  Beziehung  zu  tragenden  Schnü- 
ren oder  angeflochtenen  Teilen  ausschließt'').  Umgekehrt  ist  wieder 
das  freie  Ornament  der  vordynastischen  Keramik  in  Ägypten  in  weitaus 
den  meisten  Fällen  auf  Gefäßen  anzutreffen,  die  nichts  mit  Kürbissen 
zu  tun  haben;  ich  denke  hier  vor  allem  auch  an  die  spiralverzierten 
Gefäße  von  El  Amrah,  die  aus  einer  Nachahmung  von  Gefäßen  aus 
muschelhaltendem  Kalkstein  entstanden  sind  (nach  Schweinfurth  und 
Flinders  Petrie). 

Bedenklicher  ist,  daß  das  Verbreitungsgebiet  von  Cucurbita  Lage- 
naria keineswegs  dem  der  freien,  sei  es  der  Spiralvoluten-,  sei  es 
der  figürlichen  Ornamentik,    entspricht.    Weder  Spanien    noch   Süd- 


')  Holwerda,  Die  Niederlande  in  der  Vorgeschichte  Europas.    Leiden,  1915. 
»)  Holwerda,  I.  c.  S.  34. 

•)  Zypern:  Cesnola,  Taf.  Xill;   Kleinasien,  Oordion:  O.  Körte  und  A.  Körte, 
Taf.  3. 


414  V-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 


frankreich  sind  bandkeramische  Provinzen,  dagegen  besitzen  sie,  wenig- 
stens gegen  Schluß  der  Steinzeit,  ein  entwickeltes  geradliniges  Oefäß- 
ornament.  Italien  erhält  gleichfalls  die  Spirale  von  auswärts,  wahr- 
scheinlich aus  dem  Ostadriagebiet,  eingeführt.  Dagegen  fehlt  wiederum 
der  Kürbis,  z.  B.  in  Böhmen,  das  doch  offenbar  ein  Ausstrahlungs- 
gebiet der  Spiralverzierung  gewesen  sein  muß. 

Was  aber  meines  Erachtens  die  Kürbistheorie  unhaltbar  macht, 
ist  folgendes:  Sowohl  auf  Sizilien  und  Kreta  wie  in  Kleinasien  und 
Palästina,  d.  h.  in  idealen  Kürbisgebieten,  sehen  wir,  daß  das  älteste 
keramische  Ornament  streng  geradlinig  ist,  und  zwar,  wie  in  Nord- 
europa, eingeschnitten  und  meistens  mit  weißer  Füllung.  Sizilien  (Sten- 
tinello)  kennt  in  der  Neolithik  nur  diesen  rein  »textilen«  Stil,  eine 
Änderung  tritt  erst  ein  unter  dem  Einfluß  der  höher  entwickelten  Bronze- 
kultur aus  ägäisch-krelischem  Gebiet,  der  zugleich  die  Vasenmalerei 
bringt.  Kreta  besitzt  in  seinen  6  m  tiefen  neolithischen  Schichten  eine 
ausschließlich  geradlinige  Oefäßornamentik;  in  der  frühminoischen 
Vasenmalerei  werden  die  alten  Muster  durch  die  neue  Technik  wieder- 
holt, erst  in  der  mittelminoischen  Periode  erscheint  ein  naturalistisches 
Ornament  und  mit  ihm  die  Spirale.  Die  neolithische  Kultur  Kanaans 
kennt  gleichfalls  nur  die  »textile«  Verzierung;  in  Hissarlik-Troja  besitzt 
die  I. — V.  Stadt  eine  den  nordischen  Formen  manchmal  sehr  ähnliche 
geradlinige  Ornamentik;  die  Spirale  erscheint  erst  in  der  VI.  Ansied- 
lung,  und  zwar  von  den  Inseln  eingeführt.  In  Gebieten,  wo  der  Kürbis 
einheimisch  war  und  auch  zweifellos  für  die  Herstellung  von  Gefäßen 
Verwendung  fand  —  Troja  I  hat  schon  Kürbisflaschen  i)  — ,  wird  also 
zuerst,  und  zwar  ausnahmslos  das  geradlinige  und  nicht  das  freie  Orna- 
ment angewandt.  Erst  mit  der  Bronzezeit,  in  Troja  noch  später,  tritt, 
zugleich  mit  der  Gefäßbemalung,  eine  Änderung  ein,  die  offenbar  mit 
dem  Einfluß  der  alten  Kulturzentren  im  fernen  Südosten  zusammen- 
hängt. Mit  anderen  Worten:  das  Erscheinen  des  freien  Ornamentstils 
ist  an  und  für  sich  völlig  unabhängig  von  dem  Vorhandensein  des 
Kürbis.  Es  handelt  sich  nicht  um  eine  pflanzengeographische  Frage, 
sondern  um  ein  Problem  der  Entwicklung,  sei  es  infolge  eigenen 
Wachstums,  sei  es  unter  fremder  Einwirkung. 

Ich  gehe  jetzt  zu  einer  möglichst  kurz  zusammengefaßten  Betrach- 
tung über,  wie  denn  in  Wahrheit  das  erste  geradlinige  Ornament  ent- 
standen sein  mag,  und  möchte  zunächst  fragen:  warum  schreckt  man 
doch  immer  davor  zurück,  diese  ersten  Punkt-  und  Strichreihen  aus 
einem  primitiven  Gefühl  für  die  Schönheit  geometrischen  Regelmaßes 
zu  erklären?   Warum  soll  um  jeden  Preis  dieses  geistige  Moment,  das 


')  Hub.  Schmidt,  Troja  und  llion,  Abb.  114. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  415 

selbständige  Erfinden  und  Schön-finden  der  allereinfachsten  rhyth- 
mischen und  symmetrischen  Zusammenstellungen  ausgeschaltet  werden? 
Will  man  nicht  die  gesamte  bildende  Kunst  von  Anfang  bis  Ende  zu 
einer  sinnlosen  Nachahmung  von  natürlich  gegebenen  Formen  ernied- 
rigen, so  muß  man  notgedrungen  irgendwo  im  Laufe  der  Entwick- 
lung ein  erstes  Auftreten  der  künstlerischen  schöpferischen  Kraft  voraus- 
setzen. Warum  denn  nicht  gleich  bei  diesen  ersten  Formen,  deren 
primitive  Schönheit,  die  sich  im  Regelmaß  und  in  der  richtigen  An- 
wendung des  Ornaments  äußert,  dem  unbefangenen  Auge  sofort  er- 
sichtlich ist?  Man  vergesse  nicht,  daß  schon  bei  dem  unentwickeltsten 
ästhetischen  Bewußtsein  —  auch  bei  Kindern  —  ein  sicheres  Urteil 
darüber,  ob  eine  Reihe  von  Elementen  rhythmisch  geordnet  ist  oder 
nicht,  ob  zwischen  zwei  Elementen  Symmetrie  herrscht  oder  nicht, 
vorhanden  ist,  und  daß  dieses  selbe  Urteil  keinen  Augenblick  darüber 
im  unklaren  ist,  welche  Anordnung  die  »schönere«  ist.  Man  vergesse 
nicht,  daß  wenige  Jahrhunderte  nach  der  Blüte  der  Dipylonkunst,  die 
das  Geschick  traf,  technisch  erklärt  zu  werden,  das  Parthenon  entstand, 
das  mit  dem  besten  Willen  nicht  auf  Nachahmung  von  etwas  zurück- 
zuführen ist,  vielmehr  vielleicht  das  vollkommenste  und  reinste  Denk- 
mal schöner  Maßverhältnisse  darstellt,  das  wir  kennen.  Ist  dieses 
Gefühl  für  die  abstrakte  Schönheit  mathematischer  Beziehungen  plötz- 
lich aus  der  Luft  gefallen  oder  liegt  es  nicht  näher,  die  ersten  Keime 
davon  im  strengen  Rhythmus  der  geometrischen  Vasenmalerei  zu  er- 
kennen? 

Was  nun  den  eigentümlichen  Charakter  der  ältesten  nordeuropäischen 
—  besser  gesamteuropäischen  —  Ornamentik  betrifft,  so  scheint  mir 
die  Unzulänglichkeit  der  bestehenden  Deutungsversuche  darauf  zu  be- 
ruhen, daß  man  sich  nie  ernstlich  Rechenschaft  davon  gegeben  hat, 
was  denn  Ornament  überhaupt  eigentlich  ist. 

Und  hiermit  kehre  ich  zu  dem  Semperschen  Grundgedanken  zu- 
rück. Schon  Semper  streift  die  Lösung  der  Fragen,  um  die  es  sich 
hier  handelt,  indem  er  einerseits  die  Funktion,  die  die  Gefäßteile  er- 
füllen, analysiert,  anderseits  die  symbolische  Bedeutung  des  Ornaments 
selber  betont  und  mit  dieser  Funktion  in  Beziehung  setzt.  Ornament 
weist  als  solches  auf  etwas  anderes  hin,  man  kann  sagen,  auf 
die  andere  Seite  seiner  selbst.  Es  verweist  nach  dem  Ornamen- 
tierten, nach  dem,  was  geschmückt  wird,  nach  dem  Träger  des 
Ornaments.  Dieser  Gedanke,  daß  das  Ornament  seine  Bedeutung 
schöpft  aus  seiner  Beziehung  zum  Träger,  müßte  eigentlich  gerade 
unserer  Zeit  geläufig  sein,  denn  er  wird  schon  längst  für  das  moderne 
Kunstgewerbe  benutzt.  Ich  will  hier  nicht  untersuchen,  inwiefern 
aus  dieser  Erklärung  von  dem  ursprünglichen  Wesen  des  Ornaments 


416  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA 

eine  Forderung  für  die  Verzierungskunst  im  allgemeinen  und  aller 
Zeiten  zu  erheben  sei;  auf  alle  Fälle  haben  wir  aber  bei  dem  ersten 
Auftreten  des  Ornaments  mit  dieser  seiner  fundamentalen  Bedeutung 
zu  rechnen.  Ornament  ist,  wie  es  sich  auch  später  entwickeln,  viel- 
leicht auch  befreien  mag,  seinem  ursprünglichen  Wesen  nach  eine 
symbolische  Darstellung  von  den  im  Träger  tätigen  Kräften,  die  zu- 
sammen den  nützlichen  Wert  des  Gebrauchsgegenstandes  bestimmen 
und  dessen  Form  diktieren.  Ornament  ist  also,  anders  gesagt,  eine 
Betonung  der  Formen  des  ornamentierten  Gegenstandes,  es  ist  die  an 
sich  völlig  überflüssige  und  damit  rein  ästhetische  Darstellung  von 
natürlich  gegebenen  Kräften  oder,  wenn  man  diese  dynamische  Be- 
deutung ausschalten  will,  die  nur  dem  Scheine  dienende  Betonung  der 
durch  die  Natur  —  Technik,  Zweck  —  gegebenen  Formen.  Es  ist 
deshalb  von  Bedeutung,  diesen  eigenartigen  Charakter  der  Kunstformen, 
die  am  Anfang  der  nordischen  Kunstentwicklung  stehen,  zu  betonen, 
weil  dadurch  sowohl  der  enge  Zusammenhang  dieser  beginnenden 
Kunst  mit  den  Nutz-  beziehungsweise  den  Naturformen  als  ihre  geistige 
Befreiung  von  denselben  ausgesprochen  wird. 

Das  mag  alles  ziemlich  kompliziert  scheinen,  und  ich  bin  wohl 
der  letzte,  der  annimmt,  daß  die  Steinzeitbarbaren  sich  mit  solchen 
ästhetischen  Problemen  den  Kopf  zerbrochen  haben.  Aber  schließlich 
setzten  sie  doch  unbewußt,  als  echte  Künstler,  die  hier  kurz  skizzierte 
Theorie  vom  Ornament  in  die  Praxis  um  und  taten  damit  genau-  das 
gleiche  wie  etwa  ein  Negerkind,  das  sich  eine  Muschelkette  um  den 
Hals  legt,  so,  daß  diese  auf  der  Brust  herunterhängt  und  die  größte 
Muschel  sich  gerade  in  der  Mitte  befindet.  Was  dort  geschieht,  ist, 
wie  sich  bei  einer  Analyse  zeigen  würde,  zwar  verwickelter  als  die 
Verzierung  eines  Gefäß- »halses«  mit  einer  Kette  von  Fingereindrücken; 
im  Grunde  aber  handelt  es  sich  um  den  gleichen  Vorgang.  Warum 
man  bei  der  Deutung  des  Körperschmucks  durchweg  den  richtigen 
Weg  wählt,  indem  man  die  Beziehung  zum  menschlichen  Körper  her- 
vorhebt, beim  Geräte-  bzw.  Gefäßschmuck  dagegen  diese  Beziehung 
zum  tragenden  Körper  grundsätzlich  übersieht  uud  dafür  die  unmög- 
lichsten Beziehungen  zu  fremden  Gegenständen  und  Techniken  an  den 
Haaren  herbeizieht,  ist  schwer  einzusehen. 

Das  Merkmal  der  Kunst  der  nordischen  Steinzeit  ist  nun  kein 
anderes  als  ihr  streng  ornamentaler  Charakter.  Damit  ist  in  erster 
Linie  schon  ihre  Geradlinigkeit  erklärt.  Denn,  wir  wissen  es  ja 
aus  der  Mechanik,  die  gerade  Linie  ist  das  Bild  der  einfachen,  sich 
frei  betätigenden  Kraft.  Solange  das  Ziel  ausschließlich  darauf  ge- 
richtet war,  die  in  dem  Gefäß  wirksamen  Kräfte  zu  betonen  und  damit 
seine  eigenartige  Struktur  hervorzuheben,  mußte  also  mit  der  geraden 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  417 


Linie  gearbeitet  werden.  Das  erste  Ornament,  die  gereihten  Finger- 
eindrücke, ist  nur  erst  ein  » Fingerzeig <; ;  wohl  wurde  dadurch  schon  die 
Stelle,  die  für  die  künstlerische  Deutung  am  wichtigsten  schien,  der 
Gefäßrand,  wo  der  regelmäßige  Umlauf,  die  regelmäßige  Ausweitung 
und  damit  das  »Fassen«  des  Gefäßes  am  deutlichsten  in  die  Augen 
fiel,  näher  bezeichnet  und  der  regelmäßige  Verlauf  selber  durch  die 
rhythmische  Anordnung  der  Fingertupfen  markiert.  Aber  diese  Ein- 
drücke selber  waren  noch  zu  amorph,  zu  wenig  sagend,  sie  verrieten 
noch  zu  sehr  ihr  natürliches,  zufälliges  Entstehen,  um  auf  die  Dauer 
befriedigen  zu  können.  Der  wichtigste  Schritt  war  denn  auch  der 
Übergang  zum  geometrischen,  geradlinigen  Ornament  mit 
seiner  klar  ausgesprochenen  Begrenzung  und  nicht  verkennbaren 
Richtung.  Hiermh  setzt  der  äußerst  interessante  Kristallisations- 
prozeß ein,  der  das  erste  Kapitel  der  nordeuropäischen  Kunstgeschichte 
ausfüllt. 

Von  der  einzelnen  wagrechten  Linie,  die  gleichsam  den  Rand 
unterstreicht,  von  der  Reihe  senkrechter  oder  schräger  paralleler 
Striche  des  Muschelhaufengefäßes,  die  wie  eine  Halskette  die  regel- 
mäßig fortschreitende  und  in  sich  selbst  zurückkehrende  Rundung  des 
Halses  Schritt  für  Schritt  begleiten  und  verdeutlichen,  breiten  die  struk- 
tiv-symbolischen  Linien  sich  aus,  umgeben  die  Schultern  der  frühen 
Megalithamphoren  mit  einem  Kragen  —  statt  mit  einer  Kette  —  aus 
Strichen,  die  von  der  struktiv  bedeutsamsten  Stelle,  dem  scharfen  Knick 
zwischen  Hals  und  Schultern,  über  die  Schultern  ausstrahlen.  Dann 
sendet  dieser  Kragen  Strahlenbündel  über  den  Gefäßbauch  selber  aus, 
der  Kristallisationsprozeß  schreitet  weiter.  Neben  die  wagrechten 
Linien,  die  in  den  horizontalen  Querschnitten  die  Rundung  und  Aus- 
weitung der  Gefäßform  verdeutlichen,  treten  die  senkrechten  Linien, 
die  die  Beziehung  zwischen  oben  und  unten  näher  bezeichnen,  die 
zunehmende  Ausweitung  vom  Boden  aufwärts  nach  dem  Bauch,  wo 
nun  gern  ein  horizontaler  Gürtel  den  größten  Umfang  markiert,  dann 
die  Einziehung  nach  dem  Hals.  Neben  den  Randlinien  entstehen 
die  Wand  linien,  neben  die  Betonung  der  Randsilhouette  tritt  die  der 
Wandsilhouette  oder  des  Wandprofils.  So  entsteht  das  unendlich 
wechselnde  Horizontal-Vertikal-System  der  neolithischen  Linearoma- 
mentik,  das  den  Gefäßbau  wie  in  seinen  Grund-  und  Aufrißlinien 
enthält  und  in  zahllosen  Variationen  vor  Augen  führt. 

Ich  werde  im  zweiten  Abschnitt  etwas  ausführlicher  auf  diese 
Probleme  eingehen,  vor  allen  Dingen  auch  auf  die  späten  Entwick- 
lungserscheinungen, mit  denen  wir  bei  fast  allen  Gruppen  auf  nord- 
deutschem Boden  zu  tun  haben:  bei  der  Megalith-  und  Schnurkeramik, 
der  Bernburger  Keramik,  den  Kugelamphoren  und  der  Keramik  von 

Zeitsdir,  f.  Ästhetik  u.  all£.  Kunstwissenschaft.    XV.  27 


418  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

Rossen.  Hier  möchte  ich  nur  erwähnen,  daß  es  an  der  Hand  der 
sicheren  chronologischen  Daten  —  Muschelhaufen,  frühe  Megalith- 
keramik, norddeutsche  Gruppen  —  in  der  Tat  möglich  ist,  eine  Ent- 
wicklung festzustellen,  die  sich  in  einer  zunehmenden  Ausbreitung  des 
geradlinigen  Ornaments  und  in  sehr  bestimmten  Zeichen  einer  Be- 
freiung von  seinem  Träger  äußert. 

Wir  verstehen  nun,  warum  gerade  im  Anfang  der  Entwicklung, 
bei  den  ersten  schüchternen  Rand-  und  Halsketten,  die  Ähnlichkeit  mit 
zusammenhängenden  Geflechten  am  geringsten  sein  muß,  warum  da- 
gegen in  den  späteren  Wachstumsphasen  eine  gewisse  Übereinstimmung 
mit  Korbflechtmustern,  die  ja  gleichfalls  aus  geraden  Linien  zusammen- 
gesetzt sind,  welche  die  Struktur  eines  Behälters  bestimmen,  entstehen 
kann.  Wir  verstehen,  daß  neben  den  freihändig  eingeschnittenen  oder 
eingestochenen  Ornamenten  auch  sehr  wohl  bestimmte  Hilfsmittel,  wie 
Muschelschalen  (Herzmuschel),  Stempel,  Schnüre  mit  oder  ohne  Kno- 
ten usw.  herangezogen  werden  können,  um  die  sicherere  und  schnel- 
lere Herstellung  des  beabsichtigten  Musters  zu  ermöglichen  ^).  Aber 
das  sind  dann  die  technischen  Hilfsmittel,  nicht  die  technischen  Vor- 
bilder, und  wir  tun  gut,  einzusehen,  daß  es  der  eigentümliche,  auto- 
nome Charakter  des  geradlinigen  Ornaments  ist,  der  die  Wahl  dieser 
technischen  Hilfsmittel  erklärt,  und  daß  es  nicht  diese  sind,  welche 
das  geradlinige  Ornament  erklären.  Wir  verstehen  auch,  warum  das 
Schachbrett,  dieses  rein  textile  Muster,  und  die  sich  schneidenden 
Linien  so  äußerst  selten  anzutreffen  sind:  sie  können  nichts  anderes 
ausdrücken,  als  die  gleichmäßige  Ausdehnung  in  zwei,  senkrecht  auf- 
einander stehenden  Richtungen.  Die  symbolische  Bedeutung  der  hori- 
zontalen Umriß-  und  vertikalen  Aufrißlinien  ginge  durch  die  wieder- 
holte Unterbrechung  gänzlich  verloren,  das  tektonische  Skelett,  das 
uns  die  Oefäßform  deutet,  würde  zu  einem  gleichmäßig  bedecken- 
den Geflecht  werden,  das  die  Form  verbirgt.  Etwas  Ähnliches  kann 
in  der  Tat  geschehen,  nämlich  bei  einem  für  die  späte  thüringische 
Schnurkeramik  charakteristischen  Muster  aus  ineinandergreifenden, 
schraffierten  Dreiecken,  dem  einzigen  Flechtornament,  das  in  der  nor- 
dischen Neolithik  eine  Rolle  spielt.  Es  erscheint  gegen  Ende  der 
Steinzeit  und  findet  dann  auch  in  der  Bronzezeit  gerne  Verwendung. 
Dieses  vollständige  Zudecken  größerer  Flächen  des  tragenden  Grundes 
durch  ein  Kleid,  das  die  unter  ihm  liegende  Struktur  des  Gefäßes  mehr 
verhüllt  als  betont,  ist  eine  typisch  späte  Erscheinung,  die  eng  mit 
der  zunehmenden  Ablösung  des  geradlinigen  Ornaments  von  seinem 


')  Nicht  nur  in  der  späteren  Sclinurlteramik,  sondern,  wie  Sophus  Müller  ge- 
zeigt hat,  auch  schon  in  der  Übergangsperiode  zu  der  Kultur  der  großen  Stein- 
gräber.   {Memoires  de  la  sodüi  royale  des  antiquaires  du  Nord,  1914—1915.) 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  41 Q 

Träger  zusammenhängt.  Ich  sehe  in  diesem  späten  Auftreten  der 
Fiechtwerkimitation  gegenüber  dem  sehr  beschränkten,  streng  geo- 
metrischen, struktiven  Ornament  der  frühesten  Keramik  den  sicheren 
Beweis,  daß  dieses  geometrische  Ornament  in  seinem  Entstehen  und 
seinem  Wesen  nichts  mit  der  Flechttechnik  zu  schaffen  hat. 

Eine  kurze  Bemerkung  über  das  Verhältnis  zum  Süden. 

Im  scharfen  Gegensatz  zu  Nordeuropa  zeigt  die  Kunst  der  alten 
Kulturländer  im  Südosten,  Vorderasien  und  Ägypten,  von  Anfang  an 
die  ausgesprochene  Neigung  zu  einer  naturalistischen  bildenden  Kunst. 
Wir  kennen  aus  Elam  Formenreihen,  die  uns  die  allmähliche  Erstarrung 
von  Tier-  und  Menschengesfalten  in  der  vorgeschichtlichen  Gefäßorna- 
mentik zu  geometrischen  Mustern  deutlich  vor  Augen  führen  und 
damit  ein  anfängliches  naturalistisches,  figürliches  Ornament  voraus- 
setzen ').  Im  vordynastischen  Ägypten  sind  bekanntlich  äußerst  lebendig 
aufgefaßte  und  fein  empfundene  Tierdarsfellungen  allgemein :  als  Felsen- 
zeichnungen, Vasenornament,  Tierstatuetten,  Schiefertafeln  usw.  Man 
hat  hier  Zusammenhänge  sowohl  mit  der  bildenden  Kunst  junger 
afrikanischer  Naturvölker  als  auch  mit  der  paläolithischen  Höhlenkunst 
der  Pyrenäen  und  der  Dordogne  konstruiert.  Wie  dies  nun  sei,  die 
alteuropäische  Neolithik,  die  offenbar  auch  Südeuropa  umfaßte,  steht 
von  Anfang  an  als  polar  entgegengesetztes  Gebiet  dem  Süden  mit 
seinen  völlig  anders  gerichteten  Kunsttendenzen  gegenüber.  Nicht  die 
symbolische  Darstellung  abstrakter  Kräfte,  sondern  der  unmittelbare 
Eindruck  der  sinnlichen,  von  der  Natur  gegebenen  Wirklichkeit  war 
hier  der  Ausgangspunkt.  Es  unterliegt  keinem  Zweifel,  daß  bei  allen 
sich  ablösenden  Vertretern  der  Südkultur,  in  Vorderasien,  Ägypten, 
Kreta,  Griechenland,  Rom,  dieses  sinnlich-naturalistische  Moment  sich 
fortpflanzt  —  die  jeweiligen  direkten  Zusammenhänge  lassen  sich  nach- 
weisen —  und  daß  dieses  mit  zu  der  schnellen  Entwicklung  der  über- 
legenen bildenden  Kunst  im  Süden  geführt  hat. 

Nichts  ist  nun  so  interessant,  als  zu  sehen,  wie  diese  beiden  polar 
entgegengesetzten  Kulturen  aufeinander  eingewirkt  haben,  wie  die  Aus- 
strahlungen des  höher  entwickelten  Südens  im  Norden  aufgenommen 
wurden,  wie  dieser  die  aus  dem  Süden  eingedrungenen  Formen  assi- 
miliert hat.  Das  erste  Beispiel  des  Vorganges  ist  in  der  Steinzeit  in 
der  viel  umstrittenen,  aber  noch  nie  erklärten  Spiralmäander-Ornamentik 
der  bandkeramischen  Familie  zu  finden. 

Daß  diese  bandkeramische  Kultur  von  südlichen  Einwirkungen 
abhängig  sein  muß,  wird  wohl  kaum  mehr  bestritten,  sogar  Kossinna, 


')  J.  E.  Oautier  et  O.  Lampre  und  Edm.  Pottier  in  Dflegation  en  Perse,  M6- 
moires,  Tome  VIII  und  XIII. 


420  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 


der  sonst  immer  die  Möglichkeit  einer  südlichen  Beeinflussung  grund- 
sätzlich bekämpft,  gibt  zu,  daß  sie  ihr  Angesicht  nach  Süden  wen- 
det i).  Bis  an  den  Rhein  hat  man  die  Spondylusmuscheln  des  Roten 
Meeres  und  sogar  rezentes  Elfenbein  gefunden,  und  deutlich  ist  die 
Verbreitung  der  bandkeramischen  Formen  von  der  unteren  Donau  bis 
nach  Thüringen  und  Belgien,  also  von  Südost  nach  Nordwest,  die 
großen  Verkehrswege  begleitend,  zu  verfolgen.  Dabei  lassen  sich  drei 
Formgruppen  unterscheiden:  der  entartete  Spiralmäanderstil  des  nord- 
westlichen Randgebietes  am  Rhein,  in  Nordböhmen,  Sachsen  usw., 
dessen  bekanntester  Vertreter  die  Keramik  von  Flomborn  (Mittelrhein) 
darstellt,  während  wir  in  den  sogenannten  Stichband-  und  Hinkelstein- 
gruppen  meines  Erachtens  nur  die  Übersetzung  oder  das  Umschlagen 
des  fremden  Spiralvolutenstils  in  die  geradlinige  Stiltradition  des  Nor- 
dens vor  uns  haben  ^).  Zweitens  haben  wir  vor  allem  in  Böhmen  und 
Bosnien  (Butmir)  die  Blüte  des  geometrisch  exakten  Spiral-  und  Wellen- 
ornaments, in  Böhmen  als  Gefäßmalerei,  in  Bosnien  zum  Teil  eingeritzt, 
zum  Teil  plastisch  aufgelegt.  Nach  dem  Osten,  im  pontischen  Gebiet 
an  den  nördlichen  Zuflüssen  des  Schwarzen  Meeres,  ist  eine  dritte 
bandkeramische  Gruppe  zu  unterscheiden.  Hier  verliert  das  gemalte 
Vasenornament  den  streng  geometrischen  Charakter,  der  für  die  mittel- 
europäische Spiralornamentik  bezeichnend  ist.  Die  Muster  bekommen 
einen  kolloidalen  Charakter,  es  ist  da  ein  unaufhaltsames  Fließen,  und 
Gleiten  von  Linien,  die  an  die  Figuren,  welche  sich  in  der  auf  dem 
Wasser  schwimmenden  Ölschicht  bilden,  erinnern.  Es  ist  ein  endloses 
Schwellen  und  Sichzusammenziehen,  wobei  rein  pflanzliche  Formen, 
Ranken  mit  Blättern  (Bilcze,  Ostgalizien),  auftreten  können. 

Für  diese  höchst  eigenartige  Kunst  kann  ich  nur  eine  Parallele 
finden,  nämlich  in  der  mittelminoischen  Vasenmalerei  Kretas.  Hier,  in 
der  Familie  der  Kamaresgefäße,  ist  ein  gleiches,  manchmal  überraschend 
ähnliches  Verschmelzen  vom  Vegetabilischen  und  Geometrischen  zu 
finden,  das  gleiche  Bestreben,  nicht  Pflanzen  darzustellen,  sondern 
das  organische  Leben  der  Pflanze  schlechthin  wiederzugeben.  Daß 
daneben  die  Spirale  selber  eine  bedeutende  Rolle  spielt,  ist  nicht  ein- 

')  O.  Kossinna,  Die  deutsche  Vorgeschichte. 

^)  Die  formale  Abhängigkeit  der  Hinkelsteinformen  von  den  Spiralvoluten  Flom- 
borns  scheint  mir  zweifeisfrei  nachweisbar  und  ist  für  uns  wichtig,  weil  damit  die 
beliebte  technische  Erklärung  des  Hinkelsteinmusters  aus  einer  Umschnürung  der 
Gefäße  hinfällig  wird.  Daß  die  stratigraphischen  Angaben  Kohls  dem  zu  wider- 
sprechen scheinen,  hat  bei  der  annähernden  Gleichzeitigkeit  beider  Gruppen,  die  wir 
voraussetzen  müssen,  nichts  zu  sagen;  die  spätere  Datierung  Hinkelsteins  entspricht 
der  eng  verwandten  Stichbandkeramik  (Böhmen).  Ich  hoffe  die  ungemein  inter- 
essante, aber  verwickelte  Beziehung  zwischen  den  verschiedenen  grad-  und  krumm- 
linigen bandkeramischen  Gruppen  an  anderer  Stelle  zu  erörtern. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  421 

mal  das  wichtigste,  die  Familienverwandtschaft  mit  dem  pontischen 
Ornament  liegt  tiefer  und  ist  nicht  von  einzelnen  Motiven  abhängig. 

Kreta  bietet  nun  aber  die  Gelegenheit,  die  Entstehung  dieses 
naturalistischen  Ornaments  zu  erklären.  Der  gründliche  Umschlag  von 
der  alteuropäisch  geradlinigen,  eingeritzten  und  später  aufgemalten 
Ornamentik  zum  lebendigen,  freien,  sinnlichen  Ornamentstil  und  der 
hoch  entwickelten  bildenden  Kunst  der  minoischen  Blütezeit  beruht 
offenbar  auf  der  Einwirkung  der  Kunst  und  Kultur  des  alten  Süd- 
ostens: Vorderasien  und  Ägypten. 

Sehen  wir  nun,  daß  neben  dem  vegetabilisch-geometrischen  Oefäß- 
ornament  des  pontischen  Gebietes  auch  figürliche  Darstellungen  von 
Mensch-  und  Tiergestalten  auftreten,  die  nur  und  allein  in  der  prä- 
historischen Kunsftradition  Mesopotamiens  (Elam),  Ägyptens  und  der 
Kykladen  (Melos)  eine  Parallele  finden,  dann  müssen  wir  mit  der 
Wahrscheinlichkeit  rechnen,  daß  auch  die  Nord-  und  Westküsten  des 
Schwarzen  Meeres,  es  sei  durch  Handelsverkehr  oder  Kolonisation, 
in  unmittelbarer  Berührung  mit  der  SüdkuHur  gestanden  haben  '),  Auf 
diesen  fremden  Ursprung  weist  auch  das  spätere  spurlose  Verschwin- 
den der  pontischen  Kultur. 

Hiermit  gelangen  wir  zu  der  Lösung  des  Rätsels  von  der  Spiral- 
mäander-Ornamentik. Diese  ganze  sogenannte  Bandkeramik  verbreitet 
sich  längs  Donau,  Neckar  und  Rhein  über  ein  Gebiet,  das  durch  die 
Wasserwege  mit  dem  hochentwickelten  Süden  in  Verbindung  steht, 
ein  Gebiet,  das,  vor  dem  Aufblühen  der  italischen  Kulturen,  die  an- 
gewiesene Ausgleichszone  zwischen  den  beiden  polar  entgegengesetzten 
Kunsttendenzen  des  Nordens  und  des  Südens  darstellt.  Sie  bringt 
Formen,  die  mit  der  gebogenen  Linie  in  prinzipiellem  Gegensatz  zu 
der  rein  ornamentalen,  struktiv-symbolischen  und  damit  geradlinigen 
Kunst  des  alten  Europas  stehen.  Sie  ist  über  das  ganze  mitteleuro- 
päische Gebiet  hin  vergesellschaftet  mit  einer  Idolplastik,  wofür  es  im 
Norden  nirgends,  im  Süden  zahllose  Parallelen  gibt.  Sie  arbeitet  mit 
den  Mitteln  der  bildenden  Kunst,  Malerei  und  Plastik,  und  nimmt  nach 
der  Donaumündung  zu  mehr  und  mehr  einen  vegetabilen,  organischen 
Charakter  an,  um  schließlich  Formen  zu  zeigen,  die  nur  mit  der  natura- 
listischen Kunst  des  Südens  in  Zusammenhang  gebracht  werden  können. 
Aus  diesen  Tatsachen,  die  ich  nur  ganz  kurz  andeuten  kann,  glaube 


')  Herodot  berichtet,  daß  die  Griechen  eine  Kolonie  am  unteren  Dnjepr  be- 
saßen, die  sich  bis  40  Tagreisen  flußaufwärts  erstreckte.  —  Die  Wahrscheinlichkeit 
eines  Zusammenhanges  der  pontischen  Kultur  mit  dem  prähistorischen  Ägypten, 
Elam,  Summerien,  findet  neuerdings  eine  interessante  Bestätigung  durch  die  Aus- 
führungen Rostvozeffs  (Journal  of  egypt.  archeol.  VI  1,  1920),  die  besonders  das 
Kubangebiet  in  die  genannten  prähistorischen  Kulturen  einbeziehen  will. 


422  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

ich  den  Schluß  ziehen  zu  dürfen:  das  Spiralmäander-Ornament 
der  mitteleuropäischen  Bandkeramik  ist  nichts  anderes 
als  das  Ergebnis  einer  Einwirkung  der  naturalistischen 
Kunst  des  Südens  auf  die  geometrisch-abstrakte,  Kräfte 
symbolisierende  Ornamentkunst  des  alten  Europas,  die 
wir  in  ihrer  reinsten  Gestalt  in  der  nordischen  Neolithik  vor  uns  haben 
und  dort  studieren  müssen.  Mit  Kürbissen  hat  das  freie  Spiralvoluten- 
Bandornament  so  wenig  zu  tun,  wie  das  nordische  geradlinige  mit 
Korbflechtereien.  Wir  verstehen,  daß  in  reinen  Kürbisgebieten  wie 
Spanien,  Südfrankreich,  Italien,  das  bewußte  Ornament  gar  nicht  oder 
erst  spät  und  dann  aus  dem  Osten  eingeführt  auftritt;  es  war  nicht 
abhängig  von  Kürbissen,  sondern  von  der  Einwirkung  der  natura- 
listischen Ornamentik  und  bildenden  Kunst  des  Südostens.  Und  weiter 
verstehen  wir,  daß  das  rein  geometrische  Spiralornament  nicht  an  der 
Donaumündung,  wo  der  naturalistische  Einfluß  vorherrschte,  entstand 
und  auch  nicht  am  Rhein,  wo  die  geradlinige  Überlieferung  mächtig 
war,  sondern  in  einer  mittleren  Zone.  Hier,  in  Böhmen,  Bosnien, 
ist  die  gleichmäßigste  gegenseitige  Durchdringung  der  südlichen  und 
der  nordischen  Kunst,  hier  waren  offenbar  die  günstigsten  Verhältnisse 
gegeben,  um  aus  den  beiden  Stammeltern  eine  neue  Rasse  mit  reinen 
Merkmalen  hervorgehen  zu  lassen. 

Die  ganz  mathematische  Gestalt  dieser  Spiralen,  ihre  streng  rhyth- 
mische Einordnung  in  Reihen,  die  um  das  Gefäß  laufen,  in  Zonen;  die 
Bauch  und  Schultern  begleiten,  das  Auftreten  eines  geradlinigen  Rand- 
ornaments, das  sind  alles  Merkmale  der  alten,  nordischen  geometrisch- 
ornamentalen Kunstüberlieferung. 

Die  Spirale  der  mitteleuropäischen  Steinzeit  ist  die  Übersetzung 
eines  südlichen  naturalistischen  Ornaments  in  die  Sprache  des  Nordens. 
Sie  ist  eine  Bastardform  der  beiden,  einander  scharf  entgegengesetzten 
Formenrassen  des  Südens  und  des  Nordens.  In  den  drei  bandkera- 
mischen Provinzen,  die  sich  vom  Schwarzen  Meer  bis  zum  Rhein 
ausdehnen,  können  wir  die  verschiedenen  Stadien  dieser  höchst  be- 
merkenswerten Auseinandersetzung  zwischen  den  beiden  künstlerischen 
Tendenzen  schon  in  der  Steinzeit  erkennen. 


II.  Die  Entwicklung  der  ornamentalen  Kunst 
im  nordischen  Altertum. 

Die  Bekämpfung  der  technisch-materialistischen  Auffassung  des  prä- 
historischen Ornaments  hat  dem  Versuch  eines  Aufbaus  der  prähisto- 
rischen Kunstentwicklung  voranzugehen,  denn  durch  sie  erhält  diese 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  423 

frühe  Kunst  wieder  den  selbständigen  geistigen  Charakter,  der  sie  für 
die  kunstwissenschaftliche  Behandlung  geeignet  macht.  Ich  habe,  an- 
knüpfend an  die  Korbfiecht-  und  Kürbistheorie,  nur  die  bekanntesten 
Deutungen  berücksichtigt,  weil  mir  die  Methode  der  Bekämpfung 
und,  daran  anschließend,  die  Darlegung  der  eigenen  kunstwissenschaft- 
lichen Betrachtungsweise  wichtiger  schien  als  die  Widerlegung  der 
vielen  einzelnen  hier  in  Betracht  kommenden  Deutungsversuche,  mögen 
diese  nun  an  Korbgeflechte  oder  Kürbisse,  Stickerei  oder  Selbstbemalung 
oder  auch  an  die  zufällige  Verschiebung  textiler  Muster  (zur  Erklärung 
der  Spiralvoluten-  und  Mäanderformen)  anknüpfen.  Ganz  abgesehen 
von  der  Tatsache,  daß  es  keinen  Sinn  hat,  bei  der  Erklärung  von 
Kunstformen  das  geistige  Moment  auszuschalten  und  sie  damit  als 
etwas  anderes  denn  als  Kunstformen  hinzustellen,  war  es  möglich,  die 
technisch-materialistische  Richtung  auf  ihrem  eigenen  Gebiete  anzu- 
greifen, durch  den  Nachweis,  daß  die  Schlußfolgerungen,  zu  denen  sie 
nötigt,  Schlag  auf  Schlag  den  Tatsachen  widersprechen.  In  den  fol- 
genden Ausführungen  soll  nun  versucht  werden,  die  Entwicklung  der 
prähistorischen  nordischen  Kunst  bis  zum  Eintritt  des  Mittelalters  in 
kurzen  Zügen  darzulegen  und  damit  eine  Grundlage  zu  schaffen  für 
das  noch  immer  nicht  geschriebene  erste  Kapitel  der  nordeuropäischen 
Kunstgeschichte. 

Bei  der  Erklärung  des  geradlinigen  neolithischen  Ornaments  wurde 
schon  kurz  auf  die  Entwicklungstendenzen  dieser  frühesten  Kunst  hin- 
gewiesen. Grundlage  für  das  Ornament  der  Steinzeit  war  ein  hori- 
zontal-vertikales System  von  geraden  Linien  als  der  symbolische  Aus- 
druck der  in  den  wagrechten  und  senkrechten  Querschnitten  beschlos- 
senen Struktur  des  Gefäßes.  Dabei  wurden  bestimmte  Stellen  bevor- 
zugt: der  Rand,  der  Halsansatz,  die  größte  Ausweitung  des  Bauches 
(Abbildung  1).  Es  sind  Stellen,  die,  weil  von  hervorragend  tektonischer 
Bedeutung,  den  größten  Anreiz  zu  dieser  rein  formalen  Deutung 
auslösten.  Das  Wachstum  ist  nun  in  erster  Linie  ein  quantitatives: 
eine  Ausbreitung  des  Kristallisationsprozesses  auch  über  Teile,  wo  ein 
solcher  starker  Anreiz  nicht  durch  die  Form  des  Trägers  gegeben  war. 
Ein  Beispiel  liefern  unter  anderem  die  ungegliederten  Megalithschüsseln 
mit  schräg  aufsteigender  Wandung,  die  nun  trotzdem  in  Zonen  ein- 
geteilt und  ganz  mit  senkrechten  Rippen  und  wagrechten  Strichen 
überdeckt  wird.  Das  geradlinige  Ornament  hält  sich  nicht  mehr  krampf- 
haft an  bestimmten,  stark  dazu  einladenden  Stellen,  es  wird  unab- 
hängiger vom  Träger  —  dient  nicht  mehr,  sondern  begleitet  (Ab- 
bildung 2).  Diese  Emanzipation  gegenüber  dem  Träger  führt  dann  zu 
der  dritten  Phase  der  geradlinigen  Ornamentik:  diese  hat  ein  eigenes 
Leben  unabhängig  von  ihren  ursprünglichen  Daseins-  und  Entstehungs- 


424  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

bedingungen,  die  in  der  Struktur  des  Trägers  begründet  lagen.  Da 
die  bekannten  norddeutschen  neoiithischen  Gruppen  dieser  dritten  Ent- 
wicklungsphase, die  schon  hier  und  da  mit  dem  ersten  Auftreten  der 
Metalle  zusammenfällt,  angehören,  möchte  ich  hier  etwas  eingehender 
die  Wachstumszeichen  dieses  letzten  Stadiums  erörtern. 

Vor  allen  Dingen  wird  die  tektonische  Aufgabe,  die  das  Orna- 
ment zu  erfüllen  hat,  vager  oder  verschwindet  ganz.  Es  knüpft  an 
Stellen  an,  denen  nur  eine  untergeordnete  tektonische  Bedeutung  zu- 
kommt —  z.  B.  Ansatzstellen  der  Henkel  — ,  vernachlässigt  die  Stellen 
primärer  tektonischer  Bedeutsamkeit,  läuft  über  diese  hinweg.  Die 
Ansatzsfellen  des  Ornaments  selber  werden  unbestimmter  —  es  ent- 
stehen schwebende  Muster.  Die  regelmäßige  Reihung  von  Ele- 
menten, welche  den  gleichmäßigen  Verlauf  in  den  wagrechten  Zonen 
des  Gefäßes  begleiten,  wird  unterbrochen,  Reihen  sekundärer  Ordnung 
werden  eingeschoben.  Die  vertikalen  und  horizontalen  Liniensysteme 
vermischen  sich,  d.  h.  die  deutliche  Sprache  der  Rand-  und  Wandlinien 
geht  infolge  der  wiederholten  Unterljrechung  durch  andersgerichtete 
Elemente  verloren.  Das  sind  die  bezeichnendsten  Merkmale  des  Orna- 
ments mit  Beziehung  zum  Träger.  Bei  der  morphologischen  Betrach- 
tung der  Ornamentform  selber  tritt  der  eigentümliche  Charakter  der 
dritten  Phase  noch  schärfer  hervor.  Da  ist  besonders  auf  das  Auf- 
treten der  Diagonale  hinzuweisen,  die  einen  größeren  Teil  der  Wand- 
fläche durchläuft,  d.  h.  eine  Aufhebung  des  horizontal-vertikalen  » Rippe- 
Rückgraf  Systems  s  worauf  der  Ursprung  des  geradlinigen  Ornaments, 
seiner  struktiv-symbolischen  Aufgabe  gemäß,  beruhte.  Ebenso  bezeich- 
nend ist  das  Verlassen  des  Linearornaments  überhaupt  durch  die  Bil- 
dung gemusterter  Flächen  —  schraffierter  Dreiecke  z.  B.  — ,  wobei  die 
Linie  ihre  Bedeutung  als  solche  und  damit  ihren  tektonischen  Wert 
einbüßt:  die  Linie  wird  Füllung.  In  engem  Zusammenhang  mit 
diesem  Auftreten  aneinanderstoßender  gefüllter  Flächen  steht  die  nun 
dann  und  wann  anzutreffende  scheinbare  oder  wirkliche  Nachbil- 
dung von  Flechtmustern.  Die  Wand  wird  wie  durch  ein  Geflecht 
verhüllt,  der  äußerste  Gegensatz  zum  ursprünglichen  Skelett  oder  Ge- 
rüst der  struktiv-symbolischen  Linien  wird  erreicht.  Äußerst  bezeich- 
nend ist  weiter  der  nun  oft  auftretende  Umschlag  von  Grund  in 
Muster,  Muster  in  Grund,  und  im  Zusammenhang  damit,  das 
Erscheinen  negativer  Muster.  Ein  solches  Muster  finden  wir 
z.  B.,  wenn  zwei  Reihen  schraffierter  Dreiecke  einen  Teil  der  nackten 
Wand  einschließen,  der  nun,  je  nachdem  die  gegenüberliegenden  Drei- 
ecke sich  mit  den  Spitzen  berühren  oder  wechselnd  angeordnet  sind, 
als  ein  Rauten-  oder  ein  Zickzackmuster  erscheint;  es  kann  aber  das 
fragliche  Muster  auch  einfach  aus  dem  gleichmäßig  gemusterten  Grund 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  425 

ausgespart  werden.  Die  Wand,  ursprünglich  Trägerin  des  Musters, 
wird  also  selber  zum  Muster,  während  umgekehrt  die  gemusterte  Fläche 
als  Grund  oder  als  Trägerin  wirkt  (Abbildung  3).  Andere  charakte- 
ristische Erscheinungen  sind:  die  Bildung  von  in  sich  selbst  zusammen- 
hängenden und  damit  von  der  Wand  unabhängigen  Bändern,  deren 
selbständiges  Wesen  oft  noch  durch  punktierte  Trennungslinien  her- 
vorgehoben wird.  Dabei  kann  es  zur  bewußten  Nachbildung  fremder 
Gegenstände,  Bänder  mit  Troddeln  usw.  kommen.  Endlich,  um  nur 
das  Wichtigste  zu  erwähnen,  ist  das  Auftreten  von  komplizierten,  in 
sich  zusammenhängenden  Ornamentsystemen  zu  beachten  und  von 
reicher  gegliederten,  selbständigen  Motiven,  die  nun  oft  an  das  Ske- 
lett organischer  Lebensformen  anklingen:  Tannenzweige,  Farn- 
blätter, Fischgräten  usw. 

Kurz  zusammengefaßt,  bedeuten  diese  Merkmale  einmal:  die  Ent- 
bindung des  geometrischen  Ornaments  von  seiner  ersten  Pflicht, 
den  Bau  des  Trägers  —  des  Gefäßes  —  zu  veranschaulichen,  d.  h. 
das  Freiwerden  des  Ornaments  von  seinem  Träger,  des 
Musters  von  seinem  Grund.  Und  zweitens:  die  Entwicklung  der 
kristallinischen  Form  zu  Gebilden,  die  schließlich  die  ornamentale 
Bindung  nicht  mehr  vertragen.  Das  geradlinige  Ornament  ist 
nicht  mehr  dienend,  nicht  mehr  begleitend,  sondern 
herrschend.  Es  bleibt  aber  bis  zuletzt  geradlinig,  kristalli- 
nisch. 

Es  ist  klar,  daß  mit  der  Entfaltung  dieser  dritten  Phase  ein  Krisis- 
zustand  geschaffen  wurde,  der  die  gleichmäßig  fortschreitende  Ent- 
wicklung, die  wir  seit  der  horizontalen  Randlinie  der  Muschelhaufen- 
gefäße verfolgen  konnten,  nicht  mehr  gestattet.  Das  Ornament  verliert 
buchstäblich  den  Grund  unter  den  Füßen,  es  macht  diesen  Grund 
selber  zum  Ornament  oder  versteckt  ihn  unter  eine  geschlossene  Hülle 
oder  auch  es  breitet  sich  in  willkürlichen  Motiven  rücksichtslos  darüber 
aus.  Es  ist  nötig,  dies  einzusehen,  um  die  völlige  Umkehr  in  der  Ent- 
wicklung der  nordischen  Kunst,  die  mit  dem  Erscheinen  der  Metalle 
einsetzt,  verstehen  zu  können.  Es  ist  in  der  Tat  möglich,  scharf 
zwischen  der  Form  der  Steinzeit  und  der  der  Bronzezeit  zu  unter- 
scheiden. Die  Kunst  der  Bronzezeit  setzt  sich  ein  ganz  neues  Ziel; 
sie  entsteht  nicht  mehr  durch  Evolution,  sondern  durch  das  revolutio- 
näre Bekennen  zu  einem  völlig  neuen  Grundsatz. 

Wer  aber  die  Kunstform  als  den  sinnfälligen  Ausdruck  des  Geistes 
begreift,  wird  darauf  gefaßt  sein,  daß  diese  radikale  Neuorientierung 
ebenso  auf  anderen  Gebieten  ihren  Ausdruck  gefunden  hat,  z.  B.  in  der 
Auffassung  vom  Verhältnis  zwischen  Körper  und  Seele:  die  Leichen- 
bestattung wird   allmählich  ersetzt  durch   die  Leichenverbren- 


426  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

nung.    über  den  engen  inneren  Zusammenhang  dieser  beiden  Vor- 
gänge später  einige  Worte. 

Das  neue  Ziel,  das  die  Kunst  des  Bronzealters  sich  setzt,  tritt 
schon  bei  einer  Betrachtung  der  Keramik  selber  in  die  Erscheinung, 
obwohl  diese  nicht  mehr  die  Trägerin  der  neuen  Form  ist  und  inso- 
fern auch  unser  Interesse  hier  nur  nebenbei  beanspruchen  darf.  Die 
verschiedenen  Gruppen  der  Bronzezeitkeramik  gehen  außerordentlich 
auseinander,  sie  zeigen  aber  alle  einen  gleichen  Unterschied  der  Stein- 
zeit gegenüber  dadurch,  daß  das  geradlinige  Ornament,  das  uns  im 
Laufe  der  dritten  Phase  reif  schien,  sich  abzutrennen,  nun  in  der  Tat 
abgestoßen  oder  doch  höchstens  nur  geduldet  wird.  Dagegen  greift 
man  wieder  ganz  allgemein  auf  das  primitive  Tupfenornament  zurück, 
schneidet  und  stempelt  ein  geometrisches  Ornament  tief  ein  (Zellen- 
schnitt in  Frankreich,  »geschnitzte«  Gefäße  Süddeutschlands),  arbeitet 
gerne  mit  plastischen  Verzierungen,  Riefen  oder  Buckeln,  die  zu  spitzen 
Hörnern  auswachsen  können  (Lausitzer  Buckelkeramik).  Noch  bezeich- 
nender ist,  daß  man  in  einigen  keramischen  Gruppen,  besonders  in 
Süd-  und  Mitteleuropa,  nicht  mehr  von  der  natürlich  gegebenen  Zweck- 
form ausgeht  und  diese  nachträglich  mit  einem  eingeritzten  oder  auf- 
gemalten Ornament  verziert,  sondern  daß  man  die  Form  selber  stili- 
siert und  dabei  vielfach  auf  jede  weitere  Verzierung  verzichtet.  Der 
Träger  selber  unterzieht  sich  einer  Formveränderung,  das  Gefäß  wird 
von  Grund  auf  neu  aufgebaut,  nicht  nach  den  natürlichen  Anforde- 
rungen, sondern  nach  einem  künstlerischen  Grundsatz,  der  alle  Teile 
beherrscht,  sie  nach  einem  vorgefaßten  Plan  scharf  einander  gegen- 
überstellt und  durch  kantige  Profile  trennt,  die  oft  durch  das  Auf- 
einanderstoßen von  konkaven  und  konvexen  Teilen  entstehen  —  das 
natürlich-keramische,  weiche,  runde  Profil  geht  verloren.  Man  hat  in 
diesen  Formen,  die  schließlich  in  die  bekannten  schönen  Typen  der 
klassischen  Keramik  münden,  den  Einfluß  von  Metallgefäßen  sehen 
wollen.  Das  ist  zum  Teil  sicherlich  unrichtig,  denn  eine  solche  scharfe 
Profilierung  und  künstlerische  Unterscheidung  der  Teile  finden  wir 
schon  in  der  frühesten  Metallzeit  Spaniens  (El  Argar),  wo  von  Metall- 
gefäßen noch  keine  Rede  sein  kann.  Unter  dem  Gesichtspunkt  einer 
solchen  Stilisierung  der  Zweckform  ist  weiter  die  Hypertrophie  ein- 
zelner Teile  zu  betrachten:  Henkel  mit  flügelartigen  Auswüchsen  {Ansa 
liinata  der  Terramaren,  Böhmen);  auch  die  soeben  erwähnte  Buckel- 
keramik könnte  in  diesem  Zusammenhang  genannt  werden.  Eine  be- 
sondere Form  dieses  Verlassens  der  natürlichen  Gestalt  und  ein  Über- 
greifen in  das  Gebiet  der  bildenden  Kunst  bedeuten  schließlich  die 
Hausurnen  der  späteren  Bronzezeit  und  die  anthropomorphen  Urnen, 
die  im  Süden  (Troja)  gleichzeitig  mit  dem  Erscheinen  der  Metalle  auf- 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  427 

treten,  im  Norden  mindestens  1000  Jahre  später  ihren  Eingang  halten 
(westpreußische  Oesichtsurnen). 

Von  mehr  unmittelbarer  Bedeutung  ist  für  uns  der  Umschwung 
im  Norden.  Hier,  wo  sich  in  der  Steinzeit  die  höchste  Blüte  der 
geradlinigen  Ornamentik  vollzog,  wird  nun  jede  Verzierung  abgeworfen; 
die  norddeutsch-skandinavischen  Tongefäße  der  Bronzezeit  sind  orna- 
mentlos und  gehören  zum  Nüchternsten,  was  man  sich  auf  diesem 
Gebiet  vorstellen  kann.  Desgleichen  entbehrt  die  früh-bronzezeitliche 
Keramik  im  östlichen  Mitteleuropa  (Aunjetitzer  Keramik)  jeder  Ver- 
zierung. 

In  all  diesen  Fällen,  vom  völligen  Verschwinden  des  Ornaments 
in  der  nordeuropäischen  Keramik  bis  zu  der  phantastischen  Umgestal- 
tung der  Oefäßform  im  Süden,  sehen  wir  also,  daß  das  ästhetische 
Interesse  sich  von  der  natürlichen  Grundform  abwendet;  von  einer 
erläuternden  Illustration  derselben,  der  das  neolithische  Ornament  einst 
sein  Entstehen  zu  verdanken  hatte,  kann  nicht  mehr  gesprochen  werden. 
Damit  sind  wir  in  bezug  auf  das  jetzt  zu  behandelnde  Ornament  der 
Bronzezeit  schon  auf  eines  gefaßt:  dieses  kann  nicht  mehr  in  erster 
Linie  darauf  gerichtet  sein,  die  in  dem  zu  schmückenden  Gegenstand 
wirkenden  Kräfte  zu  unterstreichen.  Eine  negative  Folge  davon  ist 
schon  diese,  daß  das  Ornament  nicht  mehr  geradlinig  zu  sein 
braucht. 

Mit  der  Abtrennung  des  Ornaments  von  der  Keramik  hat  unsere 
weitere  Untersuchung  sich  ausschließlich  auf  die  Metallgegenstände 
der  Bronzezeit  zu  richten,  auf  die  Verzierung  von  Waffen  und  Werk- 
zeugen, Schmucksachen  und  Toilettegeräten.  Warum  das  gleiche  Orna- 
ment, dem  wir  hier  begegnen,  nicht  auf  der  Wand  der  Tongefäße 
angebracht  wurde,  ist  nicht  ohne  weiteres  ersichtlich.  Der  Hauptgrund 
scheint  mir  der,  daß  das  äußerst  feine  Linienspiel,  das  in  die  blank 
polierte  Bronze  eingeschlagen  wurde,  in  dem  Ton  nicht  zur  Geltung 
gelangen  konnte,  und  nur  diese  Metallgegenstände,  die  schon  durch 
das  kostbare  Material  einen  hohen  Wert  darstellten  und  an  und  für 
sich  Schmuckwert  besaßen,  der  neuen  Verzierung  würdig  befunden 
wurden.  Außerdem  war  es  wohl  eine  Unmöglichkeit,  das  in  Frage 
stehende  feine  Ornament  in  die  Gefäßwand  zu  ritzen.  Im  Gegensatz 
zum  gegossenen  homogenen  Metall  war  der  Ton,  wie  fein  auch  ge- 
schwemmt, ein  grobes  Material;  das  Ornament  mußte  schnell,  in  noch 
weichem  Zustande  —  al  fresco!  —  eingegraben  werden,  und  dabei 
entstanden  auf  beiden  Seiten  der  Schnitte  Grate,  die  das  zarte  Linien- 
spiel verwischt  und  vernichtet  hätten.  Die  Wahl  dieses  neuen  Grundes, 
des  Metalls,  und  das  Verlassen  der  Gefäßwand  erinnert  einigermaßen 
an  den  späteren  Übergang  von  Wand-  zur  Tafelmalerei.    Die  erstaun- 


428  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

lieh  feinen  und  präzisen  Formen  der  neuen  Kunst  waren  nur  auf  dem 
blanken  Metall  möglich,  und  was  vorher  in  nur  wenigen  Stunden 
fertig  sein  l<onnte  und  mußte,  erforderte  jetzt  vielleicht  ebensoviele 
Monate. 

Im  Gegensatz  zur  jüngeren  Steinzeit,  deren  aufeinanderfolgende 
Abschnitte  nur  in  großen  Umrissen  mit  Sicherheit  festgestellt  werden 
können,  sind  die  Entwicklungsphasen  der  Bronzeperiode  durch  die 
grundlegenden  Arbeiten  Oskar  Montelius'  und  Sophus  Müllers  mit 
ziemlich  großer  Genauigkeit  bekannt.  Montelius'  Einteilung  in  6, 
später  5,  Abschnitte  ist  von  den  meisten  Forschern  als  prinzipiell  richtig 
anerkannt  und  übernommen  worden.  Sophus  Müller  will  für  Däne- 
mark die  Abschnitte  I  und  VI  abtrennen  (Splieth  betont  dagegen  das 
Vorhandensein  von  I  für  Schleswig'));  Beltz  faßt  für  Mecklenburg  die 
Abschnitte  II — III  und  IV — V  zusammen  ^).  Für  unsere  Zwecke  scheint 
es  zu  genügen,  vorerst  einmal  eine  frühe  und  eine  späte  Blüteperiode 
der  Bronzezeitkunst  zu  unterscheiden  (Montelius  II  und  V)  und  die 
dazwischen  liegenden  Stufen  als  eine  Zeit  der  Vorbereitung  auf  den 
neuen  Stil,  der  sich  mit  V  durchsetzt,  aufzufassen. 

Und  jetzt  die  Form.  Ein  flüchtiger  Blick  auf  die  zahllosen  Gegen- 
stände, welche  die  reiche  Bronzezeit  Skandinaviens  und  Norddeutsch- 
lands repräsentieren,  läßt  den  Grundcharakter  der  gesamten  bronze- 
zeitlichen Ornamentik  erkennen:  dieser  ist  genau  so  eigensinnig  wie 
der  der  Steinzeit;  hatten  wir  aber  dort  ein  hartnäckiges  Festhallen  an 
der  geraden  Linie,  so  erscheint  die  Kunst  der  Bronzezeit  als  eine  durch- 
gehende Verherrlichung  der  gebogenen  Linie.  Wohl  kann  immer 
noch  an  Stellen,  wo  ein  Abschluß,  eine  Umrahmung,  ein  Rand  er- 
forderlich ist,  ein  geradliniges  Muster  den  strengeren  Dienst  versehen, 
aber  dort,  wo  das  Ornament  den  Platz  findet,  sich  frei  auszubreiten, 
entsteht  sofort  ein  üppiges  Spiel  mit  gebogenen  Linien:  Kreisen, 
Spiralen,  Wellen  usw.  Es  ist  ein  endloses  Kreisen  und  Winden,  Ein- 
und  Ausrollen,  Fließen  und  Ranken,  in  schroffem  Gegensatz  zum  ab- 
gehackt Eckigen,  mathematisch  Berechneten  der  kristallinischen  Form 
der  Neolithik. 

Da,  wie  gesagt,  im  Bereich  der  nordischen  Kunst  selber  nur  die 


')  W.  Splieth,  Inventar  der  Bronzealterfunde  aus  Schleswig-Holstein.   Kie!  1900. 

'0  Rob.  Behz,  Neue  Funde  aus  der  Bronzezeit  in  Mecklenburg.  Jahrb.  d.  Ver. 
f.  Meckl.  Gesch.  1889.  Ich  vermeide  die  Bezeichnung  »Periode«,  welche  hier  für 
die  gesamte  Bronzezeit  —  bzw.  Steinzeit,  Eisenzeit  —  vorbehalten  bleiben  soll;  aus 
diesen  drei  Perioden  baut  die  »Epoche«  des  prähistorischen  nordischen  Altertums 
sich  auf.  Stilkritisch  sind  innerhalb  der  einzelnen  Perioden  -Phasen«  zu  unter- 
scheiden; die  Stilphasen  des  Bronzealters  decken  sich  aber  nur  zum  Teil  mit  Mon- 
telius' 6  bzw.  5  Abschnitten. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT,  429 

negativen  Vorbedingungen  zum  Entstehen  dieser  grundsätzlich  neuen 
Formenweit  gegeben  sind,  liegt  es  auf  der  Hand,  daß  man  zu  ihrer 
Eri<lärung  gern  geneigt  ist,  eine  Einwirl<ung  von  auswärts  heranzu- 
ziehen. Ich  darf  hier  nicht  zu  lange  bei  dieser  wichtigen  Frage  ver- 
weilen, möchte  aber  doch  kurz  zwei  Möglichkeiten  fremder  Beeinflus- 
sung erörtern :  durch  das  Spiralornament  der  mitteleuropäischen  Stein- 
zeit und  durch  die  griechische  Bronzezeit  (Mykene). 

Am  wenigsten  annehmbar  scheint  mir  eine  Einwirkung  der  mittel- 
europäischen Spiralornamentik.  Wir  haben  dieses  Ornament  oben 
kennen  gelernt  als  eine  Bastardform  der  streng  geometrischen  ornamen- 
talen Kunst  des  Nordens  und  eines  naturalistischen  Rankenwerks  aus 
der  bildenden  Kunst  des  Südens.  Wir  haben  aber  auch  gesehen,  wie 
der  Norden  auf  diese  Bastardform  reagierte:  sie  wird  an  der  nordischen 
Peripherie  abgebaut,  verdaut,  wird  dann  wieder  zu  einem  neuen  gerad- 
linigen Ornament  aufgebaut  (Hinkelstein-  und  Stichbandgruppen),  wird 
verdrängt  durch  neue  schnurkeramische  Wellen  aus  dem  Norden.  Außer- 
dem ist  zu  beachten,  daß  das  Spiralornament  der  nordischen  Bronze- 
zeit gerade  nicht  an  den  Tongefäßen,  sondern  ausschließlich  auf 
Metallgegenständen  erscheint  und  daß  es  eng  verknüpft  mit  einem 
Motiv  auftritt,  das  die  Bandkeramik  nicht  oder  nahezu  nicht  kannte: 
dem  Kreis  beziehungsweise  den  konzentrischen  Kreisen  mit 
Zentralpunkt. 

Ernsthaft  in  Frage  kommt  eine  Beziehung  zur  Spiralornamentik 
der  mykenischen  Kultur,  um  so  mehr,  weil  wir  immer  auf  eine  Aus- 
strahlung von  Formen  des  höher  entwickelten  Südens  gefaßt  sein 
müssen,  und  die  Kenntnis  des  neuen  Materials  fraglos  dem  Süden  ent- 
nommen wurde.  Was  aber  davor  warnt,  den  Einfluß  aus  dem  Süd- 
osten zu  überschätzen,  ist  der  Umstand,  daß  die  Entwicklung  und 
Verbreitung  bestimmter  Gerättypen  der  Montelius-!-Stufe  auf  eine  erste 
Verbindung  nicht  mit  dem  Südosten,  sondern  mit  dem  Südwesten,  der 
Iberischen  Halbinsel,  hinweisen.  Das  Spiralornament  stammt  aber  nicht 
aus  diesem  Gebiete,  denn  gerade  dort  (El  Argar)  fehlt  es.  Von  Be- 
deutung ist  weiter,  daß  Einfuhr  mykenisch-griechischer  Gegenstände 
im  Norden  nicht  nachzuweisen  ist;  erst  in  der  zweiten  Hälfte  der 
Bronzezeit  setzt  eine  ziemlich  starke  Einfuhr  aus  dem  Süden  ein,  nicht 
aus  Griechenland,  sondern  aus  Italien,  und  wir  sehen  dann,  wie  alt- 
italische Gegenstände  ihren  Weg  quer  durch  Europa  bis  nach  Skan- 
dinavien wählen  und  ihr  eigentümliches  Ornament  dort  verarbeitet  wird. 
Wir  haben  es  dann,  im  späten  nordischen  Bronzealter,  mit- dieser 
typischen  Form  der  Ausstrahlung  zu  tun,  die  wir  schon  bei  der  Be- 
handlung der  mitteleuropäischen  Spiralornamentik  kennen  gelernt  haben 
und  der  wir  später,  in  der  keltischen  und  germanischen  Völkerwande- 


430  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

rungszeit,  wieder  begegnen  werden:  die  fremden  Formen  werden  auf 
mitteleuropäischem  Gebiet,  in  der  Ausgleichszone,  aufgelöst,  abgebaut, 
und  erst  dann  im  Norden  assimiliert  und  umgebaut  zu  Formen,  deren 
fremder  Ursprung  fast  nicht  wiederzuerkennen  ist.  Von  diesem  cha- 
rakteristischen Ausstrahlungsvorgang,  diesem  sfätigen  Anderswerden, 
das  durch  die  Formel  a-ab-b  wiederzugeben  wäre,  ist  nun  aber  in 
der  frühen  Bronzezeit  unter  dem  Einfluß  der  mykenischen  Kunst 
noch  nichts  zu  entdecken.  Das  Spiralornament  erscheint  im  Norden 
in  fertiger  Gestalt,  dem  mykenischen  Ornament  vergleichbar,  jedoch 
wesentlich  feiner,  reicher,  zielbewußter  als  auf  dem  zwischenliegenden 
zentraleuropäischen  Gebiet  (Süddeutschland,  Ungarn).  Aber  auch  wenn 
eine  entfernte  Einwirkung  fremder  Einflüsse  vorhanden  sein  sollte, 
so  setzt  doch  das  plötzliche  und  allgemeine  Auftreten  der  Spiral- 
Kreismotive,  das  entschiedene  Brechen  mit  der  neolithischen  Form, 
der  dauernde  Charakter  und  vor  allem  die  Entwicklung  dieses  Orna- 
ments zu  einem  Reichtum,  der  in  keinem  anderen  Lande  erreicht  wurde, 
eine  Bereitschaft  für  die  neue  Form  voraus,  die  allein  aus  inneren 
Gründen  erklärt  werden  kann. 

Die  technischen  Erklärungen  sind  auch  hier  von  der  Hand  zu 
weisen.  Es  ist  klar,  daß  der  biegsame,  geschmeidige  Charakter  der 
Bronze  einer  rundlichen  Formgestaltung  entgegenkam  und  sogar  zum 
spiraligen  Aufrollen  des  Bronzedrahts  einladen  mußte.  Aber,  schon 
die  metallose  mitteleuropäische  Steinzeit  verwendete  die  Spirale,  und 
umgekehrt  haben  ausgedehnte  Gebiete,  Westeuropa,  Rußland-Sibirien, 
sogar  das  kupferspendende  Zypern,  ein  eigentliches  Spiralornament  zum 
Schmuck  von  Metallgegenständen  nicht  gekannt;  auch  in  der  frühesten 
Bronzezeit  (Montelius  1),  welche  stilistisch  der  Steinzeit  näher  steht, 
fehlt  es.  Es  ist  dabei  zu  beachten,  daß  wohl  unterschieden  werden 
muß  zwischen  der  rein  technischen  Form  der  drahtgewundenen  Spirale 
—  z.  B.  als  Abschluß  von  Nadeln  —  und  dem  entsprechenden  frei 
eingeschlagenen  Linear-  oder  Flächenornament;  die  Hallstattkultur,  welche 
die  erste  vielfach  verwendet,  kennt  die  Spirale  als  Flächenornament 
nicht.  —  Die  durch  nichts  begründete  Deutung  des  Spiralornaments 
aus  der  Nachbildung  von  Stickereien  glaube  ich  hier  übergehen  zu 
können. 

Der  Name  »Spiralornamentik«,  unter  dem  gewöhnlich  die  Zier- 
formen der  nordischen  Bronzezeit  zusammengefaßt  werden,  ist  irre- 
führend, denn  die  Spirale  beschränkt  sich  auf  die  erste  Blüteperiode. 
Bleibend  dagegen  und  von  Anfang  an  mindestens  so  aligemein  ist  ein 
anderes  Motiv,  der  Kreis  oder  die  konzentrischen  Kreise,  und  obwohl 
es  infolge  ungenügender  Datierung  der  Gegenstände  des  früheren 
Bronzealters  noch  nicht  möglich  ist,  den  historischen  und  damit  den 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  43 1 

genetischen  Zusammenhang  zwischen  Kreis  und  Spirale  klarzulegen, 
scheint  es  doch,  daß  es  der  Kreis  und  nicht  die  Spirale  ist,  der  als 
die  Mutterform  der  gesamten  Ornamentik  der  Bronzezeit 
zu  gelten  habe  (Abbildung  4).  In  einem  Fall  ist  es  möglich,  die  histo- 
rische Priorität  des  Kreismotivs  nachzuweisen,  nämlich  bei  den  Schwer- 
tern der  Frühzeit.  Als  Vorbild  des  frühen  nordischen  Bronzeschwertes 
diente  das  mitteleuropäische  Schwert  mit  kantigem,  durch  Nieten  mit 
dem  Blatt  verbundenem  Griff.  Bei  den  süddeutsch-ungarischen  Formen 
knüpft  nun  an  diesen  Kranz  von  Nagelköpfen  um  den  halbrunden  Ab- 
schluß gegen  das  Blatt  ein  eigenartiges  Stückchen  Ornamentgeschichte 
an:  Zuerst  werden  diese  Köpfe  selber  als  Ornament  empfunden  und 
durch  Kreise  umrahmt,  dann  treten  unabhängig  von  den  Nagelköpfen 
konzentrische  Kreise  auf,  und  schließlich  scheiden  diese  Köpfe  aus 
dem  Ornament  aus,  so  daß  ein  reines  Ornament  aus  Kreisen  übrig 
bleibt.  Bei  den  nordischen  Schwertern  mit  rundem  Griff,  welche  auf 
diese  südlichen  Formen  zurückgehen  und  damit  später  sind,  können 
sich  nun  diese  konzentrischen  Kreise  in  ein  Ornament  aus  verbundenen 
Spiralen  verwandeln,  etwas,  was  in  Ungarn,  Bayern  nur  höchst  selten 
vorzukommen  scheint.  Dieser  Fall  ist  lehrreich,  weil  wir  durch  einen 
glücklichen  Zufall  wenigstens  hier  die  Spirale  mit  Sicherheit  als  eine 
spätere  Entwicklungsform  des  Kreises  kennen  lernen. 

Dazu  kommt  folgendes:  Sehr  allgemein  ist  im  Norden  eine  Über- 
gangsform zwischen  konzentrischen  Kreisen  und  laufender  Spirale,  die 
sich  aus  der  Verbindung  der  Kreise  durch  eine  Tangente  ergibt,  so 
daß  scheinbar  eine  laufende,  sich  ein-  und  ausrollende  Spirale  entsteht. 
Betrachten  wir  nun  aber  die  echten  laufenden  Spiralen  der  frühen  nor- 
dischen Bronzezeit,  so  zeigt  sich,  daß  diese  selber  auf  den  ersten  An- 
blick den  Eindruck  von  konzentrischen  Kreisen  hervorrufen,  die  isoliert 
nebeneinander  stehen  und  durch  eine,  oft  kaum  bemerkbare,  tangierende 
Linie  verbunden  werden.  Es  kommt  offenbar  nicht  auf  die  über- 
zeugende Wiedergabe  des  Ein-  und  Ausrollens  und  des  Weiterrankens 
zur  nächstfolgenden  Spirale  an,  sondern  die  Windungen  werden  so 
eng  zusammengelegt,  daß  das  Ganze  aussieht  wie  eine  Reihe  gefüllter 
Kreise  (Abbildung  5).  Sehen  wir  nun  weiter,  daß  im  Gegensatz  zum 
Spiralornament,  das  später  verschwindet,  der  Kreis  sich  als  eine  kon- 
stante Grundform  durch  alle  Entwicklungsphasen  der  Bronzezeit  hält, 
so  gelangen  wir  zu  der  Überzeugung,  daß  das  Kreismotiv,  als  die  ein- 
fachste Gestalt  der  gebogenen  Linie  —  ohne  Krümmungsänderung  — , 
die  Stammform  der  gesamten  stark  differenzierten  bronzezeitlichen  Or- 
namentik darstellt  und  daß  diese  immer  wieder  über  die  Gegenstände 
ausgestreuten  Kreise  oder  konzentrischen  Kreise  mit  Zenfralpunkt  die 
Zellen   sind,  aus  denen  zunächst  die  Spirale  entstand  und  später  die 


432  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

Wellen-  und  Schlangenlinien  hervorwuchsen.  Gerade  in  dem  Vor- 
handensein dieser  Zellen  sehe  ich  den  Beweis  für  den  bodenständigen, 
organischen  Charakter  der  Ornamentik  der  nordischen  Bronzezeit. 

Hiermit  nähern  wir  uns  dem  prinzipiellen  Unterschied  zur  neo- 
lithischen  Kunst.  Die  Grundform  der  Bronzezeit  ist  der  Kreis, 
wie  die  der  Steinzeit  die  gerade  Linie.  Im  Gegensatz  zu  dieser 
ist  der  Kreis  ein  in  sich  selbst  geschlossenes  Individuum,  dessen  Teile 
sich  alle  auf  einen  zentralen  Kern,  den  durchweg  bei  diesen  Kreisen 
oder  konzentrischen  Kreisen  angedeuteten  Mittelpunkt,  beziehen.  War 
die  neolithische  gerade  Linie  nur  auf  dem  Träger  und  durch  ihn  denk- 
bar, so  stellt  sich  das  Grundelement  der  bronzezeitlichen  Kunst  als 
einen  selbständigen  Mikrokosmos  dar,  eine  Form,  deren  ständige  Rich- 
tungsänderung die  ständige  Einwirkung  einer  Kraft  voraussetzt,  deren 
Sitz  sich  nun  aber  im  eigenen  Busen  befindet.  Hiermit  ist  die  grund- 
sätzliche Selbständigkeit  —  und  nicht  die  zunehmende  Befreiung  wie 
in  der  neolithischen  Kunst  —  des  Bronzeornaments  festgestellt.  Zwei 
Individuen,  der  Träger  und  das  Ornament,  treten  nebeneinander,  es 
kann  in  Zukunft  nur  die  Rede  sein  von  einem  freiwilligen  Abkommen, 
einem  modus  vivendi  zwischen  beiden,  in  sich  selbst  ruhenden  Per- 
sönlichkeiten. Schien  das  neolithische  Ornament  aus  dem  Träger  selber 
hervorgegangen,  so  läßt  sich  das  Ornament  der  Bronzezeit  wie  von 
außen  herab  auf  die  Oberfläche  des  Trägers  nieder.  War  das  neo- 
lithische Ornament  dem  tektonischen  Gerüst  des  Trägers  vergleich- 
bar, seinem  Skelett,  das  durch  die  Haut  hindurch  sichtbar  wurde,  so 
ist  hier  eher  an  eine  Tätowierung  der  Haut  zu  denken.  Und  weiter 
lehrt  uns  die  Gegenüberstellung  der  beiden  Grundformen  noch  eines: 
war  das  neolithische  Ornament  kristallinisch  zu  nennen,  so  zeigt  sich, 
wenn  wir  die  Form  der  Bronzezeit  »c6  ovo«  verfolgen,  sofort  der 
völlig  andere,  der  organische  Charakter.  Diese  Kreise  mit  zentralem 
Kern  sind  die  Keimzellen,  der  Samen,  die  Eier,  aus  denen  das  orga- 
nische Leben  sich  entwickelt.  Die  Entwicklung  der  Kunst  in 
der  Bronzezeit  ist  kein  Prozeß  der  Kristallisation,  son- 
dern des  organischen  Wachstums. 

Als  das  erste  Produkt  dieses  Wachstums  tritt  uns  die  ein-  und 
ausrollende  Spirale  entgegen,  die  sich  zum  Kreis  verhält  wie  das  Zick- 
zack zur  geraden  Linie.  Nach  der  Behandlung  des  Spiralornaments 
der  Bandkeramik,  das  sich  als  die  geometrische  Übersetzung  natürlich- 
organischer  Formen  herausstellte,  brauchen  wir  nicht  lange  bei  dem 
organischen  Charakter  der  Spirale  zu  verweilen.  Als  das  Bild  einer 
beim  Fortschreiten  gleichmäßig  wachsenden,  beziehungsweise  abneh- 
menden Spannung  kann  die  Spirale  ohne  weiteres  die  graphische  Dar- 
stellung des  Wachstumsprozesses  heißen,  und   ist  denn  auch  schon 


I 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  433 

früher  als  solche  betrachtet  worden  ').  Im  Pflanzenreich  ist  die  spiralige 
Krümmung  wiederholt  anzutreffen,  sei  es  in  konkreter  Gestalt  an  Ran- 
ken oder  den  noch  nicht  ganz  entfalteten  Blumen-  und  Blätterdolden, 
sei  es  latent  als  die  imaginäre  Linie,  welche  die  Ansatzstellen  der 
Blätter,  Knospen,  Samenkerne  usw.  verbindet.  Von  unmittelbarer  Be- 
deutung ist  hier  die  Tatsache,  daß  denn  auch  im  naturalistischen 
Pflanzenornament,  von  der  griechischen  Ranke  und  dem  korinthischen 
Kapitell  bis  zu  dem  von  den  skandinavischen  Bauern  in  Holz  ge- 
schnitzten Blattwerk,  die  Spirale  immer  wieder  als  Leitmotiv  zum  Vor- 
schein kommt,  und  höchst  bezeichnend  ist  es,  daß  es  umgekehrt  in 
der  geometrischen  Ornamentik  der  Bronzezeit  einzelne  Fälle  gibt,  wo 
die  laufende  Spirale  in  eine  Pflanzenranke  umschlägt  (Ungarn,  vgl. 
J.  Hampel,  Ungarische  Bronzezeit,  Taf.  LXXXV,  1). 

In  der  herrschenden  Rolle,  die  das  Spiralornament  in  der  frühen 
nordischen  Bronzezeit  spielt,  sehe  ich  den  sicheren  Beweis,  daß  wir 
es  hier  in  der  Tat  mit  einem  vegetabilischen  Ornament  zu  tun  haben. 
Nicht  mit  einem  »Pflanzenornament«  —  es  sind  keine  Pflanzen,  die 
nachgebildet  werden,  so  wenig  wie  es  Kristalle  waren,  welche  die 
neolithische  Kunst  nachbildete  und,  es  sei  gleich  hinzugefügt,  so  wenig 
wie  es  Tiere  sind,  die  in  der  germanischen  Eisenzeit  dargestellt  werden. 
Keine  bildende  Kunst  also;  es  bleibt  bei  der  rein  geometrischen  Dar- 
stellung abstrakter  Kräfte.  Nur  ist  das  in  geometrische  Formeln  ge- 
faßte Leben  ein  anderes  geworden,  es  ist  organisch,  pflanzlich  ge- 
worden. Das  vegetabile  Leben  erscheint  in  der  Anlage,  als  mathe- 
matische Abstraktion,  nicht  in  der  Wirklichkeit,  als  naturalistisches 
Bild.  Der  alte  Gegensatz  zu  den  bildkünstlerischen  Tendenzen  des 
Südens  ist  der  gleiche  geblieben. 

Ein  erträgliches  Zusammenleben  dieser  selbständigen  Individuen 
—  Kreise,  Spiralen  —  mit  dem  Träger,  der  doch  seine  Rechte  geltend 
machen  mußte,  konnte  auf  zweierlei  Weise  erzielt  werden.  Das  Ein- 
fachste war  die  Reihung  dieser  Spiralkreise.  Sie  werden  wie  Soldaten 
in  Reih'  und  Glied  aufgestellt  und  richten  sich  nacheinander  auf  Befehl 
des  Trägers,  der  dabei  aber  nur  sich  selber  im  Auge  hat.  So  erscheinen 
an  den  Griffen  der  schon  erwähnten  Schwerter  vielfach  drei  Reihen 
konzentrischer  Kreise,  die  dann  den  Umlauf  des  runden  Griffes  in 
ähnlicher  Weise  begleiten,  wie  die  neolithischen  Striche  den  des  Ton- 
gefäßes. Den  gleichen  Zweck  erfüllen  die  in  kreisförmigen  Bahnen 
eingereihten  Spiralen  auf  den  besonders  schönen  Schmuckplalten  der 

')  Moriz  Carriere,  Ästhetik,  Leipzig  1859,  Tl.  I,  S.  260  ff.  »Als  die  Linie  des 
fortscfircitendeii  Lebens  nun  betrachte  ich  die  Spirale«;  usw.  Aber  schon  Goethe 
schrieb  im  Jahre  1831  über  »die  Spiraltendenz,  wodurch  die  Pflanze  ihren  Lebens- 
gang vollführt«.    (Über  die  Spiraltendenz  der  Vegetation.) 

Zcilschr.  f.  AsIhcUk  u.  allg.  Kunstwissenscluft.    XV.  28 


434  *'•  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

dänischen  Frauengräber  (Abbildung  5).  Aber  zugleich  zeigt  sich  hier 
eine  ganz  andere,  freiere  Form  des  Zusammenlebens:  diese  runden, 
in  der  Mitte  mit  einem  spitzen  Knauf  versehenen  Bronzepiatten  sind 
selber  eine  Verherrlichung  des  Kreises.  Bis  zu  fünfzig  äußerst  fein 
eingepunzte  Kreise  begleiten  den  Rand,  teilen  die  runde  Fläche  in 
Zonen,  in  die  die  soeben  erwähnten  Spiralen  eingeordnet  werden, 
kreisen  in  immer  kleineren  Bahnen  um  die  zentrale  Achse.  Der  Kern, 
die  Seele  des  neuen  ornamentalen  Individuums,  fällt  also  zusammen 
mit  dem  des  Trägers,  beider  Individualitäten  führen  ein  gleiches  Leben. 
Ein  anderes  eigentümliches  Beispiel  einer  ähnlichen  freien  Harmonie 
zwischen  Ornament  und  Träger  sollte  für  die  spätere  Entwicklung  von 
besonderer  Bedeutung  werden.  Es  kommt  nämlich  häufig  vor,  daß 
sich  auf  den  Rand  einer  runden  Fläche  —  Schwertknäufe,  Schmuck- 
platten  —  kleine  Halbkreise  niederlassen,  die  recht  eigentlich  als  eine 
Übersetzung  der  steinzeitlichen  Dreieckreihen  in  die  Formsprache  der 
Bronzezeit  aufzufassen  sind.  Diese  kleinen  Rundbogen,  die  sich  zu- 
nächst mit  ihren  Fußpunkten  auf  den  Rand  stützen,  wachsen  dann  mit 
den  Seiten  zusammen,  und  zugleich  verlassen  ihre  Fußpunkte  den 
Rand  —  statt  einer  Reihe  gesonderter  Stücke  bildet  sich  ein  Stern,  ein 
einziger,  in  der  Mitte  der  runden  Grundfläche  zentralisierter,  nach  außen 
differenzierter  Organismus.  Und  schon  fangen  die  Strahlenspitzen 
—  die  früher  auf  dem  Rand  liegenden  Fußpunkte  der  Bogen  —  an 
zu  treiben:  dort  bilden  sich  kleine  spiralförmige  Häkchen.  Damit  be- 
finden wir  uns  aber  schon  im  Anfang  des  späteren  Entwicklungs- 
prozesses. 

Der  spätere  Abschnitt  der  frühen  Bronzezeit  (Montelius  III)  scheint 
keine  neue  Form  hervorgebracht  zu  haben;  er  macht  vielmehr  den 
Eindruck  eines  eigentümlichen  Stillstandes  in  der  Entwicklung,  einer 
Ruhepause  nach  der  ersten  Blüteperiode.  Im  früheren  Abschnitt  der 
späteren  Bronzezeit  (Montelius  IV)  zeigt  sich  dann  aber  eine  begin- 
nende Unruhe,  ein  Suchen  nach  neuen  Formen.  Sophus  Müller,  der 
wohl  von  allen  prähistorischen  Forschern  das  feinste  Empfinden  für 
die  autonome  ästhetische  Bedeutung  der  vorhistorischen  Kunstformen 
zeigt,  macht  schon  darauf  aufmerksam,  daß  das  Ornament  sich  jetzt 
nicht  mehr  an  den  Kanten  und  Trennungslinien  hält,  sondern  sich 
über  die  Fläche  selber  verbreitet.  Wichtig  ist  der  Übergang  zum  Band- 
ornament —  aus  parallelen  Linien  — ,  ein  Prozeß,  den  wir  gleich- 
falls in  der  späten  Steinzeit  feststellen  konnten:  die  abstrakt-mathe- 
matische Linie  wird  durch  eine  gegenständliche  Form  ersetzt.  Damit 
war  die  Vorbedingung  zum  Entstehen  der  neuen  Formenwelt  der 
zweiten  Blüteperiode  (Montelius  V)  geschaffen. 

Der  Übergang  zu  den  Ornamentformen  des  späteren  Bronzealters 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  435 

zeigt  eine  auffällige  Übereinstimmung  mit  gewissen  Zeichen  des 
organisciien,  im  besonderen  des  vegetabilischen  Wachstumsprozesses. 
Wir  lernten  die  Mutterform  des  Bronzezeitornaments,  den  in  sich  selbst 
geschlossenen  Kreis,  als  ein  selbständiges  Wesen  kennen,  als  eine  Zelle, 
die  nicht  aus  dem  Grunde  (dem  Träger)  entstanden  gedacht  werden 
konnte,  sondern  sich  von  außen  auf  oder  in  diesen  Grund  niederließ. 
Dieser  autonome,  in  sich  selbst  beschlossene  Charakter  ging,  wie 
gesagt,  mit  dem  Spiralornament  der  früheren  Bronzezeit  nicht  verloren; 
die  Bildung  der  Spirale  erscheint  hier  als  innerer  Vorgang  der  Zelle. 
Was  dann  aber  nach  der  Stockung  zwischen  der  früheren  und  späteren 
Blüteperiode  vor  sich  geht,  ist  etwas  ganz  Neues.  Kurz  gesagt:  die 
Zelle  wird  verlassen,  die  Wand  gesprengt,  und  statt  der  isolierten  Ele- 
mente —  spiralgefüllten  Kreise,  durch  eine  dünne  Linie  verbunden  — 
breitet  sich  ein  stätig  fortlaufendes  Bandornamenf  aus,  das  die 
scharfe  Trennung  in  einzelne  Stücke  kaum  mehr  gestattet.  Statt  des 
an  Ort  und  Stelle  In-  oder  Umsichselbstdrehens  tritt  ein  unaufhalt- 
sames Fortbewegen  und  Weiterfließen,  statt  der  inneren  Zellentwick- 
lung ein  Weiterranken  und  Umsichgreifen  und  Verzweigen  dieser  Bän- 
der —  nicht  Linien  — ,  die  überall  Raum  suchen,  um  sich  auszudehnen, 
und  schließlich  den  ganzen  Boden  überwuchern.  Was  hier  geschieht, 
erst  das  innere  Wachstum  der  Zelle  und  darauf,  als  neuer  Prozeß, 
das  Übersichselbsthinausgehen,  das  immer  weiter  Wurzeln  in  oder 
Kriechen  über  den  >Grund«,  zeigt  eine  so  merkwürdige  Analogie  mit 
dem  vegetabilen  Wachstum,  daß  ich  nicht  unterlassen  konnte,  hierauf, 
sei  es  auch  vorläufig  nur  vergleichsweise,  aufmerksam  zu  machen. 

Kehren  wir  zu  dem  oben  erwähnten  zentralisierten,  sternförmigen 
Ornament  zurück,  dann  bemerken  wir,  daß  die  kleinen  Ranken,  welche 
aus  den  Spitzen  entsprossen,  jetzt  selber  zu  Bändern  werden,  die  nach 
außen  umbiegen  und  sich  wieder  vereinigen,  so  daß  ein  blasenförmiges, 
pilz-  oder  quallenähnliches  Muster  entsteht  (Abbildung  6,  Mitte).  Dort, 
wo,  wie  bei  den  norddeutsch-skandinavischen  Hängegefäßen  oder 
glockenförmig  gewölbten  Oürtelplatten,  breite  Streifen  gefüllt  werden 
sollen,  geschieht  dies  durch  ein  unendlich  wechselndes  kompliziertes 
Bandornament  aus  Wellen-  und  Schlangenlinien,  wobei  nun  auch  ein 
reiner,  doppelter  Mäander,  natürlich  mit  gebogenen  Windungen,  ver- 
treten ist.  Sehr  häufig  erscheint  als  Orundmotiv  ein  Wellenband  mit 
spitzen  Wellenbergen,  die  in  frei  endende  Windungen  auslaufen.  Sind 
diese  letzten  spiralig  gekrümmt,  so  erscheint  das  Spiralornament  in 
einer  ganz  neuen  Gestalt:  als  Ranke  (Abbildung  6,  oben).  An  das 
freie  Ende  dieser  Ranken  können  sich  schließlich  lippenblumenähn- 
liche  Gebilde  ansetzen;  es  sind  stark  umgemodelte  Derivate  eines  aus 
dem  Süden  eingewanderten  Vogelkopfes  (Abbildung  6,  unten).  —  Ein 


436  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 


eigentümliches  und  barockes  Ornament  dieser  Spätzeit  sei  noch  kurz 
erwähnt:  Vor  allem  auf  den  Rasiermessern  der  späten  Bronzezeit  ist 
wiederholt  eine  Darstellung  der  nordischen  Drachenschiffe  zu  finden, 
deren  Vorder-  und  Hintersteven  in  einen  Tierkopf  enden,  der  gleichfalls 
auf  den  Zugvogel  aus  dem  Süden  zurückgeht.  Auf  die  interessante 
Entwicklung  dieses  Schiffsornaments  aus  einem  einfachen  Randorna- 
ment aus  gereihten  Strichen  kann  ich  hier  nicht  eingehen;  das  Messer- 
blatt wird  schließlich  zum  willigen  Träger  eines  völlig  selbständigen 
Individuums  —  sei  es  nun  Schiff  oder  Drache,  das  bleibt  sich  gleich  — , 
welches  zunächst  noch  die  Form  des  Messers  freiwillig  begleitet;  dann 
aber  kann  die  ganze  Fläche  von  einem  wirren  Knäuel  von  Köpfen  und 
Drachenleibern  bedeckt  werden  (Abbildung  7).  Die  ornamentale  Bin- 
dung, die  erst  durch  eine  strenge  Reihung  oder  glückliche  formale 
Übereinstimmung,  später  durch  die  gleichmäßige  Wiederholung  der 
frei  sich  auslebenden  Wellen  und  Ranken  erreicht  wurde,  hört  auf. 
Und  schon  hier,  in  der  Bronzezeit,  scheint  der  Boden  bereit  zur  Auf- 
nahme einer  höheren  Klasse  von  Formen:  der  tierischen. 

Soll  auf  Grund  der  sich  ablösenden  Stilmerkmale  eine  strengere 
Einteilung  in  Entwicklungsphasen  vorgenommen  werden,  so  ist  es 
klar,  daß  die  beiden  ersten  Phasen  mit  den  Blüteperioden  des  frühen 
und  späten  Bronzealters  (Montelius  II  und  V)  zusammenfallen,  während 
auf  Grund  des  freien  Drachen-  oder  Schiffsornaments  wahrscheinlich 
eine  dritte  Phase  ab-  beziehungsweise  anzugliedern  wäre. 

Ein  kurzes  Wort  über  das  Verhältnis  zum  Süden. 

Das  einzige  Ornament,  das  dem  Spiralornament  des  früheren 
nordischen  Bronzealters  vergleichbar  wäre,  findet  sich  in  der  mykeni- 
schen  Kunst,  wo  die  Spirale  sogar  in  rein  geometrischer  Gestalt  auf- 
treten kann,  obwohl  von  der  eigenartigen  Entwicklung,  der  wir  im 
Norden  begegneten,  hier  keine  Rede  ist.  Bezeichnend  für  den  Unter- 
schied zum  streng  ornamentalen  Charakter  der  nordischen  Kunst  ist 
nun,  daß  wiederholt  eine  Mischung  dieser  geometrischen  Formen  mit 
einer  imitativen  bildenden  Kunst  stattfindet,  indem  es  die  Fangarme 
von  Polypen,  die  Fühler  von  Schmetterlingen,  die  Ranken  von  See- 
pflanzen sind,  die  in  diese  Spiralen  auslaufen.  Waren  es  in  der  nor- 
dischen Kunst  abstrakte  Formen,  die  entfernt  an  primitive  Lebewesen 
erinnerten,  so  sind  es  in  Griechenland  diese  niederen  Tiere  und  Pflan- 
zen selber,  die  von  einem  Volke  dargestellt  werden,  das  nicht  nur  mit 
dem  Meer  und  seinen  Erzeugnissen,  sondern  auch  mit  der  Jahrhun- 
derte alten  Überlieferung  einer  blühenden  bildenden  Kunst  auf  ver- 
trautem Fuße  stand. 

Noch  bedeutsamer  ist  dieser  Unterschied  im  späteren  Bronzealter, 
das  im  Süden   schon  ein  frühes  Eisenalter  ist,  weil  jetzt  ein  engerer 


I 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  437 

Zusammenhang  mit  dem  Süden  nachzuweisen  ist  und  südliche  Einfuhr- 
waren bis  nach  Skandinavien  gelangen.  Als  Folgeerscheinung  der. 
Eindringens  neuer  Barbarenweilen  aus  dem  Norden  entstand  im  Süden 
eine  merkwürdige  Bastardkunst,  die  in  Griechenland  (Dipylon,  Olympia) 
und  Italien  (Villanova  bei  Bologna)  eine  große  Verwandtschaft  zeigt 
und  nach  Zentraleuropa  (Hallstatt)  hinübergreift.  Im  Gegensatz  zur 
nordischen  Kunst  ist  in  den  genannten  süd-  beziehungsweise  zentral- 
europäischen Kulturen  nirgends  ein  gleichmäßiges,  organisches  Wachs- 
tum, eine  zielbewußte  Beschränkung  auf  ein  bestimmtes  künstlerisches 
Prinzip  —  sei  es  das  ornamentale,  die  Sprache  der  abstrakten  Form, 
oder  das  der  bildenden  Kunst  — ,  eine  solche  innere  Kraft,  verbunden 
mit  einer  doch  äußerst  verfeinerten  Technik  zu  beobachten.  Das  Linien- 
und  Flächenornament  macht  einen  undisziplinierten  und  ärmlichen  Ein- 
druck. Und  während  im  Norden  einige  wenige  Tierformen  übernommen 
werden  und  dann  fast  immer  mit  dem  Gegenstand  verschmelzen  —  ein 
stark  stilisierter  Pferdekopf  als  Griff  der  Rasiermesser  —  oder  in  dem 
Linienornament  selber  verarbeitet  werden  —  der  südliche  Vogelkopf  — , 
so  wimmelt  es  jetzt  im  Süden  von  Löwen,  Vögelchen,  Pferden,  Kühen 
und  menschlichen  Figürchen,  die  völlig  unorganisch  mit  dem  Gegen- 
stand verbunden  und  vielfach  nur  mit  einem  Stift  aufgeheftet  werden. 
Es  ist  wieder  der  Unterschied  zwischen  Ornament,  abstrakter  Form 
und  bildender  Kunst,  mag  die  letzte  diesmal  auch  in  einer  teils  rudi- 
mentären, teils  primitiven  Gestalt  auftreten. 

Es  würde  zu  weit  führen,  hier  eine  eingehende  Erörterung  über 
die  Entwicklung  der  Zweckform  anzuschließen.  Auch  hier  zeigt 
sich  ein  unaufhaltsames  Schwellen  und  Treiben,  nicht  nur  ein  Größer- 
werden, was  schließlich  zu  den  übertrieben  schweren,  aufgeschwollenen 
Nadeln,  Schmuckplatten,  Armbändern,  Halsringen  usw.  führt,  sondern 
auch  eine  immer  stärkere  Umgestaltung,  Umwertung,  ursprünglich  tech- 
nischer Details  zu  reinem  Ornament.  Die  Zweckform  wird  mehr  und 
mehr  zu  einer  sehr  unzweckmäßigen,  barocken  Schmuckform.  Dabei 
ist  manchmal  wiederum  eine  verblüffende  Ähnlichkeit  mit  dem  orga- 
nischen Wachstum  festzustellen.  So  finden  wir  in  Dänemark  Nadeln 
mit  einem  kugelförmigen  Kopf,  der  durch  einige  konzentrische  Kreise 
verziert  wird.  Diese  Kreise  schwellen  an  zu  Knöpfen,  die  ihrerseits 
wieder  austreiben  zu  neuen  kugelförmigen  Knospen  mit  flachem  Kopf »). 
Der  Körper  des  Trägers  wird  nicht  nur  geschmückt,  er  wird  selber 
zum  Schmuck.  Sind  die  frühen  Halsringe  schwach  gerippt,  so  sind 
die  späten  tief  eingekerbt,  sind  selber  gewunden  und  gedreht  (Wendel- 


')  Sophus  Müller,    Ordning  aj  Danmarks  Oldsager,   Bronzealdern.    Abb.  212, 
213,  214. 


438  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

ringe),  sind  ein  einziges  Stück  Ornament.  Auch  hier  sind  deutlich 
Entwicklungsphasen  und  Formenreihen  festzustellen,  die  sich  durch 
eine  zunehmende  Entfernung  von  der  natürlich-nützlichen  Grundform 
unterscheiden.  Im  übrigen  handelt  es  sich  hier  um  eine  Erscheinung, 
die  sich,  im  Gegensatz  zur  Entwicklung  des  reinen  Ornaments,  genau 
so  in  Mitteleuropa  —  Ungarn,  Süddeutschland,  Schweiz  —  beob- 
achten läßt. 

Die  herkömmliche  irreführende  Einteilung  der  Kunstgeschichte  in 
»Altertum«  —  und  was  ist  nicht  alles  Altertum!  — ,  Mittelalter  usw. 
sieht  sich  gezwungen,  alles,  was  nach  dem  Sturz  des  römischen  Welt- 
reiches entstand,  mehr  oder  weniger  als  »mittelalterliche  zu  betrachten. 
So  findet  man  denn  auch  vielfach  die  Kunst  der  germanischen  Völker- 
wanderungszeit in  das  Kapitel  ^ Mittelalter«  eingereiht.  Damit  wird 
die  Spätkunst  des  nordischen  Altertums  aus  dem  organischen  Zu- 
sammenhang einer  geschlossenen  Kunst-  und  Kulturentwicklung,  die 
ja  als  solche  noch  immer  nicht  erkannt  wird,  herausgerissen.  Sehr 
zu  Unrecht;  denn  soll  die  mittelalterliche  Kunst  kein  sinnleerer  Be- 
griff bleiben,  so  müssen  wir  sie  untrennbar  verknüpfen  mit  der 
Trägerin  der  mittelalterlichen  Weltanschauung:  der  Kirche,  d.  h.,  kunst- 
wissenschaftlich gesprochen,  mit  dem  Kirchengebäude  —  Baukunst  — 
und  in  zweiter  Linie  vielleicht  mit  dem  Buch  —  der  Buchillustration  — 
d.  h.  der  bildenden  Kunst.  Mit  beiden  haben  Entstehen  und  Entwick- 
lung der  germanischen  Zierkunst  der  Völkerwanderungszeit  nichts  zu 
tun,  wenn  umgekehrt  auch  Spuren  dieser  Kunst  in  beiden  weiterleben. 
Das  zeitliche  Zusammenfallen  mit  dem  ersten  Wachstum  und  der  Ver- 
breitung der  Kirche  und  der  kirchlichen  Kunst  im  Süden  ändert  an 
und  für  sich  noch  gar  nichts  an  dem  heidnisch-barbarischen,  ja  prä- 
historischen Charakter  der  spätnordischen  Zierkunst,  und  ebensowenig 
tut  das  die  Tatsache,  daß  sich  Teile  vom  germanischen  Stämme- 
gemenge loslösen,  nach  dem  Süden  wandern  und  sich  dort  mit 
der  fremden  Kultur  assimilieren.  Mit  Recht  betrachtet  schon  Reinach 
die  Kunst  der  germanischen  Eisenzeit  als  eine  Parallele  zu  der  um 
500  Jahre  früheren  keltischen  La-Tene-Kunst,  einer  rein  prähistorischen 
Erscheinung.  Für  uns  ist  die  Zierkunst  der  Völkerwanderungszeit 
nichts  anderes  als  das  letzte  Stadium  dieses  großen  Entwicklungs- 
prozesses der  nordischen  ornamentalen  Kunst  und  zwar  unter  der  Ein- 
wirkung und  der  Verarbeitung  von  Motiven  aus  der  bildenden  Kunst 
des  Südens,  genau  so,  wie  wir  dies  schon  in  den  späten  Abschnitten 
der  Stein-  und  Bronzezeit  feststellen  konnten. 

Die  scheinbare  Stockung  in  der  Entwicklung,  die  sich  vom  aus- 
gehenden Bronzealter  bis  zur  nachrömischen  Eisenzeit  über  einen  Zeit- 
raum von  nicht  weniger  als  800  Jahren  erstreckt,  braucht  nicht  allzu- 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  439 

sehr  wunderzunehmen.  Eine  ähnliche  Unterbrechung  der  Entwici<lung 
muß  auch  zwischen  der  letzten  Blüte  der  neolithischen  Kunst  und  der 
Monteiius-lI-Stufe  der  Bronzezeit  angenommen  werden.  Und  diese 
neue  Unterbrechung  ist  schon  dadurch  erklärlich,  daß  sich  zweimal 
eine  alles  beherrschende  politische  und  kulturelle  Bewegung  geltend 
machte,  die  eine  selbständige  Weiterentwicklung  nicht  aufkommen  ließ: 
die  keltische  seit  500  v.  Chr.,  dann  die  römische  seit  dem  Anfang 
unserer  Zeitrechnung.  Für  die  nordisch-germanische  Kunst  bedeutete 
das  schon  dies,  daß  sie  zweimal  an  fremde,  übernommene  Formen 
anknüpfen  mußte,  die  den  Vorzug  verdienten,  sei  es  des  besseren 
Materials  wegen  —  Eisenschwerter  — ,  sei  es  wegen  der  billigeren 
Konstruktion  —  die  elastischen  La- Jene-  und  römischen  Fibeln,  die 
die  nordische  Bronzezeit  nicht  gekannt  hatte  — ,  sei  es  endlich  wegen 
eines  völlig  neuen  Mechanismus,  wie  bei  den  römischen  Schnallen. 

Wohl  werden  wir  darauf  gefaßt  sein,  daß  sich  die  nordische  Kunst- 
entwicklung auch  nach  dem  Rückgang  der  römischen  Expansion  unter 
ganz  besonderen  und  erschwerenden  Umständen  vollziehen  mußte. 
Mit  der  Ausdehnung  des  römischen  Weltreiches  bis  Rhein  und  Donau 
war  die  Südkultur  in  ihrer  politisch  und  kommerziell  energischsten  Ge- 
stalt bis  an  die  Grenze  des  nordischen  Kerngebiets  vorgedrungen;  die 
neutrale  Ausgleichszone,  wo  die  fremden  Formen  abgebaut  wurden, 
um  darauf  besser  durch  die  nordische  Kunst  assimiliert  werden  zu 
können,  fiel  aus,  oder  sie  kam,  mit  der  großen  germanischen  Verschie- 
bung nach  Süden,  "nnerhalb  des  Gebietes  der  offenbar  eng  zusammen- 
hängenden germanischen  Stämme  selber  zu  liegen.  Der  barbarische, 
prähistorische  Norden  und  der  höchst  kultivierte  Süden  verzahnten 
sich  wie  nie  zuvor.  Römische  Produkte  oder  Erzeugnisse  der  römischen 
Provinzialkunst  überschwemmen  den  Norden  bis  zu  den  Ostseeinseln 
und  der  norwegischen  Westküste.  Was  aber  die  klare  Einsicht  in  das 
Wesen  dieser  letzten  vorhistorischen  Kunstentwicklung  ganz  besonders 
erschwert,  ist  die  Tatsache,  daß  sie  zwischen  zwei  Phasen  größter 
Ausdehnung  der  Südkultur  eingeklemmt  wird:  die  des  römischen  Im- 
periums und,  sei  es  auch  in  ganz  veränderter  Gestalt,  die  der  Kirche. 
Brachte  erstere  eine  sublimste  Kraftentfaltung  und  letzte  Blüte  der 
nordischen  abstrakt-ornamentalen  Kunst,  so  bedeutet  die  Ausbreitung 
der  Kirche  ihr  endgültiges  Ende.  Um  es  konkreter  auszudrücken  und 
noch  schärfer  hervorzuheben,  worauf  es  hier  ankommt:  sowohl  am 
Anfang  wie  am  Ende  der  in  ihrem  Wesen  wieder  geometrischen  nor- 
disch-germanischen Tierornamentik  stehen  Formen,  die  der  Natur  ent- 
nommen werden,  Formen  also  der  bildenden  Kunst.  Besonders  das 
Verhältnis  zum  Blattwerk  ist  in  dieser  Hinsicht  bezeichnend;  das  antiki- 
sierende beziehungsweise  karolingische  Blattwerk  bedeutet  den  Anfang 


440  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

und  das  Ende  dieser  letzten  Periode  der  prähistorischen  Kunstentwick- 
lung im  Norden  —  sie  selber  kennt  das  Blattwerk  nicht. 

Auf  den  selbständigen  Charakter  der  nordischen  Kunst  scheint 
schon  diese  ganz  ausgeprägte  Vorliebe  für  bestimmte  Motive  aus  dem 
unerschöpflichen  Vorrat  hinzuweisen,  den  das  ost-  und  weströmische 
Weltreich  aufgespeichert  hatte.  Wohl  werden  im  Anfang  auch  Oorgo- 
köpfe,  das  spätrömische  Akanthusblattwerk  und  sogar  ganze  alt- 
christliche Darstellungen  —  Daniel  zwischen  den  Löwen  —  verarbeitet 
und  besonders  in  der  eigentümlichen  Mischkunst  südgermanischer 
Gebiete  spielen  diese  Motive  eine  bedeutende  Rolle.  Aber  schon 
bald  beschränkt  sich  die  nordgermanische  Kunst  fast  ausschließlich 
auf  die  Tierform,  sie  ist  Tierornamentik.  Von  der  Krim  bis 
Belgien  setzt  sich  die  gesamte  Fauna  der  alten  Südkultur,  manchmal 
orientalisch-exotisch,  oft  phantastisch-mythologisch,  aber  immer  natura- 
listisch-organisch empfunden,  gegen  den  Norden  in  Bewegung  und 
begehrt  dort  Einlaß:  die  Adler  der  Legionen,  kauernde  Löwen,  Hippo- 
kampe  usf.,  besonders  aber  der  Greif,  dessen  Kopf  in  der  zweiten  der 
von  uns  zu  behandelnden  Stilphasen  eine  herrschende  Rolle  spielt. 

Als  die  wichtigste  Trägerin  des  Ornaments  und  ein  Instrument, 
das  die  Stilmerkmale  am  empfindlichsten  registriert,  ist  die  germanische 
Bügelnadel  zu  betrachten,  die,  aus  der  edlen,  ganz  auf  den  praktischer. 
Zweck  beschränkten  römischen  Fibula  hervorgegangen,  in  germanischen 
Händen  eine  eigentümliche  Verwandlung  erfuhr.  Schon  hier  ist  ein 
prinzipieller  Unterschied  mit  der  bronzezeitlichen  Kunst  zu  betonen. 
Auch  das  Bronzealter  kannte  bereits  die  Bügelnadel,  die  in  ihrer  ur- 
sprünglichen, südlichen  Gestalt  unserer  Sicherheitsnadel  durchaus  ent- 
sprach, im  Norden  aber  die  elastische  Spirale  einbüßte  und  dafür  aus 
zwei  getrennten  Gliedern  bestand:  dem  Bügel  und  der  mit  diesem 
durch  einen  Ring  verbundenen  Nadel.  Die  Verzierung  dieser  Bronze- 
zeitnadel beruhte  in  der  Hauptsache  darauf,  daß  an  den  beiden  Enden 
des  Bügels  Zierscheiben,  zumeist  Spiralen,  angebracht  wurden,  die  nun 
aber  eine  deutlich  erkennbare  praktische  Bedeutung  besaßen:  die 
Scheibe  unter  der  Spitze  dient  als  Scheide,  die  unter  dem  Kopf  als 
eine  Widerstandsfläche,  die  der  Nadel  erst  ihre  federnde  Kraft  verleiht. 
Im  Gegensatz  zu  diesem  Verzierungsprinzip,  das  von  einem  technischen 
Detail  ausgeht  und  es  nie  ganz  verleugnet,  ist  bei  der  germanischen 
Fibel  der  ganze  Mechanismus  durch  eine  Platte  oder  eine  Reihe  von 
Platten  bedeckt:  eine  Kopfplatte  über  den  Spiralwindungen,  einen  breiten 
gewölbten  Bügel  über  der  Nadel  und  eine  Fußplatte  über  der  Scheide; 
allgemein  ist  aber  auch  eine  einzelne  runde  oder  ovale  Platte.  Unter 
diesen  breiten  Platten,  die  das  begehrte  Feld  zum  freien  Entfalten  des 
Ornaments  hergaben,  ist  der  Nadelmechanismus  angelötet  und  versteckt 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  44I 

sich  unter  ihnen  wie  die  Schildkröte  unter  ihrem  Panzer.  Die  Sicher- 
heitsnadel wird  zur  Brosche,  wohlverstanden  auch  dort,  wo  sie 
die  Aufgabe  des  Zusammenhaltens  zweier  Säume,  etwa  auf  den  Schul- 
tern, erfüllt.  Das  Ornament  begleitet  nicht  mehr  die  Formen  des  nütz- 
lichen Gegenstandes,  sondern  es  hat  sich  völlig  befreit  und  braucht 
nur  noch  die  neue,  übrigens  willkürlich  zu  verändernde  Gestalt  der 
Platte  als  die  willige  Trägerin  zu  berücksichtigen.  Und  zugleich  ist 
zu  bemerken,  daß  hier  nun  nicht  mehr  von  einer  Tätowierung  der 
Haut  des  Trägers  gesprochen  werden  kann,  sondern  von  einer  regel- 
rechten Bekleidung  oder  Panzerung  seines  Körpers. 

Das  Tierornament  tritt  nun,  um  bei  den  Fibeln  zu  bleiben,  erst 
als  einzelner  Kopf  am  vorspringenden  freien  Fußende  auf;  ähnliches 
bemerkten  wir  schon  beim  Griff  der  bronzezeitlichen  Rasiermesser. 
Aus  den  Winkeln  zwischen  Bügel  und  Fuß  wachsen  dann  Köpfe  mit 
langem  Halse  und  aufgesperrtem  Rachen  hervor;  schon  für  diese  Köpfe, 
mit  langen  Hälsen,  die  aus  dem  Rande  eines  Gegenstandes  aufsteigen, 
lassen  sich  Vorbilder  in  der  römischen  Provinzialkunst  nachweisen. 
Nachdem  auf  diese  Weise  das  Terrain  aufgeklärt  war,  kommen  die 
Tiere  selbst:  kriechende  oder  kauernde  Gestalten  setzen  sich  auf  den 
Rand  der  Fu(i-  oder  Kopfplatten.  Ist  bei  den  früheren,  aus  Metallblech 
geschlagenen  Fibeln  mitunter  noch  ein  bestimmtes  Tier,  ein  Hippo- 
kamp  oder  dergleichen,  zu  erkennen,  so  sind  bei  den  späteren,  ge- 
gossenen Formen  diese  kauernden  Tiere  gänzlich  undefinierbar.  Es 
sind  Tiergestalten  schlechthin,  auch  wenn  sie  zweifellos  auf  bestimmte 
Gestalten  der  spätantiken  Kunstüberlieferung  zurückgehen. 

Hiermit  war  die  nordisch-germanische  Kunst  im  Besitze  des  Roh- 
materials, aus  dem  sie  ihre  eigene  Form  aufbauen  konnte.  Der  uralte 
Prozeß  der  Geometrisierung,  des  Abbaus  und  Wiederaufbaus  zu  selb- 
ständigen, aber  diesmal  abstrakten  Formen  konnte  beginnen.  In  erster 
Linie  ist  dazu  die  Verdoppelung  beziehungsweise  die  Erhöhung  der 
Konturen  zu  rechnen,  eine  germanische  Eigentümlichkeit,  auf  die  schon 
der  Schwede  Salin  in  seinem  schönen  Buche  über  Die  germanische 
Tierornamentik«  nachdrücklich  hinweist  (Abbildung  8).  Gerade  dieses 
Übertreiben  der  Konturlinie,  das  bald  zum  Verfall  des  dazwischen 
liegenden  Körpers  führt,  bezeugt  den  Charakter  der  nordischen  Kunst, 
der  es  nicht  auf  das  Tier,  als  dieses  organisch  zusammenhängende 
konkrete  Individuum  ankam,  sondern  nur  auf  die  stark  bewegte,  bi- 
zarre Linie,  die  nun  noch  möglichst  kompliziert  wird:  der  Rachen  wird 
weit  aufgesperrt,  der  Kopf  vielfach  scharf  rückwärts  gewendet,  die 
Gliedmaßen  sind  immer  winklig  gekrümmt  und  mit  langen  Krallen  ver- 
sehen. Daß  es  nur  um  diese  heftig  bewegten,  nicht  mehr  kontinuier- 
lich auseinander  entstehenden,  vegetabilischen,  sondern  plötzlich  ver- 


442  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

änderlichen,  willkürlichen  Linien  zu  tun  ist,  geht  daraus  hervor,  daß 
diese  Tiere  langsam  aber  sicher  in  ihre  Teile  zerlegt  werden.  Kopf, 
Rumpf,  Gliedmaßen  hängen  nicht  mehr  unter  sich  zusammen,  sie 
liegen  wie  zufällig  nebeneinander.  Schon  bald  geht  dieser  Mangel 
an  Interesse  für  den  natürlichen,  konkreten  Zusammenhang  so  weit, 
daß  wir  nur  noch  mühsam  die  zusammengehörigen  Teile,  die  zunächst 
doch  wirklich  noch  vorhanden  sind,  zurückfinden  können;  dann  ist 
auch  das  nicht  mehr  der  Fall,  es  fehlt  ein  Kopf,  ein  Fuß,  und  schließ- 
lich wird  die  ganze  Fibel  durch  ein  Ragout  aus  Rumpf-  und  Fußteilen 
(mit  gelegentlich  eingefügtem  Kopf  bedeckt),  in  dem  wenig  Tierisches 
mehr  zu  entdecken  ist.  Hiermit  ist  nun  aber  zugleich  ein  anderer 
Vorgang  angedeutet:  die  ursprünglich  außen  auf  dem  Rand  sitzenden 
Tiere  verschmelzen  mit  dem  Fibelkörper  selbst.  Sie  bilden  erst  einen 
geschlossenen  Rand,  der  sich  dann  innerhalb  der  Fuß-  oder  Kopfplatte 
selber  wiederholt  und  schließlich  zu  einem  Flächenornament  ausbreitet, 
das  die  ganze  Platte  ausfüllt  (Abbildung  9). 

Hiermit  ist  das  Ende  der  ersten  Entwicklungsphase  in  der  Tier- 
ornamentik erreicht.  Die  fremden  Tiere,  die  sich  von  außen  auf  diese 
Fibeln  niederlassen,  werden  wie  Insekten  auf  den  Blättern  der  fleisch- 
fressenden Pflanze  aufgesaugt  und  verdaut,  die  fremden  Formen  werden 
abgebaut  und  einverleibt.  Ich  bezweifle,  daß  diese  Auflösung  nur  als 
eine  negalive  Erscheinung,  als  Abbauprozeß,  zu  bewerten  ist.  Dafür 
ist  die  Form  der  Abbauprodukte  und  die  Stelle,  die  sie  auf  den  Fibeln 
einnehmen,  zu  konstant,  es  kommt  sogar  vor,  daß  man  fast  identischen 
Stücken  in  Italien,  Weimar  und  Ostpreußen  begegnet.  Wie  dies  nun 
auch  sei,  jedenfalls  ist  es  klar,  daß  die  Auflösung  eine  äußerste  Grenze 
erreicht  hatte  und  neue  Formen,  ein  neuer  Ausdruck,  nur  auf  anderem 
Wege  entstehen  konnten. 

Dieses  Suchen  nach  einem  neuen  Ausdruck  kennzeichnet  den 
merkwürdigen  Entwicklungsgang  in  der  zweiten  Phase.  Salin  spricht 
von  einer  »Renaissance:  der  Tierornamentik,  gibt  jedoch  zu,  daß  die 
neu  entstehenden  Tiere  nicht  weniger  unnatürlich  sind  als  die  der 
zweiten  Phase.  In  Wirklichkeit  haben  wir  nicht  mit  einer  Renaissance, 
sondern  mit  einer  Reorganisation  des  Tierornaments  zu  tun.  Die 
Abbauprodukte  der  ersten  Phase  werden  neu  organisiert,  aber  jetzt  auf 
nordischer  Grundlage.  Man  überwindet  die  heillose  und  schließlich 
nichts  mehr  sagende  Verwirrung  in  dem  isolierten  Nebeneinander  der 
Tierfragmente,  man  sieht  ein,  daß  dieses  wiederholte  Zerhacken  der 
Teile  keine  Bewegung,  kein  Leben  aufkommen  läßt.  Man  will  vor 
allem  durchgehende  Linien,  die  zwar  wild  bewegt  sind,  sich  verschlingen 
und  an  denen  sich  an  den  unerwartetsten  Stellen  Köpfe  und  Glied- 
maßen ansetzen,  die  aber  bei  all  diesem  phantastischen  und  dramati- 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  443 

sehen  Leben  doch  in  der  Hauptsache  übersichtlich  bleiben  und  gerade 
dadurch  wirken.  Höchst  bezeichnend  ist  hier  nun  wieder  die  Band- 
formung, der  wir  also  zum  dritten  Maie  im  nordischen  Altertum  be- 
gegnen. Statt  daß  die  Körper  wie  in  der  ersten  Phase  durch  Quer- 
schnitte zerlegt  werden,  ziehen  sie  sich  nun  bandförmig  —  Schlangen- 
ornament!—  in  die  Länge  und  werden  auch  gern  der  Länge  nach 
gespalten,  was  dann  in  der  Folge  zu  den  wildesten  Verwicklungen 
und  Verschlingungen  führen  kann.  Am  Schluß  der  ersten  Phase  kann 
von  einer  Form,  einer  Linie  eigentlich  nicht  mehr  gesprochen  werden; 
hier,  in  der  Blüteperiode  der  germanischen  Ornamentik,  ist  alles  darauf 
gerichtet,  neue  Wesen  zu  schaffen,  die  ihr  wildes  Temperament,  zügel- 
lose Kraftentfaltung  und  rastloses  Streben  suggerieren,  wobei  die  ge- 
krümmten Glieder,  die  vorspringenden  Köpfe  mit  den  großen  Augen 
nur  die  überzeugende  Illustration  sind.  Hier  bestimmte  Tiere  zu  ver- 
muten, ist  sinnlos.  Sicherlich  sind  gerade  keine  bestimmten  Tier- 
gestalten gemeint,  und  ich  möchte  mich  noch  schärfer,  wenn  auch 
vielleicht  etwas  paradox  ausdrücken:  hier  ist  trotz  diesen  Köpfen  und 
Füßen  überhaupt  nicht  an  Tiere  gedacht.  Hier  ist  nur  an  den  über- 
zeugenden Ausdruck  überschwenglicher  Kraft,  dramatischen  Lebens, 
wilden  Zusammenprallens  abstrakter  Formen  gedacht,  wobei  diese 
Füße  und  Köpfe  nur  untergeordnete  Akzente  darstellen  und  beson- 
ders dieser  dämonische  Kopf  mit  dem  betonten  Auge,  als  Sitz  der 
Individualität  und  des  Willens,  das  »Willkürliches  Eigenmächtige,  be- 
wußt so  Gewollte,  zu  erkennen  gab.  Vielleicht  dürfen  wir  sagen,  daß 
die  Differenzierung  und  Individualisierung  der  abstrakten  Form,  die 
vom  Anfang  an  die  Entwicklung  der  nordischen  Kunst  bestimmen, 
hier,  in  ihrer  letzten  Blüteperiode,  einen  solchen  Grad  erreicht  hat,  daß 
man  solche,  sei  es  auch  höchst  phantastische,  organische  Lebensformen 
nicht  mehr  vermeiden  konnte  (Abbildung  10). 

Die  Form  der  dritten  Entwicklungsperiode  des  nordischen  Alter- 
tums ist  animalisch,  wie  die  der  zweiten  vegetabilisch,  die  der 
ersten  kristallinisch  ist.  Ich  habe  den  gebräuchlichen  Ausdruck 
»^Tierornamentik;  beibehalten,  weil  es  unmöglich  ist,  für  diese  nicht 
mehr  mathematisch  benennbaren  Formen  eine  der  Strich-,  Kreis-  oder 
Spiralornamentik  entsprechende  Bezeichnung  zu  finden.  Im  Grunde 
genommen  aber  handelt  es  sich  hier  ebensowenig  um  ein  »Tiere- 
Ornament,  wie  in  der  Stein-  und  Bronzezeit  um  ein  Kristall-  beziehungs- 
weise ein  Pflanzenornament,  und  es  kann  nur  zu  einer  Begriffsverwir- 
rung führen,  wenn  Sophus  Müller  einen  Gegensatz  zwischen  dieser 
Tierornamentik«:  und  der  »Linearornamentik  der  —  zusammengefaß- 
ten —  Stein-  und  Bronzealter  konstruiert  oder  sogar  an  eine  gesetz- 
mäßige,  im  Norden  erst  durch  das  einsetzende  Mittelalter   verwirk- 


444  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

lichte,  Entwicklung  von  Linear-,  Tier-,  Blattornamentik  glaubt.  Blatt- 
formen hatten  im  Norden  nichts  zu  suchen,  weil  sie  als  solche  immer 
Nachahmung  sind.  Allerdings  kennt  die  nordische  Kunst  eine  Periode 
mit  pflanzlichen  Formen,  diese  fällt  aber,  wie  wir  feststellten,  in 
die  Bronzezeit.  Schon  das  ausgehende  Bronzealter  zeigte  aber  bei 
seiner  Neigung,  die  Eigenbeweglichkeit  des  gebogenen  Linienorna- 
ments bis  zum  Äußersten  zu  steigern,  den  Übergang  zu  animalischen 
Formen. 

Überflüssig  zu  betonen,  daß  das  heftig  bewegte  Ornament  der 
germanischen  Eisenzeit  nichts  mehr  mit  den  verhältnismäßig  beschei- 
denen tektonischen  Ansprüchen  des  Trägers  zu  tun  hat.  Um  so 
interessanter  ist  es,  zu  sehen,  wie  es  dieser  Kunst  gelingt,  doch  wieder 
das  willkürliche  Leben  zu  bändigen  und  wie  durch  ein  höheres  Gesetz, 
das  trotz  allem  eine  Einheit  in  der  wirbelnden  Vielheit  durchsetzt,  zu 
beherrschen.  Das  kann  nun  natürlich  nicht  mehr  geschehen  durch 
eine  trockene  Wiederholung  identischer  Elemente  wie  in  der  neolithi- 
schen  Kunst,  noch  auch  durch  die  gleichmäßige  Wiederkehr  der  aus 
sich  selber  hervorgehenden  Formen  der  Bronzezeit.  Dagegen  ver- 
wendet die  Tierornamentik  an  erster  Stelle  die  Symmetrie,  die  ihr 
gestattet,  auch  die  willkürlichsten  Liniensysteme  durch  das  exakte  Spiegel- 
bild in  einer  höheren  Einheit  aufzuheben  und  zusammenzufassen. 
Gerade  in  dieser  Beherrschung  des  scheinbar  Unbeherrschten  liegt 
wohl  der  große  Reiz  dieser  Ornamentik.  Ungleich  verwickelter  zeigt 
sich  die  neue  Ordnung  an  den  runden  oder  viereckigen  Schmuck- 
platten beziehungsweise  Fibeln,  wo  2 — 4  Tiergestalten  ineinander  ver- 
schränkt und  um  einen  Mittelpunkt  angeordnet  werden,  so,  daß  die  in 
scharfem  Winkel  vorspringenden  Köpfe  oder  Gliedmaßen  den  Eindruck 
einer  endlos  drehenden  Bewegung,  eines  Wirbels,  hervorrufen  (Ab- 
bildung 11).  So  verwickelt  diese  ineinander  verschlungenen  Körper 
auf  den  ersten  Anblick  aussehen,  können  wir  doch  eine  einfache  Grund- 
form entdecken,  die  bei  näherem  Zusehen  immer  wieder  festzustellen 
ist  und  denn  auch  wiederholt  in  streng  geometrischer  Gestalt  auftritt: 
die  Svastika.  Sehen  wir  nun  ab  von  der  symbolisch-religiösen  Be- . 
deutung,  die  uns  hier  nicht  beschäftigen  darf,  so  glaube  ich,  daß, 
wenn  schon  überhaupt  die  Rede  sein  kann  von  einer  geometrischen 
Formel,  einer  graphischen  Darstellung  des  tierischen  Lebens,  wir  diese 
in  der  Svastika,  dem  Hakenkreuz,  annehmen  dürfen.  Ich  denke  dabei 
weniger  an  die  rastlose  Bewegung,  welche  diese  Figur  vorspiegelt,  als 
an  ihre  beiden  elementaren  Eigenschaften:  die  Organisation  mit 
Beziehung  auf  eine  Zentrale  —  das  Herz  —  und,  mit  dem 
scharfen  Umbruch  der  Haken,  die  relative  Selbständigkeit  und  be- 
sonders die  Eigenbeweglichkeit  der  Teile,  die  sie  als  Glieder 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  445 

mit  Gelenken  kennzeichnet.  Ich  darf  hier  nicht  zu  lange  bei  dieser, 
eher  naturästhetischen  Frage  verweilen,  möchte  aber  doch  darauf  hin- 
weisen, daß  die  für  das  Tier  so  bezeichnende  Beweglichkeit,  die  Fähig- 
keit des  freien  Platzwechsels,  nur  infolge  einer  Eigenbeweglichkeit 
seiner  Teile  ermöglicht  wird,  und  daß  damit  die  plötzliche  Umbiegung, 
d.  h.  Richtungsänderung,  im  Gelenk  aufs  engste  zusammenhängt.  Es 
ist  daher  durchaus  kein  Zufall,  daß  die  griechische  Kunst  bewußt 
diesen  Charakter  von  Gliedmaßen  mit  Gelenken  in  der  Svastika  hervor- 
hebt, indem  sie  ihr  die  Gestalt  einer  laufenden  menschlichen  Figur  mit 
gekrümmten  Beinen  (Knielauf)  und  gebogenen  Armen  verleiht  oder  die 
Triskele  nur  aus  drei  gekrümmten  Beinen  zusammenstellt.  Wir  können 
nicht  so  weit  gehen,  zu  sagen,  daß  das  Hakenkreuz  die  Grundform 
der  dritten  Periode  der  nordischen  Kunst  ist,  wie  die  gerade  Linie  die 
der  ersten,  der  Kreis  die  der  zweiten  Periode.  Aber  wohl  scheint  mir 
diese,  allen  vielgestaltigen  Wirbelformen  dieser  Zeit  zugrunde  liegende 
Figur,  eine  graphische  Darstellung  des  tierischen  Lebens, 
das  die  gesamte  Kunst  der  germanischen  Eisenzeit  beherrscht. 

Die  dritte  f^hase  der  Tierornamentik  beschränkt  sich  auf  nord- 
germanisches Gebiet.  Es  scheint,  daß  nur  hier,  besonders  in  Skandi- 
navien, genügend  Kraft  und  Selbständigkeit  übrig  war,  um  die  letzten 
Entwicklungsmöglichkeiten  zu  verwirklichen.  Bei  den  Südgermanen 
geht  die  Bindung  des  Tierornaments  weiter,  es  wird  zum  Band-  d.  h. 
Riemselornament.  Das  wilde  Bewegen  wird  gebändigt,  der  Fluß  des 
germanischen  Barbarentums  kanalisiert. 

Im  Gegensatz  dazu  schreitet  der  Norden  weiter  auf  dem  Weg  zur 
willkürlichen  Entfaltung  des  Linienornaments.  Bezeichnend  ist  dabei, 
daß  die  Tiergestalt  wieder  zurücktritt,  die  Köpfe  schrumpfen  ein  und 
die  Krallen  wachsen  so  sehr  aus,  daß  sie  als  solche  kaum  mehr  er- 
kennbar sind.  Sogar  das  schwache  organische  Band,  das  noch  in  den 
frei  entworfenen  phantastischen  Tiergestalten  der  zweiten  Phase  vor- 
handen war,  scheint  als  eine  Fessel  empfunden  zu  werden.  Dazu 
wird  der  fast  pathologische,  leidende  Charakter  noch  gesteigert  durch 
ein  wiederholtes  und  unvermitteltes  Anschwellen  der  Bandkörper  zu 
kleinen  schildförmigen  Flächen  und  wieder  Zusammenziehen  zu  dünnen 
Linien.  Die  Traumtiere  der  zweiten  Phase  werden  zu  einer  Beklem- 
mung, einem  Albdrücken,  und  nur  solchen  nicht  mehr  greifbaren  oder 
begreifbaren  Traumgestalten  ist  dieses  Ornament,  das  faktisch  kein  Tier- 
ornament mehr  ist,  vergleichbar.  Hier  begegnet  nun  wiederholt  die 
Erscheinung,  daß  alle  Symmetrie,  natürlich  auch  die  Wiederholung 
identischer  Elemente,  ausgeschaltet  wird;  die  Einheit  beruht  nur  noch 
auf  dem  gegenseitigen  Ausgleich  der  verschiedenen  entgegengesetzten 
Bewegungsakzente  und  dem  gleichen,  man  kann  wohl   sagen  deka- 


446  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

denten,  Charakter  in  den  verschiedenen  Teilen.  Es  ist  nicht  mehr  das 
dramatische,  stark  beherrschte  Barock  der  zweiten  Phase,  sondern  ein 
rokokomäßiges  Sichgeheniassen  in  diesen  anspruchsvollen  Linien,  die 
sich  lieber  leise  verschlingen,  als  daß  sie  aufeinanderprallen  (Abbil- 
dung 12).  Bezeichnend  ist,  daß  diese  keiner  Regel  mehr  gehorchenden 
Formen  nun  oft  nicht  mehr  frei  den  Körper  des  Trägers  bedecken 
dürfen  oder  können.  Sie  werden  in  umrahmten  Fächern  untergebracht, 
sozusagen  eingesperrt  in  Käfigen,  wo  sie  tun  dürfen  was  sie  nicht 
lassen  können.  Es  gibt  kolossale  Fibeln  (Gothland),  deren  Flächen 
ganz  in  solche  Fächerchen  aufgeteilt  sind,  jedes  mit  seinem  eigen- 
sinnigen Formengewirr. 

Hiermit  haben  vvir  den  Endpunkt  der  als  ein  organisches  Ganze 
zusammenhängenden  Kunstentwicklung  des  nordischen  Altertums  er- 
reicht. Man  bekommt  den  Eindruck,  daß  die  letzte  Ausdrucksmöglich- 
keit, deren  die  Sprache  der  abstrakten  Form  fähig  ist,  erreicht  und 
erschöpft  worden  war.  Mit  der  Wikingerzeit  des  Q.,  10.  Jahrhunderts 
findet  eine  neue  Einströmung  von  naturalistischen  Formen  besonders 
aus  der  irischen  und  karolingischen  Kunst  statt.  Dann  setzt  die  Herr- 
schaft des  Mittelalters  mit  seinen  völlig  anders  gearteten  Kunstzielen 
—  Baukunst  und  bildender  Kunst  —  ein. 

Wir  müssen  die  Kunst  des  nordischen  Altertums  als  Ornament 
bezeichnen,  aber  es  ist  nicht  genug  zu  betonen,  daß  umgekehrt  das 
Ornament  hier  Kunst  im  höchsten  Sinne  des  Wortes  ist,  d.  h.  daß 
das  Ornament  hier  eine  ganz  andere  Bedeutung  besitzt  als  in  den 
historischen  Kunstepochen,  wo  es  zu  der  untergeordneten  Bedeutung 
der  bloßen  »Verzierung«  an  oder  neben  den  Werken  der  eigentlichen 
Kunst  degradiert  wird.  In  der  Kunst  des  nordischen  Altertums  ist  das 
Ornament  das,  was  später  die  bildende  Kunst  ist:  das  beste,  was  sie 
zu  sagen  hatte,  wurde  in  diesen  abstrakten  Formen  mitgeteilt.  Um  zu 
einem  tieferen  Verständnis  für  diese  Kunst  zu  gelangen,  tun  wir  des- 
wegen gut,  sie  von  dem  Odium,  das  der  Bezeichnung  »Ornament« 
anhaftet,  zu  befreien  und  sie,  bei  ihrer  grundsätzlichen  Verneinung  der 
Nafurbeziehungen,  als  die  Kunst  der  abstrakten  oder  auch  der  abso- 
luten Form  zu  sehen.  Die  Geschichte  der  Kunst  des  nor- 
dischen Altertums  ist  die  Geschichte  der  Entwicklung  der 
absoluten  Form. 

Dieser  Entwicklungsprozeß  zerfällt  deutlich  in  drei  Perioden,  die 
ziemlich  genau  der  bekannten  und  hier  übernommenen  Einteilung  in 
Stein-,  Bronze-  und  Eisenzeit  entsprechen,  ohne  daß  dabei  dieser, 
übrigens  nicht  ganz  unangreifbaren  Unterscheidung  auf  Grund  des 
Materialunterschieds  —  der  Schmuck  der  Eisenzeit  ist  in  Bronze  oder 
Edelmetall  — ,  eine  mehr  als  untergeordnete  Bedeutung  beizumessen 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  447 


wäre.  Doch  waltet  auch  hier  eine  bemerkenswerte  Gesetzmäßigkeit: 
das  Material  der  neoiithischen  Tongefäße  hat,  besonders  im  Norden, 
nur  Nutzwert,  das  Ornament  ist  in  dieses  Material  eingeritzt,  die  weiße 
Füllung  hebt  es  nur  hervor;  auch  in  der  Bronzezeit  sind  Nutz-  und 
Schmuckmaterial  noch  identisch,  aber  dieses  Material,  die  Bronze,  hat 
an  und  für  sich  Schmuck-,  auch  Geldwert,  eine  Bronzefibel  ist  mit- 
samt dem  technischen  Apparat  ein  Schmuckgegenstand;  in  der  Eisen- 
zeit findet  eine  klar  erkennbare  Trennung  zwischen  Schmuck-  und 
Nutzmaterial  statt,  der  eiserne  Mechanismus  der  germanischen  Fibel  z.  B. 
wird  unter  der  bronzenen,  silbernen,  versilberten  oder  vergoldeten 
schmückenden  Platte  angelötet.  In  diesem  Zusammenhang  sind  die  ver- 
schiedenartigen neuen  Techniken  zu  erwähnen,  die  für  die  Zeit  der 
Völkerwanderung  so  bezeichnend  sind:  das  Versilbern  und  Vergolden, 
das  Niello  und  die  Silberlauschierung,  das  Zellenemail  und  die  Ver- 
wendung von  Olaspasten  und  Almandineinlagen  usw.  In  all  diesen 
Techniken,  die  zwar  nur  teilweise  den  engeren  Kreis  der  nordischen 
Kunstentwicklung  berühren,  bekundet  sich  die  entschiedene  künst- 
lerische Absage  an  den  nützlichen  Träger  und  dessen  natürliche  Be- 
schaffenheit durch  das  Heranziehen  eines  fremden,  kostbaren  Beklei- 
dungsmaterials. Das  künstlerische  Material  der  Eisenzeit  ist  nicht 
das  Eisen. 

In  jeder  der  drei  genannten  Perioden  sind  bestimmte  Einflüsse  aus 
der  bildenden  Kunst  der  südlichen  Kulturen  nachzuweisen,  jedoch 
wirken  diese  immer  bloß  als  eine  Anregung  zum  Zustandekommen 
selbständiger,  nur  den  eigenen  Entwicklungsgesetzen  gehorchender, 
höherer  Formenreihen.  Zwischen  diese  polar  entgegengesetzten  Kunst- 
welten des  Nordens  und  des  Südens  schiebt  sich  immer  eine  Aus- 
gleichs- und  Abbauzone  mit  eigentümlichen  Bastardformen:  die  Spiral- 
mäanderkeramik der  mitteleuropäischen  Neolithik,  die  Hallstattgruppen 
während  des  späten  nordischen  Bronzealters,  schließlich  die  südgerma- 
nische Kunst  der  Völkerwanderungszeit. 

innerhalb  dieser  drei  Perioden  der  nordischen  Entwicklung  selber 
sind  immer  Entwicklungsphasen  zu  unterscheiden  in  dem  Sinn,  daß 
die  späteren  Phasen  ein  quantitatives  Wachstum  der  in  der  ersten  Phase 
neu  erworbenen  Grundformen  aufweisen  und  zugleich  eine  qualitative 
Veränderung,  die  sich  in  einer  zunehmenden  Differenzierung  und  Selbst- 
entfaltung der  Teile  äußert.  In  der  ersten  Periode  —  Steinzeit  —  ist 
dieser  Wachstumsprozeß  naturgemäß  in  erster  Linie  eine  Befreiung 
des  Ornaments  selber  von  seinem  Träger,  der  Kunstform  von  der 
Natur-(Nutz-)form.  In  den  späteren  I^erioden  ist  zwar  auch,  die  zu- 
nehmende Emanzipation  deutlich  erkennbar,  diese  tritt  jedoch  an  Be- 
deutung zurück  hinter  der  morphologischen  Verwandlung  der  Kunst- 


448  F.  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

form  selber.  Diese  erinnert  in  der  zweiten  Periode  —  Bronzezeit  — 
auffallend  an  das  vegetabile  Wachstum;  in  der  dritten  Periode  —  ger- 
manische Eisenzeit  —  führt  eine  gesteigerte  willkürliche  Bewegung 
erst  zu  phantastischen  Tiergestalten  und  geht  schließlich  über  jede 
organische  Bindung  hinaus. 

Eines  der  wichtigsten  Ergebnisse  unserer  Untersuchung  sehe 
ich  in  der  Feststellung  des  Verhältnisses  der  drei  prähistorischen 
Entwicklungsperioden  als  kristallinisch- vegetabilisch-anima- 
lisch. Die  letzte  Erklärung  dieser  spontan  zustandegekommenen  Über- 
einstimmung mit  der  Entwicklung  der  Form  in  den  drei  Naturreichen 
mag  das  Werk  der  philosophischen  Spekulation  sein.  Ich  bekomme 
den  Eindruck,  daß  wir  eine  Entwicklung  der  absoluten  Form 
annehmen  müssen,  welche  feststehenden  immanenten  Gesetzen  unter- 
liegt, die  sich  sowohl  in  der  Natur  wie  in  der  Kunst,  wo  diese  rein 
abstrakte  Formen  gestaltet,  Geltung  verschaffen. 

Es  wäre  eine  dankbare  und  verführerische  Aufgabe,  die  hier  zum 
Vorschein  tretende  gemeinsame  Grenze  zwischen  der  Natur-  und  Kunst- 
ästhetik näher  zu  verfolgen  und  die  Ergebnisse  beider  einer  wechsel- 
seitigen Kontrolle  zu  unterwerfen.  Ich  hoffe  das  an  anderer  Stelle 
durchzuführen,  kann  hier  aber  nicht  umhin,  auf  die  überraschende  Tat- 
sache hinzuweisen,  daß  der  gesamte  hier  skizzierte  Entwicklungsgang 
in  den  Hauptzügen  schon  bei  einem  Denker  zu  finden  ist,  der  von  der 
Entwicklung  der  nordischen  Kunstformen  noch  keine  Ahnung  haben 
konnte,  ich  meine  Swedenborg.  Schon  Swedenborg  weiß  in  seinem 
Regnu/n  anmale  (1744)  über  eine  Entwicklung  der  absoluten  Form 
zu  berichten,  die  von  der  geraden  oder  winklig  gebrochenen  Linie  aus- 
geht, über  den  Kreis  und  die  Spirale  zu  »Wirbelformen«  gelangt,  um 
sich  schließlich  zu  Formen  zu  erheben,  die  außerhalb  unseres  Gebietes 
und  offenbar  in  die  historische  Kunstentwicklung  fallen.  All  diese 
Formen  sind  aber  als  Leitmotive  der  von  uns  behandelten  Perioden 
in  der  Tat  vorhanden,  und  zwar  viel  deutlicher  erkennbar  als  in  der 
Natur,  die  doch  wahrscheinlich  den  »Magiker  des  Nordens«  zu  seinen 
seltenen  Gedanken  angeregt  haben  muß. 

Kehren  wir  zur  Kunst  zurück,  so  möchte  ich  noch  bemerken, 
daß  die  beobachtete  Entwicklung  zum  Teil  als  eine  stäiige  Verände- 
rung, als  Evolution,  auftritt,  zum  Teil  auch  als  ein  plötzlicher  und 
radikaler  Umschlag  gegen  das  zuvor  Erreichte.  Ersteres,  die  Evolution, 
ist  im  besonderen  innerhalb  des  Verlaufes  der  verschiedenen  Perioden 
selber  zu  beobachten,  dann  auch,  sei  es  auch  weniger  ausgesprochen, 
beim  Übergang  von  der  zweiten  zur  dritten  Periode,  mögen  beide  auch 
infolge  äußerer  Einflüsse  durch  eine  jahrhundertelange  Unterbrechung 
der  Entwicklung  voneinander  getrennt  sein.   Das  deutlichste  Symptom 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  449 

einer  revolutionären  Neuorientierung  dagegen  gibt  der  Über- 
gang von  der  Steinzeit  mit  ilirer  I<ristallinen,  geradlinigen  Ornamentik 
zur  Bronzezeit  mit  ihren  krummlinigen  Formen,  die  dann,  von  dem 
Kreise  ausgehend,  die  formale  Grundlage  des  gesamten  organischen 
Wachstumsprozesses  enthalten.  Auch  hier  ist  die  Analogie  mit  der 
natürlichen  Entwicklung  auffallend. 

Für  die  Kunstwissenschaft  ist  die  Feststellung  einer  solchen  Spaltung 
in  drei  Perioden,  von  denen  die  beiden  letzten  eng  zusammenhängen, 
wichtig,  weil  sie  die  gleiche  Erscheinung  für  die  historischen  Kunst- 
epochen festgestellt  hat  (romanischer  Stil,  Früh-,  Spätgotik;  Renaissance, 
Barock,  Rokoko),  Mehr  noch:  die  scharf  kritische  Analyse  der  Stil- 
merkmale ist  für  die  geschichtliche  Kunstentwicklung  zu  einer  exakten 
Formulierung  der  Gegensätze  zwischen  den  verschiedenen  Stilphasen 
gelangt.  Vergleichen  wir  nun  diese  Resultate  mit  der  oben  dargestellten 
Entwicklung  der  ältesten  nordischen  Kunst,  so  zeigt  sich  eine  so 
schlagende  Übereinstimmung,  daß  wir  die  gleiche  Formulierung  fast 
wörtlich  übernehmen  können,  ja,  dafi  wir  das  Gefühl  bekommen,  daß 
hier,  in  der  prähistorischen  Ornamentik,  die  Grundlagen 
der  mittelalterlichen  und  neueren  Kunstentwicklung  schon 
in  einem  einfachen  Schema  vorgezeichnet  werden  •).  Daß 
den  prähistorischen  Kunstformen  dieser  eminent  propädeutische  Wert 
für  die  Kunstwissenschaft  zukommt,  braucht  nicht  zu  verwundem. 
Wie  die  Biologie  schon  längst  die  niedrigsten  Formen  des  natür- 
lichen Lebens  untersucht,  in  der  Erkenntnis,  daß  sie  gerade  dort  am 
ehesten  Aufschluß  über  die  Grundfragen  erhalten  kann,  die  das  natür- 
liche Leben  betreffen,  so  wird  auch  die  Kunstwissenschaft,  in  dem 
Maße,  wie  sie  ihren  pragmatischen  Charakter  verliert  und  das  Wissen 
von  den  Künstlern  und  den  Kunstwerken  sich  zum  Wissen  von  den 
Kunstformen  gestaltet,  sich  mehr  und  mehr. diesen  unscheinbaren 
Strichen  und  Schnörkeln  als  den  niedrigsten  Formen  des  geistigen 
Lebens  zuwenden  müssen,  um  zu  verstehen,  was  in  den  höheren,  viel 
verwickeiteren  und  gewiß  auch  viel  »schöneren«  Erscheinungen  der 
späteren  Kunst  eigentlich  geschieht. 

Leider  muß  ich   mir  im   Rahmen   dieser  vorläufigen   Darstellung 
die  systematische  Behandlung  versagen,  deren  dieses  wichtige  Problem 


')  Und  zwar  bezieht  sich  das  aiif  das  Verhältnis  sowohl  der  Phasen  innerhalb 
der  drei  Perioden,  als  der  Perioden  unter  sich.  Die  Aufgabe  müßte  also  sein,  den 
von  der  modernen  Kunstwissenschaft  aufgedeckten  Stilkriterien  (Heinrich  Wölfflin, 
Kunstgeschichtliche  Grundbegriffe;  I'aul  Frank!,  Die  Entwicklungsphasen  der  neueren 
Baukunst)  sowohl  innerhalb  der  Stein-,  der  Bronze-  und  der  Eisenzeit  als  in  dem 
Verhältnis  dieser  drei  Entwicklungsperioden  des  nordischen  Altertums  selber  zu 
verfolgen. 

Zeitschr.  f.  Ästhetik  u.  allg.  Kunstwissenschaft.    W.  29 


450  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 

bedarf,  um  vollauf  gewürdigt  werden  zu  können.  Es  sei  nur  darauf 
hingewiesen,  daß  bekanntlich  die  innere  Verwandtschaft  der  germani- 
schen Tierornamentik  mit  den  Stilphasen  der  Gotik  und  des  Barocks 
schon  früher  empfunden  worden  ist  und  sogar  dazu  geführt  hat,  dieses 
Tierornament  als  eine  latente  »Gotik«  hinzustellen  i).  Diese,  durch 
rassenpsychologische  Erwägungen  etwas  beeinträchtigten  Anschauungen 
werden  aber  meiner  Ansicht  nach  leicht  zu  falschen  Schlüssen  führen, 
solange  diese  Tierornamentik  nicht  selber,  ebenso  wie  die  Gotik  und 
das  Barock,  als  das  letzte  Stadium  eines  Entwicklungsprozesses  er- 
kannt wird,  das  weit  in  das  prähistorische  Altertum  zurückführt,  d.  h. 
in  eine  Kunstepoche,  die  von  der  Kunstwissenschaft  noch  immer  keines 
Blickes  würdig  gefunden  wird. 

Zum  Schluß  noch  folgendes.  Es  ist  eine  ebenso  schwierige  und 
gefährliche  wie  dankbare  und  bedeutsame  Aufgabe,  aus  den  Kunst- 
formen auf  das  geistige  Leben  zu  schließen,  dessen  Spiegel  sie  sind. 
Zwar  ist  es  leicht,  den  eigentümlichen  Charakter,  der  dem  Beschauer 
in  einem  Kunstwerk  beziehungsweise  in  einer  bestimmten  Stilform  ent- 
gegentritt, auch  für  den  Schöpfer  in  Anspruch  zu  nehmen,  und  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  wird  das  auch  berechtigt  sein,  obwohl  wir 
auf  Grund  solcher  mehr  oder  weniger  persönlichen  Eindrücke  nie  zu 
exakten,  objektiv  feststehenden  Ergebnissen  gelangen  werden.  So  ver- 
mögen wir  uns  zu  denken,  daß  die  leidenschaftlichen,  zügellosen,  rast- 
los immer  neue  Konflikte  suchenden  Formen  der  germanischen  Völker- 
wanderungszeit in  der  Tat  der  angemessene  Ausdruck  für  den  Geist  der 
germanischen  Heldenzeit  sind,  mit  ihrer  höchsten  Verehrung  der  Kraft 
um  der  Kraft  willen,  des  Kampfes  um  des  Kampfes  willen,  und  ich 
bin  überzeugt,  daß  wir  angesichts  der  früheren  Stilperioden  annehmen 
dürfen,  daß  dieser  Geist  keineswegs  für  das  gesamte  nordische  Alter- 
tum bezeichnend  sein  kann.  Parallelen  zum  späten  Mittelalter  z.  B. 
liegen  da  nahe.  Es  scheint  mir  aber,  daß  wir  an  der  Hand  der  ge- 
gebenen kritischen  Betrachtung  des  Ornaments  auf  ganz  anderen  Wegen 
zu  genaueren  und  bedeutsameren  Schlüssen  gelangen  können.  Ich 
gebe,  nur  um  den  hier  gemeinten  Gedankengang  zu  skizzieren,  ein 
Beispiel. 

Als  das  religiöse  Korrelat  zur  Darstellung  der  in  dem  nützlichen, 
d.  h.  natürlich  gegebenen  Gegenstand  liegenden  und  unlösbar  mit 
diesem  verbundenen  Kräfte  —  in  der  Steinzeit  —  betrachte  ich  die 
kultische  Verehrung  der  natürlich  gegebenen  Objekte  selber,  d.  h.  des 
Steines,  des  Baumes,  des  Tieres,  aber  dann  auch  der  von  dem  Men- 
schen angefertigten  Geräte:  des  Schwertes,  des  Speers,  der  Axt,  des 


')  Wilhelm  Worringer,  Formprobleme  der  Gotik. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT.  451 

Tongefäßes  usw.  Allgemeiner  gesagt:  es  ist  eine  Naturreiigion,  ein 
Kultus  der  in  der  Natur  gelegenen  Kräfte,  jedoch  nicht  als  Abstraktion 
und  noch  viel  weniger  von  neuem  personifiziert  in  anthropomorphen 
Gestalten,  sondern  vor  den  konkreten,  beseelt  gedachten  Gegenständen. 
Erst  später  wird  von  dem  sinnlich  Gegebenen  abstrahiert,  das  schließ- 
lich nur  noch  zum  Attribut,  zum  Symbol  wird  einer  mehr  oder  weniger 
menschlich  gedachten  Gottheit,  die  ihrerseits  die  Personifikation  eines 
abstrakten  Begriffes  darstellt  >). 

Ich  glaube  nun  erstens,  daß  die  prinzipielle  Abneigung  des  nor- 
dischen Altertums  gegen  alle  bildkünstlerischen  Bestrebungen  ein  sicheres 
Zeichen  ist,  daß  man,  im  Gegensatz  zum  Süden,  hier  nie  zu  dieser 
menschlich  gedachten  Abstraktion  der  Naturkräfte  übergegangen  ist, 
mit  anderen  Worten,  daß  die  bekannten  Göttergestalten  der  höheren 
germanischen  Mythologie  ein  Produkt  aus  sehr  später  Zeit  sein  müssen 
und  höchst  wahrscheinlich  aus  dem  Süden  übernommen  und  den 
nordischen  Verhältnissen  angepaßt  worden  sind.  Zum  gleichen  Er- 
gebnis gelangen  auf  ganz  anderen  Wegen  der  Philologe  Sophus  Bugge 
und  auch  Salin,  der  diesen  Götterimport  mit  der  Übernahme  der  süd- 
lichen Tiergestalten  in  Zusammenhang  bringt  und  mit  der  der  Schrift, 
d.  h.  mit  dem  Entstehen  der  Runen. 

Anderseits  scheint  mir,  daß  allerdings  auch  im  Norden  bei  der 
religiösen  Verehrung  eine  Abstraktion  vom  konkreten  Gegen- 
stand stattgefunden  haben  muß,  und  zwar,  streng  bei  unserer  orna- 
mentalen Analyse  bleibend,  auf  Grund  der  ästhetischen  Abstraktion 
vom  Gegenstande,  die  wir  mit  dem  Beginn  des  Bronzealters  fest- 
stellen konnten.  Es  waren  da  nicht  mehr  die  in  dem  natürlich  ge- 
gebenen Gegenstand  selber  schlummernden  Kräfte,  die  das  Interesse 
erregten  und  eine  künstlerische  Interpretation  fanden  —  es  entfaltete 
sich  ein  selbständiges  Leben  in  Formen,  die,  unabhängig  vom  Gegen- 
stand, ihn  freiwillig  umspielten.  Ich  sehe  aber  die  Revolution  in  den 
religiösen  Anschauungen,  die  sich  während  der  Bronzezeit  durchsetzt 
und  in  dem  Auftreten  der  Leichenverbrennung  statt  der  Leichenbestat- 
tung ihren  Ausdruck  findet,  als  das  religiös-geistige  Korrelat  zu  dieser 
Wandlung  der  künstlerischen  Anschauung:  auch  hier  offenbart  sich 
die  Überzeugung,  daß  die  Quelle  der  geistigen  Kräfte  nicht  mehr 
identisch  und  nicht  mehr  unlösbar  verknüpft  ist  mit  dem  natürlich 
gegebenen    Körper.     Die    Emanzipation    des  Ornaments    als 


')  Belege  dafür,  daß  auch  bei  den  Naturvölkern  die  unmittelbar  gegebene 
Naturkraii  bzw,  der  konkrete  Gegenstand  und  nicht  ein  ungreifbares  Abstraktum 
Ausgangspunkt  der  religiösen  Entwicklung  ist,  in  dem  ausgezeichneten  Werkchen 
von  K.  Th.  Preuß,  Die  geistige  Kuhur  der  Naturvölker.  Aus  Natur-  und  Oeistes- 
welt  S.  16,  26  ff.,  47  ff.  usw. 


452  F-  ADAMA  VAN  SCHELTEMA. 


geistige  Form  vom  natürlichen  Körper  des  Trägers  be- 
deutet den  Glauben  an  die  Selbständigkeit  des  Geistes  in 
Beziehung  zum  Körper,  den  Glauben  an  die  Selbständig- 
keit der  Seele. 

Erklärung  der  Tafeln  I— III. 

1.  Krug  aus  einer  »kleinen  Stubec,  Dänemark.  Frühe  Megalithkeramik,  erste  Phase 
der  geradlinigen  Ornamentik.  Die  schon  durch  die  Form  gegebene  klare  Gliede- 
rung des  Gefäßes  in  dem  eigentlichen  Behälter  (Bauch),  Schultern  und  Hals 
wird  durch  das  Ornament  nochmals  hervorgehoben.  Von  dem  Knick  zwischen 
Hals  und  Schultern  strahlen  die  Schulterlinien  aus  bis  zur  Stelle,  wo  der  Oefäß- 
bauch  seine  größte,  durch  einen  Gürtel  aus  kleinen  Dreiecken  markierte  Aus- 
weitung erreicht.  Abbildung  nach  S.  Müller,  Nord.  Altert.,  Abbildung  36, 
Höhe  22  cm. 

2.  Schale  aus  Osnabrück.  Entwickelte  Megalithkeramik,  zweite  Phase  der  gerad- 
linigen Ornamentik.  Trotz  des  Fehlens  einer  Gliederung  der  Gefäßwand  unter- 
scheidet das  Ornament  doch  einen  unteren,  fassenden,  und  einen  oberen  Rand- 
teil, durch  eine  wagrechte,  die  Griffwarzen  verbindende  Linie  von  einander  ge- 
trennt. Divergierende  »Wandlinien«bündel  am  Bauch;  der  Rand  wird  von 
neuem  gegliedert  in  einen  breiteren,  gemusterten  Streifen  und  einen  dreifachen 
Saum.  Abbildung  nach  Kossinna,  Die  deutsche  Vorgeschichte,  Abbildung  11, 
Randbreite  zirka  22  cm. 

3.  Krug  aus  Weddegast.  Bernburger  Keramik,  dritte  Phase  der  geradlinigen 
Ornamentik.  Das  Ornament  ist  nicht  mehr  dienend,  noch  begleitend,  sondern 
herrschend.  Die  wagrechten  Linien  auf  Hals  und  Schultern  besitzen  keine 
struktiv-symbolische  Bedeutung  mehr,  sie  bilden  ein  zusammenhängendes  Kleid. 
In  diesem  neuen  Grunde  wird  das  charakteristisch  spätneolithische  Zickzack- 
muster ausgespart,  der  nackte,  ursprüngliche  Grund  erscheint  hier  also  als 
Muster.    Abbildung  nach  Kossinna,  a.a.O.,  Abbildung  41.  Höhe  22cm. 

4.  Kreise  und  Spiralen  als  Grundelemente  der  Bronzezeitornamentik,  Keimzellen 
der  organischen  Form  der  Bronzezeit.  Abbildung  nach  S.  iVlüller,  a.  a.  C,  Ab- 
bildung 161,  162. 

5.  Brustplatte  aus  Langsfrup,  Seeland.  Die  ein-  und  ausrollenden  Spiralen  machen 
den  Eindruck  isolierter,  gemusterter  Kreise.  Abbildung  nach  Kossinna,  Abbil- 
dung 164,  Durchschnitt  30  cm. 

6.  Formen  aus  der  zweiten  Phase  der  krummlinigen  Ornamentik.  Bandformung, 
durchgehende  Bewegung,  keine  Reihen  isolierter  Elemente,  sondern  Wellen 
oder  Ranken  mit  regelmäßiger,  freier  Wiederholung  gleicher  Teile  oder  Organe. 
Unten  links:  Lippenblumenähnliche  freie  Endungen.  Abbildung  nach  S.  Müller, 
Abbildung  214-219. 

7.  Rasiermesser  aus  der  späten  Bronzezeit.  Die  selbständigen  Drachenfiguren  be- 
rücksichtigen kaum  noch  die  Form  des  Trägers.  Abbildung  nach  S.  Müller, 
Abbildung  220,  Länge  10,5  cm. 

8.  Germanische  Bügelnadel  aus  Seeland  (Silber).  Die  fremden  Tiere  haben  sich 
auf  die  Ränder  der  Fußplatte  niedergelassen,  die  starke  Betonung  der  Konturen 
führt  schon  den  Zerfall  der  Körper  herbei.  Die  Spiralhäkchen  auf  Bügel  und 
Kopfplatte  sind  Derivate  vom  antiken  Akanthusblattwerk.  Abbildung  nach 
Salin,  Die  altgerm.  Tierom.,  Abbildung  134,  Länge  16  cm. 


BEITRÄGE  ZUR  LEHRE  VOM  ORNAMENT,  453 

9.  Kopf-  und  Fußplatte  einer  silbernen  Bügelnadel  aus  Finnland.  Die  Tiere  sind 
absorbiert  und  verdaut.  Völlige  Zerlegung  in  isolierte  Teile,  die  das  Baumaterial 
für  die  Form  der  zweiten  Phase  abgeben.  Abbildung  nach  Salin,  Abbil- 
dung 527,  Breite  der  Kopfplatte  8,5  cm. 

10.  Knopf  eines  Schwertgriffes,  Uppland.  Zweite  Phase  der  Tierornamentik.  Band- 
formung, durchgehende  Linien,  willkürliche,  plötzlich  veränderliche  Bewegung. 
Die  Einheit  beruht  ausschließlich  auf  Symmetrie.  Abbildung  nach  Salin,  Ab- 
bildung 588,  Breite  zirka  5,5  cm. 

11.  Germanische  Wirbelformen  aus  Oolhland  (Bronze).  Deutlich  ist  die  Svastika 
als  Grundfigur  zu  erkennen.  Abbildung  nach  Salin,  Abbildung  596  ff.,  Durch- 
schnitt 4  cm. 

12.  Zierformen  von  einer  Bügelnadel  aus  Uppland.  Dritte  Phase  der  Tieiorna- 
mentik.  Der  animalische  Charakter  verschwindet,  zunehmende  Willkür,  Auf- 
hebung der  Symmetrie.    Abbildung  nach  Salin,  Abbildung  622,  Höhe  5  cm. 


Bemerkungen. 


Hugo  Goldschmidt 

Von 
Johannes  Wolf. 

Am  26.  Dezember  1920  starb  Hugo  Goldschmidt.  Mit  ihm  ist  einer  der  fleißig- 
sten musikwissenschaftlichen  Arbeiter  dahingegangen.  Am  19.  September  1859  zu 
Breslau  geboren,  Jurist  von  Hause  aus,  kam  er  über  den  Sängerberuf  zur  Wissen- 
schaft. Ihn  trieb  es,  die  im  Unterrichte  Stockhausens  gewonnenen  Kenntnisse 
historisch  zu  vertiefen.  Wenn  er  auch  nicht  verkannte,  daß  in  den  kirchlichen  Ge- 
sangschulen seit  alters  her  die  solistische  Ausbildung  eine  reiche  Blüte  erlebte,  die 
in  fein  geschwungenen,  tonreichen  Melodien  des  gregorianischen  Gesanges  ihren 
Ausdruck  fand,  so  setzte  seine  Forschung  bewußt  und  mit  einem  gewissen  Recht 
doch  erst  in  der  Zeit  der  Spätrenaissance  ein,  die  in  ihren  monodischen  Formen 
den  künstlerischen  Einzelgesang  forderte  und  seine  schulmäßige  Pflege  zur  Voraus- 
setzung hatte.  Eine  erste  Frucht  seiner  Studien,  die  unter  den  Augen  Emil  Bohns 
heranreifte,  war  »Die  italienische  Gesangsmethode  des  17.  Jahrhunderts  und  ihre 
Bedeutung  für  die  Gegenwart« '),  ein  Werk,  das  für  seine  Zeit  volle  Anerkennung 
verdient  und  auf  tüchtiger  Quellenkenntnis  aufgebaut  ist. 

Seine  weiteren  Studien  führten  Goldschmidt  nach  Berlin,  wo  er  als  einer  der 
Leiter  des  Klindworthschen  Konservatoriums  auf  das  Musikleben  Einfluß  gewann, 
Oesangunterricht  erteilte  und  auch  durch  historische  Konzerte  für  die  Wiederbe- 
lebung älterer  Musik  eintrat.  Er  war  einer  der  ersten,  der  hier  die  reiche  und  dank- 
bare Madrigalliteratur  des  16.  Jahrhunderts  zu  neuem  Leben  zu  erwecken  suchte. 
Sein  Hauptstreben  galt  aber  der  Musikgeschichte,  betrachtet  unter  dem  Gesichts- 
winkel der  Gesangspädagogik.  Mit  aller  Eindringlichkeit  suchte  er  den  Geist  des 
17.  Jahrhunderts,  in  dem  für  die  virtuose  Gesangstechnik  der  Grund  gelegt  wurde, 
zu  erfassen.  Bald  beschäftigten  ihn  SpezialStudien  über  das  Orchester  *),  bald  solche 
über  das  Formenmaterial ').  Die  bisher  arg  vernachlässigte  römische  Oper  wurde 
von  ihm  in  ihrem  Gegensatz  zu  der  der  Florentiner  und  Venetianer  klar  erkannt 
und  in  einem  besonderen  Buche  »Studien  zur  Geschichte  der  italienischen  Oper  im 
17.  Jahrhundert«')  behandelt.  Aber  auch  der  Venetianer  Oper,  die  in  Monteverdi 
einen  der  glänzendsten  Vertreter  fand,  kamen  seine  Forschungen  zugute.  Er  erwies 
den  »Ritomo  d'Ulisse«^)  als  ein  bedeutendes  Werk  Monteverdis  und  legte  im  2.  Band 


')  Breslau,  Schlesische  Buchdruckerei  1890. 

')  »Das  Orchester  der  italienischen  Oper  im  17.  Jahrhundert«  (Sammelbände  der 
IMG  II  [1900]  Seite  16  ff.). 

')  »Zur  Geschichte  der  Arie-  und  Sinfonieformen«  (Monatshefte  für  Musikge- 
schichte 33). 

*)  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel  1901. 

')  Claudio  Monteverdis  Oper:  »II  ritomo  d'Ulisse  in  patria«  (Sammelbände  der 
IMG  IX,  570  ff). 


BEMERKUNGEN.  4S5 


seiner  »Studien«')  die  von  Hermann  Kretzsciiniar  als  wertvollste  Schöpfung  IWonte- 
verdis  iiingestellte  »Incoronazione  dl  Poppea«  in  Neudruci<  vor.  Schließlich  (rüg 
er  auch  zur  Klärung  der  Neapolitaner  Oper  bei:  »Francesco  Provenzales  Bedeutung 
als  Dramatiker«  wurde  von  ihm  festgelegt  und  dieser  als  Richtung  gebendes  Haupt 
der  neapolitanischen  Schule  vor  Alessandro  Scarlatti  charakterisiert  *).  Die  Geschichte 
lehrte  ihn  weiter,  wie  der  Sänger  nicht  nur  seine  Vorlage  wiedergab,  sondern  ihr  gegen- 
über sich  auch  schaffend  betätigte,  welche  Macht  der  Gestaltung  ihm  das  Verzie- 
rungswesen, die  gorgia  in  die  Hand  legte.  Ein  neues  Werk  wuchs  aus  seinen 
hierauf  gerichteten  Untersuchungen  heraus,  die  »Lehre  von  der  vokalen  Omamentikt*). 
Mit  bewunderungswürdigem  Fleiße  und  feinem  Stilempfinden  folgte  er  den  gesang- 
lichen Absichten  der  einzelnen  Meister  des  17.  und  18.  Jahrhunderts  bis  Gluck  hin 
und  legte  ihr  Verzierungswesen  klar.  Schritt  für  Schritt  bahnte  er  sich  den  Weg 
zum  vollen  Verständnis  der  vergangenen  Kunstpraxis.  Alte  Erkenntnis  für  die  heutige 
Praxis  nutzbar,  verschüttete  Wege  zur  Kunstübung  wieder  gangbar  zu  machen,  das 
war  das  Ziel  seines  Strebens.  Die  Historie  war  ihm  Mittel  zum  Zweck,  selbst  in 
Aufsätzen,  mit  denen  er  unmittelbar  in  die  heutige  Praxis  eingriff,  wie  »Sprach- 
gesang und  Vokalise«*)  oder  'Die  ausgleichende  Regelung  der  deutschen  Bühnen- 
sprache«'*). Ein  Mann  von  seiner  theoretischen  und  geschichtlichen  Kenntnis  des 
Gesanges,  von  seiner  praktischen  Lehrerfahrung  fühlte  sich  mit  Recht  berufen,  ein 
»Handbuch  der  Gesangspädagogik^")  zu  schreiben.  Leider  blieb  das  Werk  unvoll- 
endet, nur  der  erste  Teil  erschien. 

Das  letzte  Jahrzehnt  seines  Lebens  war  ein  steter  Kampf  mit  seinem  gebrech- 
lichen Körper;  jede  neue  wissenschaftliche  Leistung  mußte  diesem  mühselig  abge- 
rungen werden.  Und  trotzdem  war  Goldschmidt  bis  zum  Ende  rastlos  tätig.  Drama- 
tische Werke  des  Neapolitaners  Traetta  brachte  er  in  den  Denkmälern  der  Tonkunst 
in  Bayern ')  zum  Druck.  Vor  allem  aber  fesselte  ihn  die  Musikästhetik,  die  er  schon 
in  früheren  Arbeiten  gestreift  hatte.  Kleinere  Studien,  wie  »W.  Heinse  als  Musik- 
ästhetiker«")  und  »Reform  der  italienischen  Oper  des  IS.Jahrhunderts  und  ihre  Beziehun- 
gen zur  musikalischen  Ästhetik«  °)  sowie  »Die  konkret-idealistische  Musikauffassung 
im  18.  Jahrhundert«'")  bildeten  den  Auftakt  zu  seiner  1915  erschienenen  umfassenden 
»Musikästhetik  des  18.  Jahrhunderts  und  ihre  Beziehungen  zu  seinem  Kunstschaffen«  "), 
welche  einen  klaren  Einblick  in  den  Wandel  der  musikästhetischen  Anschauungen  des 
IS.Jahrhunderts  gewährt  und  das  Kunstschaffen  mit  dem  Kunstgenießen  in  Beziehung 
setzt.  Wieder  schon  beschäftigten  ihn  neue  Probleme,  ein  Werk  entstand  »Die 
Ästhetik  des  Sebastian  Bachschen  Kunstschaffens,  eine  Absage  an  die  französische 
Schule«.    Schon  waren  einzelne  Teile  wie  »Tonsymbolik«  '»),  »Die  Mehrstimmigkeit 


')  Leipzig,  Breitkopf  und  Härtel.  1904. 
»)  Sammelbände  der  IMG.  VII,  608  ff. 
»)  Charlottenburg,  Paul  Lehsten  1907. 
*)  Blätter  für  Hausmusik  und  kirchliche  Kunst  5,  I. 
")  Allgemeine  Musikzeitung  15. 
•)  1.  Auflage  1896,  2. 

')  Jahrgang  XIV,  1  (1913)  und  XVII,  2  (1916). 
")  Leipzig,  Max  Hesse  1901  Seite  10  ff. 

*)  3.  Kongreß  der  Internationalen  Musikgesellschaft.  Bericht,  (Wien,  Leipzig  1909) 
Seite  196  ff. 

'")  In  dieser  Zeitschrift  erschienen. 

")  Zürich  und  Leipzig,  Rascher  und  Co. 

'^)  In  dieser  Zeitschrift  erschienen. 


456  BEMERKUNGEN. 


der  charakterisierenden  Themen  in  S.  Bachs  Kirchenmusik. ')  und  »Die  Anführung 
von  Kirchenmelodien  in  den  Mitteiteilen  der  J.  S.  Bachschen  Kantaten«  ^)  in  Zeit- 
schriften erschienen,  als  der  Tod  seinem  rührigen  Schaffen  Halt  gebot.  Ein  großes 
Wollen  und  ein  ehrliches  Können  fanden  damit  ihren  Abschluß.  Ehre  einem  solchen 
Arbeiter,  der  seinen  Beruf  so  hoch  erfaßt  und  trotz  körperlichen  Leidens  so  treu  er- 
füllt, wie  Hugo  Ooldschmidt!    Seine  Fachgenossen  werden  ihn  nicht  vergessen. 


Über  das  System  der  Künste. 

Von 
J.  J.  de  Urries  y  Azara. 

Benedetto  Croce  hält  jede  Teilung  der  Kunst  für  nutzlos  und  eine  daraus  ab- 
zuleitende besondere  Theorie  der  verschiedenen  Künste  für  unmöglich :  man  könne 
nur  von  Kunst  im  allgemeinen  sprechen,  nicht  von  einer  ästhetischen  Theorie  jeder 
einzelnen  Kunst  (unbeschadet  ihrer  verschiedenen  Technik).  In  Wahrheit  sondern 
sich  die  Künste  nicht  nur  durch  ihre  Ausdrucksniittel.  Die  Konzeption  von 
Raffaels  »Brand  des  Borgo«  ist  eine  ganz  andere  als  diejenige,  die  ein  Dichter  für 
denselben  Gegenstand  haben  kann:  eben  eine  malerische.  Wenn  man  mit  Croce 
glauben  soll,  daß  derselbe  ästhetische  Sachverhalt  sich  erst  beim  Übergang  zur 
Ausführung  differenziert,  so  muß  man  ein  inneres  Bild  voraussetzen,  das  weder 
optisch  noch  akustisch  oder  auch  beides  zugleich  ist. 

Im  Gegensatz  zu  Croce  erklärt  Volkelt  eine  Gliederung  der  Kunst  für  notwendig. 
Er  will  sie  aber  nur  auf  die  Psychologie  des  künstlerischen  Schaffens  gründen  und 
verwirft  die  anderen  Einteilungen  als  abstrakt.  Indessen,  Abstraktionen  lassen  sich 
nicht  vermeiden.  Sie  brauchen  ja  nicht  so  seltsam  zu  sein  wie  die  des  Italieners  Fausto 
Squillace,  der  Baukunst,  Bildhauerei  und  —  Sport  als  Künste  der  Berührung  zu- 
sammenfaßt, weil  ihre  Gegenstände  tastbare  Gestalt  besitzen;  ebensogut  könnte 
man  die  Malerei  als  Kunst  des  Geruchsinnes  bezeichnen,  weil  Ölfarben  und  Firnis 
riechen.  Es  gibt  doch  Klassifikationen  von  Rang,  an  die  unser  Versuch  sich  an- 
schließen soll.  Grundlegend  ist  Lessings  Unterscheidung  der  Raum-  und  Zeitkünste. 
An  sie  knüpft  Schasler  an  (wenn  wir  Kant,  Hegel,  Vischer  übergehen  dürfen,  da 
ihre  Systeme  den  Lesern  dieser  Zeitschrift  bekannt  sind)  und  erweitert  sie  durch 
Einbeziehung  der  Musik:  Baukunst,  Bildhauerei,  Malerei  —  Musik,  Gebärdenkunst, 
Poesie.  Man  hat  dagegen  eingewendet,  daß  doch  auch  der  Dichter  unserer  Ein- 
bildungskraft Räumliches  darzustellen  vermag  und  daß  der  bildende  Künstler  den 
Eindruck  der  Bewegung  hervorrufen  kann.  Aber  was  tatsächlich  aufgenommen  wird, 
ist  und  bleibt  in  dem  einen  Fall  Räumliches,  in  dem  anderen  Fall  Zeitliches:  wenn 
wir  gleichzeitig  alle  Töne  einer  Beethovenschen  Sonate  hörten,  so  wäre  das  keine 
Musik,  und  wenn  wir  alle  Farbenschattierungen  eines  Rubensschen  Gemäldes  hinter- 
einander an  unserem  Auge  vorübergleiten  ließen,  so  wäre  das  kein  Bild.  Hiermit 
ist  eine  notwendige  Aufeinanderfolge  bei  Bildbetrachtungen  nicht  ausgeschlossen, 
auch  nicht  das  fviovoi  in  der  Musik,  das  Aristoxenos  entdeckt  und  Riemann  uns  in 
die  Erinnerung  gerufen  hat.  Ebensowenig  ist  eine  Verbindung  der  beiden  Gruppen 
ausgeschlossen.    Tatsächlich  liegt  sie  im  Tanze  vor,  die  Mila  eine   »zugleich  ko- 


')  Festschrift  Hermann  Kretzschmar  (Leipzig,  C.  F.  Peters  1918)  Seite  37  ff. 
')  Zeitschrift  für  Musikwissenschaft  li  (1920)  Seite  392  ff. 


BEMERKUNGEN.  457 


existente  und  sukzessive  Plastik«  nennt.  Auch  wir  anerkennen  neben  den  Künsten 
des  Raumes  oder  der  Zeit  solche  des  Raumes  und  der  Zeit. 

Von  den  zeitgenössischen  Ästhetikern  hat  Volkelt  die  reichhaltigsten  und  aus- 
führlichsten Betrachtungen  angestellt.  Es  wurde  schon  bemerkt,  daß  seine  Ein- 
teilung sich  an  die  Psychologie  des  künstlerischen  Schaffens  anschließt.  Von  vier 
Punkten  geht  sie  aus.  Sie  gliedert  die  Künste  erstens  nach  den  Arten  der  Sinnlich- 
keit in  optische,  akustische  und  optisch-akustische  (wozu  die  Poesie  als  Kunst  der 
Phantasiesinnlichkeit  tritt),  zweitens  vom  Oehalt  her  (dingliche  und  undingliche 
Künste),  drittens  nach  dem  Grade  der  Oeformtheit  des  Stoffes,  viertens  in  bezug 
auf  den  Gebrauchszweck.  Der  letzte  Gesichtspunkt  scheint  uns  mit  dem  ästhetischen 
Wert  nichts  zu  tun  zu  haben,  während  wir  die  ersten  beiden  Einteilungsgründe 
ungefähr  annehmen  können.  Sehr  merkwürdig  ist  die  dritte  Gliederung:  auf  die 
eine  Seite  stellt  sie  die  nachahmenden  Künste  und  die  Musik,  auf  die  andere  die 
Poesie,  nämlich  als  Wortkunst,  neben  Pantomime  und  Gartenkunst.  —  Lipps  teilt 
die  Künste  nach  ihrem  Ausdruck  in  abstrakte  und  konkrete;  Den  geht  von  den 
Sinnen  aus,  von  Gesicht  und  Gehör,  die  allein  allgemeine  Empfindungen  hervor- 
rufen, und  sucht  durch  scharfsinnige  Kombination  zu  ermitteln,  welche  Künste  möglich 
sind.  Dessoirs  hier  als  bekannt  vorausgesetzte,  ziemlich  verwickelte  Klassifikation 
hat  neben  großen  Vorzügen  doch  auch  ihre  Mängel.  Es  fehlen  neben  den  Künsten 
des  Raumes  und  der  Zeit  die  raumzeitlichen  Künste;  die  Mimik  wird  als  Nach- 
ahmungskunst behandelt,  was  beim  Tanz  nicht  zutrifft;  es  werden  fälschlich  die 
Nachahniungskünste  mit  den  konkreten,  die  anderen  mit  den  abstrakten  Künsten 
gleichgesetzt;  endlich  wird  auf  die  Unterschiede  zwischen  Lyrik,  Epos,  Drama  keine 
Rücksicht  genommen.  Am  vollständigsten  ist  vielleicht  Wizes  Übersicht  (in  dieser 
Zeitschrift  II,  178).  Ihre  großen  Gruppen  sind:  redende  Künste,  bildende  Künste, 
Hewegungskünste.  Redende  Künste  und  Bewegungskünste  zerfallen,  je  nachdem 
sie  bestimmte  oder  unbestimmte  Vorstellungen  wecken,  in  Dichtkunst  und  Tonkunst 
auf  der  einen,  Pantomime  und  Tanz  auf  der  anderen  Seite.  Die  bildenden  Künste 
gliedern  sich  nach  demselben  Gesichtspunkt  als  dreidimensionale  in  Bildhauerei  und 
Baukunst  (Kunstgewerbe)  einerseits,  als  zweidimensionale  in  Malerei  (Graphik)  und 
dekorative  Kunst  anderseits.  Hiergegen  wäre  einzuwenden,  daß  auch  hier  die 
Poesie  als  einheitlich  behandelt  und  der  Gesichtspunkt  der  Nachahmung  vernach- 
lässigt wird. 

Mein  eigener  Versuch  eines  Systems  der  Künste  wird  aus  der  folgenden  Tafel 
ersichtlich.  Vier  Einteilungsgründe  (oben  und  unten,  rechts  und  links  aufgeführt) 
bestimmen  das  Gefühl,  Erstens:  Kunstwerke  werden  in  Nachbildung  oder  frei  aus 
dem  Gefühl  geschaffen.  Natürlich  schließt  das  eine  das  andere  nicht  aus;  auch  hat 
Jean  Paul  wohl  recht,  wenn  er  meint,  daß  die  Poesie  immer  subjektiver  geworden 
ist:  man  vergleiche  den  modernen  Roman  mit  dem  klassischen  Heldenepos. 

Wenn  Mila  zwischen  objektiv  und  nachahmend  unterscheidet,  weil  die  Baukunst 

-  -  ohne  nachzuahmen  —  objektive,  d.  h.  äußere  Formen  verwende,  so  finde  ich 
den  Unterschied  nicht  wichtig  und  glaube  überdies,  daß  man  beinahe  dasselbe  von 
der  Musik  sagen  könnte.  —  Zweitens:  konkrete  und  abstrakte  Künste.  Diese  Unter- 
scheidung deckt  sich  vielfach  mit  der  ersten,  aber  doch  nicht  durchweg:  die  (ob- 
jektive) Griffelkunst  z.  B.  wird  abstrakt,  wenn  sie  einen  Menschen  karikiert,  und  die 
(subjektive)  Lyrik  ist  der  Regel  nach  konkret  in  ihrem  Ausdruck.  —  Von  dem  dritten 
Einteilungsgrund  nach  Raum  und  Zeit   ist  das  Nötige  schon  früher  gesagt  worden. 

—  Der  vierte  Gesichtspunkt  der  bildenden  und  musischen  Künste  faßt  unter  dem 
letzten  Namen  die  rhythmischen  Künste  zusammen,  die  im  Altertum  miteinander 
verbunden  waren,  und  die  nach  Spitzers  Vorschlag  dionysische  heißen  könnten;  unter 


458 


BEMERKUNGEN. 


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BEMERKUNGEN.  459 


dem  ersten  Namen  vereinigt  er  Künste,  die  für  das  Auge  bestimmt  sind  und  es  teils 
mit  der  Fläche,  teils  mit  dem  Körper  (und  dann  wieder  nach  Schmarsows  Vorschlag 
mit  Innenraum  oder  nicht)  zu  tun  haben.  Unter  den  musischen  Künsten  gibt  es 
ausführende'),  die  sich  an  die  beiden  oberen  Sinne  wenden  und  gewissermaßen 
von  den  bildenden  Künsten  zur  Wortkunsf  überleiten;  sie  gliedern  sich  nach  der 
Sinnesbeanspruchung  in  drei  Gruppen,  nach  Raum  und  Zeit  in  zwei  Gruppen.  Alles 
übrige  erklärt  sich  durch  einen  Blick  auf  die  Tafel. 

Hieraus  ergibt  sich,  daß  wir  nicht  mehr  einfach  von  sechs  Künsten  sprechen 
dürfen  (Baukunst,  Bildhauerei,  Malerei,  Mimik,  Musik,  Dichtkunst),  sondern  daß  wir 
auch  solche  Fälle  berücksichtigen  müssen  wie  die  Griffelkunst  (objektiv-abstrakt), 
Denkmalskunst  (Baukunst  ohne  Innenraum),  die  Arten  der  Musik,  den  Unterschied 
zwischen  Epos  und  Lyrik  usw.  Die  Verknüpfung  mehrerer  Künste  miteinander,  z.  B. 
im  Musikdrama,  ist  längst  bemerkt  worden;  sie  steht  ästhetisch  höher  "als  die  Be- 
einflussung einer  Kunst  durch  die  andere,  z.  B.  der  Barockskulptur  durch  die  Malerei, 
und  kommt  als  selbständiger  Wert  in  unserer  Tabelle  zum  Ausdruck.  Man  beachte 
die  Dreiteilung  des  Musikdramas,  die  Zweiteilung  der  Vokalmusik,  ferner  die  Höhen- 
lage aller  einzelnen  Angaben,  schließlich  auch  die  jeweils  gewählte  Schriftgröße: 
mit  allen  solchen  kleinen  Mitteln  sind  die  Beziehungen  der  Künste  möglichst  er- 
schöpfend angedeutet  (die  schmückenden  Künste  sind  wegen  ihrer  Unselbständigkeit 
in  Klammern  gesetzt).  Meines  Erachtens  fehlt  in  dieser  Übersicht  nichts  Wesent- 
liches. Wenn  Deri  weitere  Kombinationen  erwähnt,  etwa  das  Lesen  einer  Novelle 
beim  gleichzeitigen  Anhören  von  Musik,  so  handelt  es  sich  bloß  um  eine  Spaltung 
der  Aufmerksamkeit.  Eine  viel  wirksamere  Zusammenstellung  verschiedener  Künste 
findet  sich  im  katholischen  Gottesdienst.  In  einer  herrlichen  Kathedrale,  die  mit 
malerischen  und  plastischen  Werken  ausgestattet  ist,  bewegen  sich  die  Priester  in 
ihren  prachtvollen  Gewändern,  lesen  die  heiligen  poetischen  Worte  mit  musikalischer 
Begleitung  und  bringen  auch  mimisch  die  Liturgie  zum  Ausdruck:  hier  erleben  wir 
eine  Art  von  Gesamtkunstwerk. 

Zum  Schluß  sei  an  den  Beginn  angeknüpft  und  hervorgehoben,  daß  die  ge- 
nannten Gattungen,  die  übrigens  auch  noch  mehrere  Arten  unter  sich  haben,  in 
ästhetischer  Beziehung  durchaus  selbständig  und  nicht  weiter  aufeinander  zurück- 
zuführen sind. 


Über  das  Komische  und  den  Witz. 

Von 

Rolf  Wolfgang  Märten s. 
Die  Literatur  bietet  uns  eine  stattliche  Anzahl  verschiedenartiger  Erklärungen 
des  Komischen,  die  zum  größten  Teil  den  Fehler  aufzeigen,  daß  sie  zu  eng  und  zu 
weit  sind,  d.  h.  daß  sie  einerseits  nicht  umfassend  oder  intensiv  genug  sind,  um 
alles  Komische  unter  sich  zu  begreifen,  und  daß  sie  andererseits  sich  auch  auf 
Prozesse  anwenden  lassen,  die  wir  nicht  als  komisch  bezeichnen').   Ein  Grund  dieser 


')  Der  Verfasser  nennt  sie  Artes  de  la  ejecuciön;  ich  habe  die  wortgetreue  Über- 
setzung gewählt,  obwohl  sie  nicht  gerade  geschickt  ist.    M.  D. 

')  Diese  Bemerkung  findet  sich  schon  bei  Jean  Paul  (Vorsch.  d.  Ästh.  I,  par.  26), 
bei  Schopenhauer  (Welt  a.  W.  u.  V.  II,  S.  106)  und  bei  Kuno  Fischer  (Über  den 
Witz,  S.  14).  —  Ein  jeder  macht  seinen  Vorgängern  den  gleichen  Vorwurf  und  über- 
sieht, daß  er  auch  auf  ihn  selbst  paßt. 


460  BEMERKUNGEN. 


Unzulänglichkeit  liegt  in  der  Natur  der  Systemphilosophie,  die  jede  neue  Erscheinung 
im  Zusammenhang  ihrer  allgemeinen  Welterklärung  verständlich  zu  machen  bestrebt 
ist;  auch  hat  wohl  den  gelehrten  Erklärern  für  ihre  Untersuchung  eine  nicht  ge- 
nügend große  Anzahl  komischer  Prozesse,  wie  Anekdoten  und  humoristische  Kunst- 
gebilde, vorgelegen. 

Wenn  wir  die  komischen  Prozesse  betrachten,  —  sowohl  die  Ereignisse  im 
Leben,  die  wir  komisch  nennen,  z.  B.  das  unfreiwillig  Komische,  als  auch  jedes 
künstlerische  Erzeugnis  des  Humors,  —  wenn  wir  sie  zunächst  ganz  im  allgemeinen 
betrachten,  so  fällt  uns  vor  allem  ins  Auge,  daß  in  unserer  Seele  Lustgefühl  und 
Fröhlichkeit  ausgelöst  wird,  wie  das  im  übrigen  nur  durch  sinnliche  Genüsse  ge- 
schieht, die  zur  Erhaltung  unseres  Lebens  und  zur  Erhaltung  der  Gattung  dienen, 
und  bei  den  darauf  bezüglichen  Gedankengängen.  Daraus  folgt,  daß  der  Grund- 
charakter des  Komischen  ein  lebenbejahender,  lebenfördernder  sein  muß.  Soll 
etwas  komisch  wirken,  so  muß  die  Empfindung  des  Genusses  am  Dasein  heraus- 
leuchten.  Eine  pessimistische  Lebensauffassung  —  mag  sie  der  Überzeugung  und 
Stimmung  des  Einzelnen  auch  noch  so  sehr  entsprechen  —  hat  mit  Komik  nichts 
zu  schaffen.  —  So  kann  ein  Gebilde  völlig  die  Struktur  des  Witzes  zeigen  und  wirkt 
doch  nicht  komisch,  weil  eben  die  Heiterkeit  fehlt.  In  Aeschylos'  aTotenopfer«  sagt 
der  Knecht  zur  Klytemnaistra :  »Die  Toten,  sag'  ich,  morden  die  Lebendigen!;;  — 
Worauf  diese  entsetzt  erwidert:  sWeh,  —  ich  versiehe  schon  dein  Rätselwort !<  — 
Die  komische  Struktur  —  mit  der  wir  uns  unten  näher  befassen  werden  —  ist  hier 
in  den  beiden  kontrastierenden  Vorstellungen  vorhanden:  »Die  Toten«,  als  eine  leb- 
lose, für  das  menschliche  Wirken  abgetane  Sache,  —  und  «Die  Toten«  in  anderer 
Bedeutung,  als  Begriff  von  dem  Rechte  des  Gestorbenen,  das  wegen  des  ihm 
schmählich  zugefügten  Verbrechens  in  seinen  Nachkommen  lebendig  ist  und  sie 
zur  Rache  treibt.  Aber  trotz  dieses  für  das  Komische  charakteristischen  Baues  wird 
wegen  des  finsteren  Charakters  niemand  das  Wort  als  scherzhaft  ansehen.  "—  Ein 
anderes  Beispiel :  wir  lächeln,  wenn  wir  im  Heine  lesen,  daß  er,  nachdem  er  uns 
die  Sage  von  den  »Meerbischöfen>:  erzählt  hat,  uns  versichert,  daß  diese  nicht  etwa 
von  ihm  erfunden  seien,  denn  er  hätte  schon  an  den  »Landbischöfen«  genug 
und  werde  sich  hüten,  noch  »mehr  Bischöfe  zu  machen«!  Aber  der  Humor  ver- 
geht uns,  wenn  wir  dasselbe  Wortspiel  hören  in  der  Verbindung,  daß  ein  west- 
fälischer Reisender,  der  in  Italien,  nachdem  er  ein  Glas  Wasser  getrunken  hatte, 
noch  mehr  Wasser  verlangte,  worauf  ihm  salziges  Meerwasser  gebracht  wurde, 
daß  darauf  der  sehr  kräftige  Reisende  den  kleinen,  italienischen  Kellner,  der  ihn 
positiv  mißverstanden  hatte,  fast  zum  Krüppel  schlug. 

Die  für  das  Komische  kennzeichnende  lebenbejahende  Freude  am  Dasein  äußerte 
sich  in  den  Anfängen  der  Kultur  als  Bestätigung  des  Ichgefühls  zumeist  in  dem 
Bekämpfen  der  anderen.  Diesen  Charakter  trägt  die  damals  geprägte  Komik  und 
noch  heute.  Wir  haben  auch  hier,  biogenetisch  gesehen,  die  Ähnlichkeit  in  der 
Geschmacksrichtung  der  Völker  im  Urzustände,   der  Kinder  und  der  Ungebildeten. 

Das  Kind  befriedigt  nichts  mehr,  wie  Kuno  Fischer  richtig  bemerkt,  als  wenn 
wir  im  Spiel  mit  ihm  uns  so  anstellen,  daß  es  sich  uns  überlegen  fühlen  kann. 
Und  wie  der  Ungebildete  sich  hier  verhält,  erfährt  man  am  besten,  wenn  man  zu 
einer  Sonntagnachmittagsvorstellung  in  den  Zirkus  geht  und  die  Menge  in  wiehern- 
des Gelächter  ausbrechen  hört,  sobald  der  Clown  dem  »Dummen  August«  eine 
schallende  Ohrfeige  versetzt.  Die  Zuschauer  nehmen  nicht,  wie  es  Kultur  und 
Humanität  erfordern,  für  den  Geschlagenen  Partei.  Das  würde  kein  Lustgefühl 
auslösen;  der  Kampfinstinkt  will  eben  beschäftigt  sein.  —  Wohl  aber  erweist  es 
sich  hier  schon  als  nötig,  daß  zu  diesem  Zwecke  Kunst  aufgewendet  werden  muß, 


BEMERKUNGEN.  461 


damit  keinerlei  entgegengesetzte  Interessen  aufkommen:  Der  dumme  August  muß 
eine  groteske  Erscheinung  sein,  deren  närrisches  Gebaren,  lächerhcher  Anzug  und 
dummes  Gesicht  Mitleid  von  vornherein  ausschließen.  Er  muß  die  JV\erkmale  des 
Törichten  tragen,  über  das  wir  uns  im  Leben  oft  haben  ärgern  müssen  und  über 
das  wir  vielleicht  auch  in  Fällen  triumphiert  haben,  wo  das  Recht  nicht  auf  unserer 
Seite  war.  Daher  können  wir  uns  mit  dem  Gegner  identifizieren  und  uns  über  die 
Niederlage  des  armen  Tölpels  freuen.  Unsere  kriegerischen  Instinkte  werden  durch 
den  siegreichen  Angriff  geweckt  und  ihre  Erregung  läuft  lustgemäli  ab. 

Die  gleiche  Freude  an  dem  Verletzen  des  anderen  finden  wir  in  den  komischen 
Erzeugnissen  der  Völker  in  ihren  frühen  Entwicklungsstadien.  Ich  will  hier  einen 
Bericht  aus  der  Hansezeit  erwähnen,  der  sich  mit  den  Spielen  der  Deutschen  in 
Bergen  von  1478  bis  zu  Ende  des  16.  Jahrhunderts  beschäftigt,  ein  Bericht,  der  also 
nicht  einmal  aus  einer  ganz  frühen  Epoche  stammt'). 

Es  handelte  sich  um  Spiele,  die  bei  der  Aufnahme  der  im  Kontor  neuangc- 
kommenen  Hanseaten  veranstaltet  wurden.  —  Da  ist  zunächst  das  Rauchspiel«; 
Butterfässer  wurden  mit  Lohe,  Tran,  Holz,  Unrat  und  alten  Haaren  gefüllt  und  an- 
gezündet, während  man  den  Neuaufzunehiiienden  an  einem  Strick  darüber  hinauf- 
zog bis  zur  Höhe  des  Klappfensters  im  »Schütting«  und  geraume  Zeit  im  Qualm 
hängen  ließ.  Nachdem  ihm  Mund  und  Nase  gehörig  damit  angefüllt  waren, 
wurden  ihm  Fragen  vorgelegt,  die  er  beantworten  mußte;  danach  wurde  er  zur 
Tür  hinaus  geführt  und  mit  6  Tonnen  Wasser  beschüttet,  um  den  Rauch  abzuspülen. 
Nur  einer,  heißt  es  gemütvoll,  sei  bei  dem  Spiele  erstickt.  Die  Neulinge  wurden 
weiterhin  betrunken  gemacht  und  auf  einer  Pritsche  verprügelt,  nachdem  man  ihnen 
einen  Teppich  über  den  Kopf  gebunden  hatte,  damit  sie  ihre  Peiniger  nicht  er- 
kannten; dazu  wurde  auf  einem  Becken  getrommelt,  um  das  Geschrei  zu  übertönen. 
Es  gab  ferner  noch  ein  Beichtspiel,  ein  Barbierspiel,  das  Pferdeken  -  Beslan, 
Vinkenfangen,  Swineken-Bränen,  Ankersmeden,  Schinkenschniden,  Endekenstricken 
usw.     Bei  allen  bildete  Schlagen  und  Wehetun  die  Pointe. 

Eine  andere  Art  des  komischen  Ergötzens,  die  ebenfalls  auf  der  Befriedigung 
des  Machttriebes  beruht,  ist  der  obszöne  Witz.  Wenn  man  erwägt,  daß  Sitte 
und  Anstand  den  Menschen  in  einer  Art  umspannen,  die  oft  —  und  besonders  auf 
jugendliche  und  rohe  Gemüter  —  einengend  und  bedrückend  wirkt,  so  erscheint  es 
begreiflich,  daß  sich  das  Ich  gehoben  fühlt,  sobald  es  diese  Schranke  durchbricht. 
Bekannt  ist  die  Ausdehnung  und  Beliebtheit  dieser  komischen  Art  im  Volke  und  bei 
der  Jugend.  Wer  mit  Kindern  zu  tun  hat,  weiß,  wie  ein  einziges  unanständiges 
Wort  oft  genügt,  um  jubelnde  Heiterkeit  auszulösen. 

Die  Scherzart  des  Verletzens  und  des  Obszönen  bildet  die  Komik  der  Völker 
in  den  Stadien  der  beginnenden  Kultur,  wie  auch  die  der  breiten  Volksmassen. 
Wir  begegnen  ihr  beim  Kasperie ,  dem  Kölner  Henesche,  bei  Till  Eulenspiegel, 
und  dem  Hans  Wurst,  den,  als  das  literarische  Moment  die  Oberhand  gewann,  der 
alte  Gottsched  auf  der  Bühne  der  Neuberin  in  Leipzig  verbrennen  ließ.  Bei  den 
romanischen  Nationen  finden  wir  diese  Komik  der  Kampfinstinkte  in  den  Spielen 
des  Arlechino,  der  Kolombine,  des  Pantalone  usw.  Die  gleiche  Struktur  weisen  die 
Scherze  von  Poggios  Facetien,  Boccaccios  Dekamerone  und  ihren  Nachahmern  auf. 
Viel  ist  aus  solchem  volkstümlichen  Humor  in  die  Lustspiele  des  Venetianers 
Goldoni,  wie  auch  in  die  komischen  Dichtungen  Shakespeares  und  seiner  Zeit- 
genossen übergegangen. 

')  Die  Spiele  der  Deutschen  in  Bergen.  Von  Privatdozent  J.  Harttung  in 
Tübingen.  —  In  den  Publikationen  aus  dem  k.  preuß.  Staatsarchiv.  Leipzig,  bei 
Hirzel  1878. 


462  BEMERKUNGEN. 


Alle  Art  der  Komik  jedoch,  wie  Karl  Groos  will,  auf  den  Kampftrieb  (in  Ver- 
bindung mit  den  beiden  kontrastierenden  Vorstellungen,  von  denen  wir  weiter  unten 
noch  zu  sprechen  haben  werden)  zurückzuführen  scheint  mir  nur  dann  möglich, 
wenn  man  den  Begriff  des  »Kampfinstinktes«  unberechtigt  weit  ausdehnt  (vergleiche 
Groos,  Spiele  der  Menschen,  S.  2Q8).  Wenden  wir  uns  daher  einer  zweiten  Auf- 
fassung zu,  die  mehr  die  objektive  und  intellektuelle  Seite  komischer  Phänomene 
betont,  und  die,  wie  ich  meine,  am  treffendsten  von  Ed.  v.  Hartmann  dahin  aus- 
gedrückt worden  ist,  der  komische  Vorgang  bestehe  in  einer  reductio  ad  absurdum 
des  Unlogischen,  das  sich  als  Gernegroß  spreize.  Von  den  primitiven  Arten  des 
Komischen,  die  wir  in  den  Anfangsstadien  der  Entwicklung  gesehen  haben  und 
deren  Spuren  wir  hier  und  da  noch  begegnen,  steigen  wir  hiermit  zu  den  feineren 
und  vergeistigteren  auf  und  betreten  damit  das  Gebiet,  wo  für  den  Gebildeten 
eigentlich  erst  Humor  und  Komik  beginnen,  nämlich  in  der  künstlerischen  Gestaltung 
der  Kulturepoche.  — 

Um  eine  festumrissene  und  dabei  ausreichende  Definition  des  komischen  Kunst- 
werks aufzustellen,  sind  die  einzelnen  Objekte  nach  Völkern,  Zeiten  und  Sitten  zu 
verschiedenartig;  wohl  aber  lassen  sich  gewisse  Dominanten  feststellen,  die  in  den 
komischen  Gebilden  wiederkehren  und  sich  in  verschiedener  Weise  miteinander 
kreuzen  und  gegenseitig  bestimmen.  Das  in  allen  komischen  Vorgängen  vorhandene 
Merkmal  ist  das  oben  erwähnte  Prinzip  der  Daseinsfreude. 

Eine  freudige  Bejahung  unseres  Ichgefühls  findet  unter  anderem  auch  statt, 
wenn  wir  uns  einem  fehlerhaften  oder  kleinlichen  Objekt  gegenübersehen  und  uns 
ihm  überlegen  fühlen  können,  im  Gegensatz  zum  Erhabenen,  das  den  Beschauer, 
»indem  es  ihn  erhebt,  zermalmt«.  Durch  das  Sich-überlegen-fühlen  entsteht  schon 
die  gute  Stimmung,  die  wieder  weitere  komische  Momente  entdeckt  und  sich  so 
ausbreitet.  Fernerhin  darf  das  Verletzen  oder  ein  anderes  negatives  Moment  im 
komischen  Vorgang  nicht  so  schwerwiegend  sein,  daß  es  uns  niederdrückt.  •  Über 
die  Ohrfeige  des  Clowns  können  wir  noch  lachen,  über  einen  Totschlag  nicht. 
Dergleichen  hatte  Aristoteles  vor  Augen,  als  er  im  fünften  Kapitel  der  Poetik 
schrieb:  »Das  Lächerliche  ist  nämlich  eine  solche  Abirrung  und  Entstellung,  welche 
weder  Schmerz  noch  Schaden  bereitet,  wie  denn  die  komische  Maske  etwas  Ent- 
stelltes und  Verzerrtes  ist,  aber  ohne  schmerzlichen  Ausdruck«.  Aus  diesem  Grunde 
kommen  für  den  feiner  organisierten  Menschen  gewisse  unverschuldete  Übel,  wie 
die  des  Buckligen  und  des  Wahnsinnigen  als  Gegenstände  komischen  Genusses 
nicht  mehr  in  Frage ').  So  darf  auch  beim  obszönen  Witz  das  Unappetitliche  oder 
Sittenlose  nie  überwiegen,  —  oder  es  ist  um  die  humoristische  Wirkung  geschehen. 
Das  Empfinden  ist  auch  hier  individuell,  wie  das  erhöhte  Feingefühl  unserer 
Frauen  beweist.  Ferner  verlangt  es  der  Charakter  der  Heiterkeit,  daß  uns  das 
Verstehen  eines  Witzes  oder  einer  Lustspielsituation  leicht  gemacht  werden  muß. 
Wir  erinnern  uns  an  das  Shakespeare  wort:  »Weil  Kürze  denn  des  Witzes  Seele 
ist...!«    Komik  verträgt  eben  am  allerwenigsten  Erdenschwere. 

Ergaben  sich  die  bisherigen  Schlüsse  durch  die  Betrachtung  der  komischen 
Prozesse  in  großen  Zügen,  so  stellen  sich  uns,  wenn  wir  —  nach  Fechnerscher 
Methode  der  Ästhetik  von  unten  —  eine  genügend  große  Anzahl  von  Anekdoten 
uns  vor  Augen  führen  und  untersuchen,   bei  allen  komischen  Prozessen  (wie  wir 


')  E.  V.  Hartmann  will  das  Unlogische,  das  im  komischen  Vorgang  ad  absurdum 
geführt  wird,  nicht  etwa  als  notwendige  Folge  der  natürlichen  Unzulänglichkeit 
unseres  menschlichen  Denk-  und  Vorstellungsvermögens  dargestellt  wissen,  sondern 
nur  als  fahrlässig  verschuldetes  Übel. 


BEMERKUNGEN,  463 


schon  oben  erwähnt)  zwei  verschiedene  Vorsteilungskreise  entgegen,  die,  wenn  auch 
nicht  immer,  miteinander  kontrastieren,  was  die  alte  Ästhetik  behauptete,  so  doch 
entgegengesetzt  sind.  Allerdings  finden  sich  auch  komische  Oefüge,  wie  z.  B.  die, 
welche  aus  einem  Satz  oder  einer  Handlung  bestehen,  bei  denen  die  zweite 
Vorstellung  zu  fehlen  scheint.  Dies  erweist  sich  jedoch  als  Täuschung,  denn 
sobald  wir  genau  prüfen,  worüber  wir  lachen,  stellt  sich  heraus,  daß  wir  die 
zweite  Vorstellung  sillschweigend  ergänzt  haben,  und  daß  unsere  Freude  nur  durch 
ihre  Hilfe  zustande  kommt.  So  verhält  es  sich  mit  dem  Talleyrandschen  Paradoxon: 
'Die  Sprache  ist  dazu  da,  die  Gedanken  zu  verbergen!«  Die  herbeigerufene  Vor- 
stellung ist:    »Die  Sprache  ist  das  Ausdrucksmittel  der  Gedanken«. 

Von  dem  einen  Vorstellungskreise  springen  wir  gewissermaßen  in  den 
anderen  hinein;  dieser  Sprung  erfolgt  zwanglos,  ganz  in  den  Anschauungen  und 
der  Logik  der  ersten  Vorstellungsgruppe,  aber  er  vollzieht  sich  plötzlich  und  in 
überraschender  Weise,  —  meistenteils  durch  ein  Wort,  das  eine  doppelte  Bedeutung 
hat,  --  oft  auch  durch  eine  falsche  und  unerwartete  Beziehung.  Ich  möchte  dies 
den  komischen  Sprung  nennen.  Ein  Beispiel:  »Der  große  Omithologe  X.  hat 
festgestellt,  daß  die  Tauben  nicht  hören!«  —  Wir  sind  zunächst  verblüfft  über  die 
Neuigkeit,  die  wir  da  erfahren.  Wir  verstehen  diesen  Ausspruch  aus  dem  An- 
schauungskreise der  Zoologie:  Die  Taube,  der  Ornithologe,  aber  plötzlich  begreifen 
wir,  daß  hier  ein  Doppelsinn  des  Wortes  »Die  Tauben«  vorliegt.  Wir  geraten  in 
die  Gedankenkreise  des  Otologen  und  wissen,  daß  Nichthörende  damit  gemeint 
sind.     Die  anfangs  verblüffende  Tatsache  zerflattert  in  eine  leere  Tautologie. 

Th.  Lipps  hat  in  seiner  Schrift  »Komik  und  Humor,  versucht,  den  Vorgang  des 
Komischen  psychologisch  zu  deuten;  leider  aber  hat  seine  Bemühung  nicht  zu  dem 
gewünschten  Ergebnis  geführt.  Er  gehört  zu  denjenigen  Erklärern,  die,  wie  wir 
anfangs  sagten,  das  besondere  Problem  vom  Standpunkt  ihrer  allgemeinen  Anschau- 
ungen aus  zu  beleuchten  suchen ;  bei  Lipps  muß  für  das  Komische  seine  Stauungs- 
theorie des  seelischen  Flusses  herhalten,  die  von  der  Tendenz  getragen  ist,  alles 
seelische  Geschehen  aus  dem  Mechanismus  des  Vorstellungslebens  zu  erklären. 
Von  der  großen  Anzahl  Arten  der  gegensätzlichen  Vorstellungen  nennt  Lipps  nur 
die  erhabene  und  die  unbedeutende  und  sucht  mit  ihnen  das  Zustandekommen  jedes 
komischen  Eindrucks  zu  deuten.  Natürlich  tut  er  damit  den  Dingen  Gewalt  an 
und  ist  bestrebt,  die  Eigenschaften  des  Großen  und  Minderwertigen  auch  in  solche 
Arten  der  beiden  Vorstellungsgruppen  des  komischen  Oefüges  hineinzukonstruieren, 
in  denen  sie  nicht  enthalten  sind.  Er  kommt  zu  dem  Schluß,  daß  alle  Komik  auf 
folgendem  psychischen  Vorgang  beruht:  Eine  große  und  erhabene  Vorstellung  wird 
plötzlich  durch  das,  was  wir  den  komischen  Sprung  genannt  haben,  in  ein  Kleines 
und  Niedriges  verwandelt,  z.  B.  die  Dekoration  eines  Königspalastes  kippt  durch 
das  Versehen  des  Theatermaschinisten  über  dem  Haupte  des  agierenden  Tragöden 
zusanmien  und  erweist  sich  als  ein  bemalter  Papp-  und  Leinwandfetzen.  Die  für 
die  große  Vorstellung  des  Königspalastes  aufgewendete  Energiemenge  in  uns  kann 
nicht  durch  die  enge  Bahn  der  banalen  Vorstellung  einer  Theaterkulisse  sogleich 
abfließen.  Sie  staut  sich  und  flutet,  wie  Lipps  behauptet,  zu  dem  erhabenen  Vor- 
stellungskomplex des  Königspalastes  zurück,  von  wo  sie  wieder  zu  dem  kleinen 
Gedanken  hingewiesen  wird;  —  so  pendelt  sie  einige  Male  hin  und  her.  —  Diese 
Theorie  scheint  in  einer  Bemerkung  Kants  (Kritik  d.  Urt.)  einen  Vorläufer  zu  haben: 
»Unsere  gespannte  Erwartung  in  der  Komik,  die  in  keiner  Weise  erfüllt  wird, 
sehen  wir  als  einen  Mißgriff  an,  die  wir  wie  einen  Ball  noch  eine  Zeitlang  hin  und 
her  schlagen,  indem  wir  bloß  gemeint  sind,  ihn  nur  zu  ergreifen  und  festzuhalten !« 

Lipps  irrt  aber;  denn  es  handelt  sich  beim  komischen  Vorgang  zunächst  einmal 


454  BEMERKUNGEN. 


nicht  immer  um  pathetisch  große  und  kleine  Vorstellungen.  Bei  folgendem  Scherz 
ist  jedenfalls  nicht  zu  sagen,  welches  die  erhabene  und  welches  die  minderwertige 
Vorstellung  sein  soll:  >Einem  Herrn,  der  im  Nichtraucherabteil  mit  brennender 
Zigarre  angetroffen  wird,  bemerkt  man,  daß  hier  ,Für  Nichtraucher'  sei.  —  ,Ja,  ja, 
ich  weiß!  Bin  ja  auch  Nichtraucher!'  —  ,Aber  Sie  rauchen  doch!'  , Herrgott  noch  ein- 
mal! —  Das  geschieht  nur  ausnahmsweise!'« 

Es  gibt  außerdem  auch  noch  komische  Oefüge,  in  denen  es  sich  allerdings  um 
erhabene  und  kleinliche  Oedankengruppen  handelt,  aber  bei  denen,  umgekehrt,  wie 
Lipps  behauptet,  die  erhabene  Vorstellung  die  nachfolgende  ist.  —  Ein  Beispiel: 
Katharina  11.  fragt  in  einer  Staatsratssitzung,  in  der  man  bemüht  war,  einen  Vor- 
wand für  den  neuen  Krieg  gegen  die  Türken  zu  finden,  als  ein  Geräusch  an  der 
Tür  entstand,  «Que  (fest  cela,  Patiumkin?"  —  Majeste,  ce  n'est  rienl  La  parte  de- 
mande  la  graisse!  —  *Quol  donc,  La  Porte  demande  la  Qrece?  —  casus  belli!'  — 
Die  Lippssche  Auffassung  läßt  sich  also  bei  objektiver  Betrachtung  vieler 
komischen  Prozesse  nicht  halten.  Seine  Behauptungen  über  das  Pendeln  zwischen 
den  Vorstellungen  erweisen  sich,  wie  Richard  Bärwald  im  Band  II,  2  dieser  Zeit- 
schrift nachgewiesen  hat,  nur  bei  wenigen  Individuen  als  zutreffend;  ebensowenig 
läßt  sich  die  Stauungshypothese  in  allen  Fällen  des  Pendeins  feststellen.  —  Dem 
möchte  ich  noch  hinzufügen,  daß  meines  Erachtens  ein  überraschend  guter  Witz 
so  intensiv  auf  uns  wirkt  und  eine  so  wichtige  Stellung  in  unserer  Gedankenwelt 
einnimmt,  daß  wir  nicht  gleichgültig  über  ihn  zu  anderen  Vorstellungskreisen  hin- 
weggehen, sondern  noch  öfter  genießend  zu  ihm  zurückkehren,  wie  wir  dies  ja 
auch  bei  allen  gewichtigen  Vorstellungen  zu  tun  pflegen. 

Ein  wesentlich  anderes  Bild,  als  Lipps  es  entwirft,  zeigt  mir  die  Selbstbeobachtung 
während  des  komischen  Genusses ;  auch  die  Berichte,  die  ich  auf  mein  Befragen 
von  anderen  Personen  erhielt,  lauten  dem  meinen  ziemlich  ähnlich.  Im  übrigen 
vermag  ja  ein  jeder  den  Vorgang  in  sich  selbst  nachzuprüfen.  —  Bei  dem  plötz- 
lichen Hinübertreten  aus  dem  einen  zuerst  angeschlagenen  Vorstellungskreise  in  den 
anderen,  fremdartigen,  befällt  uns  zunächst  eine  Überraschung,  wie  auch  Lipps  an- 
erkennt, eine  Überraschung  durch  die  neuen  Eindrücke,  die  andere,  unerwartete 
Gefühlstöne  in  uns  wachrufen.  Unsere  Aufmerksamkeit  wird  in  intensiverer  Weise 
angespannt,  wir  vergleichen  und  erkennen  zwischen  den  beiden  verschiedenartigen 
Vorstellungsgruppen  entweder  verborgene  Ähnlichkeiten  (Jean  Paul),  oder  auch 
Verschiedenheiten,  wo  Gleichheiten  erwartet  werden,  wenn  z.  B.  ein  Ausdruck 
doppeldeutig  ist  und  zwei  ganz  verschiedene  Begriffe  bezeichnet,  wie  wir  es  oben 
an  dem  Beispiel  mit  den  »Tauben«  gesehen  haben.  Auf  dieser  Struktur  beruhen 
die  meisten  Scherze.  —  Eine  andere  häufig  vertretene  Art  des  Komischen  ist,  wie 
Schopenhauer  sie  charakterisiert,  die  Subsumtion  eines  Dinges  unter  einen  falschen 
Oberbegriff ;  noch  eine  andere  Handlungsweise,  die  durch  verkehrte  Mittel  zu  ihrem 
Zwecke  zu  kommen  sucht,  wie  v.  Kirchmann  ausführt.  —  Diese  Dinge  haben  sich 
bei  den  Kulturvölkern  allmählich  zu  den  Hauptmomenten  des  Komischen  heraus 
entwickelt,  und  das,  was  mit  den  Kampfinstinkten  zusammenhängt  und  im  Anfang 
den  Ausschlag  gab,  erscheint  jetzt  nur  noch  als  Hilfsprinzip.  Die  Beschäftigung 
mit  dem  Komischen  geschieht,  wie  aller  Kunstgenuß,  nicht  unter  dem  Druck  und 
Zwang  unserer  realen  Lebensbetätigung,  sondern  frei  im  ästhetischen  Anschauen, 
in  idealer  Hinsicht.  Deshalb  definiert  Kuno  Fischer  den  Witz  als  »spielendes 
Urteil«.  — 

Vergegenwärtigen  wir  uns  unser  Verhalten  beim  komischen  Genuß  an  folgen- 
dem Beispiel:  Einem  übelberüchtigten  Börsenmakler,  der  auf  sein  Anbieten  von 
Papieren,  da  niemand  mit  ihm  etwas  zu  tun  haben  will,   keine  Antwort  bekommt 


BEMERKUNGEN.  if^ 


und  deshalb  wütend  schreit:  »Ein  Gebot  will  ich  hören!-  wird  erwidert:  >Du  sollst 
nicht  stehlen  !<:  Aus  der  ersten  Vorstellung  von  Preisangebot  für  Börsenpapiere 
geraten  wir  durch  den  komischen  Sprung  (das  Wort  »Gebote)  in  die  andere  Vor- 
stellungsgrnppe  der  religiösen  Gebote.  Unser  Urteil  wird  in  Bewegung  gesetzt  zu 
erkennen,  daß  hier  etwas  Unähnliches,  Wesensverschiedenes  vorliegt.  Wir  kommen 
zu  einer  Überraschung,  die  in  uns  das  Gefühl  der  komischen  Freude  auslöst,  ver- 
stärkt durch  das  befriedigte  Gerechtigkeitsgefühl  über  die  dem  Betrüger  gesagte 
Wahrheit.  Wenn  nun  der  Kunstgenuß  überhaupt  einen  spielerischen  Charakter 
trägt,  so  möchte  ich  den  komischen  Sprung  und  die  sich  daranschlieBenden,  spielen- 
den Urteilsfunktionen  usw.  mit  einer  Unterart  des  Spiels,  einer  bekannten  körper- 
lichen Tätigkeit,  nämlich  der  turnerischen  Bewegung  unserer  Gliedmaßen  vergleichen. 
Wie  dort  ein  Recken  und  Strecken  unserer  Sehnen  und  iV\uskeln  stattfindet,  so  hier 
ein  ähnliches  unserer  seelischen  Kräfte.  Bei  den  verschiedenartigen  komischen 
Fällen,  vom  einfachen  Witz  bis  zu  dem  feinsten  und  kompliziertesten  Lustspiel 
werden  unsere  Seelenfunktionen  in  mannigfacher  Weise  in  Bewegung  gesetzt  und 
die  ausgelösten  Gefühle  und  Willenstriebe  laufen,  ohne,  wie  im  realen  Leben  durch 
neue  Reize,  die  dazwischen  kommen,  gestört  und  unterbrochen  zu  werden,  ihrer 
Natur  gemäß  ab,  was  eine  Lust  in  uns  auslöst.  Diese  Lust  bildet  den  Selbstzweck 
der  künstlerischen  Tätigkeit  an  Stelle  der  praktischen  Absichten.  Wie  es  nun  beim 
körperlichen  Turnen  die  verschiedensten  Übungen  gibt,  von  der  Freiübung  bis  zum 
Geräteturnen  an  Barren,  Reck,  Stange,  Sprungbrett,  so  gibt  es  auch  auf  dem 
psychischen  Gebiet  die  verschiedensten  Variationen,  von  denen  Lipps  nur  das  Hin- 
und  Herpendeln  an  den  Ringen  erwähnt. 

Wenn  wir  Witz  und  Anekdote  unter  ästhetischen  Gesichtspunkten  zergliedern, 
so  stellt  sich  uns  ihre  Struktur  folgendermaßen  dar:  1.  die  Fabel  mit  der  heiteren 
Tendenz;  2.  und  3.  die  beiden  gegensätzlichen  Vorstellungsgruppen;  4.  der  komische 
Sprung.  —  Und  dazu  kommen  noch  5.  die  Hilfsprinzipien,  wie  wir  sie  von  Fechner 
her  kennen.  Ein  Scherz  ohne  Hilfsprinzip  wirkt  dürftig:  z.  B.  Unterschied  der  roten 
Nasen  und  der  Kanonen;  die  einen  kommen  von  Trinken,  die  anderen  von  Essen. 
Das  Hinzutreten  eines  Hilfsprinzipes,  z.  B.  das  der  Abwehr  oder  auch  Bosheit,  gibt 
die  Würze,  z.  B. :  Ein  französischer  Gesandter  wirft  einem  Deutschen  die  vielen 
gleichbedeutenden  Worte  unserer  Spräche  vor,  z.  B.  Essen  und  Fressen !  Das  stimme 
nicht,  erwidert  der  Deutsche,  denn  der  Gesandte  könne  wohl  gefressen,  aber  nicht 
gegessen  werden!  Darauf  versetzt  jener  hartnäckig:  >Und  senden  und  schicken?« 
Das  stimme  wieder  nicht,  denn  jener  sei  wohl  ein  Gesandter,  aber  kein  geschickter ! 
—  Als  Hilfsprinzip  kann  alles  dienen,  wie  wir  dies  in  der  historischen  Entwicklung 
gesehen  haben,  was  mit  den  Kampfinstinkten  zusammenhängt.  Zunächst  das  Ver- 
letzen des  anderen,  und  auch  die  Freude  an  der  Schlagfertigkeit  und  Scharfsinnig- 
keit. Darin  liegt  unser  Gefallen  an  der  witzigen  Antwort,  die  die  alternde  Hofdame 
dem  Talleyrand  gab,  auf  sein  feindseliges  Wortspiel :  'Passez,  passez  beaute ! ■^  indem 
sie  erwiderte:  iConime  votre  renommde!*  Ferner  gibt  die  Erregung  der  Kampf- 
instinkte das  Hilfsprinzip  beim  Satirischen,  besonders  beim  satirischen  Epigramm. 

Schließlich  entsteht  die  Lust  am  Sieg  des  Logischen  und  der  damit  verbundenen 
Niederlage  des  Törichten  (reducUo  ad  absurdum).  Aber  auch  hier,  wo  wir  dieses 
Moment  als  Hilfsprinzip  kennen  lernen,  verlangt  die  beabsichtigte,  lustvolle  Gesamt- 
wirkung die  öfters  schon  erwähnte  Begrenzung,  daß  niemals  eine  allzuernste 
Schädigung  stattfinden  darf.  Doch  ist  die  persönliche  Empfänglichkeit,  wie  wir  oben 
gesehen  haben,  verschieden;  ich  z.  B.  kann  über  einen  rohen  Scherz  nicht  mehr 
lachen  und  mich  bei  einem  Lustspiel,  wie  George  Dandin  von  JVlolifere,  nicht  ergötzen. 

Es  lassen  sich  aber  wiederum  Fälle  finden,  in  denen  gerade  die  Gegenteile  der 

Zeitschr.  (.  Ästhetik  u.  allg.  Kuiistwissen>ch«ft.    XV.  30 


466  BEMERKUNGEN. 


soeben  angeführten  Prinzipien  als  ästhetische  Hilfen  auftreten.  So  kann  zu  dem 
egoistischen  Angriffsprinzip,  mit  welchem  der  Zuschauer  sich  einfühlend  sympathisiert, 
dasjenige  hinzutreten,  was  man  mit  »poetischer  Gerechtigkeit«  zu  bezeichnen  pflegt. 
Ich  habe  selten  im  Theater  ein  so  herzlich-jubelndes  Gelächter  gehört,  als  über 
Onkel  Bräsig  (in  einer  Dramatisierung  des  Reuterschen  Romanes),  als  er  dem  guten, 
schwergeprüften  Habermann  den  Spazierstock,  den  er  beim  Durchprügeln  des  intriganten 
Übeltäters  Pomuchelskopp  zerbrochen  hat,  zurückgibt.  —  Daß  man  einen  Spazier- 
stock, der  durch  seinen  zerbrochenen  Zustand  werllos  geworden  ist,  zurückerstattet, 
ist  ein  mäßiger  Witz;  aber  daß  hierdurch  gezeigt  wird,  wie  ein  gemeiner  Mensch 
seine  gebührende  Strafe  erhalten  hat,  macht  das  Volk  jubeln. 

Eine  noch  feinere  Art  der  durch  befriedigenden  Gerechtigkeitssinn  verstärkten 
Komik  findet  sich  in  den  Lustspielen  des  Beaumarchais  »Figaro«  und  »Figaros 
Hochzeit«,  auch  in  Molieres  Komödien,  in  Scribes  :>OIas  Wasser«  und  »Frauenkampfr, 
in-  dem  »Zerbrochenen  Krug«  Heinrich  von  Kleists  und  in  Gogols  »Revisor«. 
Hier  hat  die  vornehmste  Art  der  Komik,  der  Humor  eingesetzt,  von  dem  zum 
Schluß  noch  zu  reden  sein  wird. 

Ebenfalls  kann  das  Gegenteil  der  Freude  am  Logischen,  das  Paradoxe  als  Hilfs- 
prinzip dienen,  doch  nur  selten,  da  die  Freude  am  Unlogischen  zu  sehr  mit  dem 
Lebensnerv  aller  Komik,  der  Daseinsfreude  im  Widerspruch  steht. 

Als  weiteres  Hilfsprinzip  tritt  uns  das  Durchbrechen  der  sittlichen  Normen  ent- 
gegen, ähnlich  wie  das  Durchbrechen  des  Anstands  im  obszönen  Witz.  Wenn  wir 
hören,  daß  eine  junge  JVlutter  auf  die  Rede  »Dein  Kind  ist  ja  der  ganze  Vater!« 
erwidert:  »Nicht  wahr!  —  und  mein  IVlann  bildet  sich  ein,  es  sieht  ihm  ähnlich!«  — 
so  lächeln  wir  über  die  Kenntnisnahme  des  Ehebruches. 

Außer  den  hier  angeführten  Momenten,  denen,  die  aus  dem  Kampfinstinkte 
entspringen,  denen  aus  Lust  an  der  Schlagfertigkeit  und  dem  Geistreichsein,  denen 
aus  der  Freude  über  den  Sieg  des  Logischen  und  der  Niederlage  des  Törichten, 
denen  aus  der  Befriedigung  unseres  Gerechtigkeitsgefühls  und  ferner  denen  aus  der 
Lust  am  Paradoxen  und  denen  aus  Freude  am  Durchbrechen  der  sittlichen  Schranken, 
—  außer  diesen  werden  sich  noch  andere  als  solche  erweisen;  —  grundsätzlich 
ausgeschlossen  sind  nur  diejenigen,  die  keine  lebensfreudige,  ichbejahende  Tendenz 
haben. 

Die  Schwierigkeit,  auf  dem  ästhetischen  Sezierboden  mit  dem  Skalpell  der  Kritik 
die  fünf  einzelnen  Teile  herauszuschälen,  ist  freilich  größer,  als  es  auf  den  ersten 
Blick  erscheinen  mag.  Wie  in  der  Fassung  mancher  Scherze  —  wir  sahen  es  oben 
bei  dem  Talleyrandschen  Ausspruch  —  die  zweite  Vorstellung  nicht  in  das  Auge 
fälh,  weil  sie  sich  nicht  ausgeprägt  vorfindet,  so  ergeben  sich  jene  einzelnen  Teile 
nicht  ohne  weiteres,  und  erst,  nachdem  wir  nach  der  Ursache  dessen,  worüber 
wir  lachen,  geforscht  haben,  gelangen  wir  zu  der  gewünschten  Klarheit.  Selbst 
ein  Theodor  Fechner  gibt  bei  den  von  ihm  angeführten  Scherzen  (Vorsch.  d.  A. 
I.Teil,  S.  222)  den  komischen  Sprung,  den  er  »Bindeglied«  oder  »einheitliche  Ver- 
mittlung« nennt,  jedesmal  falsch  an.  Seine  Beispiele  lauten:  Von  einer  Tänzerin, 
die  4000  Taler  bekommt  und  hauptsächlich  Elfenrollen  tanzt,  wird  gesagt: 
2000  Taler  für  jedes  Bein,  das  ist  teures  Elfenbein!  —  Ferner:  Saphir  sagt  zu  dem 
Bankier,  der  ihm  300  Gulden  zu  leihen  zugesagt,  und  der  deshalb  zu  ihm  kommt, 
auf  dessen  Rede:  Sie  kommen  um  die  300  Gulden!  — :  »Nein,  Sie  kommen  um 
die  300  Gulden!«  —  Und  die  dritte:  In  einer  Gesellschaft,  auf  der  man  fast  auf 
alle  Anwesenden  unter  den  nichtigsten  Vorwänden  getoastet  hatte,  erhebt  sich  ein 
Engländer,  der  seine  mangelhafte  Beherrschung  der  deutschen  Sprache  dazu  benutzte, 
um  Wortspiele  zu  machen  und  läßt  die  Onkels  mit  Nichten  leben!  — 


BEMERKUNGEN.  467 


Fechner  erklärt:  >lni  ersten  Beispiel  ist  es  der  Begriff  der  Teuerung,  im  zweiten 
das  Geschäft  mit  den  300  Oulden,  im  dritten  der  Toast  auf  die  Mitglieder  der  Ge- 
sellschaft, was  die  einheitliche  Vermittlung  zwischen  den  verschiedenen  Bedeutungen 
begründet!«  —  Das  ist  unrichtig,  denn  im  ersten  Fall  ist  es  das  Wort  »Elfenbein«, 
worunter  1.  das  Bein  der  elfentanzenden  Tänzerin,  2.  Elephantenzahn  verstanden 
wird.  Im  zweiten  Fall  ist  es  der  Ausdruck  >kommen,  um«,  —  was  1.  bedeutet 
»hergehen«,  und  2.  »verlieren«.  Im  dritten  Fall  bildet  das  Wort  »mit  Nichten«  den 
komischen  Sprung;  1.  bedeutet  es  »mit  Geschwisterkindern«,  2.  »unberechtigter- 
weise«. —  Wie  ich  während  der  Vorarbeiten  zu  dieser  Studie  feststellen  konnte, 
hängt  die  Fähigkeit  hier  richtig  zu  urteilen ,  lediglich  von  der  Häufigkeit  der 
Übung  ab. 

Das  Komische  selbst  kann  aber  wiederum  seinerseits  als  Hilfsprinzip  respektive 
als  Mittel  für  andere  Zwecke  auftreten,  z.  B.  in  den  politischen  Komödien  der  Alten, 
in  der  Satire,  in  der  Karikatur  usw.,  zu  den  realen  Zwecken  der  Verächtlichmachung 
des  Gegners  oder  der  Diskreditierung  gewisser  Ansichten  und  Geistesrichtungen, 
oder  zur  Verhöhnung  unberechtigter  Machtfaktoren.  —  Die  Ironie  benutzt  die 
komische  Form  einer  scheinbaren  Anerkennung  von  bestimmten  Eigenschaften  des 
Gegners  oder  der  zu  tadelnden  Sache,  um  auf  das  Fehlen  derselben  oder  ihren  un- 
zulänglichen Zustand  hinzuweisen.  In  der  Parodie  dient  das  komische  Element  zur 
Verspottung  einer  literarischen  Stilform,  in  der  Travestie  zur  Herabsetzung  eines 
mißliebigen  Stoffes.  Auch  die  ernste  Dichtung  gebraucht  das  Komische  zur  Ver- 
stärkung des  Gegensatzes  zum  Tragischen,  wie  die  vielen  komischen  Figuren  in 
seriösen  Werken  beweisen.  ^ 

Die  Komik,  auch  der  Witz  kann  nun  in  einer  ganz  besonders  veredelten  Form 
auftreten,  die  man  seit  dem  achtzehnten  Jahrhundert  mit  Humor  bezeichnet. 
(Früher  wurde  das  Wort  ziemlich  gleichbedeutend  mit  Komik  gebraucht ;  ein  scharf 
umrissener  Begriff  hat  sich  erst  nach  und  nach  herausgebildet.)  Wenn  wir  nun  fest- 
stellen wollen,  was  im  Humor  zu  den  komischen  Grundelementen  (der  Fabel  mit 
der  heiteren  Tendenz,  den  beiden  verschiedenartigen  Vorstellungen,  und  dem  komi- 
schen Sprung)  noch  hinzutritt,  so  werden  wir  finden,  daß  es  sich  hier  im  wesent- 
lichen nicht  um  ein  Moment  handelt,  das  der  Sache  anhaftet  (also  objektiv  ist), 
sondern  daß  es  hier  auf  unsere  Betrachtungsweise,  mit  der  wir  das  komische 
Objekt  auffassen,  ankommt.  Es  handelt  sich  im  Humor  um  eine  erweiterte  An- 
schauungsform, die  uns  die  Dinge  sab  specie  neternitatis  sehen  läßt,  und  die  sie  mit 
einer  Weltanschauung  in  Verbindung  bringt.  Das  Kleinliche,  Lächerliche  des  vor- 
liegenden komischen  Vorfalls  wird  verglichen  mit  dem  Ewigen  und  den  dahinter- 
liegenden  Gesetzen  der  Natur.  Dadurch  gewinnt  unsere  Stellungnahme  eine  Größe, 
ein  Verstehen  des  Unvollkommenen  und  Erbärmlichen,  ein  Verzeihen  des  Fehler- 
haften und  oft  sogar  ein  Aussöhnen  mit  der  Wirklichkeit,  das  etwas  Optimistisches 
an  sich  hat.  Am  einfachsten  sagt  es  eine  Bemerkung  Dessoirs:  »Unter  Humor 
verstehen  wir  eine  Oeniütsstininuing,  in  der  ein  Mensch  sich  seiner  Bedeutung  und 
zugleich  seiner  Bedeutungslosigkeit  bewußt  ist.«  (Ästhetik  und  allgem.  Kunstwissen- 
schaft, S.  224.) 


„Psychoanalyse  und  Kuiiitphilosopie".    Zu  diesem  Aufsatz  des  Herrn  Dr.  O.  E.  Hose 

(S.  328)  wünscht  Herr  Dr.  Otto  Rank  fcsteettcllt  zu  sehfn,  daß  sein  Buch  „Der  Künstler"  in  erster  Auf- 
lage bereits  1907,  also  vor  Stekcls  Duch,  erschienen  ist  und  durch  das  umfangreiche  Werk  „Das  Inzest- 
■liOliv  in  Dichtung  und  Sage"  (1912)  ergüiiit  wird. 


Besprechungen. 


Walter  Brecht,  Konrad  Ferdinand  Meyer  und  das  Kunstwerk  seiner 
Gedichtsammlung.  Wien  und  Leipzig.  Wilhelm  Braumüller.  Universitäts- 
Verlagsbuchhandlung.  O.  m.  b.  H.  1918.  233  S. 
Innerhalb  der  neueren,  aufs  Objekt  gerichteten  wissenschaftlichen  Bestrebungen, 
soweit  sie  die  Lyrik  betreffen,  bezeichnet  das  Buch  einen  beachtlichen  Fortschritt. 
Wir  haben  nach  den  biographischen  Ausschweifungen  gewisser  Schulen  wieder  ge- 
lernt ein  Gedicht  rein  für  sich  aufzunehmen.  Es  ist  natüriich,  daß  der  Wunsch  sich 
regt,  auch  eine  Sammlung  von  Gedichten  einmal  auf  ihren  in  ihr  selbst  ruhenden 
Wert  zu  untersuchen.  Nichts  zeigt  besser  als  das  Buch  Brechts,  daß  unsere  ästhe- 
tische Kritik  den  toten  Biographismus  innerlich  überwunden  hat.  Das  Biographische 
muß  in  der  Darstellung  einer  Gedichtsammlung  als  Kunstwerk  natüriich  stärker 
heraustreten  als  bei  einer  ästhetischen  Analyse  einzelner  Gedichte.  Brecht  hat  auch 
biographisches  Material  überall  in  seiner  Darstellung  verarbeitet.  Aber  das  Bio- 
graphische steht  unaufdringlich  im  Hintergrund;  seine  Beherrschung  ist  selbstver- 
ständliche Voraussetzung,  nicht  das  Ziel  der  Erklärung.  Im  Vordergrund  steht 
immer  das  objektive  Gebilde,  die  Gedichtsammlung.  Das  Erlebnis  tritt  nur  soweit 
in  die  Darstellung  ein,  als  es  dazu  dient,  das  Geformte  in  seinem  ganzen  Reich- 
tum zu  zeigen.  Jener  hoffentlich  vergangenen  Interpretationsweise  war  das  Kunst- 
werk, aus  dem  das  Biographische  herausgeschält  war,  ein  Rest,  mit  dem  man  nichts 
anzufangen  wußte.  Hier  führt  das  Biographische  nur  noch  tiefer  in  das  objektive 
Werk  hinein,  und  das  Erlebnis  ist  der  Rest,  der  zurückbleibt,  oder  besser:  Brechts 
Buch  ist  deshalb  ein  Höhepunkt  der  objektivistischen  Methode,  weil  es  das  Bio- 
graphische nicht  als  ungelösten  Rest  zurückläßt,  sondern  in  die  Form  aufhebt.  Nicht 
Meyers  Leben,  sein  geformtes  Leben  zieht  an  uns  vorüber,  ein  »wahreres«  (207) 
und  doch  höchst  individuelles. 

Soviel  über  die  Methode.  Im  einzelnen  zeigt  uns  Brecht  ausführiich  mit  innigster 
Versenkung  in  seinen  Gegenstand,  welch  beziehungsreicher  Kosmos  die  Meyersche 
Gedichtsammlung  ist.  Sein  Beispiel  beweist  wieder  einmal,  daß  nur  Liebe  schöp- 
ferisch wird.  Hier  ist  etwas  gesehen,  das  uns  bereichert,  und  das  heuristische  Prin- 
zip« erkenne  ich  in  dem  energischen  Satz  (den  ich  jeder  künftigen  Untersuchung 
über  Meyer  als  Motto  wünsche)  »an  innerer  Temperamentlosigkeit  bei  ihm  glaube 
ich  zu  keiner  Zeit«;  (206). 

Die  Feinheit  des  Meyerschen  Formempfindens,  was  Gedichtanordnung  betrifft, 
die  von  Brecht  bis  in  die  zarteste  Verzweigung  verfolgt  wird,  lernt  man  pro- 
grammatisch gleichsam  aus  einer  Erinnerung  des  Dichters  an  ein  Gespräch  mit 
Keller  kennen.  Keller  hat  seine  Vergänglichkeitslieder  in  einen  Zyklus  zusammen- 
gestellt (»Sonnwende  und  Entsagen«).  Meyer  ist  das  nicht  recht.  Der  Dichter, 
meint  er,  will  keinen  »erwiesenen  Satz«  hinstellen.  Die  Stimmung  der  Vergänglich- 
keit, die  im  Leben  immer  wieder  anklingt,  muß  auch  in  der  Gedichtsammlung 
immer  wieder  neu  erstehen.  Er  wünschte  diese  »süßen  Stimmen^  also  durch  die 
ganze  Sammlung  verteilt.    Keller  wurde  unmutig,  als  er  das  hörte  und  Meyer  brach 


BESPRECHUNGEN,  459 


ab.  —  Die  Grenze  Kellers  wird  hier  mittelbar  deutlich.  Meyers  Bemerkung  weist 
auf  den  Gegensatz  der  Anordnung  seiner  und  der  Kellerschen  Gedichtsammlung 
hin  (ich  hätte  gewünscht,  daß  Brecht  auf  diesen  Kontrast  mit  einigen  Worten  ein- 
gegangen wäre).  Auch  Keller  hat  geordnet.  Bei  ihm  bleibt  eine  Zusammenstellung 
nach  Stimmungsmomenten  (wobei  besonders  im  »Buch  der  Natur«  auch  manche 
feinere  Beziehung  hergestellt  ist),  was  bei  Meyer  ein  zweites  unsichtbares  Kunst- 
werk wird,  das  in  und  zwischen  den  einzelnen  Gedichten  sein  Leben  führt  und  das 
uns  der  Dichter  »wortlos  in  die  Hände  legt«  (209). 

Über  der  Fülle  der  Ähnlichkeiten,  Parallelen  (Handlungs-  und  Situationsparallelen 
für  den  Verstand,  Stimmungsparallelen  für  das  Gefühl,  Gebärdenparallelen  für  das 
Auge,  Klangparallelen  für  das  Ohr,  architektonische  Parallelen  im  Bau  der  Gedichte), 
.den  Gegensätzen  in  der  Ähnlichkeit«,  den  Variationen,  Kontrasten,  Steigerungen, 
Fintfaltungen,  Auftakten  und  Abschlüssen  könnte  einem  naiven  Leser  Angst  werden 
vor  der  Bewußtheit  des  Lyrikers.  Brecht  hat  die  Erklärung  für  dieses  einzige 
Phänomen  in  einem  guten  Worte  wenigstens  angedeutet.  Er  nennt  Meyer  »eine 
äußerst  harmoniebedürftige  Natur,  die  antithetisch  organisiert  ist«  (7).  Das  heißt, 
wie  ich  ergänzend  interpretieren  möchte,  die  beziehungsreiche  Form  der  Meyerschen 
Gedichtsammlung  ist  nicht  nur  das  Werk  eines  ordnenden  Verstandes,  sondern 
spiegelt  zugleich  die  Form  eines  Erlebens.  Dieses  Erleben  war  schon  beziehungs- 
reich. Der  Künstlerverstand  hatte  bei  der  Zusammenstellung  kein  sprödes,  zu- 
sammenhangloses Material  vor  sich  (wie  es,  um  einen  Antipoden  zu  nennen,  z.  B. 
Liliencron  gehabt  haben  mag,  der  gleichsam  immer  eigensinnig  aus  dem  Augenblick 
empfindet),  sondern  das  Material  rief  nach  der  Formung,  die  wir  an  der  fertigen 
Sammlung  bewundern.  Meyer  empfindet  den  Lebensaugenblick  gleichsam  schon 
historisch,  d.  h.  im  Zusammenhang,  in  Beziehungen  aus  einem  Ganzen  —  kein  Wunder 
daher,  daß  sich  die  Augenblicke  später  wieder  zu  einem  Ganzen  fügen  lassen.  Diese 
»historische«,  dem  eigenen  Ich  gegenüber  distanzierende  Art  des  Erlebens  hat  wenig 
Freunde.  Man  vermißt  daran  die  »Unmittelbarkeit«.  Ich  kann  in  diesem  Schlag- 
wort aber  nichts  anderes  als  den  Ausdruck  der  Verständnislosigkeit  für  einen  so  wert- 
vollen Erlebenstypus  finden,  dem  Hölderlin,  Novalis,  Leopardi  und  C.  F.  Meyer  an- 
gehören. 

Aus  der  »historischen«  Empfindungsweise  Meyers  erkläre  ich  mir,  daß  man  die 
bis  auf  die  Verszeilen  und  einzelnen  Worte  sich  erstreckenden  Parallelen  und  Kon- 
traste, die  Brecht  nachweist,  nicht  als  gesucht  oder  gemacht  empfindet,  sondern 
hinnimmt  als  etwas,  was  so  sein  muß.  Auch  die  Einheit  der  beiden  Hauptgruppen, 
der  persönlichen  und  der  historischen  Gedichte,  rechtfertige  ich  daraus:  die  histori- 
sche Stellung  dem  eigenen  Leben  gegenüber  drängt  von  selbst  zur  Darstellung  des 
Ich  an  historischen  Momenten. 

Ich  bin  auf  die  Erlebnisweise  des  Dichters  zurückgegangen,  was  auch  Brecht 
(206)  hat  tun  müssen.  Damit  soll  der  Blick  nicht  vom  objektiven  Gebilde  abgelenkt 
werden.  Die  Rückwendung  auf  den  Dichter  soll  vielmehr  nur  das  Vorurteil  be- 
seitigen helfen,  als  ob  alles,  was  Anordnung  und  Form  sei,  auch  gemacht  und  ge- 
künstelt sein  müsse.  Die  Form  des  Ganzen  ist  bei  Meyer  ebenso  natürlich  wie  bei 
anderen  Dichtern  die  Form  des  einzelnen  Gedichtes. 

Nur  einige  Proben  von  der  Art,  wie  Brecht  Beziehungen  herstellt.  Auf  den 
Beziehungsreichtum  der  in  dem  zweiten  (historischen)  Abschnitt  mit  den  Abtei- 
lungen: Antike  (»Götter«),  Mittelalter  (»Frech  und  fromm«),  Renaissance  (»Genie«), 
Reformation  (»Männer«)  deute  ich  nur  hin.  Die  illustrierenden  Beispiele  hole  ich 
aus  dem  ersten  Abschnitt.  Es  steht  da  z.  B.  der  vielleicht  schönste  Gedichtreigen, 
der  Meyer  gelungen  ist,  die  Cleliagedichte :   Weihgeschenk,  der  Blutstropfen  usw. 


470  BESPRECHUNGEN. 


bis:  Einer  Toten,  genau  in  der  Mitte  der  zentralen  Abteilung  :> Liebe«  (als  »Haupt- 
erlebnis seiner  ganzen  Erdenfabrt«).  Die  Feinheit  der  Anordnung  beruht  darin,  da(i 
Meyer  diesem  Erlebnis  seine  zentrale  Stellung  wahrt  und  es  doch  im  Zusammen- 
hang der  Abteilung  zugleich  als  vergänglich  zu  charakterisieren  versteht.  Denn  ein- 
gefaßt ist  der  Reigen  der  Cleliagedichte  von  den  Gedichten  an  die  Gattin.  Ihre 
Liebe  ist  lebensbeherrschend,  jenes  Ereignis  ist  aber  der  tiefsten  Empfindung  zum 
Trotz,  doch  nur  eine  Episode  (94).  Wer  in  solchen  Hineingeheimnissen  nur  Spie- 
lerei sieht,  wird  Meyers  Gedichte  überhaupt  nie  lange  in  der  Hand  behalten.  Wer 
aber  diesen  Dichter  liebt,  kann  aus  solchen  Aufschlüssen  tief  willkommene  Bereiche- 
rung künstlerischen  Erlebens  gewinnen. 

An  einer  Stelle  scheint  mir  Brechts  Einfühlungsfähigkeit  zu  versagen,  an  einer 
entscheidenden.  Meyers  Geschichtsphilosophie  würde  ich  auch  durch  den  »Glauben 
an  ein  ewiges  Ziel  aller  historischen  Entwicklung«  (115)  charakterisieren.  Aber 
Brecht  betont  das  »ewig«  nicht  genug.  Er  scheint  bei  Meyer  den  Glauben  an  ein 
wirkliches  Ziel  der  Geschichte  vorauszusetzen.  Das  helfet  aber  den  Sinn  des 
»ungeheuren  Gedichts«  (»Alle«)  mißverstehen.  Diese  großartige  Vision  will  nicht 
eine  Erfüllung  in  der  Zukunft  darstellen,  sondern  bedeutet  den  ewigen  Ausgleich 
gegen  alle  Ungerechtigkeiten  und  allen  Jammer  der  Geschichte,  den  der  Mensch 
in  seinem  Innern  findet,  wenn  er  des  Göttlichen  sich  bewußt  wird.  Brecht  scheint 
es  dagegen  als  eine  Art  Vision  des  Zukunftstaates  zu  deuten.  Wenn  Meyer  das 
Gedicht  »sozial^  genannt  hat,  so  kann  er  es  nur  in  dem  Sinne  gemeint  haben,  in 
dem  man  auch  die  Bergpredigt  sozial  nennen  darf.  Eine  platte  Fortschrittsphilo- 
sophie ist  einem  so  feinen  Kenner  der  Geschichte  sicherlich  fremd  gewesen.  Die 
Geschichte  macht  keine  Fortschritte,  wohl  aber  der  einzelne  Mensch  in  der  Ge- 
schichte. Die  Versöhnung  mit  Gott  vollzieht  sich  nicht  am  Ende  der  Zeiten:  in 
jedem  Augenblick  spricht  der  Geist  »sieh  auf!  es  darbt  ja  keiner,  sie  sitzen  alle  an 
Tischen  des  Lebens«. 

Zum  Schlüsse  ein  grundsätzliches  Bedenken,  das  die  Form  des  Buches  betrifft. 
Es  ist  kein  Buch,  was  uns  vorliegt,  sondern  nur  das  Material  zu  einem.  Merk- 
würdig wie  wenig  Brecht  für  sein  eigenes  Arbeiten  von  Meyer  gelernt  hat.  Seine 
Arbeit  teilt  einen  Fehler  mit  fast  allen  Büchern,  die  wir  bei  solchen  Untersuchungen 
zu  erhalten  pflegen.  Sie  gibt  zu  viel  unaufgelösten  Stoff.  Die  philologische  Treue 
läßt  sich  wahren,  auch  wenn  man  zusammenfaßt.  Brechts  Werk  hätte  ein  Buch  für 
die  Gebildeten  werden  können,  es  ist  ein  Buch  für  Philologen  geworden.  Der 
Deuter  hätte  uns  den  Organismus  dieses  unvergleichlichen  Kunstwerkes,  das  uns 
seine  Bemühung  erst  geschenkt  hat,  darstellen,  nicht  beschreiben  sollen.  Ich 
mache  einen  Vorschlag.  Der  Verfasser  dränge  das  wichtigste  in  einen  Aufsatz  zu- 
sammen und  der  Verlag  Haessel  gebe  diese  Zusammenfassung  als  einführenden 
Ergänzungsband  den  Gedichten  bei.  Das  ausführlichere  Werk  würde  seinen  Wert 
als  Quelle  der  Belege  trotzdem  behalten.  Meyers  Gedichte  sind  in  112.  Auflage  er- 
schienen; die  Arbeit  Brechts  könnte  vielen  ein  Führer  zu  vertieftem  Genüsse  sein. 

Beriin. 

Alfred  Baeumler. 

Adolf  V.  Grolman,  Fr.  Hölderlins  Hyperion.    Stilkritische  Studien 
zu  dem   Problem   der  Entwicklung   dichterischer  Ausdrucks- 
formen.   C.  F.  Müllersche  Hofbuchhandlung  m.b.H.,  Karisruhe  i.  B.    1919. 
34  S. 
Von  dieser  Arbeit  gilt  in  der  Hauptsache  dasselbe,  was  wir  in  der  vorhergehen- 
den Besprechung  des  Buches  von  Brecht  sagen  mußten.    Mit  der  größten  Feinheit 


BESPRECHUNGEN .  47  j 


der  sachlichen  Behandlung  des  Themas  verbindet  sich  ein  erstaunlicher  Mangel  an 
darstellerischem  Vermögen.  Auch  Qrolmans  Interesse  haftet  am  objektiven  Werk. 
Zwischen  den  Extremen  der  dithyrambisch-subjektiven  und  der  rational-objektivieren- 
den  (»philosophischen^)  Behandlungsart  sucht  er  einen  Weg  zum  Werk.  Dazu 
wäre  es  nicht  nötig  gewesen  einen  ganzen  Zettelkasten  auszuschütten.  Bei  Dich- 
tern,, deren  Werk  unübersehbar  groß  oder  schwer  zugänglich  ist,  mag  ein  reich- 
liches Anführen  von  Belegen  willkommen  sein;  bei  so  leicht  überblickbaren  Er- 
scheinungen wie  Hölderlin  ist  es  Pedanterie.  Wer  seinen  Hölderlin  kennt,  braucht 
nicht  nachzuschlagen,  ob  die  wesentlichen  Aufstellungen  richtig  sind,  und  wer  ihn 
nicht  kennt,  wird  ihn  durch  die  zahllosen  Verweise  auf  Seite  so  und  soviel  auch 
nicht  kennen  lernen. 

JV\it  seltener  Einführungsfähigkeit  hat  sich  der  Verfasser  in  die  Arbeitsweise  des 
Hyperiondichters  eingelebt.  Er  steht  seinem  Gegenstand  innerlich  so  nahe  wie 
Brecht  dem  seinen  und  das  zeichnet  sein  Buch  in  der  ganzen  Hölderiinliteratur 
aus.  Gewisse  Peinlichkeiten  in  dem  sonst  so  kostbaren  Hyperionmaterial  scheinen 
mir  durch  Grolman  völlig  erklärt.  Die  Arbeitsweise  Hölderiins  am  Hyperion  ent- 
stamme nicht  der  Überfülle  an  Gestaltungskraft,  sondern  einem  aus  dem  Veriieren 
der  Distanz  zu  begründenden  Tasten  und  Suchen  nach  Leichtigkeit  und  Mannig- 
faltigkeit. Statt  die  Harmonie  seiner  Seele  als  (»vielleicht  bestreitbaren«  sagt  v.  Grol- 
man; was  läßt  sich  in  diesem  Sinne  nicht  »bestreiten«?)  Eigenwert  zu  erkennen, 
begeht  Hölderlin  eine  Inkonsequenz  nach  der  anderen  (35).  Im  sogenannten  Ich- 
roman veriiert  Hölderiin,  im  Streben  nach  dem  »Gefühl  der  Überiegenheit«,  alle 
Distanz.  Die  Linie  fehlt,  die  Reflexion  ertötet  das  Leben.  Der  Wert  der  Grolman- 
sehen  Untersuchung  beruht  darin,  daß  sie  diese  Stilverirrungen  an  einem  ganz  be- 
stimmten Kunstmittel  nachweist  und  zwar  an  einem  für  Hölderiin  entscheidenden: 
der  landschaftlichen  »Bildgebung«.  (Die  Definition  der  Bildgebung,  die  der  Ver- 
fassers. 11  gibt,  scheint  mir  nicht  glücklich.  Wie  ich  den  Beispielen  entnehme,  ver- 
steht er  unter  Bildgebung  eine  im  Zusammenhang  dichterisch  bedeutsame,  gleich- 
sam geistig  ausstrahlende  Landschaftsdarstellung.)  Es  ist  völlig  berechtigt,  gerade 
dieses  Stilniotiv  in  den  Mittelpunkt  einer  Hölderlinuntersuchung  zu  rücken.  Nicht 
mit  Unrecht  sagt  der  Verfasser,  daß  das  landschaftliche  Bildmotiv  für  Hölderiin  das 
Gegenmittel  gegen  seine  hauptsächlichste  Gefahr,  sich  in  der  Überfülle  der  Re- 
flexionen zu  veriieren,  darstelle  (46). 

Dem  Motiv  der  Bildgebung  entgegengesetzt,  Anzeichen  nicht  der  bauenden, 
sondern  der  auflösenden  Kräfte,  ist  das  Stilelcment  des  Deskriptiven.  Dies  tritt  in 
der  Endfassung  des  Hyperions  hervor.  Die  Anschauungsfähigkeit  hat  sich  gesteigert, 
die  Linien  sind  größer,  aber  die  Einheitlichkeit  des  landschaftlichen  Wertes  hat  ge- 
litten (54).  Diese  Behauptungen  zu  belegen  ist  hier  nicht  möglich.  Mir  scheint 
Grolman  im  ganzen  richtig  gesehen  zu  haben.  Seine  beste  Arbeit  steckt  in  den 
»Tabellen«,  denen  er  Leben  einzuhauchen  leider  nicht  verstanden  hat.  Einzelne 
Beispiele,  schlagend  einander  gegenübergestellt,  hätten  uns  von  Hölderlins  Ringen 
und  Künstlertum  mehr  vermittelt  als  diese  überaus  fleißigen  Zusammenstellungen. 
Es  ist  naiv,  wenn  der  Verfasser  sagt:  man  vergleiche  diese  und  jene  Szene  (S.  54). 
Vergleichen  ist  seine  Sache,  nicht  die  des  Lesers.  Ein  Gegenwartsmensch  hat  nicht 
Zeit,  tagelang  Stellen  aufzusuchen.  Diese  Ungeschicklichkeit  ist  bedauerlich,  weil 
sie  uns  bei  der  großen  Innigkeit,  mit  der  der  Verfasser  seinen  Stoff  umfaßt,  zweifel- 
los um  schöne  Ergebnisse  bringt. 

Außer  der  »Bildgebung«  behandelt  Grolman  noch  das  Problem  der  Distanz, 
das  in  der  Briefform  so  schön  zum  Ausdruck  kommt.  Diese  Form  hat  Grolman 
mit  großer  Zartheit   nachgefühlt   und  bis  in  ihre  feinsten  Wirkungen  verfolgt.    Er 


472  BESPRECHUNGEN. 


protestiert  gegen  Diltheys  Bezeichnung  des  Hyperions  als  Bildungsroman.  Der 
Hyperion  gibt  keine  Entwicklung  im  iierkönimlichen  Sinne.  Alle  Entwicklung  ist 
durcli  die  Fiktion  der  rückscliauenden  Betrachtung  vorweggenommen.  »Dieser 
Grundzug  der  still-f rohlockenden,  aber  resignierten  Selbstschau  spiegelt  ein  leichtes 
Behagen  an  dem,  daß  alles  so  geworden  ist,  und  eine  milde  Trauer  an  dem,  daß 
nicht  anders  gekonnt  wurde.  Es  ist  wohl  Flucht  vor  dem  Leben,  aber  nicht 
Flucht  vor  dem  Leiden«  (62).  Die  Bedeutung,  die  die  Stellung  des  Schicksalsliedes 
im  ganzen  hat,  entgeht  Grolman  natürlich  nicht. 

Sehr  schön  ist  die  Übersetzung  des  Wortes:  »Wir  Griechen^;  es  bedeutet,  sagt 
Grolman,  alle  die  Leidenden.  In  einem  Exkurs  weist  er  die  Züge  in  Hölderlin 
nach,  die  es  unzweckmäßig  erscheinen  lassen,  ihn  unter  die  Romantiker  einzureihen. 
Dämmerung  und  Mondlicht  ist  für  ihn  nur  ein  Stilmittel  unter  anderen ,  z.  B.  für 
Alabanda.  Seine  eigentliche  Landschaft  ist  klar  und  nachdenklich.  Griechenland 
ist  für  ihn  kein  ästhetischer,  sondern  ein  ethischer  Begriff.  Fein  nennt  Grolman  die 
Hölderlin  eigenste  Tendenz  die  des  Wartens  (83),  also  eine  höchst  »unromantische« 
Form  der  Sehnsucht.  So  ganz  unromantisch  ist  das  Warten  vielleicht  nicht.  Es 
wäre  jedenfalls  gut,  wenn  Grolman  deutlich  gesagt  hätte,  daß  der  Trennungsstrich, 
den  er  zwischen  Hölderlin  und  der  Romantik  zieht,  nur  den  Begriff  der  deutschen 
literarischen  Romantik  von  Hölderlin  entfernt.  Zur  Romantik  im  weiteren  Sinne 
wird  Hölderlin  trotzdem  immer  gehören.  Um  hier  genau  zu  unterscheiden  muß 
man  schärfer  bestimmte  Begriffe  des  Klassischen  zur  Verfügung  haben  als  Grolman 
aufgerafft  hat. 

Beriin.  Alfred  Baeumler. 

Max  Hochdorf,  Zum  geistigen  Bilde  Gottfried  Kellers.  Amalthea- 
bücherei.    Bd.  V.    Amalthea  Verlag.    Zürich,  Leipzig,  Wien.    98  S. 

Der  erste  »Zur  Psychologie«  überschriebene  Abschnitt  enthält  eine  Charaltteristik 
des  Erotikers  Keller.  Von  diesem  Zentralpunkt  aus  findet  der  Verfasser  den  Weg 
zu  dem,  worauf  es  ihm  vor  allem  ankommt:  einer  Kritik  der  Stileigentümlichkeiten 
der  Kellerschen  Dichtung.  Trotz  dem  subjektiv-psychologischen  Eingang  zeigt  die 
Studie  Hochdorfs  also  die  Richtung  auf  das  objektiv-formale.  Rein  ist  diese  Richtung 
insofern  nicht  eingehalten,  als  die  formalen  Extreme,  zwischen  denen  sich  Kellers 
Erzählungsart  nach  Hochdorf  bewegt,  romantischer  und  realistischer  Stil,  nicht  nur 
zeitlose  Darstellungsgegensätze,  sondern  auch  historische  Begriffe  sind  (es  hat  sogar 
manchmal  den  Anschein,  als  ob  der  Verfasser  jenen  mit  dem  Unvollkommeneren 
diesen  mit  dem  Vollkommeneren  identifizierte).  Dann  wäre  der  Hauptteil  der  Arbeit 
einer  Feststellung  der  historischen  Stellung  Kellers  zwischen  Novalis  und  Zola 
gewidmet. 

Es  mag  sein,  daß  es  in  dem  unwirschen  Junggesellen  manchmal  gewurmt  und 
gewühlt  hat,  weil  er  nicht  einmal  »das  geringe  Liebesglück  des  Alltagsmenschen 
einheimsen  konnte«.  Man  darf  auch  sagen,  daß  die  Liebesszenen  seiner  Dichtung 
»Träume  seiner  Sehnsucht«  sind.  Hochdorf  zeigt,  wie  das  Schicksal  der  Jünglinge 
in  Kellers  Novellen  meist  dem  Kellerschen  entgegengesetzt  ist,  wie  da  ein  »richtiger 
Don  Juan-  und  Casanovaspuk«  anhebt.  Aber  man  sollte  doch  nicht  vergessen 
darauf  hinzuweisen,  daß  mit  dieser  psychologischen  Feststellung  vom  Künstler 
noch  nichts  gesagt  ist.  Denn  damit  ist  nur  etwas  über  die  H  a  n  d  I  u  n  g  der  Keller- 
schen Novelle  gesagt,  noch  nichts  über  ihre  eigentümliche  Darstellungsweise.  Eine 
tiefere  Untersuchung  begänne  erst  da,  wo  der  epische  Stil  Kellers  z.  B.  mit  dem 
Goethes  verglichen  würde.  Goethe  ist,  was  das  Privatleben  betrifft,  Anlipode  Kellers, 
und  doch  würde  ein  Vergleich  der  Dichtungen  beider  wahrscheinlich  starke  Gemein- 


BESPRECHUNGEN.  473 


samkeiten  enthüllen.  Vor  allem:  ist  nicht  den  Frauengestalten  beider,  die  in  der 
Erotik  so  entgegengesetzt  waren,  derselbe  Glanz  eigen  bei  allem  »Realismus«?  Was 
unterscheidet  die  Frau  Regel  Amrain  von  Dorothea,  der  Geliebten  Hermanns?  Das 
Junggesellentum  Kellers  wäre  also  vielleicht  nur  eine  Anekdote  im  Verhältnis  zu 
seiner  Kunst?  Ich  will  es  nicht  behaupten.  Aber  es  scheint  mir,  als  ob  man  häufig 
zu  schnell  Kunst  und  Leben  eines  Dichters  in  Zusammenhang  bringt,  ohne  zu 
fragen,  ob  nicht  ein  entgegengesetzt  gerichtetes  Leben  zu  verwandten  Kunstgebilden 
führen  könnte.  Hochdorf  hätte  vielleicht  besser  auch  den  Schein  vermieden,  als  sei 
Kellers  Liebesunglück  irgendwie  als  Mangel  aufzufassen.  Eine  solche  Bewertung 
entspränge  nicht  einer  »Weltanschauung*,  sondern,  wie  er  an  einer  Stelle  mit  glück- 
licher Entgegensetzung  sagt,  einer   '  Schlafstubenanschauung«. 

Hochdorf  konstatiert  in  Keller  einen  »Zwiespalt  zwischen  der  sehenden  Er- 
kenntnis und  der  Manier  des  formenden  Schaffens«.  Der  Verfasser  des  grünen 
Heinrich  wittert  Neuland,  aber  er  entsetzt  sich,  wenn  er  wahrnimmt,  daß  er  schon 
hineingeschritten  ist.  Er  mildert,  also  verhüllt.  Hochdorf  zeigt  das  Zunehmen  dieser 
verklärenden  Tendenz  an  den  beiden  Fassungen  des  großen  Lebensromans.  Was 
ist  der  junge  Keller?  Jedenfalls  kein  Romantiker.  Selbst  der  Verfasser  des  Martin 
Salander  aber  ist  kein  Realist.  Kellers  Stil  ist  ein  Lustwandeln  zwischen  Romantik, 
Realistik  und  Naturalistik.  Hochdorf  stellt  das  Gedicht:  Die  Spinnerin  (1844)  ver- 
gleichend neben  die  Huldaepisode  des  grünen  Heinrichs  (um  1880)  und  findet  trotz 
dem  Abstand  der  Jahre  ein  gleiches;  dort  eine  echt  romantische  Metapher  (»des 
Lebens  Myrthenkränze«),  hier  die  Scheu  vor  dem  naturalistischen  Ausdruckmittel, 
die  die  Prostitution  der  Arbeiterin  mit  Mondschein  verschleiert.  —  Diese  Beobach- 
tungen, mögen  sie  auch  oft  etwas  pointiert  vorgebracht  werden,  weisen  in  der  Tat 
auf  das  Hauptproblem  der  Kellerschen  Darstellung  hin.  Ich  sehe  dieses  Problem 
jn  der  Frage:  inwieweit  beruht  Schönheit,  Ruhe  und  Geschlossenheit  der  Kellerschen 
Dichtung  auf  einen  Mangel  ?  Ist  sie  aus  Fülle  hervorgegangen  oder  wird  sie  (zum 
Teil  wenigstens)  der  Flucht  vor  der  Wirklichkeit  verdankt?  Die  Antwort  Hochdorfs 
ist  etwa  die:  Keller  zögert,  seinen  naturalistischen  Neigungen  nachzugeben.  Was 
als  strenge  Wahrheit  voraus  berechnet  war,  wird  oft  nur  «artige  und  selbst  idyllisch 
gleißnerische  Abenteuerei«.  Der  junge  Dichter  (erste  Fassung  des  grünen  Heinrich) 
wie  der  alte  (Entwurf  zum  Martin  Salander)  mit  ihrer  »Untertänigkeit  vor  dem  Wirk- 
lichen« überwiegen  den  Keller  der  mittleren  Zeit  »der  Legendenstimmungen  und 
der  Lustfahrten  durch  Traumland  und  Phantastereien,  die  nicht  im  Gelände  des  Ver- 
nünftigen anzusiedeln  sind«.  Was  zwischen  den  beiden  großen  Romanen  liegt,  »die 
Lieblichkeit  der  Legenden,  die  Launigkeit  der  Seldwyler  Geschichten,  die  Lehrhaftig- 
keit  des  Sinngedichts,  die  Erbaulichkeit  der  Züricher  Novellen«  erscheint  Hochdorf 
wie  ein  köstliches  Abenteuer.  Der  Dichter  hat  in  ihnen  Kunststile  erprobt,  die  ihm 
fremd  waren.  Das  Endurteil  lautet  also:  Kellers  Formensprache  ist  stellenweise 
noch  romantisch.  »Der  Pfadfinder  auf  einer  sehr  irdischen  Welt  kommt  zeitweilig 
von  den  romantischen  Stilmitteln  nicht  los«.  Seine  Formgebräuche  sind  streng  von 
seinem  Geist  zu  unterscheiden.  Diesen  eigentlichen  Geist  Kellers  erblickt  Hochdorf 
in  den  kühneren,  naturalistischeren  Bildern  des  ersten  grünen  Heinrichs  und  des  Sa- 
landerentwurfs,  nicht  in  dem  des  zweiten  grünen  Heinrichs  und  den  vielbewunderten 
Legenden. 

So  interessant  die  Herausarbeifung  dieses  verborgenen  rücksichtslos  »naturalisti- 
schen« Kellers  ist,  scheint  mir,  hat  Hochdorf  dem  Problem,  um  das  es  sich  eigent- 
lich handelt,  durch  sein  Werturteil  die  Spitze  abgebrochen.  So  wenig  es  angeht, 
auf  den  ersten  grünen  Heinrich  und  die  Salanderentwürfe  allein  eine  Theorie  des 
Kellerschen  Geistes  zu  gründen,  so  wenig  kann  man  den  Dichter  der  Legenden 


474  BESPRECHUNGEN. 


nur  als  Zwischenspiel  betrachten.  Mit  dieser  Gewaltsamkeit  wird  nichts  gewonnen. 
Das  Problem  erhebt  sich  von  neuem:  hat  der  Dichter  des  ersten  grünen  Heinrichs 
alles  gesagt?  Ist  nicht  auch  hier  schon  dieselbe  stilisierende  Kraft  wirksam,  die 
später  die  sieben  Legenden  schuf?  Mir  scheint  die  Kellersche  Erzählungskunst  eine 
Einheit  zu  bilden,  in  der  sich  Wirklichkeitsnähe  und  Stilisierung  verschiedenwertig 
verbinden.  Beide  Elemente  sind  immer  gemischt,  und  statt  zu  trennen,  was  nicht 
zu  trennen  ist,  sollte  man  die  Mischung  untersuchen,  d.  h.  feststellen,  was  diese 
romantische,  stihsierende  Tendenz  in  ihrem  Kern  bedeutet,  ob  sie,  unserer  Frage 
nach,  ein  Mangel  oder  eine  Stärke  des  Dichters  ist. 

Zu  einer  Untersuchung  dieser  Frage  bietet  Hochdorfs  Schrift  manche  gute  Be- 
obachtung. Offenbar  würde  seine  Antwort  der  Stilisierung  ungünstig  lauten.  Das 
Gefühl  der  meisten  modernen  Kellerleser  wird  ihm  recht  geben.  Man  empfindet 
oft  etwas  wie  eine  Scheinlösung,  ein  Kompromiß  in  der  Darstellung.  Vielleicht 
tritt  an  allen  diesen  Stellen  eine  Art  von  .romantischer  Metapher«  für  eine  realistische 
Wendung  ein.  Die  Frage  bleibt  aber  offen,  ob  durch  die  »Flucht^  vor  der  Wirk- 
lichkeit nicht  ein  neuer  Wert  geschaffen  wird.  Auf  solchen  Stellen  beruht  vielleicht 
mit  das  schwebende  der  Kellerschen  Fabulierkunst. 

Max  Hochdorf  sagt  uns  am  Schluß,  daß  er  viel  der  Beispiele  im  Kasten  zurück- 
behalten habe.  Vielleicht  öffnet  er  den  Kasten  noch  einmal  und  führt  sein  fein- 
sinnig begonnenes  Zergliederungswerk  des  Kellerschen  Erzählerstüs  weiter.  Dabei 
werden  ihm  hoffentlich  Wendungen  wie  die  S.  78  über  antike  Tragödie  und  Mytho- 
logie nicht  mehr  entschlüpfen.  Durch  ein  Versehen  steht  auf  S.  50  und  51  Romeo 
und  Julia  »auf  dem  Lande«,  statt  »auf  dem  Dorfe«. 

Berlin.  Alfred  Baeumler. 


E.  Troeltsch,  Die  Dynamik  der  Geschichte  nach  der  Geschichts- 
philosophie des  Positivismus.  Philosophische  Vorträge  der  Kant- 
Gesellschaft,  Nr.  23.  Berlin,  Reuther  &  Reichard,  1Q19.  9Q  S. 
Mit  seiner  bekannten  Meisterschaft,  große  Zusammenhänge  zu  überbücken,  Ge- 
dankensysteme auf  ihre  letzten  Motive  und  ihre  kulturellen  Grundlagen  genau  zu 
untersuchen  und  die  ganze  ungeheure  Masse  des  Materials  mit  allen  andringenden 
Assoziationen  wuchtig  zusammenzuballen,  mustert  der  Verfasser  die  kausalgenetische 
Methode  der  Geschichtsbetrachtung  in  ihrem  Vorstadium  bei  St.  Simon,  ihrer  Aus- 
bildung bei  Comte,  Miil  und  Spencer  und  ihren  letzten  Nachwirkungen  bei  Wundt. 
Dem  ästhetisch  interessierten  Leser  schwebt  ja  vor  allem  die  Anwendung  der 
Methode  auf  das  künstlerische  Leben  bei  H.  Taine  vor.  Dem  kritischen  Blicke  des 
Verfassers  entgehen  die  Schwächen  des  ganzen  Verfahrens  nicht,  läßt  es  sich  doch 
auf  so  zusammengesetzte  und  individuell  differenzierte  Erscheinungen  und  Gebilde 
wie  künstlerische  Persönlichkeiten  und  Kunstwerke  nur  mit  Gewaltsamkeit  oder  nur 
mit  steten  Anleihen  bei  einer  teleologischen  Betrachtungsweise  anwenden,  die  denn 
doch  wieder  von  der  älteren  dialektischen  Auffassung  nicht  mehr  wesentlich  ver- 
schieden ist.  Es  wird  ein  Hauptverdienst  der  scharfsinnigen  Untersuchung  bleiben, 
die  Annäherung  von  Wundts  Lehre  vom  »historischen  Auftrieb«^  an  Gedanken  Hegels 
gezeigt  zu  haben,  besonders  was  die  höheren  Schichten  der  Kultur,  also  etwa  die 
vierte  Stufe  der  geschichtlichen  Entwicklung  nach  der  Anschauung  des  Leipziger 
Denkers  angeht.  Damit  ergibt  sich  von  selbst  T.'s  ablehnende  Stellung  zu  Lamp- 
rechts Konstruktion,  der  die  »Oleichläufigkeit«  in  der  Stufenfolge  vollentwickelten 
Volkstums  theoretisch  behauptet,  aber  angesichts  der  recht  verschiedenen  Entwick- 
lung, z.  B.  der  Griechen  und  Römer,  der  Chinesen  und  Engländer  doch  nicht  durch- 


I 


BESPRECHUNGEN.  475 


führen  kann  und  der,  um  für  jede  Stufe  einen  gewissen  geistigen  Kolleictivzustand 
zu  erweisen,  jeweils  die  heterogensten  geschichth'chen  Elemente  in  sein  psycho- 
logisches Schema  pressen  muß,  worunter  gerade  auch  seine  Darstellung  der  künst- 
lerischen Entwicklung  Deutschlands  leidet.  Schließlich  kann  auch  seine  Synthese 
eines  idealistisch-metaphysischen  Hintergrundes  nicht  entbehren  und  so  langen  wir 
doch,  wieder  in  der  Nähe  des  Ausgangspunktes  an.  Der  Gewinn  der  ganzen  Me- 
thode liegt  nach  Troeltsch  in  der  durchgängigen  realistischen  Durchfärbung  der  Ge- 
schichte, die  wir  uns  wohl  gefallen  lassen  können;  weiterhin  in  der  Zurückführung 
dieses  Realismus  auf  möglichst  allgemeine  Prinzipien.  Aber  was  helfen  mir  diese 
»allgemeinen  Gesetze«,  d.  h.  zum  großen  Teil  nur  recht  bedenkliche  Verallgemeine- 
rungen von  Tatsachen,  die  auf  induktivem  Wege  aus  der  Beobachtung  einzelner 
halle  mit  ihrer  ganzen  indirekten  Besonderheit  gewonnen  sind.  Bei  rein  »kausa'ert 
Betrachtung  kommen  wir,  wie  Troeltsch  am  Schlüsse  betont,  weder  zu  einer  rein- 
lichen Abgrenzung  des  einzelnen  Gegenstandes,  der  ja  doch  allemal  ins  Ganze  ver- 
fließt, noch  zu  einer  wirklichen  Entwicklung,  sondern  nur  zu  Reihenbildungen,  die 
allen  höheren  Gebilden  gegenüber  versagen. 

Hamburg.  Robert  Petsch. 


Johannes  Volkelt,  Das  ästhetische  Bewußtsein;  Prinzipien  fragen 
der  Ästhetik.  C.  H.  Becksche  Verlagsbuchhandlung,  Oskar  Beck,  Mün- 
chen 1920.  228  S. 
Als  ich  vor  einiger  Zeit  an  dieser  Stelle  die  neue  Auflage  von  Wundts  Kunst- 
band aus  seiner  Völkerpsychologie  anzeigte,  mußte  ich  —  trotz  aller  Verehrung  — 
darauf  hinweisen,  wie  dünn  sich  die  Probleme  lebendiger,  moderner  Forschung  in 
jenem  Werke  abzeichnen,  wie  stark  die  Fühlung  zur  Gegenwart  gelockert  ist.  Das 
gerade  Gegenteil  gilt  von  der  vorliegenden  Arbeit  des  Altmeisters  unserer  Wissen- 
schaft, die  mitten  hinein  in  aktuellste  Fragen  leitet.  Der  Leser  wird  immer  wieder 
die  weise,  besonnene  Klarheit  aller  Ausführungen  bewundern,  die  Durchsichtigkeit 
und  Folgerichtigkeit  des  Aufbaues,  die  geschmeidige  Fügsamkeit  der  Sprache,  die 
feinste  seelische  Verwebungen  schaubar  macht,  vor  allem  auch  die  vollendete  Be- 
herrschung der  Literatur,  die  sich  bis  auf  die  Jüngsten  erstreckt.  Ein  Buch  Volkelts 
braucht  man  Fachleuten  nicht  zu  empfehlen;  sie  wissen  sehr  gut,  daß  sie  es  lesen 
müssen,  und  die  Lektüre  sich  lohnt.  Kritische  Randbemerkungen  will  ich  in  diesem 
Falle  unterlassen,  denn  die  beiden  Bände  meiner  »Grundlegung  der  allgemeinen 
Kunstwissenschaft«  (1914  und  1920)  boten  mir  hinreichend  Gelegenheit  zu  eingehen- 
der Auseinandersetzung.  Ich  bedauere  nur  lebhaft,  daß  Volkelt  der  allgemeinen 
Kunstwissenschaft  als  solcher  schroff  ablehnend  gegenübersteht,  denn  die  Differenz 
scheint  mir  gar  nicht  so  unüberbrückbar.  Den  vvesensnotwendigen  Zusammenhang 
der  Kunst  mit  dem  Ästhetischen  habe  ich  niemals  geleugnet,  im  Gegenteil  stets 
nachdrücklich  betont.  Und  Volkelt  anerkennt  »vollauf«,  »daß  die  Kunst  auch  mora- 
lische, pädagogische,  volkswirtschaftliche,  ethnologische  Seiten  in  sich  schließt«. 
Ich  ziehe  daraus  den  Schluß,  daß  die  Ästhetik  dem  vollen  Tatbestand  der  Kunst 
nicht  gerecht  zu  werden  vermag,  imd  daß  von  ihrem  Standpunkt  aus  eine  rein 
ästhetische  Kunst  gefordert  werden  müßte.  Auch  im  Betriebe  der  Wissenschaft 
spielen  verschiedene  Faktoren  mit,  sie  sind  aber  deutlich  als  trübende  Medien  er- 
kennbar, psychologisch  bedeutsam,  nicht  systematisch  gerechtfertigt.  Die  außer- 
ästhetischen Sachverhalte  der  Kunst  scheinen  mir  jedoch  nicht  Beigaben,  die  sachlich 
besser  unterblieben,  sondern  verankert  in  Gegenständlichkeit,  Wesen  und  Wert  der 
Kunst.     Darum  halte  ich  es  für  unzulässig,  vom  Ästhetischen  ausgehend  zur  Kunst 


476  BESPRECHUNGEN. 


herabzusteigen,  wie  es  Lipps  in  prachtvoller  Strenge  und  rigoroser  Einseitiglteit  tat, 
sondern  erachte  es  für  notwendig,  mit  einer  Wesensuntersuchung  der  Kunst  zu  be- 
ginnen und  dann  erst  zu  fragen,  wie  sich  das  Verhältnis  des  Künstlerischen  zum 
Ästhetischen  gestaltet.  Und  Volkelt  ist  in  seiner  praktischen  Arbeit  allen  Verzwei- 
gungen des  Künstlerischen  so  liebevoll  nachgegangen,  daß  gerade  bei  ihm  von 
einem  =  Zwängen«  und  »Hineinpressen«  der  Gesamtheit  der  Kunst  unter  das  Ästhe- 
tische nicht  die  Rede  sein  kann.  Nur  nimmt  er  meiner  Ansicht  nach  hierbei  so 
viel  Außerästhetisches  in  die  Ästhetik  hinein,  daß  es  mir  methodisch  und  systema- 
tisch einwandfreier  erscheint,  den  Gesichtspunkt  der  Kunstwissenschaft  vorherrschen 
zu  lassen.  Gewiß  ist  nicht  die  konkrete  Welt  der  Erfahrung  »stückweise  auf  ver- 
schiedene, einander  ausschließende  Wissenschaften  aufgeteilt' ,  aber  das  Zusammen- 
arbeiten der  einzelnen  Disziplinen  erfolgt  um  so  förderlicher  und  reibungsloser,  je 
klarer  und  reiner  Kategorien  und  Problematik  jeder  einzelnen  entwickelt  sind.  Der 
»gemäßigte  Psychologismus <<  —  den  Volkelt  vertritt  —  ist  keine  unübersteigbare 
Scheidewand,  denn  ohne  Psychologie  wird  niemals  eine  allgemeine  Kunstwissen- 
schaft ihr  Auskommen  finden,  und  ihre  Gleichsetzung  mit  Psychologie  befürworten 
zu  wollen,  liegt  ihm  völlig  fern.  Nur  stehen  seiner  Natur  gerade  die  Fragen  be- 
sonders nahe,  die  enge  Beziehung  zur  Psychologie  erfordern.  Und  darum  ver- 
schieben sich  auch  bei  Volkelt  die  Akzente  nach  dieser  Seite.  In  dem  Buch,  dessen 
Erscheinen  zu  vermelden  ich  hier  die  Freude  habe,  bietet  Volkelt  sogar  rein  psycho- 
logische Untersuchungen,  und  zwar  solche  von  hoher  Bedeutung.  Ja  diese  lebens- 
vollen und  fein  abgetönten  psychologischen  Beiträge  sind  so  wichtig  und  wertvoll, 
daß  ich  den  Wunsch  nach  einer  Gesamtdarstellung  der  Psychologie  zu  äußern  mir 
gestatten  würde,  wenn  ich  ihn  nicht  selbst  für  unbescheiden  hielte. 

Abschließend  erwähne  ich  noch,  daß  der  erste  Abschnitt  die  ästhetische  Gegen- 
ständlichkeit behandelt,  das  Problem  der  Objektivität  in  der  Ästhetik.  Drei  weitere 
Abschnitte  sind  der  »Einfühlung«  gewidmet,  der  fünfte  beschäftigt  sich  mit  der 
Frage  »Illusion  und  ästhetische  Wirklichkeit«,  während  der  sechste  der  »Mit- Wahr- 
nehmung und  Phantasie  im  ästhetischen  Betrachten«  gilt.  Der  letzte  Abschnitt  er- 
örtert den  Gebild-Charakter  des  ästhetischen  Verhaltens.  Die  Nennung  dieser 
Kapitelüberschriften  soll  nur  die  an  alle  Ästhetiker  und  Psychologen  gerichtete  Ein- 
ladung bekräftigen  —  obgleich  dies  ohnehin  nicht  nottut  —  sich  recht  eingehend 
mit  diesem  Buch  zu  befassen,  das  sich  ebenbürtig  dem  berühmten  »System  der 
Ästhetik«  anreiht. 

Rostock.  Emil  Utitz. 

Melitta  Gerhard:  Schiller  und  die  griechische  Tragödie.   (Forschungen 
zur  neueren  Literaturgeschichte  LIV.)    Weimar,  Alexander  Duncker  Verlag, 
1919.  136  S. 
Die  vorliegende  Arbeit  untersucht  die  Beziehung   zwischen   der   griechischen 
Tragödie  und  Schiller:  es  handelt  sich  dabei  nicht  um  Feststellen  eines  direkten 
Einflusses,  sondern  einer  entscheidenden  mittelbaren  Einwirkung,  deren  Gewinn  für 
das  deutsche  Schrifttum  wie  für  das    geistige  Leben  überhaupt  in  der  Folgezeit 
wichtig  geworden  ist.    Wie   Hellas  für  Schiller  weniger  eine  eigene  Wesensform 
oder  Bildungswelt  als  eine  sittliche  Weltanschauung  war,  so  hat  er  von  der  Tragödie 
kaum  Elemente  übernommen  —  und  doch  hat  erst  die  Berührung  mit  ihr  seinen 
späteren  Dramen  die  heroische  Eigenheit  ermöglicht  und  seinem  Stilwandel  die  hohe 
Form  erleichtert.    Schiller  ist  der  griechischen  Tragödie  durch  die  tragische  Grund- 
stimmung verwandt:    die  Art  der  Tragik  bleibt  allerdings  von   der  griechischen 
grundverschieden.    Er  hat  die  Atmosphäre  des  Schicksalhaften  und  Verhängnisvollen 


BESPRECHUNGEN.  477 


aus  der  antiken  Tragödie  übernommen,  dies  hat  jedoch  in  der  Entwicklung  der 
deutschen  Literatur  unheilvolle  Früchte  gezeitigt.  Andererseits  ist  durch  Schillers 
Vereinigung  von  sittlichem  Pathos  und  »hohem  Stil<  die  literarische  Bildung  aus- 
schlaggebend beeinflußt  und  an  das  Tragische  wie  Heroische  gewöhnt  worden,  zu- 
gleich hat  er  durch  starke  Betonung  des  Allgemeinmenschlichen  und  des  über  den 
Einzelfall  Hinausgehenden  am  dramatischen  Geschehen  das  Publikum  zu  dichterischem 
Interesse,  zu  nicht  nur  stofflicher  Aufnahme,  zu  symbolischer  Betrachtung  gezwungen. 
Dies  ist  immerhin  eine  wichtige  Folge  von  Schillers  Beziehung  zur  griechischen 
Tragödie  für  die  deutsche  Qeisteskultur,  mögen  die  sentenziösen  Allgemeinwahrheiten 
seiner  Dramen  noch  so  sehr  verflacht  worden  sein  —  ihr  Betonen  hat  der  Wahrung 
dessen  gedient,  was  Schiller  als  die  Idealität  der  Kunst  fordert. 

Dies  hat  die  Verfasserin  gezeigt,  mit  einem  tiefen  Blick  für  geistesgeschichtliche 
Zusammenhänge  und  für  das  Wesen  der  dichterischen  Schöpfungsarten.  Darin 
schuldet  die  Arbeit  in  mancher  Hinsicht  Friedrich  Gundolf  Dank,  obwohl  sie  durchaus 
eigene  wertvolle  Gedanken  entwickelt.  Die  wissenschaftliche  Gründlichkeit  wird 
auch  bei  diesem  Problem,  dessen  Tragweite  über  den  engen  Stoffkreis  hinausreicht, 
zu  einer  selbstverständlichen  Voraussetzung.  Nachdem  in  einem  ersten  Abschnitt 
Schillers  Beschäftigung  mit  der  griechischen  Tragödie  in  chronologischer  Übersicht 
dargestellt  und  im  besonderen  an  seinen  Euripidesübersetzungen  untersucht  wird, 
behandelt  der  zweite  die  griechischen  Elemente  in  Schillers  Dramen  nach  Form  und 
Gehalt.  Von  hauptsächlicher  Wichtigkeit  ist  der  letzte  Abschnitt  über  den  Anteil 
der  Tragödie  an  dem  Stilwandel  der  Schilierschen  Dramen.  Wir  wollen  die  aus- 
gezeichnete Arbeit  im  einzelnen  besprechen. 

Der  erste  Abschnitt  zeigt,  daß  es  Schiller  nicht  daran  lag,  restlos  in  die 
griechische  Tragödie  einzudringen,  sondern  bestimmte,  ihm  gemäße  Züge  als  Weg- 
weiser für  sein  dramatisches  Schaffen  zu  nutzen.  Schiller,  dessen  griechische  Sprach- 
kenntnisse sehr  gering  waren,  hat  die  Tragödie  in  französischer  Prosaübersetzung 
des  Petrus  Brumoy  kennen  gelernt  und  zwar  zunächst  den  Euripides.  Trotzdem  hat 
Schiller  bei  der  ersten  oberflächlichen  Bekanntschaft  schon  den  bewußten  Willen,  sie 
für  die  eigene  Dramatik  auszubeuten,  er  verspricht  sich  griechische  «Manierc  und 
übersetzt  aus  diesem  Grund  auch  die  Iphigenie  des  Euripides.  Durch  Humboldt 
und  Goethe  angeregt,  beschäftigt  er  sich  gründlicher  mit  der  Tragödie,  gelangt  aber 
nicht  zu  einer  vollen  Erfassung  der  griechischen  Sprache  und  damit  —  wie  ich  hin- 
zufüge —  der  griechischen  Seele.  Mit  Recht  darf  es  als  notwendiger  Ausdruck  von 
Schillers  Griechenfremdheit  und  nicht  als  Zufall  angesehen  werden,  daß  er  sich  in 
den  entscheidenden  Jugendjahren  nicht  mit  griechischer  Dichtung  abgegeben,  und 
daß  ihn  späterhin  sein  Instinkt  an  der  näheren  Berührung  mit  griechischem  Sprach- 
geist verhindert  hat.  Trotzdem  wird  Schillers  Verhalten  zur  Tragödie  von  1794  ab 
theoretisch  und  von  1797  ab  produktiv  bedeutsam  für  seine  geistige  Haltung,  man 
meint  aus  seinen  Briefen  »unmittelbar  zu  spüren,  wie  etwas  von  der  Luft  der 
griechischen  Tragödie,  die  ihn  so  fortdauernd  umgab,  in  seine  eigenen  Dramen  ein- 
strömen mußte«  (S.  14).  Freilich  ist  es  nur  etwas,  nur  eine  Reihe  von  Zügen  aus 
dieser  Atmosphäre.  Eine  Einwirkung  kommt  erst  für  die  Dramen  der  Reifezeit  in 
Betracht,  wobei  Schiller  immer  noch  auf  Übersetzungen  angewiesen  ist.  An  einem 
Vergleich  mit  Hölderiin  und  Humboldt  wird  noch  offenbarer,  daß  es  sich  bei 
Schiller  um  Mangel  an  Wahlverwandtschaft  und  Abneigung  gegen  griechisches 
Sprachgefühl  handelt.  Denn  wir  können  bei  einem  produktiven  Künstler  wie  Schiller 
Geist  und  Sprachform  unmöglich  trennen  (S.  27).  Dies  zeigt  sich  auch  an  den 
Euripidesübersetzungen:  der  wechselnde  Rhythmus  als  Ausdruck  dramatischer  Be- 
wegung und  menschlicher  Individualisierung,  in  »Iphigeniet  und  den  »Phönizierinnenc, 


478  BESPRECHUNGEN, 


wird  im  Schilierschen  Jambus  abgeschwächt  und  verbreitert.  Metrum,  DiI<tion  und 
Charakter  des  Originals  werden  umgebogen.  Schillers  Neigung  zum  Rhetorischen, 
unterstützt  durch  die  französische  Übersetzung,  hat  den  Stil  der  Verdeutschung 
wesentlich  bestimmt,  ebenso  die  Anwendung  des  Reims  in  den  Chören  mit  intensiver 
Betonung  desselben. 

Im  zweiten  Abschnitt  weist  die  Verfasserin  nach,  daß  weder  formale  Elemente 
der  griechischen  Tragödie  in  sprachlicher,  metrischer  oder  szenischer  Hinsicht  bei 
Schiller  tiefer  wirksam  geworden  sind,  noch  Gepräge  und  Gehalt  seiner  Dramen 
wesentlich  Einfluß  erfahren  haben.  Das  erste  läßt  sich  bei  der  Anwendung  oft  bis 
ins  einzelne  durchgeführter  Gleichnisse  und  ihrer  äußeren  Nachbildung  nach  antikem 
Muster  feststellen,  wobei  zugleich  der  Unterschied  zutage  tritt:  die  Gleichnisse  der 
griechischen  Tragödie  sind  konkret,  sinnlich,  sichtbar  —  die  Gleichnisse  Schillers 
abstrakt,  anschaulich  gemacht,  fast  immer  gedacht.  »Im  Seelischen,  nicht  im  Sinn- 
lichen liegt  der  Nerv  der  Schilierschen  Dramatik  und  darum  auch  seiner  Dramen- 
sprache, und  im  Seelischen  wieder  nicht  in  den  Leidenschaften,  sondern  im  sittlichen 
Erleben  (S.  48).  Das  Gedankliche  arbeitet  stark  mit.  Auch  der  Sprachbau  ist 
grundsätzlich  anders:  bei  der  griechischen  Tragödie  trotz  des  klaren  Gesamtgefüges 
ein  lebhaftes  Hervortreten  jeder  einzelnen  Vorstellung,  bei  Schiller  eine  nie  ver- 
weilende Vorwärtsbewegung,  die  das  einzelne  nicht  greifbar  werden  läßt,  der  Schwer- 
punkt des  Verses  liegt  fast  immer  am  Ende.  Annäherung,  wenn  auch  nicht  direkte 
Einwirkung  beobachten  wir  im  Wechsel  des  Metrum  und  des  Rhythmus  bei  den 
späteren  Dramen.  Das  Einführen  des  Chors  ist  ein  bedeutsames  Element,  wenn 
auch  mehr  um  des  dramatischen  Gehaltes  als  um  der  szenischen  Technik  willen. 
Bei  alledem  aber  äußert  sich  griechischer  Einfluß  mehr  im  Vorhandensein  als  in 
der  Art  dieser  Elemente  (S.  55).  Was  den  Gehalt  der  Dramen  Schillers  betrifft,  so 
kann  hierbei  mit  Recht  nur  die  allgemeine  Voraussetzung  des  tragischen  Weltgefühls, 
der  heroischen  Empfindung  und  der  Selbstwertung  des  Menschen  als  verwandt  an- 
gesprochen werden  —  das  besondere  ist  grundverschieden,  vor  allem  die  moralische 
Einstellung  Schillers  unter  dem  Einfluß  Kants.  Bei  Schillers  tragischer  Ansicht 
»steht  im  Mittelpunkt  die  moralische  Freiheit,  die  dem  Menschen  die  Fähigkeit  ver- 
leiht, alle  Hindernisse  und  Qualen  seelisch  zu  überwinden,  auch  wenn  er  ihnen 
physisch  unterliegt«  (S.  67).  Hiermit  wird  hingewiesen  auf  die  gänzlich  ungriechische 
Trennung  des  sittlichen  und  sinnlichen  Menschen.  Dieser  Hinweis  erscheint  mir 
besonders  wichtig,  insofern  er  die  Wurzel  der  Griechenfremdheit  Schillers  und  seiner 
Dramatik  berührt:  Schiller  verlegt  den  Schwerpunkt  des  tragischen  Konfliktes  in  die 
menschliche  Seele,  bei  den  Griechen  spielt  der  dramatische  Kampf  vorwiegend 
zwischen  Menschen  oder  zwischen  Mensch  und  Geschick,  bei  ihnen  liegt  das  Haupt- 
gewicht im  Geschehen.  An  einem  Vergleich  mit  Shakespeare,  der  beide  Elemente: 
äußeres  und  inneres  Geschehen  vereint,  wird  der  Unterschied  verdeutlicht  (S.  70). 
Selbst  beim  Wallenstein,  »wo  unter  dem  noch  frischen  Eindruck  der  griechischen 
Tragödie  das  äußere  Geschehen  immerhin  am  ehesten  eigene  Größe  und  Kraft 
hat«  (S.  74),  und  beim  Teil  werden  Seelenkonflikte  stark  betont.  Die  »Braut  von 
Messina«  ist  zwar  durchaus  Handlungstragödie,  aber  auch  sie  verzichtet  nicht 
völlig  auf  den  inneren  Konflikt.  Schillers  Gleichgültigkeit  gegen  das  äußere  Ge- 
schehen ist  weniger  aus  Mangel  an  historischem  Sinn  als  aus  überwiegend  psycho- 
logischem Interesse  zu  erklären,  wobei  ich  dieses  allerdings  nicht  vom  ethischen 
trennen  möchte.  Jedenfalls  zeigt  die  herangezogene  Stelle  (S.  77)  eine  ganz  Kanti- 
sche Einstellung.  Hieran  schließt  sich  eine  tiefsinnige  Ausführung  über  Schicksal 
und  Charakter  in  der  antiken  und  modernen  Tragödie.  Mit  Recht  wird  der  land- 
läufige Begriff  vom  blind  waltenden  Fatum  als  Ursprung  allen  Konfliktes    sowohl 


BESPRECHUNGEN.  479 

für  die  griechische  Tragödie  als  auch  für  Schiller  abgelehnt.  Auch  in  der  >Braut 
von  Messiiia«  dient  das  Fatum  nur  dem  stinTmungmäßigen  Element  des  allgemein 
menschlichen  Schauers  vor  seiner  Unabwendbarkeit,  und  im  »Wallenstein-i  zeigt  es 
sich  durchaus  nicht  allein  entscheidend.  Daß  die  unbewußte  tragische  Selbstbindung 
und  das  Hineinspielen  transzendenter  Momente  in  den  späteren  Dramen  im  Mittel- 
punkt steht  —  das  hat  vielleicht  unmittelbar  die  Atmosphäre  des  griechischen  Dramas 
bewirkt.  Doch  auch  hier  ist  die  besondere  Art  verschieden:  bei  der  antiken  Tra- 
gödie bedingt  wie  in  Leben  und  Religion  der  Bann  des  überindividuellen  Gesetzes 
ein  Zurücktreten  des  Einzelnen,  bei  ihr  besteht  der  philosophische  Widerspruch 
Zwischen  Freiheit  und  Notwendigkeit  noch  nicht,  auch  wird  empfunden  —  wie  ich 
hinzufügen  möchte  —  daß  der  einzelne  dies  überindividuelle  Gesetz  als  selbst- 
verständlich anerkennt,  ja  erst  erschafft.  Davon  ist  bei  Schiller  keine  Rede,  nur  die 
allgemeine  Luftschicht  des  griechischen  Fatum  kommt  bei  ihm  in  Betracht  und  im 
übrigen  ist  sie  nur  Symbol  des  seelischen  Geschehens  wie  in  der  »Jungfrau  von 
Orleans  .  Daß  der  Begriff  von  Verhängnis«  und  Fatum«  als  Luftschicht  aufzufassen 
ist,  die  der  tragische  Held  atmet,  und  nicht  als  starres  Gegenüber,  hat  die  Verfasserin 
gezeigt  (S.  86).  Ich  weise  darauf  hin,  daß  vielleicht  eine  Äußerung  Goethes  (im 
Gespräch  mit  Schiller  1795)  zu  Mißverständnissen  in  dieser  Frage  beigetragen  hat: 
»Im  Drama  muß  das  Schicksal  herrschen  und  dem  Menschern  widerstreben«.  Der 
Begriff  des  Dämonischen^  schlägt  ja  eine  Brücke  zwischen  Schicksal  und  Charakter 
und  kommt  sowohl  für  Ödipus  wie  für  Cäsar  oder  Macbeth  und  die  Helden  der 
späteren  Schillerschen  Dramen  in  Betracht. 

Beim  Übergang  zum  dritten  Abschnitt  erhebt  sich  die  Frage,  wieweit  Schiller, 
wenn  er  die  griechische  Tragödie  als  Vorbild  betrachtete  und  sich  doch  keine  ihrer 
Elemente  aneignete,  mittelbaren  Gewinn  aus  ihr  zog,  um  »seinem  eigenen  Welt- 
i^efühl  eine  neue  gemäßere  Form  zu  finden«  (S.  92).  Die  Verfasserin  will  zunächst 
in  Schillers  theoretischen  Äußerungen  den  Begriff  der  griechischen  »Simplizität»  be- 
cchtet  wissen,  an  der  er  seinen  Stil  schulen  wollte  —  namentlich  durch  das  Vor- 
bild des  tragischen  »hohen  Stiles^.  Dabei  muß  Simplizität  nicht  als  Schlichtheit  und 
Einfachheit,  sondern  als  Einheitlichkeit  der  Charakterisierung  und  des  Niveaus  in 
der  griechischen  Tragödie  gefaßt  werden.  Obwohl  bei  dieser  der  Schwerpunkt  im 
dramatischen  Geschehen  liegt,  neige  auch  ich  zu  der  Auffassung,  daß  ihr  dennoch 
die  individualisierende  Charakteristik  nicht  grundweg  abzusprechen  ist.  'Aber  sie 
erfolgt  einem  Bedürfnis  der  Handlung  zuliebe,  die  ihrerseits  sich  nur  zwischen 
Personen  des  gleichmäßig  hohen  Niveaus  bewegt«  (S.  96).  Von  dieser  Einheitlich- 
keit wollte  Schiller  lernen,  da  er  bei  der  künstlerischen  Gestaltung  stark  vom  Ich 
ausging  und  dabei  in  den  seelisch-sittlichen  Konflikten  befangen  blieb.  Das  einheit- 
liche Niveau  sucht  Schiller  bei  späteren  Gestalten  seiner  moralischen  Gegenspieler 
(Isabeau,  Geßler)  zu  erreichen  und  es  zeigt  sich,  daß  dort,  wo  er  darauf  verzichtet, 
wie  etwa  bei  Illo  der  Zweck  der  Haupthandlung  bestimmend  ist.  Das  Moment  der 
»Simplizität'^  weicht  hier  dem  Moment  des  Geschehens,  worin  ich  einen  Widerstreit 
zwischen  zwei  Errungenschaften  sehen  möchte,  die  Schiller  für  die  Reinigung  seines 
Stils  zu  gewinnen  suchte,  ohne  doch  durch  sie  eine  innere  Umformung  zu  erfahren. 
Dies  wird  bestärkt  durch  den  anderen  Fall,  daß  Schiller  in  dem  Bestreben  nach  Ein- 
iieitlichkeit  des  Stils  einer  färb-  und  gestaltlosen  Charakterisierung  seiner  Menschen 
nicht  entgangen  ist.  Die  Verfasserin  zeigt  noch,  daß  der  hohe  Stil  »keineswegs  aus 
dem  Wunsch  nach  einer  Idealisierung  der  Wirklichkeit  hervorgegangen  ist«  und  daß 
der  Streit  um  realistische  oder  idealistische  Kunst  im  Grund  belanglos  ist  (S.  104—106). 
Schillers  »hoher  Stil«  ist  mit  Recht  als  Ausdruck  seines  Erlebens  zu  deuten,  das 
im  Wesen  dem  der  griechischen  Tragödie  fremd,  doch  durch  ihr  Vorbild  erst  seine 


480  BESPRECHUNGEN. 


Form  gefunden  hat.  Es  ist  hier  der  Ort,  auf  die  gänzlich  unzulängh"che  Gegenüber- 
stellung von  Idealismus  und  Realismus  als  Gesamtwesenheiten  hinzuweisen,  in  ihnen 
äuBem  sich  vielmehr  jeweilige  Lebenshaltungen:  weder  Shakespeare  noch  Goethe 
noch  Schiller  lassen  sich  in  eines  dieser  Schlagworte  einfangen.  Und  wenn  Schiller 
als  »der  idealistische  Dichter«  der  Deutschen  gelten  soll,  so  ist  damit  ein  anderer 
wichtiger  Hinweis  gegeben :  daß  der  Gegensatz  Goethe-Schiller  unsinnig  ist,  denn 
Schillers  Leistung  liegt  in  einer  ganz  anderen  Ebene  als  die  des  deutschen  Welt- 
dichters, er  hat  im  adligen  Kampf  um  die  Idealität  der  Kunst  ihre  Geltung  ver- 
fochten und  das  Betonen  des  Allgemeinmenschlichen  in  seinen  Dramen  ist  mehr  für 
diesen  Kampf  wichtig,  als  daß  es  an  sich  ewigen  Wert  hätte.  Es  offenbart  sich 
darin  nun  auch  die  Bedeutung  der  griechischen  Tragödie  für  Schillers  Kunstschaffen. 
Die  Verfasserin  scheidet  sehr  scharf  den  hohen  Stil  als  Ausdruck,  als  Mittel  Schiller- 
schen  Erlebens  von  der  Idealität  der  Kunst  als  Zweck,  als  allgemeingültiges  dich- 
terisches Gesetz  (S.  109).  Schillers  Anschauung  von  der  notwendigen  Trennung  von 
Kunst  und  Wirklichkeit  fand  in  dem  Vorbild  der  griechischen  Tragödie  eine  be- 
freiende Sanktion,  dort  sah  er  das  Große  und  Typische  dargestellt,  dadurch  fühlte 
er  sich  berechtigt  und  befähigt,  dem  rein  künstlerischen  Interesse  seines  Erlebens  zu 
dienen.  Der  symbolische,  auf  das  Allgemeine  weisende  Charakter  zeigt  sich  in  der 
Anwendung  des  Chors  und  vor  allem  der  Sentenz,  wobei  die  Verschiedenheit  des 
Gepräges  verdeutlicht  wird:  das  reflektiv-gedankliche,  auch  auf  das  Publikum  ein- 
gestellte gegenüber  dem  dramatisch-rhythmischen  (S.  120). 

Eine  Schlußbetrachtung  geht  auf  die  Bedeutung  von  Schillers  Befruchtung  durch 
die  Tragödie  für  unsere  geistige  Entwicklung  ein,  im  Sinne  des  eingangs  Ange- 
deuteten. Ich  glaube  zu  der  erschöpfenden  Behandlung  des  Problems  nur  bemerken 
zu  müssen:  man  darf  vielleicht  die  Bedeutung  von  Schillers  Verhältnis  zur  griechischen 
Tragödie  für  unser  Drama  nicht  als  etwas  Absolutes  schätzen.  Der  Gewinn  für  das 
deutsche  Schrifttum  ist  ja  gerade  wie  der  für  Schillers  Dramatik  nur  ein  mittel- 
barer, oder  besser:  vermittelnder.  Die  Erziehung  zu  literarischem  Verständnis  des 
Heroischen,  Tragischen,  Symbolischen  in  der  Dichtung  hat  weniger  Wert  um  der 
allgemeinen  Bildung  und  Kunststimmung  willen  als  dadurch,  daß  sie  Wert  und 
Wirkung  der  großen  Dichter,  Goethes  und  Hölderlins  vor  allem,  sichert  vor  Ten- 
denzen, die  nicht  von  der  »Idealität  der  Kunst«  ausgehen.  Das  erscheint  mir  als 
das  bleibende  Verdienst  Schillers,  denn  Dichtung  kann  auch  durch  den  feurigsten 
und  felsigsten  Willen  nicht  Massen  umbilden :  er  gerade  wird  den  Wenigen  echten 
Anteil  an  der  künstlerischen  Idee  vermitteln  können. 

Heidelberg.  Erich  Aren. 


Hgö 


Tafel  I. 
F.  Adama  van  Scheltema,  Beiträge  zur  Lehre  vom  Ornament. 


'  'V.- 


Fig.  3. 


Fig.  2. 


Fig.  4. 


77:7^J!', 


Fig.  7. 
Zeitschrift  für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft.    XV.  Bd. 


Tafel  11. 
F.  Adama  van  Sclieltema,  Beiträge  zur  Lehre  vom  Ornament. 


Fig-:5. 


Fig.  6. 


Zeitschrift  für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft.   XV.  Bd. 


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Tafel  III. 
F.  Adama  van  Scheltema,  Beiträge  zur  Lehre  vom  Ornament. 


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Fig.  9. 


Fig.  11. 


Fig.  12. 


Zeitschrift  für  Ästhetik  und  allgemeine  Kunstwissenschaft.    XV.  Bd. 


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N        Zeitschrift  für  Ästhetik 
3  und  allgemeine 

Z4.5        Kunstwissenschaft 
Bd.l^- 
15 


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